IV Montag, 21. Dezember
Die Augen mit der Hand schützend wie ein Mann, der in das grelle Licht der Sonne blickt, blinzelte Kriminalinspektor Richard Jury mißtrauisch zu Kriminaldirektor Racer hinüber. Racer saß auf der andern Seite des leergefegten Schreibtischs – er schaffte es immer, die Arbeit von seinem auf den eines anderen wandern zu lassen – und rauchte ruhig und bedächtig eine seiner teuren Zigarren. Die andere Hand des Kriminaldirektors spielte mit seiner goldenen Uhrkette, die von einer Westentasche zur andern lief. Sein Hemd mit den Stulpenmanschetten war kobaltblau und sein Anzug aus Donegal-Tweed offensichtlich maßgeschneidert. Für Inspektor Jury hatte sein Vorgesetzter etwas von einem Dandy, etwas von einem Amateur und etwas – sehr wenig – von einem Kriminalbeamten an sich.
Nicht, daß Inspektor Jury sich der Illusion hingab, seine Kollegen vom Scotland Yard bestünden aus nichts als purer Redlichkeit und Menschenfreundlichkeit – der Londoner Bobby mit seinem Helm und Regencape, der den Touristen liebenswürdig den Weg weist. Oder, daß Höhergestellte wie er zum Beispiel in hübschen glänzenden Anzügen unter der Lünette eines Hauseingangs auftauchen und zu der Frau im Morgenrock sagen würden: «Nur eine Routineangelegenheit, Gnädigste.» Nein, sie waren keineswegs alle diese nüchternen, mit einem messerscharfen Verstand ausgestatteten Hüter des Gesetzes. Aber Racer trug wirklich rein gar nichts zu diesem liebenswerten alten Klischee bei. Er sah einfach schrecklich großbürgerlich aus, wie er so dasaß und wahrscheinlich über sein Dinner oder seine neueste Eroberung nachdachte, die ihm dabei Gesellschaft leisten würde, während er es den Jurys dieser Welt überließ, mit dem Schlamassel fertig zu werden.
Jury schaute unter dem Schirm seiner Hand hervor. «Ein Mann mit dem Kopf in einem Bierfaß?» Er hoffte noch immer, das Ganze würde sich als schlechter Witz entpuppen.
Racer lächelte säuerlich. «Noch nie was von dem Herzog von Clarence gehört, wie?» Dem Kriminaldirektor machte es Spaß, sich mit Jury zu messen, und wie ein richtiger Spieler oder ein Masochist versuchte er es immer wieder, obwohl er nie gewann.
«Er wurde, wie es heißt, in einem Faß Malmsey ertränkt», sagte Jury und ließ das bißchen Bildung, das Racer besaß, noch weiter schrumpfen.
Verärgert schnippte Racer mit den Fingern, als wolle er einen Hund rufen. «Die Fakten, zuerst die Fakten.»
Jury seufzte. Die beiden Mordfälle in Northamptonshire waren ihm in ihren Grundzügen geschildert worden, und er sollte nun wie ein Stenograf das Ganze wiederholen. Racer paßte immer genau auf, ob ihm irgendwelche Fehler unterliefen.
«Das erste Opfer, William Small, wurde in dem Weinkeller der Pandorabüchse gefunden. Er war mit einem Stück Draht erdrosselt worden, sein Kopf steckte in einem Bierfaß. Der Besitzer braut gelegentlich sein eigenes Bier –»
Racer unterbrach ihn: «Zu viele von diesen alten Gasthäusern lassen sich beliefern. Mir sind die andern bedeutend lieber.»
Er zog einen kleinen goldenen Zahnstocher hervor, und während er in seinen Backenzähnen herumstocherte, bedeutete er Jury fortzufahren.
«Das zweite Opfer, Rufus Ainsley, wurde in der Hammerschmiede auf einem Stützbalken über der Uhr gefunden; der Balken, auf dem sich die geschnitzte Figur eines Schmieds befand …» In der Hoffnung, doch noch von Racer zu hören, daß es sich um einen Scherz handelte, versuchte Jury seinen Blick aufzufangen. Aber der Polizeichef saß einfach nur stumm da; den Zahnstocher hatte er weggelegt, und seine ledernen Lippen sahen aus, als wären sie über Nacht, zusammen mit seinen Schuhen, von irgendwelchen Kobolden zugenäht worden. Am frustrierendsten fand Jury, daß Racer anscheinend nichts an dieser Geschichte befremdete. Nachdem der Herzog von Clarence schon so geendet hatte, wunderte er sich wohl nicht mehr über Köpfe, die in Bierfässern steckten.
