VI Dienstag, 22. Dezember


Kriminaloberinspektor Richard Jury und sein Begleiter, Kriminalwachtmeister Alfred Wiggins, stiegen aus dem 14 Uhr 05 aus London eintreffenden Zug und verschwanden in einer dicken Dampfwolke, während auf der andern Seite eine gespenstisch aussehende Gestalt daraus hervortrat. Als der Dampf verflog, wurde Wachtmeister Pluck von der Polizeizentrale Northamptonshire sichtbar.

Während er Jurys ramponierten Koffer im Kofferraum seines leuchtend blauen Morris verstaute, sagte Pluck: «Superintendent Pratt erwartet Sie in Long Piddleton. Es war ihm leider nicht möglich, Sie persönlich zu begrüßen, Sir.»

«Ist in Ordnung, Wachtmeister.» Als sie vom Bahnhof nach Sidbury hineinfuhren, fragte Jury: «Haben Sie eine Ahnung, was Ainsleys Leiche über der Uhr zu suchen hatte?»

«O ja, Sir. Diese Morde gehen offensichtlich auf das Konto eines Verrückten.»

«Aha, ein Verrückter also?»

Wiggins saß wie ein Granitblock auf dem Rücksitz, nur ein gelegentliches Schneuzen verriet, daß er noch unter den Lebenden weilte.

Sie kamen an einen Platz mit dichtem Kreisverkehr, was Pluck jedoch nicht davon abhielt, mit voller Geschwindigkeit in ihn hineinzufahren, ohne Rücksicht auf einen Morris Mini, der bei diesem Manöver beinahe am Heck eines Ford Cortina verendet wäre. Der blaue Kegel auf dem Dach des Polizeiwagens brachte die Hupen zum Verstummen. «Das war aber knapp.» Pluck war offensichtlich der Meinung, daß alle andern Schuld gehabt hatten, nur nicht er. Er bog in die Straße nach Dorking Dean ein. Als ein Schild das Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung anzeigte, beugte sich Pluck über das Steuer, beschleunigte und überholte noch in der Kurve einen dicken Laster. Mit knapper Mühe schaffte er es gerade, einem schwarzen Mercedes, der aus der Gegenrichtung kam, auszuweichen. Als Jury seine Hand mit den weiß hervortretenden Knöcheln vom Armaturenbrett nahm, strahlte Pluck und tätschelte das Brett. «Nette kleine Karre, was? Ist gerade einen Monat alt.»

«Viel älter wird sie auch nicht werden, Wachtmeister, wenn Sie so weitermachen.» Jury zündete sich eine Zigarette an. «Ich nehme an, im Dorf wimmelt es von Reportern?»

«Und ob. ‹Die Gasthof-Morde› haben sie sie getauft. Die Leute finden das aber gar nicht komisch, glauben Sie mir; sie haben Angst, morgen erdrosselt in ihren Betten zu liegen.»

«Wenn sie sich nicht gerade in Gasthofbetten legen, dann wird ihnen schon nichts passieren.»

«Da haben Sie recht, Sir. Warum gehen diese Idioten mit ihrem verdammten Vauxhall nicht zu Fuß nach Hause.» Gemeint war das alte, grüne Auto vor ihnen mit den beiden betagten, ihre Hühnerhälse reckenden Insassen, die mit 40 Kilometer Stundengeschwindigkeit die Straße entlangzockelten und Pluck das Leben zur Hölle machten. Wütend ließ er sich in seinen Sitz zurückfallen, da er offensichtlich Angst hatte, in der Gegenwart eines Vorgesetzten noch weitere todesmutige Überholungsmanöver zu versuchen.

Long Piddleton präsentierte sich zu Jurys Linken als eine Reihe erhöht stehender niedriger Kalksteinhäuser und zu seiner Rechten als eine Weide mit Kühen; es folgte eine weitere Reihe von Häusern, die mit Stroh gedeckt waren; auf der anderen Straßenseite lag ein kleiner Tümpel, auf dem eine einsame Ente herumschwamm. Als sie nach links abbogen, bemerkte Jury eine Frau, die offensichtlich in großer Eile aus einem überwucherten kleinen Gartentor trat und dabei mit dem Arm in ihren Burberry fuhr. Sie starrte so interessiert dem Auto nach, daß Jury dachte, sie würde gleich den Daumen herausstrecken.

