XIII


Melrose Plant zockelte die Sidbury Road entlang und lächelte bei der Vorstellung, wie außer sich Agatha sein würde, wenn sie begriff, daß sie immer noch zu den Verdächtigen zählte, während er ein einwandfreies Alibi hatte. Nicht gerade fair von Melrose, sich auf diese Weise aus den Fängen von Scotland Yard zu befreien, während sie (trotz ihrer aufopfernden Mitarbeit) zusehen konnte, wie sie allein zurechtkam. So würde Agatha die Sache betrachten. Und sie würde zu dem Schluß kommen, daß Melrose an allem schuld war; daß Jury und Melrose sich wahrscheinlich gegen sie verbündet hatten.

Während weite, in der Sonne schimmernde Wiesen an ihm vorbeirollten, ließ Melrose sich in die Polster seines Bentley sinken und fragte sich, ob er sich insgeheim nicht etwa wünschte, Detektiv zu sein – eine dunkle Seite seines Wesens, die ihm noch nicht bewußt geworden war. Er betrachtete es als Zeitvertreib, sich alle möglichen Erklärungen für diese Serie von Morden durch den Kopf gehen zu lassen. Hatte es der Mörder nur auf einen abgesehen und die andern beiden umgebracht, um von seinem Motiv abzulenken? Ein alter Trick, um Verfolger in die Irre zu führen. Durchaus denkbar natürlich, aber die Tatsache, daß alle drei ortsfremd gewesen waren, sprach eigentlich dagegen. Warum sollte jemand irgendwelche Fremde hierherbestellen, um sie dann um die Ecke zu bringen? Hätten es nicht auch zwei überflüssige Einheimische getan?

Schuldbewußt blickte Melrose aus dem Fenster. Eine ziemlich kaltblütige Art, die Dorfbewohner zu betrachten. Die einzigen Lebewesen, die seinen Blick erwiderten, waren ein Mutterschaf und ihr Junges; sie standen mitten auf einer Wiese und kauten langsam vor sich hin. Was konnten sie bei dieser Kälte wohl noch zu fressen finden?

Es war natürlich auch möglich, daß die bisher begangenen Morde zu einem andern führen würden, wie Jury es angedeutet hatte; ein fürchterlicher Gedanke. Er ließ das Blut in seinen Adern erstarren, weil er sofort an Vivian Rivington dachte, die eine wirkliche Zielscheibe darstellte: so viel Geld und so viele, die darauf scharf waren. Die dunklen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, schienen sich in dem Schild mit dem schwarzen Punkt konkretisiert zu haben, das zu seiner Linken auf der Höhe des Gasthofs zum Hahn mit der Flasche auftauchte.

Plant nahm den Fuß vom Gaspedal und fuhr nur noch im Schritttempo, damit sein Auspuff nicht beschädigt würde, wenn er über die Bodenwelle fuhr, die die Autos vor der nächsten Kurve zum Verlangsamen zwingen sollte und die im Volksmund sinnigerweise «Toter Mann» genannt wurde. Als er näherkam, blinkte etwas in dem grellen Sonnenlicht. Er fuhr vorsichtig über den «Toten Mann» und spähte dabei aus dem Fenster; er entdeckte, daß das Glitzern von einem Gegenstand in der Erde herrührte, wahrscheinlich von einem Stückchen Glas. Dann erstarrte seine Wahrnehmung zu einem Bild, und er bremste so abrupt, daß er beinahe gegen die Windschutzscheibe geprallt wäre. Einen Augenblick lang saß er völlig regungslos da und sagte sich, daß diese Sache, die da in der Erde steckte, unmöglich das sein konnte, was er zu sehen geglaubt hatte.

Ein Ring. Aber hatte er wirklich an einem Finger gesteckt?

Während Sheila immer noch lachte, schlüpfte Jury in seinen Mantel und streifte sich die Handschuhe über. «Ich hab noch mehr Fragen, Mr. Darrington. An Sie und Miss Hogg. Im Augenblick fehlt es mir aber an der Zeit. Ich würde gerne Ihr Telefon benutzen, wenn Sie gestatten, um mit meinem Wachtmeister zu sprechen.»

«Dort bitte», sagte Darrington und zeigte auf die Tür zum Flur. Etwas von seiner alten Überheblichkeit war zurückgekehrt, als er sich Jury zuwandte: «Wenn ich Sie recht verstanden habe, Inspektor, dann ist die Tatsache, daß Scharf auf Mord bei der Leiche gefunden wurde, mehr oder weniger der Beweis, daß ich nichts mit der Sache zu tun habe?»

Durch und durch ein Schuft, dachte Jury. Nicht das geringste Mitgefühl für Sheila, die wahrscheinlich ihre ganze Selbstachtung geopfert hat, um Darrington zu einer glanzvollen Karriere zu verhelfen. Der verdammte Kerl benötigte einen Dämpfer. «Ich meinte damit nur, daß es Sie entlasten könnte, nicht mehr. Es gibt da ein Motiv, das eigentlich nur Sie haben können, Mr. Darrington: öffentliches Aufsehen. Bei Ihrem angeschlagenen Ruf hätte Ihnen doch gar nichts Besseres passieren können, oder? Scharf auf Mord auf allen Titelseiten. Ihre Bücher würden plötzlich einen enormen Absatz finden. Sie hätten sich den Erpresser vom Hals geschafft und obendrein noch die Werbetrommel für sich gerührt.»

Darrington erblaßte wieder.

«Das Telefon, Mr. Darrington?»

Wie auf ein Stichwort hin fing das Telefon an zu klingeln. Sheila, die sehr viel gefaßter war als Darrington, ging hinaus, um den Hörer abzunehmen. «Es ist für Sie, Inspektor», rief sie vom Flur aus.

Er bedankte sich, und als er den Hörer von ihr entgegennahm und ihr dann nachblickte, wie sie in den Salon zurückging, hoffte er nur, daß sie eines Tages einen besseren Mann finden würde als Oliver Darrington. Trotzdem schied Sheila keineswegs aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Fest stand nur, daß sie sehr viel couragierter war als ihr Freund.

«Jury am Apparat», sagte er und hörte mit wachsendem Erstaunen, was Melrose zu berichten hatte. «Hören Sie, Mr. Plant, bleiben Sie, wo Sie sind. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.» Er knallte den Hörer auf die Gabel und wählte dann das Revier von Long Piddleton. Er hörte das Brr-Brr des Telefons und fing schon an, Wiggins und Pluck zu verfluchen. Endlich antwortete Pluck, und Jury sagte ihm, er solle sich sofort mit Weatherington in Verbindung setzen, den Tatortsachverständigen und Appleby benachrichtigen, die ganze Mannschaft zusammentrommeln und sie auf dem schnellsten Weg zum Hahnen mit der Flasche schicken. Eine weitere Leiche sei gefunden worden. Der arme Pluck stammelte ein paar unzusammenhängende Worte und brachte schließlich hervor: «Ja, Sir, sofort, Sir. Aber hier wimmelt es nur so von Reportern, die alle mit Ihnen sprechen wollen. Sie sind vor knapp einer halben Stunde aus London hier eingefallen.»

«Vergessen Sie die Reporter, Wachtmeister. Und erzählen Sie ihnen um Himmels willen nicht, was passiert ist, sonst blockieren sie mit ihren Autos die ganze Straße nach Sidbury, und wir kommen nicht mehr durch.»

«In Ordnung, Sir. Ich wollte Ihnen nur noch sagen», er senkte die Stimme, «daß Lady Ardry diesen Londoner Zeitungsfritzen Interviews gibt und dabei gleich sechs auf einmal ranläßt. Außerdem soll ich Ihnen ausrichten, daß Kriminaldirektor Racer eine Stunde lang versucht hat, Sie zu erreichen. Er kocht vor Wut.»

«Danke, Wachtmeister, wenn er wieder anruft, verbinden Sie ihn mit Lady Ardry.»

Mit dem blauen Morris schaffte Jury die 20 Kilometer von dem Haus bis zum Hahn mit der Flasche in knapp 20 Minuten, rief jedoch empörte Reaktionen bei gelasseneren Verkehrsteilnehmern hervor, die am Heiligen Abend eine gemütliche Spazierfahrt machen wollten.

Ungefähr einen halben Kilometer vor dem Gasthof zum Hahn mit der Flasche fuhr Jury auf die rechte Straßenseite und bremste kurz vor dem Erdhügel. Er sprang aus dem Wagen, und ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen, rannte er zu der Stelle, an der Melrose Plant auf dem Boden kniete. Auf dem Hügel lag eine Plastikplane.

«Ich hab gar nicht erst versucht, die Erde wegzuscharren; sie ist auch steinhart. Ich dachte, alles soll möglichst so bleiben, wie es ist. Nur die lose Erde auf ihrem Arm habe ich entfernt.»