Jury fuhr fort: «Eine Kellnerin, die in dem Gasthof arbeitet – Daphne Murch –, entdeckte als erste die Leiche von William Small, und sie rief den Wirt, Simon Matchett. In der Bar saßen mehrere Leute; sie behaupteten aber alle, den Toten nicht gekannt zu haben. Small war nach der Aussage des Wirts erst an diesem Tag angekommen und hatte ein Zimmer verlangt. Das war das erste Verbrechen. Das zweite erfolgte 24 Stunden später. Die Leiche von Ainsley hatte den Platz der geschnitzten Figur auf dem Balken eingenommen …»
Jury verstummte. Ein Mörder, der sich solche Scherze erlaubte, ließ ihm das Blut in den Adern erstarren.
«Fahren Sie fort.»
«Ainsleys Leiche wurde anscheinend von dem Fenster der Abstellkammer direkt über dem Balken heruntergelassen. Daß sie erst Stunden später entdeckt wurde, läßt sich durch die Höhe des Balkens und durch den Schnee erklären …» Er fragte sich, ob das alles nur ein Traum war. «Die Opfer waren beide fremd in Long Piddleton; sie kamen in einem Abstand von ein oder zwei Tagen dort an –»
«Ein oder zwei? Was soll das heißen, junger Mann? Was denken Sie, Jury, ist das hier eine Lotterie? Ein Polizeibeamter darf nichts über den Daumen peilen!» Er steckte sich wieder die Zigarre in den Mund und starrte Jury an. Die Sprechanlage summte. Racer drückte auf den Knopf. «Ja?»
Es war eines der Mädchen, die in C-4 arbeiteten. Sie brachte die Akte über die Northamptonshire-Morde.
«Her damit», sagte Racer gereizt.
Fiona Clingmore trat ein, und in einer von ihren Gefühlen bestimmten Reihenfolge schenkte sie Jury ein warmes Lächeln und gab dann Racer den Schnellhefter. Sie war ganz im Stil der vierziger Jahre gekleidet, für die sie eine besondere Vorliebe zu haben schien: schwarze, hochhackige Schuhe mit einem kleinen Riemen über den Spann, eine schwarze Nylonbluse mit langen, weiten Ärmeln, in der sie aussah, als sitze sie in einem Boudoir. Wie gewöhnlich war ihr Ausschnitt ziemlich tief und ihr Rock ziemlich kurz. Fiona schien immer Trauer zu tragen; vielleicht trauert sie ihrer Unschuld nach, dachte Jury.
Jury beobachtete, wie die Blicke des Kriminaldirektors sie auszogen, Schicht um Schicht, wie eine Zwiebel. «Das wär’s», sagte Racer und verscheuchte sie mit einer Handbewegung.
Beim Hinausgehen bedachte sie Jury wieder mit einem kurzen Lächeln und einem Augenzwinkern. Racer bemerkte es und meinte sarkastisch: «Sie haben wohl viel Erfolg bei Frauen, was Jury?» Dann zischte er: «Könnten wir jetzt vielleicht weitermachen?» Er breitete ein paar Fotos aus, die er dem Schnellhefter entnommen hatte, und tippte auf das erste: «Small, William. Ermordet zwischen 19 und 23 Uhr, am Donnerstag, dem 17. Dezember, genauer können die Jungs aus Northants die Todeszeit nicht bestimmen. Ainsley wurde am 18. Dezember nach 19 Uhr ermordet. 24 Stunden später. Keiner von beiden konnte identifiziert werden. Ihre Namen haben wir auch nur, weil sie sich in das Fremdenbuch eingetragen haben. Small stieg in Sidbury aus dem Zug – wo er eingestiegen ist, wissen wir nicht. Zwischen ihnen und den Leuten aus dem Dorf scheint keine Verbindung zu bestehen. Das ist alles. Wahrscheinlich einer, der aus der Klapsmühle ausgebrochen ist.» Racer begann, seine Fingernägel mit einem Taschenmesser zu säubern.