«Als Sie in London erfahren haben, was hier vorgefallen ist, dachten Sie bestimmt, wir wären total übergeschnappt», sagte Superintendent Pratt.

«Um ehrlich zu sein – ich dachte zuerst, jemand wollte uns verulken.» Jury vertiefte sich wieder in das Protokoll der Aussage des Pfarrers, Denzil Smith. «Was ist mit diesem Mädchen Ruby Judd?» Nach den Angaben des Pfarrers war seine Hausangestellte zu ihren Eltern nach Weatherington gefahren, aber nicht wieder zurückgekommen.

«Ruby Judd. Ah, ja. Ich glaube nicht, daß das etwas mit den Morden zu tun hat. Tatsache ist, daß Miss Judd häufiger solche, äh, verlängerten Wochenenden einschiebt. Männergeschichten, Sie wissen schon.»

«Aha. Hier steht nur, daß ihre Eltern sie überhaupt nicht gesehen haben. Wird sie immer noch vermißt?» Pratt nickte.

«Ich nehme an», sagte er, «sie mußte sich für den Pfarrer etwas ausdenken. Ich kenne das Mädchen nicht, aber –»

«Ich schon!» sagte Pluck mit einem anzüglichen Lächeln. «Ich glaube, der Chef hat recht, Inspektor.»

«Ich verstehe», sagte Jury, was jedoch nicht stimmte. Das Mädchen war schon beinahe seit einer Woche verschwunden. «Wurde Small identifiziert?»

Pratt schüttelte den Kopf. «Noch nicht. Small kam mit dem Zug, stieg in Sidbury aus und nahm den Sidbury-Dorking-Bus. Der Stationsvorsteher erinnert sich auch noch an ihn, aber nicht mehr genau; wir zeigten ihm ein Foto von Small, und er konnte uns nur sagen, daß er mit dem Elf-Uhr-Zug aus London gekommen ist. Der Zug hält an jedem Bahnhof, und wir haben keinerlei Hinweise, wo er eingestiegen sein könnte. Und wenn er aus London gekommen ist, Inspektor –» Der Superintendent breitete resigniert die Arme aus.

«Und der andere, Ainsley?»

«Kam mit dem Auto. Wir kriegten heraus, daß das Auto von einem Gebrauchtwagenhändler in Birmingham stammt. Sie wissen, wie das läuft: Man kauft sich ein Auto und hat sein Nummernschild. Der Händler stellte sich dumm, absolut dumm: Ah, was wolln Sie, Chef, was soll ’n Geschäftsmann wie ich tun! Dieser Bursche drückt mir für die alte Mühle vier Riesen in die Hand …! Und so weiter, und so weiter. Wir tappen also noch völlig im dunkeln, was das Auto und den Namen betrifft. Ich nehme an, es ist nicht sein richtiger. Jedenfalls gab es unter der Adresse, die er dem Händler gegeben hat, keinen Ainsley.»

«Also auch in diesem Fall nichts?»

Pratt schneuzte sich. «Richtig. Die Zentrale hat in Weatherington ein Labor aufgebaut. Sie machen alles dort.»

Jury fand es unglaublich, daß sie trotz der wissenschaftlichen Methoden und der Erfahrung des Labors noch nicht die geringsten Anhaltspunkte hatten. Dabei brauchten sie keineswegs Fußspuren im Sand oder Blutstropfen auf der Schwelle. «Irgend etwas müssen sie doch gefunden haben – Textilfasern, Haare –, es ist doch unmöglich, daß der Mörder überhaupt nichts hinterlassen hat.»