«Gut so, Mr. Plant.» Aus der schneeverkrusteten Erde ragte bis ungefähr zum Ellbogen ein Arm und eine Hand hervor. Die Fingernägel waren grellrot lackiert, und an einem Finger steckte ein großer, billiger Ring. Jury betastete den Arm. Er war so hart wie ein Eiszapfen.

«Es war ziemlich offensichtlich», sagte Plant, «daß diejenige, der dieser Arm gehörte, unter dem Erdhaufen nicht mehr nach Luft gerungen hat. Ich habe also nichts unternommen. Die Plane warf ich wegen der vorbeifahrenden Autos darüber. Ich dachte mir, daß Sie keinen Wert auf Neugierige legen. Ich habe mich nur davor gestellt und sie vorbeigewinkt. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen Straßenarbeiter.»

Trotz der schrecklichen Umstände mußte Jury lächeln. Der Anzug, den Plant trug, war nicht gerade das, was Straßenarbeiter zu tragen pflegen. Es sickerte auch gleich in Jurys Bewußtsein, daß der ‹Tote Mann› sich direkt vor der Abfahrt zu dem Hahn mit der Flasche befand; der Gasthof selbst lag ein ziemliches Stück abseits der Straße. Wieder ein Gasthof. Die Zeitungen würden sich freuen.

Er sagte zu Plant: «Gut gemacht, Mr. Plant. Vor allem, daß Sie nicht versucht haben, sie auszubuddeln. Der Tatort-Sachverständige würde uns den Kopf abreißen, wenn wir irgend etwas durcheinander gebracht hätten.»

Sie standen noch ungefähr zehn Minuten herum, bis Jury die Sirene aufheulen hörte. Pluck hatte sich zum Glück beeilt. Weatherington kam nach Sidbury – es war ungefähr 20 Kilometer von der Kreisstadt entfernt. «Mr. Plant, warum gehen Sie nicht zu dem Gasthof und reden schon einmal mit dem Wirt – kennen Sie ihn?»

«Nicht gut. Nur vom Sehen. Ich bin einmal an der Bar eingeschlafen, als er mir seine Lebensgeschichte erzählen wollte. Was soll ich ihm sagen?»

Jury blickte gerade auf die erstarrte Hand, als der Polizeiwagen um die Kurve kam. «Sagen Sie ihm, daß ich gleich vorbeikomme, um ihm ein paar Fragen zu stellen.»

Dr. Appleby wartete, geduldig eine Zigarette rauchend, während der Tatort-Sachverständige, ein Mann mit einem wie aus Stein gemeißelten Gesicht, jedes Detail festhielt. Am Hals des Opfers waren deutlich Strangulierungsmale zu erkennen. Und das Opfer war, wie Jury schon vermutet hatte, eine gewisse Ruby Judd, das Hausmädchen des Pfarrers.

Als der Polizeifotograf die Leiche von allen Seiten fotografiert hatte, blickte Dr. Appleby dem Oberinspektor so strafend in die Augen wie Väter manchmal ihren Kindern, wenn sie einmal zu oft von dem schmalen Pfad der Tugend abgekommen waren. Jury, der selten den Blicken seiner Mitmenschen auswich, wandte die Augen ab. «Inspektor Jury, am besten Sie nehmen mich bei Ihren Exkursionen gleich mit. Ich lande doch immer wieder am Schauplatz Ihrer Verbrechen.» Mit nikotinverfärbten Fingern zündete sich Appleby am Stummel seiner letzten eine neue Zigarette an.

«Sehr komisch, Dr. Appleby. Es sind aber eigentlich nicht meine Verbrechen, wie Sie es auszudrücken belieben. Sie gehen vielmehr auf das Konto eines anderen.» Jury wünschte, er hätte nicht auch noch einen witzereißenden Mediziner am Hals. Er hatte Appleby im Verdacht, sich bestens zu amüsieren, wenn auch auf etwas perverse Weise: Wie oft hatte er es wohl schon mit etwas anderem als mit Masern, Frauenleiden oder Magenbeschwerden zu tun.

Dr. Appleby blies den Rauch in die Luft und parierte rasch: «Ja, auf das Konto eines anderen. Es fragt sich nur, auf wessen? Die Bevölkerung hier in der Gegend nimmt von Tag zu Tag ab.» Der Arzt ließ die Asche in die neu ausgehobene Kuhle fallen. Die Leiche, die in einen Plastiksack gesteckt worden war, damit auch nichts verlorenging, war bereits in den Krankenwagen geschoben worden. Der Spezialist für Fingerabdrücke, der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt, dem Kaugummi und der Trillerpfeife, hatte hier kaum etwas zu tun gefunden und war auf dem Weg zum Pfarrhaus, um Ruby Judds Zimmer zu inspizieren.

«Dr. Appleby, die Fakten, bitte.»

«Die habe ich Ihnen schon dreimal genannt, warum nehmen Sie nicht einfach die der anderen Fälle?»

Jury wurde ungeduldig. «Dr. Appleby –»

Appleby seufzte. «Na schön. Nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, liegt die Tat ungefähr drei Tage bis eine Woche zurück. Ist schwer zu sagen – die Leiche ist ziemlich gut erhalten, als hätte sie in einer Gefriertruhe gelegen.» Appleby zündete sich wieder eine Zigarette an, und Wiggins, der sich die Auskünfte des Arztes notiert hatte, nutzte die Gelegenheit, um sich zu schneuzen und eine neue Packung Hustenbonbons anzubrechen. Dr. Appleby setzte seinen Bericht in leierndem Tonfall fort. «Tötung durch Erdrosseln, diesmal mit Hilfe eines geknoteten, strickartigen Werkzeugs. Es könnte ein dünnes Kopftuch oder ein Strumpf gewesen sein: Blutungen im Gesicht und unter den Augenlidern. Sonst kann ich nichts feststellen. Hier versteckt sich nicht hinter jedem Busch ein Pathologe wie bei euch in London. Deshalb muß ich die Obduktion auch selbst durchführen. Was übrigens diesen Creed betrifft, kann ich Ihnen leider nicht viel weiterhelfen. Daß er zwischen zehn und zwölf Uhr ermordet wurde, wissen Sie ja bereits. Genauer konnte ich die Todeszeit auch nicht bestimmen.»

Appleby überwachte noch den Abtransport der Leiche, dann schloß er seine Tasche und entfernte sich. Kriminalbeamte suchten links und rechts von der Straße die vereisten Wiesen nach Beweisstücken ab. Jury hoffte, irgendeine Tasche – ein Koffer vielleicht – würde im Wald oder auf den Wiesen in der Nähe des Hahns mit der Flasche gefunden werden. Er stellte sich vor, daß der Mörder sie vielleicht veranlaßt hatte, eine Tasche zu packen – wahrscheinlich hatte er ihr ein Liebeswochenende in Aussicht gestellt (was bedeuten würde, daß es sich um einen Mann handelte) –, weil dann zumindest ein paar Tage lang niemand nach ihrem Verbleib fragen würde. Appleby sagte, nichts deute darauf hin, daß eine «sexuelle Handlung» stattgefunden habe; ob sie schwanger gewesen sei, ließe sich jedoch erst nach der Obduktion sagen. Eine heiße Spur war nirgendwo in Sicht. Aber in einem Punkt hatte Jury recht behalten: Ruby Judd war keine Ortsfremde.

Als Jury endlich den Hügel zum Hahn mit der Flasche hochgestiegen war und in die Gaststube trat, sah er Melrose Plant an der Bar sitzen, ein Glas Guinness vor sich. Der deftig aussehende Wirt lehnte über dem Tresen und unterhielt sich mit ihm. Sein Name war Keeble. Auf seinem Gesicht standen Schweißperlen, die er sich mit einer Serviette abwischte. Während er einen ziemlich aufgelösten Eindruck machte, zeigte seine Frau, die gerade durch eine Tür rechts neben dem Tresen hereingekommen war, keinerlei Emotionen.

Plant bot Jury eine Zigarette aus seinem goldenen Etui an, und Jury bediente sich dankbar. «Was wissen Sie über diese junge Frau, Mr. Keeble?»

«Wie ich dem Herrn Wachtmeister schon gesagt habe –» Er deutete auf Wiggins, der wie immer pflichtbewußt sein Notizbuch aufgeschlagen und zusammen mit dem Taschentuch auf den Tresen gelegt hatte. «Diese Ruby ist mir kaum über den Weg gelaufen, vielleicht ein- oder zweimal beim Einkaufen. Ich kann Ihnen also nicht viel weiterhelfen. Es dauerte ewig, bis sie ihren ‹Toten Mann› da draußen fertig hatten.» Mrs. Keeble fügte noch hinzu, wie schlecht das fürs Geschäft sei, wenn ständig die Straße aufgebuddelt würde.

«Und wann hatten die Straßenarbeiter wieder alles aufgefüllt?»