«Wenn sie uns wenigstens sofort gerufen hätten; es gibt da nicht gerade das, was man eine heiße Spur nennt.»
«Das haben sie aber nicht, junger Mann! Fahren Sie also in das Kaff und verfolgen Sie die nicht mehr heiße Spur. Was erwarten Sie denn – daß Ihnen die Dinge in den Schoß fallen? Als Polizist ist man Kummer gewohnt. Zeit, daß Sie das lernen.» Er klappte sein Taschenmesser zu und begann, mit dem kleinen Finger sein Ohr zu säubern. Jury hoffte nur, er würde seine Toilette zu Hause beenden.
Jury wußte, wie wütend es Racer machte, daß er ihn mit diesem Fall beauftragen mußte. In der Abteilung war man sich einig, daß eigentlich Jury Chef sein sollte; Jury selbst legte aber keinen besonders großen Wert darauf. Er wollte nicht für eine ganze Abteilung verantwortlich sein, und weiß der Himmel, er wollte auch nicht seine Zeit damit verbringen, Klagen über andere Kriminalbeamte nachzugehen. Da er weder Frau noch Kinder hatte, für die er sorgen mußte, konnte er sich auch mit weniger Geld zufriedengeben; für seine bescheidenen Bedürfnisse war es immer noch mehr als genug. Zu was die ganze Hierarchie? Jury hatte Polizeichefs kennengelernt, deren Erfahrung und Wissen genauso unschätzbar gewesen war wie das der Männer auf den olympischen Höhen von Scotland Yard.
«Wann möchten Sie, daß ich fahre, Sir?»
«Gestern», zischte Racer.
«Ich hab noch diesen Mord in Soho –»
«Sie meinen die Sache mit dem Chinarestaurant?»
Das Telefon unterbrach sie; unwirsch griff Racer nach dem Hörer. «Ja?» Einen Augenblick lang hörte er zu, während seine Blicke zu Jury hinüberwanderten. «Ja, er ist hier.» Er wartete, und auf seinen dünnen Lippen erschien ein boshaftes Grinsen. «Über 1,80 groß, kastanienbraunes Haar, dunkelgraue Augen, gutes Gebiß und ein unwiderstehliches Lächeln?» flötete er. «Richtig, das ist Inspektor Jury, wie er leibt und lebt.» Das Lächeln verschwand. «Sagen Sie ihr, er würde zurückrufen. Wir haben zu tun.» Racer knallte den Hörer auf die Gabel, daß die Kugelschreiber auf dem Schreibtisch tanzten. «Abgesehen von dem unwiderstehlichen Lächeln könnte diese Beschreibung auch auf ein Pferd zutreffen.»
Geduldig fragte Jury: «Könnten Sie mir sagen, um was es ging?»
«Eine der Kellnerinnen aus dem Soho-Restaurant.» Racer schaute auf seine Uhr. Der Anruf hatte ihn wohl an seine eigenen Verpflichtungen erinnert. «Ich bin zum Abendessen verabredet.» Er schob den Schnellhefter über den Schreibtisch. «Fahren Sie in dieses gottverdammte Kaff. Und nehmen Sie Wiggins mit. Außer sich zu schneuzen, tut er ja nichts.»
Jury seufzte. Wie üblich hatte ihn Racer nicht einmal gefragt, wen er als Assistenten haben wollte. Wiggins war noch ziemlich jung, aber ein solcher Hypochonder, daß er wie ein alter Mann wirkte. Er war nicht unangenehm und auch nicht faul, aber dauernd der Ohnmacht nahe. «Ich werde Wiggins abholen und morgen früh losfahren», sagte Jury.
Racer war von seinem Stuhl aufgestanden und schlüpfte in seinen elegant geschnittenen Mantel. Jury fragte sich, woher sein Chef das Geld nahm. Schmiergelder? Und wenn schon, Jury interessierte es nicht.
«Ja, tun Sie das.» Der Kriminaldirektor klopfte auf seine flache Golduhr. «Dinner im Savoy. Eine Dame erwartet mich.» Anzüglich lächelnd beschrieb er ein paar Kurven in der Luft. «Und denken Sie um Gottes willen daran, daß Sie hier arbeiten! Wenn Sie in dieses Kaff kommen, erwarte ich, daß Sie sich zur Abwechslung mal melden.»