Pratt schüttelte den Kopf. «Oh, es gab schon ein paar Haare, die von der Kellnerin und die von dem Burschen, mit dem Small etwas getrunken hat – Marshall Trueblood, soviel ich mich erinnere, falls Ihnen das weiterhilft. Aber nicht die geringste Spur von einem Motiv. Wir haben auch Fingerabdrücke gesichert, ja, das auch, Fingerabdrücke, die uns nicht weiterhelfen, wie zum Beispiel von den Wirten und den Zimmermädchen, Leute, die Zugang zu den Zimmern von Small und Ainsley hatten. Unter denjenigen, die an dem Abend, als Small ermordet wurde, in dem Gasthof zu Abend gegessen haben, gibt es zwei Personen, deren Fingerabdrücke bereits bekannt sind.» Pratt ließ sich von Jury wieder die Akte geben und rückte seine Brille zurecht. «Es handelt sich dabei um Marshall Trueblood und eine Frau namens Sheila Hogg.» Pratt blickte Jury mit einem Lächeln an: «Ein Perverser und eine Prostituierte. Keine richtige Prostituierte! Schauspielerin wäre richtiger. In Pornos und ähnlichem Schweinekram. Die Süße von der Sitte.»

«Und Trueblood?»

«Ab und zu ein kleiner Deal. Aber nichts Großes. Versorgt nur seine Freunde. Seine Wohnung in Belgravia wurde schon einmal durchsucht.»

Pratt sah so erschöpft aus, daß Jury ihm vorschlug, er solle nach Hause gehen und sich ins Bett legen.

«Danke, Inspektor. Ich könnte eine kleine Pause brauchen.» Er blätterte immer noch in der Akte herum. «Wir wissen, daß die Unterschrift auf dem Anmeldeformular Smalls Unterschrift war, er hat nämlich auch einen Scheck unterschrieben, mit dem er sein Essen bezahlte. Wir konnten also vergleichen. Aber auf dem Anmeldeformular der Hammerschmiede konnte auch ein anderer Ainsleys Namen eingetragen haben.»

«Ist aber nicht anzunehmen. Er hat unter diesem Namen doch auch das Auto gemietet.»

«Ja, richtig. Ich dachte nur, der Mörder wollte vielleicht verhindern, daß wir die beiden identifizieren.»

«Anscheinend hatte er nicht genügend Zeit, sich um den Wagen zu kümmern.» Jury zog eine Zigarette aus der zerdrückten Players-Packung und zündete sie an. «Haben Sie schon eine Theorie?»

Pratt legte die Füße auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück. «Nehmen wir doch mal folgendes an – sagen wir, dieser Small trifft aus London hier ein; vielleicht hat er dort irgendwelchen Ärger gehabt. Unser Freund folgt ihm; er richtet es so ein, daß er ihn in diesem gottverlassenen Kaff trifft, und als dann Small in dem Gasthof absteigt, ist das für ihn die Gelegenheit –»

«Ist sonst noch jemand in Sidbury ausgestiegen?»

«Ja, mehrere. Wir sind dabei, ihre Personalien festzustellen.»

«Er folgt also Small und bringt Small und Ainsley um die Ecke?»

Pratt hielt die Hand hoch. «Ich weiß, ich weiß. Sie haben recht. Unser Freund lebt also in Long Pidd oder zumindest in der Nähe. Die beiden – Small und Ainsley – treffen sich in Long Pidd, um … warum wissen wir leider nicht. Scheint auf jeden Fall brenzlig für unsern Freund zu werden, er kriegt Wind davon und schafft sich die beiden vom Hals.»

Jury nickte. «Das erscheint mir wahrscheinlicher. Ainsley könnte auch auf der Durchreise gewesen sein, da er mit dem Auto unterwegs war. Aber Small? Wer einen Bus von Sidbury nach Long Piddleton nimmt, ist nicht auf der Durchreise.» Pratt nickte. «Small hat also jemanden hier gekannt, er muß jemanden gekannt haben. Oder muß zumindest mit einer bestimmten Absicht hierhergekommen sein. Wäre es voreilig zu behaupten, daß zwischen den beiden eine Verbindung besteht?»

«Würde ich nicht sagen. Sie sind doch beide Opfer eines Mordes geworden.»