Keeble dachte angestrengt nach. «Moment, ich kann Ihnen das ganz genau sagen – ja, ja, am Fünfzehnten, nachmittags. Dienstag vor einer Woche. Ich erinnere mich, weil wir am Tag darauf einen Schwung voll Leute zum Abendessen hatten. Gott sei Dank war da die Straße nicht mehr aufgerissen.» Er feierte die Rolle, die er bei dem schrecklichen Geschehen spielte, indem er sich ein Bier zapfte; seine Frau schnaubte mißbilligend. «Am Abend kam dann noch einer von ihnen zurück und brachte die Sache vollends in Ordnung. Das war am Dienstagabend, Dienstag, den Fünfzehnten.»

Am Dienstag war auch Ruby losgezogen, angeblich um ihre Familie in Weatherington zu besuchen.

Als Keeble das Abendessen erwähnte, verspürte Jury plötzlich einen Riesenhunger. Er sagte: «Wir könnten eigentlich auch was vertragen. Wär’s denn möglich, daß Sie uns was zu essen richten? Sie sind doch bestimmt auch hungrig, Mr. Plant? Und Sie, Wachtmeister, wie steht’s mit Ihnen?» Beide nickten.

«Wir haben aber nur Scholle», sagte Mrs. Keeble.

Plant gab einen gutturalen Laut von sich, aber Wiggins nickte. «Mit Pommes frites und Erbsen, bitte.»

Sie blickte die Männer an, als hätten sie die Leiche des Mädchens in ihre Wirtschaft geschleppt, nur um ihr Unannehmlichkeiten zu bereiten. Sie schien sich auch zu fragen, ob Scotland Yard dafür aufkommen würde oder ob es zu ihren Bürgerpflichten gehörte, ihnen etwas aufzutischen. Als sie sich auf den Weg zur Küche machte, sagte Plant, «Wenn wir dazu eine Flasche Bâtard-Montrachet haben könnten, damit der Fisch auch schwimmt?»

Sie starrte ihn an, und er fügte noch hinzu: «Jahrgang 1971?»

Ihr Kinn schob sich etwas vor. «Wir haben keinen Weinkeller. Sie sind hier nicht im Savoy.»

Plant blickte sich in dem einfach eingerichteten Raum um. «Seltsam, ich hätte schwören können …»

Mr. Keeble schien das Wohlergehen seiner Gäste eher am Herzen zu liegen. «Wie wär’s mit einem Schoppen Bitterbier, Sir? Vom Feinsten, auf Kosten des Hauses.» Er senkte die Stimme und blickte zur Küche.

«Sehr nett von Ihnen, Mr. Keeble», sagte Jury. Er nahm das Glas dankbar entgegen und leerte es bis zur Hälfte. Plant war aufgestanden und zu dem vorderen Giebelfenster des Gasthofs getreten. Er blickte hinaus. «Von hier aus kann man den ‹Toten Mann› nicht sehen, Inspektor. Wahrscheinlich kann man ihn von keinem der Fenster aus sehen, da ist diese Baumgruppe davor –»

«Das heißt?»

«Daß der Straßenarbeiter davon ausgehen konnte, daß ihn von hier aus keiner beobachten würde. Genausowenig wie von der Straße aus. Das Gelände ist ziemlich eben, und man sieht gut einen halben Kilometer weit in beide Richtungen. Es gibt natürlich diese Vertiefung in der Straße, dort, wo der schwarze Punkt ist, aber trotzdem …»

«Mit anderen Worten, der Straßenarbeiter war gar kein Straßenarbeiter? Ja, der Boden hätte sich am Fünfzehnten nachts ziemlich einfach wieder ausheben lassen. Und wenn ihn jemand gesehen hätte, jemand, der zufällig vorbeifuhr, hätte er ihn für einen Arbeiter gehalten, der zurückgekommen war, um noch etwas zu erledigen. Er hätte sich sogar eine Laterne anzünden können.»

«Ein fix und fertiges Grab, besser konnte er sich’s gar nicht aussuchen», sagte Plant. «Er brauchte sich nur ein bißchen umzuziehen, eine Mütze und so weiter, und niemand wäre etwas aufgefallen.»

«Er hätte zwar gesehen werden können, als er die Leiche von – von wo wohl? Sagen wir, von der Baumgruppe – zu dem ‹Toten Mann› schleppte, was wirklich nicht sehr weit ist. Aber von wem? Von hier aus kann man vielleicht sehen, daß jemand auf der Straße arbeitet, wenn die Leiche aber in eine Plane oder etwas Ähnliches eingewickelt war, hätte man das aus dieser Entfernung nicht erkennen können.»

«Und einer, der so kaltblütig zu Werke geht, würde auch ein Auto vorbeiwinken, falls eines auftauchte.»

«Oder eine, Mr. Plant!»

«Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Frau so was gemacht hat.»

«Es wäre aber möglich. Eine Frau kann sich genauso gut als Straßenarbeiter verkleiden.»

«Ja, natürlich. Denkbar wäre es.»

Mrs. Keeble kam mit einem Tablett aus der Küche hereingepoltert und stellte das Essen vor sie hin. Die drei saßen an einem Tisch an der Wand neben dem kalten Kamin, einen mit Besteck, Servietten und drei weißen Steinguttellern gedeckten Holztisch; auf ihren Tellern lagen gleich große Portionen von Fisch, Kartoffeln und breiigen grünen Erbsen.

Melrose warf einen Blick darauf und schob seinen Teller beiseite; statt dessen verlangte er das Bier, das Keeble spendiert hatte. Auch Jury betrachtete entmutigt den Fisch, der bestimmt in einer dieser Fertigteigmischungen gebraten worden war. Nur Wiggins, der gegen den Boden der Malzessig-Flasche schlug, um etwas Essig aus den winzigen Löchern zu schütteln, schien es zu schmecken.

«Der Wein», sagte Plant, «wird gleich kommen. Ich hoffe nur, sie läßt ihn auch etwas atmen.»

Wiggins gab einen Laut von sich, der zwischen einem Kichern und einem Wiehern lag. Jury, der nicht daran gewöhnt war, Wiggins lachen zu hören, gelang es nicht, das Geräusch eindeutig zu identifizieren. «Bevor ich’s vergesse, Sir», sagte Wiggins, den Mund voller Pommes frites, «Kriminaldirektor Racer möchte, daß Sie ihn sofort zurückrufen. Ich hab ihm gesagt, Sie hätten kaum eine ruhige Minute gehabt, seit Sie hier sind, Sir.» Wiggins hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen, weil er einen Vormittag im Bett verbracht hatte, aber er schien ihm bekommen zu sein, zumindest hatte es ihm die Zunge gelöst. Er verschlang den Fisch und die Pommes frites und zierte sich auch nicht, als Plant und Jury ihre Portionen auf seinen Teller kippten.

Die Gasthoftür wurde aufgestoßen, und drei Männer – darunter Superintendent Pratt – kamen herein. Jury, der auch gleich die Reporter hinter ihnen entdeckt hatte, stöhnte auf.

Sie hatten ihn ebenfalls entdeckt und stürmten die Bar; der Fotograf knipste die Bar von allen Seiten, als hätte er ein Fotomodell vor sich, das freche Posen für ihn einnahm.

«Sie müssen Oberinspektor Jury von der Kriminalpolizei sein. Ich komme vom Weatherington Chronicle.» (Kleine Fische, dachte Jury, die werden sich einfach abwimmeln lassen.) Der andere schien es nicht für nötig zu halten, sich vorzustellen, er stand einfach nur da, Füllfederhalter und Schreibblock in der Hand. Sie stellten die üblichen Fragen und bekamen die üblichen Antworten. Nein, die Polizei hatte den Täter noch nicht, aber die Ermittlungen waren im Gange … Jury dachte, daß er sich das einmal auf seinen Grabstein meißeln lassen könnte: Ermittlungen im Gange. Ja, in ein, zwei Tagen könnten sie der Presse Genaueres sagen. Einer der Reporter bemerkte mißbilligend, daß Jury in einem Augenblick wie diesem vor einem Bier saß und provozierte damit Pratts Ärger: «Wenn Sie nur halb soviel arbeiten würden wie der Oberinspektor, hätten Sie gar nicht die Zeit, blöde Kommentare loszulassen.» Daraufhin packten die Zeitungsleute zusammen und verließen den Raum mit wehenden Rockschößen.

Jury machte den Superintendent mit Melrose bekannt. «Mr. Plant ist der Mann, der die Leiche entdeckt hat.»

«Können Sie sich vorstellen, wie Tante Agatha darauf reagieren wird?» sagte Melrose. «Das Fest ist für sie verdorben.»

Kurz bevor sie sich auf den Weg machen wollten, tauchte Wachtmeister Pluck bei ihnen auf und stellte stolz ein kleines Köfferchen auf den Tisch.