Jury ging den Korridor entlang – wie trist diese Korridore doch im Vergleich zu der viktorianischen Eleganz des alten Gebäudes waren. Von Marmor und Mahagoni war hier nichts zu sehen. So vollgestopft und unübersichtlich der alte Scotland Yard auch gewesen war, Jury hatte ihn trotzdem vorgezogen. Als er vor der Tür seines Büros angelangt war, sah er ganz in der Nähe Fiona Clingmore herumschwirren; sie tat so, als wäre sie rein zufällig hier gelandet, und knöpfte gerade ihren schwarzen Mantel zu.
«Hallo, Inspektor Jury, endlich Feierabend?» Ihre Stimme klang hoffnungsvoll.
Jury lächelte, griff hinter die Tür und nahm seinen Mantel vom Haken. Da seine Mitarbeiter bereits gegangen waren, knipste er das Licht aus und schloß die Tür ab. Er blickte zu ihr hinunter, auf ihr Gesicht, das weniger jung war, als man vielleicht von weitem vermutet hätte, auf ihr aufgetürmtes gelbes Haar, auf dem ein Pillbox-Hut saß, und sagte: «Fiona, wissen Sie, an was Sie mich erinnern?» Sie schüttelte den Kopf, schaute ihn aber erwartungsfreudig an. «An diese alten Kriegsfilme, in denen die Amis nach London strömen und sich in die Londonerinnen verlieben.» Fiona kicherte. «Das war wohl etwas vor meiner Zeit.»
Das stimmte, trotzdem schien sie aus einer andern Ära zu stammen. Vielleicht war sie noch nicht ganz vierzig, aber viel fehlte bestimmt nicht. «Mein Joe hätt’s bestimmt nicht gerne, wenn Sie so mit mir reden, Inspektor Jury», sagte sie züchtig.
Immer sprach sie von ihrem Joe. Gesehen hatte ihn noch keiner. Jury war schon vor einiger Zeit der Verdacht gekommen, daß dieser Joe vielleicht überhaupt nicht existierte. Gegeben hatte es ihn womöglich einmal, aber nun nicht mehr. Er betrachtete Fiona, die lächelnd zu ihm hochblickte, sah, wie leer ihre Augen waren, und Mitgefühl, ja sogar ein Gefühl der Verbundenheit stieg in ihm auf. «Hören Sie», sagte Jury und schaute auf seine Uhr. «Ich muß noch was in Soho erledigen. Da es sich um ein Restaurant handelt und ich noch nicht gegessen habe … was halten Sie davon? Wie wär’s mit einem kleinen Essen? Ich brauche dringend eine Pause.»
Wie der Himmel bei Sonnenaufgang überzog sich ihr Gesicht mit einer zarten Röte. Dann senkte sie die getuschten Wimpern und sagte: «Oh, ich weiß nicht, ob mein Joe damit einverstanden wäre, aber …»
«Joe braucht’s ja nicht zu erfahren, oder?» Sie blickte auf, und Jury zwinkerte ihr zu.
Es war beinahe Mitternacht, als Jury sich von dem Restaurantbesitzer und der unaufhörlich plappernden Fiona verabschiedete. Und als er aus seiner Untergrund-Station auftauchte, war er einfach hundemüde und nicht sehr begeistert von der Aussicht, einen Frühzug nach Northamptonshire nehmen zu müssen. Er tröstete sich damit, daß es vielleicht ganz angenehm sein würde, für ein paar Tage – oder vielleicht sogar für ein paar Wochen – aus London herauszukommen. Außer dem armseligen Häuschen seiner Kusine in den Potteries, wo er von den beiden Gören malträtiert wurde, wußte Jury keinen Ort, an dem er Weihnachten verbringen konnte.
Jury zog eine übriggebliebene Times unter dem Backstein neben dem Stationsausgang hervor, warf ein paar Münzen auf den dünnen Stoß mit den restlichen Exemplaren und machte sich auf den Heimweg.