Nachdem Pratt gegangen war, setzte sich Jury an den Schreibtisch und vertiefte sich in die Aussagen der Zeugen, die an dem betreffenden Abend in der Büchse der Pandora gewesen waren. Er schreckte aber wieder hoch, als die Tür zum Vorzimmer aufgestoßen wurde und Pluck und eine ältere Frau auftauchten. Sie trug einen Burberry, und er erkannte sie auch sofort wieder – es war die Frau, die sie bei ihrer Ankunft in Long Piddleton gesehen hatten. Anscheinend war es zwischen ihr und Pluck zu einer kleinen Auseinandersetzung gekommen, da Pluck zu Recht annahm, daß es den Dorfbewohnern nicht erlaubt sein dürfte, das Büro des Inspektors zu stürmen.

«Tut mir leid, Sir –» begann Pluck.«Es ist Lady Ardry, Sir.»

«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Wachtmeister», sagte Agatha. «Der Inspektor wird mit mir sprechen wollen.» Und sie wandte sich an Jury. «Inspektor Swinnerton, nicht wahr?»

«Swinnerton? Nein, Gnädigste, Inspektor Richard Jury. Sie wollen mich sprechen?»

Sie machte ein langes Gesicht, als er seinen Namen nannte, fing sich aber sofort wieder. «Zum Spaß hab ich mich nicht mit Ihrem Faktotum rumgeschlagen. Natürlich wollte ich mit Ihnen sprechen. Oder eigentlich sollten Sie mit mir sprechen wollen. Wer schreibt mit? Sie brauchen gar nicht so zu stöhnen, Wachtmeister Pluck. Wenn Sie und Ihr Chef, wie-heißt-er-gleich? sofort richtig reagiert hätten, wäre es vielleicht gar nicht nötig gewesen, Scotland Yard einzuschalten. Ich wette, der Inspektor von Scotland Yard interessiert sich für das, was ich zu sagen habe.»

Jury sagte zu Pluck, Wiggins solle hereinkommen und ihre Aussage zu Protokoll nehmen; er hatte das Gefühl, von einer gestrengen alten Tante gemaßregelt zu werden. «Bitte, fahren Sie fort, Lady Ardry.»

Sie setzte sich, strich ihren Rock glatt und räusperte sich. «Ich bin diejenige, die die Leiche gefunden hat. Ich und dieses Mädchen, Murch», fügte sie hinzu, und es klang so, als hätte «dieses Mädchen» auch taub, stumm und blind sein können. «Ich war auf dem Weg zum, hmm, zu den Toiletten, als Matchetts Bedienung, diese Murch, kreidebleich die Treppe heraufgerannt kam; sie gab irgendwelche komischen Laute von sich und zeigte die Treppe hinunter – völlig aufgelöst war sie. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und heulte in ihre Schürze. Ich mußte die Sache also selbst in die Hand nehmen; die andern rannten nur rum und taten nichts weiter, als diese Murch zu beruhigen. Ich bin runtergegangen, und da war er, dieser Small. Es stank überall ganz fürchterlich nach Bier.»

«Haben Sie ihn erkannt?»

«Erkannt? Natürlich nicht. Sein Kopf steckte in dem Bierfaß. Ich hab ihn doch nicht rausgezogen, um sein Gesicht zu sehen, guter Mann. Nichts hab ich berührt. Weil ich nämlich weiß, daß man das nicht tun soll. Ich kenne mich da schließlich auch etwas aus –»

Jury bemerkte, daß Wiggins, der hereingekommen war und Platz genommen hatte, zweifarbige Kapseln mit seinem Tee hinunterspülte. Er lächelte und sagte: «Fahren Sie fort, Gnädigste.» Jury kannte die Einzelheiten, die Lady Ardry zum besten gab, schon aus Pratts Bericht – abgesehen von dem kleinen Zusatz, die Hysterie der Kellnerin und ihre eigene Kaltblütigkeit betreffend; Jury glaubte jedoch weder das eine noch das andere. «Und was haben Sie dann getan?»