Es war ein dunkelblauer, billiger, kleiner Vinylkoffer, für ein paar Wäschestücke und Toilettenartikel gedacht. In einem herausnehmbaren Plastikbehälter befanden sich mehrere Flaschen und Döschen, auf dem Kofferboden lagen frische Slips, ein Nachthemd und eine Bluse. Auch ein paar auffällige Ohrringe kamen zum Vorschein. Jury nahm die Kleidungsstücke heraus, öffnete die Dosen und roch an den Flaschen. «Lag sonst noch was im Wald herum?»

Pluck schüttelte den Kopf. «Nein, Sir. Der Koffer war zu, so wie Sie ihn vor sich sehen. Er lag unter einem Haufen von nassem Laub und Zweigen.»

«Sehr gut, Pluck. Könnten Sie nicht versuchen, die Judds wachzuhalten? Ich würde gern noch heute abend mit ihnen sprechen, es kann aber ziemlich spät werden. Andererseits werden sie wohl heute nacht sowieso nicht viel schlafen.»

«Ich begreife das nicht», sagte der Pfarrer. «Wer sollte diesem armen, harmlosen Mädchen etwas antun wollen? Sie kann nicht älter als neunzehn oder zwanzig gewesen sein.»

«Vierundzwanzig war sie, Mr. Smith. Und vielleicht nicht ganz so harmlos, wie wir es gern hätten. Wir müssen jedenfalls noch einmal verschiedene Dinge durchgehen, der Mord läßt alles in einem anderen Licht erscheinen.» Der Experte für Fingerabdrücke war in Rubys Zimmer, und die Fotografen waren auch schon ein- und ausgegangen; aber Jury wußte, daß nichts dabei herauskommen würde. Er stellte sich vor, daß Mrs. Gaunt gründliche Arbeit leistete, wenn sie sauber machte, und sie hatte Rubys Zimmer vor zwei Tagen geputzt. Der Experte kam die Treppe heruntergepoltert, seine Ausrüstung in der Hand. Er meinte, die Abdrücke seien keinen Pfifferling wert, er habe immer nur dieselben gefunden – die von Mrs. Gaunt höchstwahrscheinlich und die von einem Mann – Jurys vielleicht, er habe ja auch schon das Zimmer inspiziert. Ob seine Fingerabdrücke denn in einer Kartei seien? Der Beamte grinste.

«Wie ich Ihnen schon sagte, Inspektor», meinte der Pfarrer, «hat mir Daphne Murch das Mädchen vermittelt. Ich glaube, die beiden waren eng befreundet. Wenn jemand etwas weiß, dann Daphne.» Der Pfarrer schenkte sich ein Glas Port ein und bot auch Jury und Wiggins etwas an, sie lehnten jedoch ab. Dann machte er es sich in seinem Sessel bequem, und Jury nahm an, er wolle sich an den Gedanken gewöhnen, daß sein Hausmädchen nun tot war. Statt dessen sagte er: «Dieser Wirtshausname – Zum Hahn mit der Flasche … das hat nichts mit dem männlichen Huhn zu tun, sondern Hahn bedeutet hier vielmehr Zapfen. Ein Zapfen, wie man ihn für Fässer benutzte. Sie wissen, was ich meine? Mit dem Namen wurde also für gezapftes Bier Reklame gemacht; die Flasche bedeutete, daß man auch abgefülltes Bier zu trinken bekam.» Eine leichte Röte überzog sein Gesicht; anscheinend war ihm bewußt geworden, daß das nicht der richtige Augenblick für einen Exkurs über Wirtshausgebräuche war. «Wenn man sich vorstellt, daß all diese Morde praktisch nur den Mord an dem armen Mädchen vorbereiteten!»

«Vorbereiteten?» fragte Jury. «Nein, ich glaube, Sie sehen das falsch, Mr. Smith. Ruby wurde vor den anderen ermordet. Das bedeutet natürlich nicht, daß dieser Mord nichts mit den anderen zu tun hat.» Wiggins hatte nach längerem Wühlen zwischen Hustenpastillen, Husten- und Nasentropfen ein paar Players aus seiner Manteltasche gefischt und reichte sie Jury. «Hatten Sie jemals den Verdacht, Ruby könnte über jemanden im Dorf etwas wissen, was der Betreffende lieber für sich behalten hätte?»

«Erpressung? Wollen Sie darauf hinaus?»

Jury antwortete nicht.

«Nein. Sie plapperte ziemlich viel, aber ich hörte nicht immer zu. Obwohl eine Zeitlang das Gerücht kursierte – ich gebe natürlich nichts auf diese Art von Gerüchten – daß Ruby sich mit Marshall Trueblood eingelassen hatte.»

«Mit Marshall Trueblood?» Jury und Wiggins tauschten ungläubige Blicke aus, und Wiggins erstickte beinahe. Jury sagte: «Das kann ich mir kaum vorstellen, Herr Pfarrer, Sie etwa? Trueblood ist doch homosexuell?»

Der Pfarrer sah eine günstige Gelegenheit, sich auch in solchen Dingen beschlagen zu zeigen. «Er könnte auch das sein, was man bisexuell nennt, Inspektor.»

Das war nicht von der Hand zu weisen, zumal Trueblood sein affektiertes Benehmen bewußt zu übertreiben schien. «Aber Sie wissen das nicht genau?» Der Pfarrer schüttelte den Kopf. «War Ruby vielleicht vor ihrer Abreise besonders aufgeregt, oder benahm sie sich sonst irgendwie komisch?» Wieder schüttelte der Pfarrer den Kopf. Da Jury auch schon mit Mrs. Gaunt gesprochen hatte, der an Rubys Verhalten genauso wenig aufgefallen war, nahm er an, daß von ihnen keine weiteren Aufschlüsse zu erwarten seien. Für den Augenblick zumindest mußte er sich zufrieden geben. Jury erhob sich, und Wiggins klappte sein Notizbuch zu.

Draußen fragte Jury Wiggins, ob er nicht einstweilen nach Weatherington fahren und die Judds auf seinen Besuch vorbereiten könne: auch wenn es schmerzlich für Rubys Eltern wäre, er müsse sie unbedingt noch heute abend sprechen.

Als Jury die Bar der Pandorabüchse betrat, stand Twig in seiner Lederschürze herum und rieb die Gläser blank. Erschöpft hievte sich Jury auf einen der eichenen Barhocker und bestellte einen Whisky. Im Spiegel entdeckte er nur einen einzigen Gast – eine Frau mittleren Alters, die auf einem Wettschein offenbar die aussichtsreichsten Namen ankreuzte.

«Wo ist Mr. Matchett, Twig?»

«Er nimmt gerade im Speisesaal einen Aperitif zu sich, Sir.» Jury machte Anstalten, sich zu erheben. «Mit Miss Vivian, Sir.» Jury setzte sich wieder. Er starrte auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas. Aber Job war Job. Er sollte bereits dort drinnen sein und Fragen stellen. Er zwang sich, sein Glas zu nehmen und in den Speiseraum hinüberzugehen.

Zuerst dachte er, der Raum sei leer. Zumindest war er kaum beleuchtet – nur die roten Kugeln warfen ihr flackerndes Licht auf die Tische und die Wände. Jury stand im Schatten der Türnische. Schließlich entdeckte er sie, Simon Matchett und Vivian. Sie saßen halb verdeckt hinter einem Pfeiler. Vivian wandte ihm ihr Profil zu, von Matchett war nur eine Hand zu sehen, die auf ihrem Handgelenk lag.

Eigentlich war er ganz in ihrer Nähe, der Abstand zwischen ihnen konnte nicht mehr als sechs Meter betragen. Er versuchte, sich in Bewegung zu setzen, um diese kurze Strecke zurückzulegen, an ihren Tisch zu treten und seine Fragen zu stellen. Er rührte sich jedoch nicht vom Fleck. In diesem Augenblick erfuhr er am eigenen Leibe die Bedeutung des Ausdrucks «wie angewurzelt stehen zu bleiben».

Matchett beugte sich zu Vivian hinüber, und die Hand, die ihr Handgelenk umschlossen gehalten hatte, legte sich hinter ihrem Rücken auf die Stuhllehne.

Jury zog sich etwas tiefer in den Schatten zurück; kurz vor der Tür blieb er stehen, da er in dieser Position immer noch den Anschein erwecken konnte, gerade eingetreten zu sein, falls einer von ihnen sich umdrehen und ihn entdecken sollte.

Während dieser kurzen Augenblicke verharrten alle drei wortlos auf ihrem Platz, ein lebendes Bild. Dann schnappte er die letzten Worte eines Satzes auf, den Matchett von sich gab: «… wo wir leben werden, Liebling.»

Jury stand unbeweglich in dem Schatten; sein Glas wog so schwer wie ein Stein in seiner Hand.

«… hier könnte ich nicht mehr, Simon. Nicht, nachdem all das passiert ist. Und jetzt auch noch die arme Ruby Judd. Mein Gott!» Sie zog ihren Pullover an sich; Matchett half ihr dabei, und seine Hand blieb auf ihrer Schulter liegen.