Es hatte angefangen zu schneien – ein feiner, pulverartiger Schnee, nicht diese dicken, nassen Flocken, die in den Wimpern hängenblieben und auf der Zunge hafteten. Jury mochte Schnee, aber nicht den Londoner Schnee, der mit seinem grauen, matschigen Schmelzwasser nur den Verkehr behinderte. Es schneite immer stärker, Schnee so körnig wie Zucker, der richtig zu prickeln anfing, als er die Islington High Street in Richtung Upper Street entlangging. Er bog in die Camden Passage ein, die er um diese Zeit besonders mochte – die kleinen Läden waren so gespenstisch still, und außer dem kratzenden Geräusch der Papierfetzen, die der Wind über den Boden fegte, unterbrach nichts die nächtliche Stille. Camden Head war geschlossen, und die kleinen Stände der Trödler und Antiquitätenhändler waren abgebaut. Wenn sie im Freien ihren Geschäften nachgingen, war hier allerhand los, und Jury mischte sich gelegentlich auch unter die Menge und schaute den Taschendieben bei der Arbeit zu. Sein Favorit, Jimmy Pink, bevorzugte die Camden Passage – Jimmy konnte einem die Tasche samt Inhalt entwenden, ohne daß man auch nur das Geringste bemerkte. Jury hatte ihn hier schon so oft geschnappt, daß er ihm schließlich vorschlug, er solle doch seinen eigenen Stand aufmachen.
Die Passage führte auf Charlton Place, und von dort ging es weiter zur Colebrook Row, einer hübschen, halbmondförmigen Häuserzeile, in der er auch gerne gewohnt hätte. Danach waren es nur noch ein paar Straßen bis zu seinem Wohnblock. Die meisten Häuser in seiner Straße waren in Mietshäuser umgewandelt worden. Die Straße selbst war etwas schäbiger, aber keineswegs unerfreulich, da auf der einen Seite ein Park lag, zu dem die Mieter einen Schlüssel besaßen.
Jurys Wohnung war im sechsten Stock. Es gab in dem Haus noch fünf weitere Wohnungen, aber wegen seiner ungewöhnlichen Arbeitszeiten lief er seinen Nachbarn nur selten über den Weg. Allerdings kannte er die Frau, die im Souterrain wohnte, Mrs. Wassermann. Er sah, daß hinter dem schweren Gitter und den vorgezogenen Vorhängen noch Licht brannte. Die Stufen wurden sommers wie winters von zwei Geranientöpfen flankiert. Mrs. Wassermann war wie immer um diese Zeit noch wach.
Er schloß seine Tür auf und knipste die Deckenbeleuchtung an. Der Raum wurde in Licht getaucht, und er war wieder einmal entsetzt über die Unordnung, die dort herrschte – als hätten Einbrecher seine Wohnung durchsucht und dann schnell wieder das Weite gesucht. Vor allem lag das an den Büchern. Sie quollen aus den Regalen und stapelten sich auf den Tischen. In dem Erker – mit Blick auf den Park – stand sein Schreibtisch. Er legte den Schnellhefter auf die Platte und zog den Mantel aus. Dann setzte er sich und ging noch einmal die Fotos durch. Kaum zu fassen.
Das erste war im Weinkeller der Pandorabüchse aufgenommen und war ziemlich dunkel und grobkörnig; trotzdem sah man mit erschreckender Deutlichkeit die beinahe torsolose Leiche. Das Opfer war in das hüfthohe Faß, in dem der Wirt sein eigenes Bier braute, gesteckt worden, so daß Kopf und Schultern in dem Faß waren und der übrige Körper an der Seite herunterbaumelte.
Jury fragte sich, warum. Angenommen, William Small war mit dem Stück Draht erdrosselt worden, warum hatte sich der Mörder dann noch die Mühe gemacht, diesen ausgefallenen Schnörkel hinzuzufügen?