Sie schob die Schultern vor und legte ihr Kinn auf den Stock. «Ich prägte mir alles genau ein, weil ich mir sagte, das könne später sehr wichtig sein.» Dann fügte sie mit öliger Stimme hinzu: «Als Schriftstellerin habe ich eine ziemlich gute Beobachtungsgabe. Der Mann war nicht allzu groß – es ist allerdings ziemlich schwierig, die Größe zu schätzen, wenn jemand aus einem Bierfaß baumelt. Er ist erdrosselt worden, stimmt’s?» Sie umfaßte ihren eigenen Hals, als wolle sie ihn abschrauben. «Er trug einen Anzug mit einem Hahnentrittmuster – wie die Buchmacher welche tragen, nur daß seiner etwas unter dem Bier gelitten hatte.» Sie grinste über ihren kleinen Scherz. «Als ich mir alles genau angeschaut und eingeprägt hatte, ging ich wieder zu den andern zurück.»

«Das heißt, zu den Leuten in dem Speiseraum und der Bar? Ich habe gehört, es soll ziemlich voll gewesen sein. Könnten Sie die Anwesenden kurz beschreiben?»

Nichts hätte sie lieber getan. Sie rückte mit ihrem Stuhl an den Schreibtisch heran und zog aus ihrer ledernen Einkaufstasche einen Bogen Papier. «Ich hab mir ein paar Notizen gemacht.» Sie rückte ihre Brille zurecht. «Also gut, erst einmal ich und das Personal, Murch und Twig, ein junges, dummes Ding und ein tattriger, ziemlich seniler Kellner, der als Verdächtiger wohl kaum in Frage kommt. Dann mein Neffe, Melrose Plant. Er lebt auf Ardry End. Vielleicht haben Sie schon von meiner Familie gehört? Unsere Vorfahren waren Baron Mountardry of Swaledale – er lebte um 1600 herum – und Ardry-Plant (der Name wurde zu Plant verkürzt), Marquis von Ayreshire und Blythedale, Viscount von Nithorwold, Ross und Cromarty; Melroses Vater war der achte Earl von Caverness; er heiratete Lady Patricia-Marjorie Mountardry, die zweite Tochter des dritten Earl von Farquhar. Dessen Vater war Major Clive D’ardry De Knopf, vierter Viscount von –»

Jury unterbrach sie. «Ich komme nicht mehr mit, Lady Ardry. Eine illustre Ahnenreihe, Gnädigste, wirklich! Mir schwirrt schon der Kopf.»

Sie nickte unwirsch. «Ich weiß. All das bekam mein Neffe sozusagen auf einem silbernen Tablett serviert. Lord Ardry, achter Earl von Caverness, et cetera. Ein Titel, der ihm einfach in den Schoß fiel, ohne daß er auch nur einen Finger rühren mußte. Und was tut dieser Narr – er verzichtet dankend.»

«Er verzichtete?»

«Er gab sein Ticket zurück, oder was immer man hierzulande da tun muß.»

«Hmm, so was kommt selbst hierzulande nicht alle Tage vor. Hat er gesagt, wieso?»

«Wieso? Oh, er sagte, er wolle nicht immer nach London fahren, um im Oberhaus rumzusitzen, wie das seine Pflicht gewesen wäre, während Ardry End von Einbrechern, Hausbesetzern und ähnlichem Gesindel heimgesucht würde. Ich sagte, ich würde schon nach dem rechten schauen, aber er meinte … oh, ich erinnere mich nicht mehr … irgendwelchen Blödsinn. Bei Melrose weiß man nie, was er meint.» Sie senkte die Stimme. «Ich glaube, manchmal tickt er einfach nicht richtig.» Sie umklammerte ihren Stock, als wolle sie ihn auf Melroses Bild, das vor ihr aufgetaucht war, niedersausen lassen. «Jedenfalls heißt er jetzt nur noch Melrose Plant. Das ist sein Familienname.»

«Und die übrigen Gäste?»

«Da waren noch Oliver Darrington und Sheila Hogg –»

«Darrington. Der Name kommt mir bekannt vor. Schreibt er nicht Kriminalromane?»