«Großer Gott, denkst du ich, mein Herz? Du solltest einfach alles hinter dir lassen. Oder vielmehr, wir beide sollten das tun. Zu viele unangenehme Erinnerungen für jeden von uns. Vivian, mein Liebes –» Seine Finger fuhren von ihrem Nacken zu den Haaren hoch und schienen sich in den goldbraunen Strähnen zu verfangen. «Irland. Wir gehen nach Irland, Viv. Das wäre genau das Richtige für dich. Bist du schon einmal in Sligo gewesen?» Sie hielt den Blick gesenkt und schüttelte den Kopf. «Wirklich, das sollten wir tun – es ist das Land für dich. Komisch, nichts kann die Ruhe und den Frieden Irlands stören, nicht einmal dieser endlose Krieg. Es gehört immer noch zu den friedlichsten Plätzen dieser Welt.»

Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und schaute ihm in die Augen. «Ich glaube, du bist ein bißchen zu unternehmungslustig, um dich nach Irland zurückzuziehen. Es sei denn, du hast vor, dich der IRA anzuschließen.»

Seine Hand wanderte etwas tiefer, bis er mit einem Finger die Rundung ihrer Wange nachfahren konnte. «Das ist Unsinn. Ich sehne mich genauso nach Ruhe wie du. Ich möchte mit ein paar Wolfshunden vor einem prasselnden Kaminfeuer sitzen, in einem großen, mit Rauchschwaden erfüllten Raum. Hör zu, für die Pandorabüchse kriege ich schon einiges, und mit dem Geld kann ich mir dort was Neues kaufen – eine Kneipe vielleicht. Oder ich werde Waffenschmuggler, ganz egal was, wenn wir nur davon leben können –»

Daraufhin erfolgte eine kurze Pause. «Ich glaube, um unseren Lebensunterhalt brauchen wir uns nicht zu viel Sorgen zu machen.»

Die Hand fiel von ihrer Wange auf ihre Schulter und zog sich dann wieder auf den Tisch zurück. «Gib’s weg, Vivian!»

«Was soll ich weggeben?»

«Das Geld. Gib’s für einen guten Zweck, egal was. Du brauchst es nicht, und ich will’s nicht haben; bis jetzt hat es nur Unglück gebracht – mir zumindest. Mein Gott, du willst nicht einmal, daß die andern von uns erfahren. Und Weihnachten willst du auch nicht mit mir verbringen!»

Sie lachte. «Oh, Simon! Das ist doch kindisch.» Sie legte ihre Hand auf seine. «Ich hab das Melrose schon seit Monaten versprochen –»

«Er ist wahrscheinlich der einzige Mann, bei dem du dir sicher bist, daß er es nicht auf dein Geld abgesehen hat. Wenn ich nur die Hälfte hätte von dem, was er hat, würdest du mich auf der Stelle heiraten», sagte er bitter.

Während er versuchte, sich noch weiter in das Dunkel zurückzuziehen, hatte Jury das unwirkliche Gefühl, einer Theateraufführung beizuwohnen.

«Ich mache dir deswegen weiß Gott keine Vorwürfe», fuhr Simon fort, «nicht nach der schrecklichen Kindheit, die du gehabt hast. Offen gestanden, es würde dir auch nicht schaden, Isabel mal los zu sein.»

«Das ist das erste Mal, daß du etwas gegen Isabel sagst.»

«Es ist gar nicht gegen sie, ich denke nur, du solltest sie dir vom Hals schaffen. Sie erinnert dich an diese unglückselige Geschichte. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie das nicht auch ausnützt. Du denkst, du schuldest ihr so verdammt viel. Mein Herz, du schuldest überhaupt niemandem was. Und wenn du mich nicht heiraten willst, dann geh einfach so mit mir weg. Und leb mit mir zusammen. Dann kann ich überhaupt nie an dein Geld rankommen –» Sie schien nicht zu wissen, ob sie lachen oder weinen sollte. «Hör zu, mein Herz. Wir kaufen uns irgendeine alte Burgruine. Kannst du dir vorstellen, wie gut Irland für dich als Schriftstellerin sein wird? Und ich würde dich auch nicht stören, sondern einfach nur mit meinen Wolfshunden losziehen, mich um die Kneipe kümmern oder was sonst gerade anfällt – wenn ich dich nur bei mir habe. Das Land von Yeats! Ich kauf dir einen Turm wie Yeats für seine Frau. Obwohl ich schon froh bin, daß du nicht George heißt.» Sie lachte nun wirklich.

«Wunderschön», sagte Vivian. «Aber eigentlich liebte er sie gar nicht so sehr, oder? Seine große Liebe war doch Maud Gonne.»

«Verzeih, dann ist es Maud Gonne, an die du mich erinnerst. Nicht der gute alte George.»

Sie lachte. «Nett von dir.»

«Maud Gonne. Oder wie wär’s mit Beatrice? Oder du erinnerst mich an Jane Seymour – war sie nicht die einzige, die Heinrich der Achte wirklich geliebt hat?»

«Ich glaube. Zumindest war sie eine der wenigen, die er nicht hinrichten ließ.»

«Lassen wir das. Kleopatra – du erinnerst mich an Kleopatra –»

«Ist das nicht etwas weit hergeholt?»

«Nicht in deinem Fall. Und Dido – ach! Dido, Königin von Karthago. Weißt du, was sie sagte, als sie Aeneas erblickte?»

«Es ist mir peinlich, aber ich weiß es nicht. Siehst du dich selbst in der Rolle des Aeneas?»

«Natürlich. Agnosco veteris vestigia flammae. Sie sagt –»

«‹Ich erkenne› –» Jury blickte Vivian in die Augen und stellte sein Glas auf den Tisch – «die Spuren einer alten Flamme.»

Sie starrten mit offenen Mündern zu ihm auf. Dann riefen sie gleichzeitig: «Inspektor Jury!»

«Entschuldigen Sie, ich wollte mich nicht an Sie heranschleichen. Sie waren nur so … vertieft.»

Vivian stieß ein kurzes, atemloses Lachen aus. «Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen! Ich bin nur ganz überwältigt, so gebildete Männer um mich zu haben. Setzen Sie sich doch.»

Jury zog einen Stuhl hervor und zündete sich eine Zigarette an. «So gebildet bin ich gar nicht. Es klingt nur großartig. Ein Mann, der für solche Dinge ein Ohr hat, kann dem nicht widerstehen.»

«Ebensowenig wie eine Frau, Inspektor.» Sie lächelte ihm zu, aber er wandte den Blick sofort ab. «Es klingt wirklich sehr gut.»

«Ja, aber leider bleibt uns nicht viel Zeit für schöne Dinge», sagte er etwas zu scharf und schob das Besteck zur Seite. «Wir haben es mit einem neuen Mordfall zu tun, wie Sie wohl schon gehört haben. So etwas spricht sich ja schnell rum.»

Er bemerkte, wie Vivian rasch den Blick abwandte und auf das Tischtuch starrte – wie ein Kind, dem man die Leviten gelesen hatte. «Ruby Judd», sagte sie kaum hörbar.

«Ja, Ruby Judd.»

«Wir haben gerade darüber gesprochen», sagte Matchett.

Ach, tatsächlich, gerade eben, dachte Jury.

«Wir warten auf unser Abendessen, Inspektor. Wollen Sie nicht mitessen?»

«Ja. Danke.»

Twig kam an ihren Tisch, und Matchett hieß ihn den Salat bringen.

«Isabel ist zu den Bicester-Strachans gegangen», sagte Vivian. «Und ich wollte nicht allein zu Hause bleiben.» Sie starrte auf den Stein hinter Matchetts Stuhl, als erwartete sie auf seiner uralten Oberfläche ein Menetekel geschrieben zu sehen. «Vielleicht haben wir irgendwie schon damit gerechnet.»

«Mit was?» fragte Jury überrascht. «Mit Ruby Judds Tod?»

«Nein, aber daß irgendwann mal einer aus Long Piddleton an der Reihe sein würde. Im Grunde glaubte doch keiner von uns, daß all diese Leute nur so zum Spaß umgebracht wurden.»

«Ich weiß nicht. Was glaubten Sie denn?»

Sein scharfer Ton schien sie etwas aus der Fassung zu bringen. Begreiflicherweise, dachte er. Ihr Verhältnis zu Matchett ging ihn ja schließlich nichts an. Oder doch? Matchett hatte Vivians bauchiges Weinglas sehr großzügig mit weißem Medoc gefüllt; Jury winkte ab.

Lächelnd meinte Matchett zu Vivian: «Das sagst du. Ich glaube eher, die meisten von uns dachten, daß … daß sie ‹nur so zum Spaß› umgebracht wurden. Aber warum sollte jemand Ruby Judd etwas antun wollen? Sie ist die letzte, auf die ich getippt hätte.»