Das Foto von der Hammerschmiede war noch grotesker. Der nach der Leichenstarre in sich zusammengesackte Körper von Rufus Ainsley wurde von der dünnen Metallstange gehalten, mit der die geschnitzte Figur an dem Balken befestigt gewesen war; dieses Rohr war unter das Hemd des Opfers geschoben worden. Um seinen Leib war ein Seil geschlungen, und darüber hatte man ihm das Jackett zugeknöpft. Auf seinen Schultern lagen noch nicht geschmolzene Schneeklumpen. Eine Leiche, die an einem für alle sichtbaren Ort versteckt worden war, dem besten Versteck überhaupt – unter den Füßen oder über dem Kopf. Da das Opfer nicht sehr groß war, etwa 1,70 m, konnte es ohne Schwierigkeit den Platz der geschnitzten Figur einnehmen. Schwer zu sagen, wann jemand hochgeschaut hätte; außerdem sahen die Leute sowieso nur das, was sie zu sehen erwarteten.
Aber wozu das Ganze? Welchen Zweck erfüllte dieses ausgeklügelte Arrangement?
Er sammelte die Fotos wieder ein, öffnete die flache Schreibtischschublade und ließ den Schnellhefter neben eine kleine, gerahmte Fotografie gleiten, die mit der Bildseite nach unten in der Schublade lag. Jury hatte sie von seinem Schreibtisch genommen, konnte sich aber nicht entschließen, sie wegzuwerfen. Als er noch jünger war, hatte Jury kaum je ans Heiraten gedacht; inzwischen dachte er häufiger daran. In den 40 Jahren seines Lebens war ihm nur selten einmal eine außergewöhnliche Frau über den Weg gelaufen. Maggie war eine der wenigen gewesen.
Jury legte die Fotografie wieder mit der Bildseite nach unten in die Schublade zurück und wollte gerade mit einem kleinen Schlüssel wieder abschließen, als er ein Klopfen an der Tür hörte.
«Inspektor Jury», sagte die Frau, die nervös die Finger ineinander verflocht, als er ihr die Tür öffnete. «Er ist wieder da. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Warum läßt er mich nicht in Ruhe?»
«Ich bin gerade eben nach Hause gekommen, Mrs. Wassermann.»
«Ich weiß, ich weiß, es tut mir auch leid, Sie damit zu belästigen. Aber …» Sie breitete hilflos die Hände aus. Sie war eine ziemlich korpulente Frau, die ein schwarzes Kleid mit einer Filigranbrosche am Ausschnitt trug. Ihr Haar war straff nach hinten gekämmt und in einen Knoten zusammengefaßt, der wie eine aufgerollte Spiralfeder aussah. Ihr ständiges Händeringen und die nervöse Bewegung, mit der sie den Ärmel ihres Kleides hochschob, ließen die ganze Frau wie eine festaufgerollte Spirale erscheinen.
«Ich komme mit runter», sagte Jury.
«Es sind dieselben Schuhe, Inspektor. An den Schuhen erkenne ich ihn immer wieder. Was will er nur von mir? … Warum läßt er mich nicht endlich in Ruhe? … Denken Sie, dieses Gitter ist stark genug …? Warum kommt er immer wieder zurück …?» Im Kielwasser ihrer Fragen stieg er die Treppe zu ihrer Wohnung hinunter.
«Ich schaue mal nach.»
«Ja, bitte.» Sie nahm die Hände vors Gesicht, als könnte Jurys kurzer Blick aus dem kleinen, zur Straße gehenden Fenster für sie beide sehr gefährlich werden. Das Fenster lag gegenüber von der Tür auf einer Höhe mit der letzten Stufe und dem Bürgersteig. «Es ist niemand da, Mrs. Wassermann.» Jury war das von vornherein klargewesen.
Diese Szene spielte sich ungefähr alle zwei Monate ab. Zuerst hatte Jury versucht, sie ganz einfach von der Wahrheit zu überzeugen: Es war niemand da. Mrs. Wassermann verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit damit, die Füße auf dem Bürgersteig zu beobachten, Füße und Beine ohne Körper, die an ihrem Fenster vorbeigingen. Ein Paar Füße, ein Paar Schuhe hatten ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie behauptete, sie kämen immer wieder zurück, um sie zum Wahnsinn zu treiben: Füße, die stehenblieben. Warteten. Sie lebte in ständiger Angst vor diesen Füßen.