«Ja, er hat ein paar schwachsinnige Thriller geschrieben. Sheila ist seine Sekretärin – ein kunstbeflissenes Flittchen, mit blutroten Fingernägeln und einem Ausschnitt bis zum Nabel. Ich sollte vielleicht sagen, daß sie sich seine Sekretärin nennt. Wie oft die an einer Schreibmaschine sitzt, kann man sich ja vorstellen. Sie lebt mit ihm unter einem Dach.» Agatha rümpfte die Nase. «Ja und dann Vivian Rivington. Sie schreibt Gedichte. Etwas verschroben. Ziemlich farblos, trägt lange braune Pullover mit Taschen, in die sie ihre Fäuste steckt. Wahrscheinlich sexuell frustriert. Stille Wasser sind verdächtig, finden Sie nicht auch? Ich weiß, sie hat was übrig für Melrose, obwohl es heißt, sie wolle Simon Matchett heiraten. Matchett gehört Die Büchse der Pandora, ein netter Junge. Angeblich sind sie so gut wie verlobt, aber ich kann das nicht beschwören. Vivian ist überhaupt nicht Simons Typ. Melroses Typ ist sie übrigens auch nicht. Wahrscheinlich ist sie niemandes Typ.»

«Wo war Mr. Matchett, als Sie die Leiche fanden?»

«Oben bei seinen Gästen. Als die kleine Murch mit ihrem Gebrüll anfing, ging er natürlich als erster runter. Das heißt, gleich nach mir. Sie können sich vorstellen, was er für ein Gesicht machte, als er einen seiner Gäste ermordet auffand.»

«Kann ich. Gab es noch weitere Gäste?»

«Isabel Rivington, Vivians Stiefschwester. Sie ist älter als Vivian, fünfzehn Jahre oder noch mehr, sieht aber so jung aus wie ihre Schwester. Oder Vivian sieht schon so alt aus. Blaß, verhuscht, diese Sorte. Sie werden ja sehen. Isabel hat sich seit eh und je um Vivian gekümmert, schon als Vivian noch ein Kind war. Sie verwaltet Vivians Erbe. Das Geld gehört Vivian oder wird ihr einmal gehören, wenn sie dreißig ist oder wenn sie heiratet. Ich kann Ihnen aber nicht genau sagen, wieviel es ist.» Sie schwieg erwartungsvoll, als hoffte sie, der Inspektor könne ihr weiterhelfen. «Sie ist auf jeden Fall eine gute Partie … wenn sie vorhat zu heiraten, sollte sie sich allmählich darum kümmern, meinen Sie nicht auch? Aber Frauen wie sie werden von den Männern meistens übersehen. Außer, sie haben es auf ihr Geld abgesehen. Ihr Vater kam bei einem Unfall ums Leben. Ich meine Vivians Vater. Sie spricht nicht gern darüber. Ich glaube, das hat sie geistig etwas verwirrt.»

«Sonst noch jemand?»

«Lorraine und Willie Bicester-Strachan. Nicht gerade das verliebteste Paar in Long Pidd. Willie muß ein Jahrhundert älter sein als Lorraine, ein ziemlicher Langweiler. Ist ständig beim Pfarrer, schmökert in alten Büchern und unterhält sich mit ihm über die Dorfgeschichte. Oh, der Pfarrer hat an dem Abend auch in der Pandorabüchse gegessen. Also wenn Sie mich fragen, ich bin der Meinung, daß Männer, die dem geistlichen Stand angehören, sich mit Alkohol etwas zurückhalten sollten, auch während der Feiertage. Der Pfarrer ist der Maulwurf von Long Piddleton; er ist immer am Wühlen. Sein Hobby ist die Geschichte des Dorfes. Ja, das wär’s …» Sie schwieg, dann schlug sie sich aufs Knie. «O nein, doch nicht. Wie konnte ich nur unseren Antiquitätenhändler, Marshall Trueblood, vergessen! Die gute Marsha, wie wir ihn nennen. Sie verstehen. Rosa Hemden und getönte Brillengläser.»

«Hmmm. Nach meinen Informationen war das Schloß an der Kellertür aufgebrochen. Haben Sie das zufällig bemerkt?»

Sie antwortete nicht sofort. «Hätte ich eigentlich bemerken müssen», meinte sie dann ausweichend.

Jury insistierte nicht weiter. «William Small kam in den Speiseraum, als alle übrigen schon versammelt waren, stimmt das?»