Während Twig den Tisch mit den Salaten hereinrollte, zog Jury aus dieser Bemerkung den Schluß, daß Matchett anscheinend eine bestimmte Vorstellung von Schicklichkeit hatte: wenn sich schon jemand darauf verlegte, Leute umzubringen, dann sollte er wenigstens die Reichen und nicht die Armen umbringen.

Twig stellte Salatschüssel, Salatteller und die Flasche mit dem Öl bereit. Als er die Zitrone über den Blättern ausdrücken wollte, stand Matchett auf und sagte: «Ich mach das schon, Twig.» Geschickt besprenkelte er die Schüssel mit Öl und mischte den Inhalt mit einem hölzernen Salatbesteck.

«Wo waren Sie beide am Dienstagabend vor einer Woche?»

Matchett zerbrach ungerührt ein Ei über dem Salat, Vivian hingegen machte einen ziemlich nervösen Eindruck, als sie sagte: «Zu Hause – ich kann mich nicht mehr erinnern … Simon?»

War Simon auch schon ihr Gedächtnis? Matchett schüttelte den Kopf. «Kann ich Ihnen auch nicht so ohne weiteres sagen. Oder Moment mal. Zwei Abende davor wurde doch dieser Small umgebracht –» Gabel und Löffel des Bestecks verharrten in der Luft. «Ich war hier, jetzt erinnere ich mich wieder, den ganzen Nachmittag und Abend.»

«Ich muß zu Hause gewesen sein», sagte Vivian unsicher. «Ich glaube, Oliver kam vorbei.»

Jury bemerkte, daß Matchett das Gesicht verzog.

«Machen Sie denn nie eine Pause, Inspektor?» Matchett rieb frischen Käse über den Salat und streute noch eine Handvoll geröstete Brotwürfel darüber.

«Würde ich, wenn unser Mörder das auch täte.»

Matchett reichte ihnen zwei Glasteller mit Salat. Als Jury ihn versuchte, fand er ihn köstlich. Es gab bestimmt nicht viele Männer, die sich über einen noch frischen Mord unterhalten, einen Caesar-Salat mischen und die Rolle des Erwählten bei einem so exquisiten Wesen wie Vivian Rivington spielen konnten. Was immer er auch war, ein einfacher, unkomplizierter Bursche war er nicht.

«Also, Daphne, sprechen wir über Ruby Judd.»

Es war eine Stunde später, und er saß mit ihr am selben Tisch im Speiseraum. Matchett war gegangen, um Vivian Rivington nach Hause zu bringen.

Daphne hatte einen Berg Kleenextücher vor sich aufgetürmt und aufgebraucht, so viele Tränen waren geflossen, seit sie von Rubys traurigem Schicksal gehört hatte.

«Sie sind doch mit ihr befreundet gewesen? Ich habe gehört, daß Sie sie auch bei dem Pfarrer untergebracht haben.» Jury hatte die Fotos aus seiner Brieftasche gezogen und auf den Tisch gelegt. Eines zeigte Ruby in einer der üblichen starren Posen. Sie hatte langes, schwarzes Haar und ein hübsches, ausdrucksloses Gesicht. Auf dem anderen Schnappschuß war mehr von ihrer üppigen Figur zu sehen: große Brüste, die sich unter einem zu engen Pullover abzeichneten, und wohlgeformte Beine. Ihr Mund war zu einer nicht gerade schmeichelhaften Grimasse verzogen, da sie direkt in die Sonne blinzelte. Ihr Gesicht war halb im Schatten.

«Ja, Sir, das hab ich», sagte Daphne und strich sich die Locken aus der schweißbedeckten, glänzenden Stirn. Ihr Gesicht war vom Weinen schon ganz rot und verquollen.

«Wie lange haben Sie sie gekannt, Daphne?»

«Oh, schon seit Jahren. Seit der Schulzeit. Wir waren in derselben Klasse. Ich komme auch aus Weatherington, wissen Sie. Als die letzte Hausangestellte des Pfarrers gekündigt hat, weil sie heiraten wollte und nur noch diese Mrs. Gaunt bei ihm war – ein richtiger Hausdrachen ist das – hab ich ihn gefragt, ob er nicht wieder ein Mädchen haben will, ich würde eine kennen, die sehr tüchtig ist und Arbeit sucht. Er hat gesagt, ich soll sie vorbeischicken.» Daphne blickte auf ihre Schuhe und sagte mit matter Stimme: «Ich hätte mir das vielleicht doch überlegen sollen, Sir. Ich meine, sie war nicht gerade die Zuverlässigste.» Sie hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie einer Toten etwas Schlechtes nachgesagt hatte.

«Was meinen Sie mit nicht zuverlässig?» Jury bemerkte, daß Twig die Kristallgläser besonders hingebungsvoll polierte, schon seit fünf Minuten hielt er ein und dasselbe Glas in der Hand.

Daphne senkte ihre Stimme. «Ruby saß ein- oder zweimal ganz schön in der Patsche, verstehen Sie?»

«In was für einer Patsche?» Jury war überzeugt, daß die Schwierigkeiten mit Rubys Liebesleben zu tun gehabt hatten, denn das Gesicht der Kellnerin war auf einmal puterrot geworden. Und da ihr anscheinend auch die Worte im Hals steckenblieben, kam er ihr zu Hilfe: «War Ruby schwanger?»

«O nein, Sir, nicht, daß ich wüßte. Sie hat nie was davon gesagt. Wer … einmal ist sie auch schwanger gewesen. Einmal. Vielleicht aber auch mehr als einmal.» Daphne sah aus, als wäre sie selbst vom Pfad der Tugend abgekommen.

«Sie hatte eine Abtreibung, meinen Sie das? Oder vielleicht auch mehrere?»

Daphne nickte stumm und warf einen verstohlenen Blick in Twigs Richtung. Aber der alte Diener hatte sich nach hinten verzogen, als er Jurys Augen auf sich spürte.

«Manchmal tat sie mir beinahe leid. Was soll ein Mädchen wie sie auch machen, wenn ihre Familie sie immer nur abschieben will. Ihre Alten sind schreckliche Spießer. Sie hat sich aber nie getraut, ihnen das zu sagen. Als Kind hatte sie eine Tante und einen Onkel, zu denen sie geschickt wurde. Zu ihrer Tante Rosie und ihrem Onkel Will, hat sie gesagt. An ihnen hing sie viel mehr als an ihren Alten. Die wollten sie bloß loswerden, bestimmt.»

«Sie und Ruby sind also sehr gute Freundinnen gewesen?»

Daphne preßte ein Kleenex gegen ihre Nase. «Ja, schon. Aber wenn sie mir was erzählte, wollte sie mich eigentlich nur neugierig machen. Anvertraut hat sie mir nie was.»

Jury fand es bemerkenswert, daß das Mädchen in der Lage war, solche Nuancen zu erkennen. Die meisten Mädchen hätten gekicherte Anspielungen schon für einen Austausch von Vertraulichkeiten gehalten.

Sie fuhr fort. «Soviel ich weiß, hat Ruby mit keinem aus dem Dorf was gehabt. Aber sie machte immer solche Andeutungen, daß sie mit mehr als einem …» Daphne errötete und strich den Rock ihrer schwarzen Uniform glatt.

«… schläft, meinen Sie das?»

Sie nickte; anscheinend fand sie das Wort weniger anstößig, wenn ein Polizeibeamter es aussprach. «Die Sache ist, Ruby war schon immer eine Geheimniskrämerin. Ganz egal, ob nun was dahintersteckte oder nicht. Sie versuchte aus allem was zu machen. Zum Beispiel fragte sie mich, ob ich denn nicht wissen wolle, woher ihr neues Kleid, ihre neue Handtasche, ihr Schmuck oder was weiß ich noch alles, stammen würde – als ob einer in Long Pidd sie, hmmm, sie aushalten würde. Sie hatte dieses Goldarmband, das sie immer trug – ich hab sie nie ohne gesehen – du lieber Himmel, was hat sie damit für ein Theater gemacht! Zuerst sagte sie, sie hätte es geschenkt bekommen, und dann behauptete sie, sie hätte es gefunden. Bei Ruby wußte man nie, ob sie die Wahrheit sagte. Und dann diese ganzen Geschichten mit Mrs. Gaunt. Ruby machte gerade die Hälfte von dem, wofür sie bezahlt wurde. Wenn sie abstauben oder aufräumen sollte, fing sie mit dem Pfarrer an zu quatschen; er erzählte ihr dann meistens auch was, und sie tat so, als würde sie das brennend interessieren. Er merkte überhaupt nicht, daß sie sich nur um ihre Arbeit drücken wollte und gerade einmal mit dem Staubwedel über seinen Schreibtisch fuhr. Wenn sie die Kirche ausfegen sollte, setzte sie sich einfach wo hin und las ihre Filmzeitschriften oder schrieb in ihr Tagebuch. Manchmal hat sie sich auch die Fingernägel lackiert.» Daphne kicherte.