Jury hatte immer wieder versucht, sie davon zu überzeugen, daß es die Füße nicht gab und daß es ihn auch nicht gab; schließlich begriff er aber, daß er sie dadurch nur noch mehr verunsicherte. Sie mußte daran glauben. Jury hatte ihr also das ganze letzte Jahr über geholfen, ihre Wohnung in eine uneinnehmbare Festung zu verwandeln: stärkere Gitter, Schlösser, Ketten, Alarmanlagen. Trotzdem tauchte sie unweigerlich immer wieder bei ihm auf. Und er installierte immer etwas Neues – noch ein Schloß oder noch eine Alarmanlage –, und sie war jedesmal unendlich erleichtert. Er versicherte ihr, daß es einfacher sei, New Scotland Yard zu plündern, als in die Wassermannsche Wohnung einzudringen, und sie fand das sehr komisch. Inzwischen fiel ihm aber auch nichts Neues mehr ein.
Er schaute aus dem Fenster, sah nichts und prüfte der Form halber noch einmal das Gitter. Angstvoll beobachtete sie ihn. Er wußte, daß sie den Glauben verlieren würde, wenn er zu lange zögerte. Er griff in seine Tasche und zog ein winziges, rundes Stück Metall hervor, das er triumphierend hochhielt. «Mrs. Wassermann, eigentlich dürfte ich das gar nicht tun, es ist nämlich nicht legal –» er grinste, und sie grinste verschwörerisch zurück – «aber ich bringe das an Ihrem Telefon an.» Er hob das Telefon hoch und befestigte die Scheibe an der Unterseite. «Da. Sollte jemals einer hier reinkommen, dann nehmen Sie einfach den Hörer ab und schieben die Metallplatte zur Seite. Es klingelt dann bei mir.» Ihr Gesicht strahlte. «Aber hören Sie, nur wenn’s nicht anders geht – in einem Notfall –, es klingelt nämlich in der Zentrale, und das könnte sehr unangenehm für mich werden.»
Erleichterung breitete sich auf ihrem Gesicht aus – ein rührender Anblick. Er wußte, sie würde keinen Gebrauch davon machen, sie wollte nur beruhigt werden, und die nächsten zwei Monate würde sie ihn auch nicht damit belästigen. Dann hätte sich jedoch wieder so viel Angst in ihrem Innern angestaut, daß sie die Füße wieder sehen würde. Es war beinahe wie eine sexuelle Perversion oder eine Sucht. Und es gab so wenig Dinge, die sie von ihrer fixen Idee ablenkten. Er dachte oft über die Leere ihres Lebens nach. Und manchmal blickte er in ihre dunklen, kleinen Augen und entdeckte sein eigenes Spiegelbild darin.
«Oh, Inspektor Jury, was würde ich bloß ohne Sie tun? Es ist so beruhigend zu wissen, daß Sie hier wohnen, ein Kriminaler vom Scotland Yard.» Sie lief zu dem Kamin hinüber, in dem ein elektrisches Holzscheit brannte, und nahm ein Päckchen von dem weißen Gipssims. Sie hielt es ihm hin. «Zu Weihnachten. Kommen Sie, machen Sie es auf.» Sie machte eine auffordernde Bewegung mit den Händen.
«Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Vielen Dank.» Er knotete das Band auf und entfernte das dünne Papier. Es war ein Buch. Und ein sehr schönes, in Leder gebunden, mit Goldschnitt und einem Lesezeichen aus schwarzer Seide. Virgils Aeneis.
«Ich hab Sie es mal in der U-Bahn lesen sehen, erinnern Sie sich? Ich weiß, daß Sie gern lesen. Für mich ist das zu hoch. Böhmische Dörfer.» (Jury lächelte.) «Ich lese Filmmagazine, Liebesromane und ähnlichen Schund. Gefällt es Ihnen?» Es schien ihr viel daran gelegen zu sein, daß sie das richtige Buch ausgesucht hatte.
«Ein wunderschönes Buch, Mrs. Wassermann. Wirklich. Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest. Sind Sie jetzt beruhigt?»
Arme Frau, dachte Jury, als er mit seinem Buch die Treppe hochstieg. Von welchem Blickwinkel aus hatte sie den Mann gesehen, ihn, dessen Füße sie immer noch terrorisierten? Vom Boden? Von einer Matte? Von einem Bett? Hatte sie auf seine Füße geschaut, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen? Es war wohl besser für Mrs. Wassermann, daß die Füße vor ihrem vergitterten Fenster haltmachten und nicht die Türen der Erinnerung eintraten.