«Ich glaube, ich erinnere mich an ihn. Hat ihm nicht jemand Drinks spendiert? War das nicht Marshall Trueblood?»

«Hmmm. Erinnern Sie sich, wann das war?»

Sie zögerte und schien von Jurys Gesicht den Zeitpunkt – irgendeinen Zeitpunkt – ablesen zu wollen, an dem sie Small erscheinen lassen könnte. «Nein, nicht … genau. Auf jeden Fall vor dem Essen, und das begann gegen neun. Ich erinnere mich noch, daß ich einen Riesenhunger hatte. Als Horsd’œuvre gab es Krabbencocktail, nicht besonders frisch –»

«Haben Sie Small dann noch einmal gesehen, bevor Sie in den Keller gingen?»

«Nein.» Schnell fügte sie noch hinzu: «Niemand hat ihn mehr gesehen. Er muß auf sein Zimmer gegangen sein … ach ja, Marshall Trueblood hat gesagt, er – das heißt Small – sei etwas angeheitert gewesen –»

«Vielleicht kann mir Mr. Trueblood in diesem Punkt weiterhelfen.» Jury bezweifelte, daß sie sich an das, was sich vor ihrem gräßlichen Fund zugetragen hatte, noch erinnern würde. Er wechselte das Thema. «Was diesen Ainsley betrifft –»

«Oh, der.» Sie zuckte mit den Schultern. Jury nahm an, daß sie diese Leiche für unwichtig hielt, da sie bei ihrer Entdeckung nicht dabeigewesen war.

«Waren Sie auch in der Hammerschmiede an diesem Abend?»

«Nein. Aber am Nachmittag hab ich mal kurz reingeschaut und ein paar Worte mit Scroggs gewechselt –»

«Sie können sich also zu dieser Sache nicht weiter äußern?»

«Nein.» Ihre Stimme hatte einen grollenden Unterton.

«Ich danke Ihnen, Lady Ardry.» Jury erhob sich, Wiggins klappte sein Notizbuch zu und verlangte eine Tasse Tee. Pluck beehrte ihn mit dem Bodensatz.

«Lady Ardry, entschuldigen Sie, wir haben versäumt, Ihnen etwas anzubieten», sagte Jury.

Sie klopfte ihren Rock aus und baute ihren Stock vor sich auf. «Schon gut. Ich hab keine Zeit, herumzusitzen und Tee zu trinken, nicht wenn hier die Hölle los ist. Und wo werden Sie sich einquartieren, Inspektor?»

Wachtmeister Pluck, der gerade eine Packung Zwieback aufriß, sagte: «Ich habe Sie in der Pandorabüchse untergebracht, Sir. Ich dachte, Sie sind dann gleich an Ort und Stelle.»

Als Jury Lady Ardry zur Tür brachte, zupfte sie ihn am Ärmel und flüsterte: «Könnte ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen –»

«Aber natürlich.» Sie traten in den kleinen Vorraum, der auf die Straße hinausging.

«Inspektor, werden Sie über diese Sache auch mit meinem Neffen Melrose Plant reden?»

«Ich muß mit allen Anwesenden sprechen.»

«Das dachte ich mir. Die Sache ist – ich sag’s Ihnen am besten gleich – zwischen uns gibt es gewisse Spannungen.»

«Sie meinen, er könnte versuchen, Sie da hineinzuziehen?»

Agatha preßte ihren Stock gegen ihren Busen. «Mich? Mich? Wie könnte er das?»

«Ich dachte nur –»

«Sollte er das wagen, sollte er versuchen, die Tatsachen zu verdrehen –» Ihre rechte Hand umklammerte ihren Stock, während ihre linke Jury am Revers packte. Aufgebracht flüsterte sie: «Jeder in Long Pidd wird Ihnen erzählen, wie furchtbar schlau er ist. Schlau, daß ich nicht lache! Er treibt sich auf der Universität herum und unterrichtet gerade einen Kurs. Einen ganzen Job hat er nicht gekriegt. Und nur weil er es schafft, in knapp einer Viertelstunde das Kreuzworträtsel der Times zu lösen –»

«In knapp einer Viertelstunde?»