«Ruby hat ein Tagebuch gehabt? Haben Sie es gesehen?»

«O nein, Sir. Sie hätte es mir auch nie gezeigt, wo sie doch immer so geheimnisvoll tat.»

Jury nahm sich vor, Wiggins zu Mrs. Gaunt zu schicken, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen.

«Stutzig wurde ich erst, als Ruby behauptete, sie wüßte was über jemanden in Long Pidd.»

«Hat sie das so gesagt?»

Daphne nickte. «Haben Sie eine Ahnung, was sie damit gemeint hat?» Daphne schüttelte den Kopf so entschieden, daß ihre hellbraunen Löckchen wie kleine Korken am Rand ihres gestärkten weißen Häubchens auf und ab hüpften.

«Nein, Sir. Ich war wirklich neugierig und hab immer wieder versucht, es aus ihr rauszukriegen, aber je mehr ich mich anstrengte, desto komischer schien sie das zu finden. Es wäre doch wirklich eine Überraschung, meinte sie, wenn herauskäme, daß sie jemanden am Bändel hätte. Eine richtige Überraschung würde das werden.»

Jury seufzte. Bei jemanden wie Ruby Judd würde es praktisch unmöglich sein, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ihr Geheimnis konnte alles sein – von der Frau aus dem Dorf, die für den Milchmann die Beine breit gemacht hatte, bis … zu Mord.

Weatherington war eine mittelgroße Stadt, die ungefähr doppelt so viele Einwohner hatte wie Sidbury. Und Sidbury war ungefähr doppelt so groß wie Long Piddleton. Die drei Orte waren auch gleich weit voneinander entfernt; Sidbury lag etwa achtzehn Kilometer westlich von Long Piddleton und Weatherington achtzehn Kilometer südwestlich von Sidbury. Zur Unterstützung der örtlichen Polizei hatte die Londoner Zentrale eines ihrer Labors in Weatherington aufgebaut. Und es gab ein kleines Krankenhaus, in dem Appleby seine Obduktionen durchführte.

Auf dem Revier mit den glänzenden, beigefarbenen Wänden sprang einem vor allem die abblätternde Farbe ins Auge. Aber auf Schönheit kam es hier nicht an. Jury ging an der Telefonzentrale vorbei, in der eine großmütterlich aussehende Frau an einem roten Wollschal strickte. Im Büro beugte sich der diensthabende Beamte über sein Buch unter einem gelben Schild. «Herumlungern verboten». Jury hatte sich schon oft gefragt, wer wohl an Orten wie diesen herumlungern wollte. Er ging an Tischen und Schränken vorbei, die vor Akten überquollen, während die Angestellten vor allem ihre Schreibmaschinen hin- und herzutragen schienen. Er ließ sich mit Dr. Appleby verbinden.

«Nein, das war sie nicht», antwortete der Arzt auf Jurys Frage, ob Ruby Judd schwanger gewesen sei, als sie starb. «Wahrscheinlich hätte sie gar keine Kinder bekommen. An ihr ist schon zu viel rumgepfuscht worden. Sie hatte mit Sicherheit schon mehr als eine Abtreibung hinter sich. Vor ein paar Jahren.»

Irgendwie war Jury erleichtert. Wäre sie nämlich schwanger gewesen, hätte er nach dem Liebhaber suchen müssen, der sie nicht heiraten wollte und dessen Ruf ruiniert gewesen wäre, wenn Ruby geplaudert hätte. Eine solche Erklärung hätte ihn gezwungen, den Mord an Ruby getrennt von den anderen Morden zu behandeln. Genau das Gegenteil von dem, was der Pfarrer gesagt hatte, war der Fall: die anderen Morde führten nicht zu dem Mord an Ruby, sondern von ihm weg.

«Vielen Dank, Dr. Appleby. Es tut mir leid, daß ich Sie so spät noch belästigen mußte.»

«Spät? Es ist doch erst halb zehn, Mann. Wir in der Provinz arbeiten doch rund um die Uhr.» Appleby kicherte und legte auf.

Jury ging zu dem Kriminalbeamten an dem Schreibtisch. Selbst um diese Zeit waren noch über ein Dutzend Leute auf dem Revier. Sie warteten nur darauf, auch endlich eine Rolle spielen zu dürfen, und es schien ihnen sehr zu gefallen, daß Jury endlich gekommen war. «Der Superintendent ist nicht da?»

«Nein, Sir.»

«Haben Sie die Akte über den Fall Celia Matchett? Der Mord in diesem Gasthof in Dartmouth. Liegt schon einige Jahre zurück.»

«Ja, Sir, wenn Sie einen Augenblick warten, bring ich –»

«Ist nicht nötig, ich muß zu den Judds und kann sie mir auf dem Rückweg abholen.» Jury wandte sich Wiggins zu, der sein Notizbuch und seine Schreibutensilien zusammenpackte. «Haben Sie bei den Judds angerufen?» Wiggins nickte. «Nun, dann mal los.»

Mr. und Mrs. Judd lebten in dem neueren Teil von Weatherington, einer Siedlung aus langen Reihen niedriger Backsteinhäuser, die nachts kaum voneinander zu unterscheiden waren und sich wohl auch tagsüber zum Verwechseln ähnlich sahen. Vielleicht bedeuteten sie einen Fortschritt gegenüber den grauen Sozialwohnungen auf der anderen Seite der Stadt, aber sehr groß konnte er nicht sein. Weatherington hatte nicht viel zu bieten. Es war als Siedlung, als eine dieser sozialen Gartenstädte angelegt worden, und irgendwann mußte dann das Geld ausgegangen sein, oder es war von anderen, weniger auf Ästhetik bedachten Bauherren kassiert worden. Das Ergebnis war eine amorphe Masse von Häusern ohne erkennbaren Stil.

Auf dem Rasen vor dem Reihenhaus der Judds konnte Jury die Umrisse schmückender Elemente erkennen, Gipsenten und Gipsgänse und kleine Grotten wahrscheinlich, die unter dem Schnee fast völlig verschwanden.

Eine junge Frau öffnete ihnen die Tür. Sie war eine etwas eckigere Ausgabe von Ruby, falls Ruby ungefähr so ausgesehen hatte wie auf den Fotos. Ihre Schwester, dachte Jury. «Ja?» Ihre näselnde Stimme und ihre vorgetäuschte Ahnungslosigkeit erinnerten ihn an Lorraine Bicester-Strachan. Miss Judd fehlte nur deren angeborene Arroganz.

«Miss Judd?» Sie nickte und schaffte es, ihre kecke, kleine Nase, die sie sowieso schon ziemlich hoch trug, auch oben zu behalten.

«Inspektor Richard Jury, Miss, Kriminalpolizei. Und Wachtmeister Wiggins.» Wiggins tippte an seinen Hutrand. «Ich glaube, Wachtmeister Wiggins hat bei Ihnen angerufen und unseren Besuch angekündigt.»

Sie trat zur Seite. Als er mit Wiggins an ihr vorbeiging und in die dunkle Diele trat, bemerkte Jury, daß sie keineswegs sehr niedergeschlagen wirkte. Da sie keine Anstalten machte, ihnen ihre Mäntel abzunehmen, warf Jury seinen Mantel einfach über das Treppengeländer.

«Dort», sagte sie nur und zeigte auf einen Raum am Ende des engen, dunklen Flurs, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Wahrscheinlich war es das hintere Wohnzimmer, da in dem Zimmer vorn kein Licht brannte. Es wurde bestimmt nur sonntags benutzt. In einer Ecke stand ein kümmerlicher, mit Lametta behängter Baum, auf dessen Sockel künstlicher Schnee gesprüht war.

In dem hinteren Wohnzimmer, das mit elektrischen Speicheröfen und einem elektrischen Kaminfeuer geheizt wurde, saßen – erstaunlich ungerührt – die Judds.

Mrs. Judd, eine stämmige, untersetzte Frau, die kaum von ihrem Strickzeug aufblickte, wenn sie sprach und auch dann noch so klang, als wäre sie überhaupt nicht Rubys Mutter, meinte: «Es ist schrecklich, da arbeitet man sich die Finger für sie wund, und das ist dann der Dank dafür.»

Jury konnte nur mit Mühe seine Empörung über ihre Gefühllosigkeit unterdrücken. «Ich glaube nicht, daß Ihre Tochter sich das ausgesucht hat, Mrs. Judd. Ich nehme nicht an, daß sie ihr Leben in einem Graben beenden wollte.» Seine Worte klangen so kalt und unbeteiligt, wie Mrs. Judd sich bei der Nachricht vom Tod ihrer Tochter gezeigt hatte.

Mr. Judd sagte überhaupt nichts, er begnügte sich mit ein paar kehligen Lauten. Er gehörte zu der Sorte von Männern, die ihren Frauen das Reden überlassen.

«Schon als Kind ließ sich Ruby nie was sagen. Die einzige, von der sie sich was sagen ließ, war ihre Tante Rosie – das ist Jacks Schwester. Deshalb schickten wir sie auch immer nach Devon, wenn wir nicht mit ihr fertig wurden. Später, als sie mit der Schule fertig war, ging sie hier aus und ein, als wäre sie überhaupt nicht mit uns verwandt und schon gar nicht unsere Tochter. Sie schickte uns nie Geld, und wenn sie keine Arbeit hatte und monatelang hier rumhockte, zahlte sie auch nichts für ihren Unterhalt. Wir waren für sie ein billiges Quartier, nichts weiter. Unsere Merriweather ist da ganz anders –» Und die Mutter lächelte dem spröden Wesen zu, das bei dem elektrischen Kaminfeuer saß und eine Filmzeitschrift las. Merriweather lächelte gezwungen zurück und versuchte den Anschein zu erwecken, als wäre sie bei dem Gedanken an den Tod ihrer Schwester zutiefst erschüttert. Sie hatte sogar ein Taschentuch parat, um die Tränen zu trocknen, die nicht kommen wollten.

«Wegen unserer Merriweather haben wir noch keine schlaflose Nacht gehabt.» Mrs. Judd setzte ihren Schaukelstuhl in Bewegung, schaute selbstzufrieden auf das junge Mädchen und klapperte dabei eifrig mit ihren Stricknadeln. Judd, der im Unterhemd und in Hosenträgern dabeisaß, warf schließlich ein: «Sprich nicht schlecht von der Toten, Mutter. Das gehört sich nicht für einen Christen.»

Eine solche Gleichgültigkeit dem Tod eines Kindes gegenüber hatte Jury noch nie erlebt. Und dabei war es nicht einmal ein natürlicher Tod, sondern ein Mord. Daß ihre Tochter Schreckliches erlebt haben mußte, schien die Judds nicht im geringsten zu interessieren. Zum Teufel mit ihnen. Ihm wurde dadurch die Arbeit nur leichter gemacht – kein Beileid, keine vorsichtigen, geflüsterten Fragen, um ihre Gefühle zu schonen.

«Mrs. Judd, wann haben Sie Ihre Tochter zum letztenmal gesehen?» Wiggins hatte sein Notizbuch und eine Schachtel Lakritzpastillen hervorgeholt. Er fing an, Pastillen zu lutschen und mitzuschreiben, während Mrs. Judd ihr Strickzeug beiseite legte, zur Decke blickte und sich ihre Antwort zurechtlegte.

«Das muß – warten Sie mal, heute ist Donnerstag, ja, das muß Freitag vor einer Woche gewesen sein. Ich weiß noch, ich kam gerade vom Fischhändler. Ich hatte frische Scholle eingekauft und mit Ruby noch darüber gesprochen.»

«Aber Sie sagten doch, sie sei ganz selten zu Besuch gekommen. Das wäre ja erst vor zwei Wochen gewesen. Nur ein paar Tage, bevor sie starb. Wir nehmen an, daß sie am Fünfzehnten ermordet wurde.»

«Ja, ja, es muß vor zwei Wochen gewesen sein. Aber sie blieb nur die Nacht über. Behauptete, sie müßte am Samstag wieder zurücksein, weil der Pfarrer sie brauchen würde.»

«Warum ist sie gekommen?»

Mrs. Judd zuckte mit den Schultern. «Bei Ruby wußte man nie. Wahrscheinlich wollte sie irgendeinen Kerl treffen. Sie hatte mehr von der Sorte, als ihr guttat, das kann ich Ihnen sagen. Der Polizeibeamte von heute nachmittag hat uns erzählt, daß Ruby letztes Wochenende, bevor sie abhaute, gesagt hat, sie geht uns besuchen. Daß ich nicht lache. Sie war mit irgendeinem Kerl unterwegs – so war das.»

«Offensichtlich nicht, Mrs. Judd», sagte Jury betont gleichmütig. Aber er traf ins Schwarze damit. Sie wurde puterrot. «Sie hatte anscheinend viel Erfolg bei Männern, stimmt das?»

«Dazu gehört nicht viel, Inspektor.» Sie musterte ihn, als müßte er das aus eigener Erfahrung wissen. «In der Zeit, in der sie hier war, trieb Ruby sich immer nur herum, während Merriweather –»

Jury zeigte jedoch kein Interesse für die tugendhafte Merriweather Judd mit ihrem spitzen Gesicht und ihren gekräuselten Haaren. Als sie bemerkte, daß Jury sie anschaute, betupfte sie sich mit ihrem Taschentuch die Augen.

«Wo war Ruby, bevor sie hierher zurückkam? Ich meine, wo hat sie zuletzt gearbeitet?»

«In London. Aber fragen Sie mich nicht, was. Sie behauptete, bei einem Friseur, aber wo soll sie das gelernt haben?»

«Sie wissen nicht, wo sie in London gewohnt hat oder mit wem sie befreundet war? Oder warum sie wieder zurückgekommen ist?»

Mrs. Judd blickte ihn an, als wäre er keine sehr frische Scholle. «Ich sagte Ihnen doch, weil sie kein Geld mehr hatte, kein Geld, um es zum Fenster rauszuwerfen, wie sie das gewohnt war.»

«Wahrscheinlich arbeitete sie gar nicht in einem Friseurladen», unterbrach die Merriweather. «Wahrscheinlich kam das Geld von ganz woanders her.»

«Wollen Sie damit sagen, daß Ruby eine Prostituierte war?»

Das schlug ein wie eine Bombe. Mrs. Judd bekam einen hochroten Kopf und ließ ihr Strickzeug fallen. Merriweather schnappte nach Luft. Sogar Judd rührte sich in seinem Sessel.

«Schrecklich, so was von der armen Kleinen zu sagen – jetzt wo sie tot ist!» Mrs. Judd suchte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch. Judd tätschelte ihren Arm.

«Tut mir leid, Mrs. Judd.» Er wandte sich Merriweather zu. «Es war Ihre Bemerkung, Miss; ich nahm an, Sie hätten das damit gemeint.»

«Sie hat nur gesagt, sie würde sich bald ein schönes Leben machen. Und jede Menge Geld haben.»

Jury konzentrierte sich auf Merriweather. «Wann hat sie das gesagt?»

Das Mädchen befeuchtete ihren Finger und blätterte eine Seite in ihrem Magazin um. «Als sie hier war, Freitag vor einer Woche, wie Mama gesagt hat. Sie machte immer irgendwelche Andeutungen. Ich hörte schon gar nicht mehr zu.»

«Was für Andeutungen?» fragte Jury.

«Oh, zum Beispiel: ‹Ich kauf dann nur noch bei Liberty ein und nicht mehr bei Marks und Sparks.› Blödsinn von der Art.»

«Nichts darüber, von wem sie das Geld erwartete oder wofür?»

Merriweather schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf ihre Zeitschrift geheftet.

«Ruby soll ein Tagebuch geführt haben. Hat einer von Ihnen es schon einmal gesehen?» Alle drei schüttelten verneinend die Köpfe.

«Ich schicke dann morgen mal einen Beamten vorbei, damit er in ihrem Zimmer danach sucht.»

«Es ist schon einmal durchsucht worden», sagte Mrs. Judd. «Sie könnten etwas mehr Rücksicht nehmen auf die armen Angehörigen.»

Von ihrer Scheinheiligkeit angewidert, erhob Jury sich rasch. Auch Wiggins stand auf und steckte den Füllfederhalter in seine Hemdentasche. «Sobald wir die Genehmigung der Zentrale haben, wird die Leiche Ihrer Tochter zur Beerdigung freigegeben.»

Mrs. Judd schaffte noch einen ehrenwerten Schlußauftritt: «O Jack», heulte sie, «unsere arme Ruby.» Und Judd sagte, «Ist ja schon gut, Mutter, beruhige dich.»

Nur Merriweather fiel aus der Rolle. Als sie sie zur Tür begleitete, lächelte sie auf ein Foto von Robert Redford hinunter.

Auf dem Weg zurück nach Long Piddleton verlangsamte Jury seine Geschwindigkeit auf der Höhe des Hahns mit der Flasche bei dem «Toten Mann», der nun durch ein paar Laternen beleuchtet worden war. Er sah wieder Ruby Judds Arm aus der gefrorenen Erde ragen. Er erschauerte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Irgendein Gedanke schien aus der Tiefe seines Bewußtseins an die Oberfläche kommen zu wollen. Was war es nur? Als er mit dem Morris in den Hof der Pandorabüchse einfuhr, grübelte er noch immer darüber nach.

In dieser Nacht schlief Jury mit Matchetts Akte auf der Brust ein.