«Mein Gott und wenn schon, wenn Sie nichts anderes zu tun hätten, als mit einer Flasche Portwein vor Ihrem Kamin herumzusitzen, hätten Sie auch bald Übung darin. Aber Sie und ich, wir müssen uns unsern Lebensunterhalt selbst verdienen. Wir erwarten nicht, daß uns alles auf einem silbernen Tablett serviert wird. Sehen Sie, ich habe gewisse Ansprüche auf Ardry End. Mein Mann, Melroses Onkel, hätte bestimmt von Melrose erwartet, daß er mehr für mich tut.» Als Jury nicht darauf einging, schüttelte sie seinen Ärmel, als wollte sie ihn zur Vernunft bringen. «Der Punkt ist –»

«Ich verstehe. Ihr Neffe wird sich vielleicht nicht gerade sehr freundlich über Sie äußern.»

«Richtig. Sie wissen also, was Sie davon zu halten haben.»

«Ich werde daran denken.»

Agatha tippte ihn mit ihrem Stock an. «Sie sind ein Mann mit Verstand, Inspektor. Ich hab das gleich bemerkt.» Und sie segelte aus der Tür, die Jury für sie aufhielt.

Ohne Wiggins und Pluck bei ihrem Tee zu stören, verließ Jury das Gebäude, über dessen Tür ein leuchtend blaues Schild mit der Aufschrift POLIZEI angebracht war. Er ließ seine Blicke die Dorfstraße entlangwandern, fasziniert von der Ansammlung buntgestrichener Läden, deren Farben in der winterlichen Dämmerung schon etwas gedämpfter wirkten.

Da die Hammerschmiede an diesem Tag früher geschlossen hatte, waren Türen und Fenster fest verriegelt. Jury hielt die Hände vor die Augen und spähte hinein. Er sah aber nur die schattenhaften Umrisse von Tischen und Stühlen. Wahrscheinlich waren alle für den Rest des Tages weggegangen. Er trat ein paar Schritte zurück und starrte auf den Balken über seinem Kopf, auf dem die Leiche gefunden worden war.

Während Jury hochblickte, postierte sich ein jüngerer Mann vor der Tür des Antiquitätenladens neben dem Gasthof. Jury nahm an, daß er der Besitzer war und ging zu ihm hinüber.

Der Laden befand sich in einem hübschen kleinen Gebäude mit einem neoklassizistischen Erker. Im Gegensatz zu den anderen Geschäften und Häusern war es nicht den Anstreichern in die Hände gefallen.

Jury zeigte seinen Ausweis. «Inspektor Jury, Kriminalpolizei. Sind Sie Mr. Trueblood?»

«Sie haben’s erraten. Ich dachte mir schon, daß Sie vom Scotland Yard sind. Ist es nicht entsetzlich?»

«Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Mr. Trueblood?»

«Kommen Sie rein. Ich habe gerade Tee aufgesetzt. Nehmen Sie Platz.» Trueblood zeigte auf ein kleines Sofa, das für jemanden wie Jury viel zu zerbrechlich wirkte. Seine Beine waren geschwungen und mit kunstvoll geschnitztem Blattwerk verziert.

«Georgianisch», sagte Trueblood, als wäre Jury ein Kunde. «Ein besonders schönes Stück – keine Angst, es ist stabiler, als es aussieht.»

Trueblood selbst setzte sich in einen Sessel und faltete die Hände über den Knien. Er trug ein meergrünes Hemd, und die Gläser seiner Brille waren, wie Lady Ardry schon bemerkt hatte, leicht getönt. Während Jury seine Zigaretten herauszog, blickte er sich kurz um. Truebloods sexuelle Präferenzen waren vielleicht fragwürdig, nicht aber sein Geschmack in Möbeln. Das, was in seinem Laden herumstand, mußte über 100000 Pfund wert sein.

«Mr. Trueblood, Sie waren in der Pandorabüchse an dem Abend, als der erste Mord geschah?»

«Ja, allerdings, Inspektor.» Trueblood schnappte nach Luft. «Und stellen Sie sich vor, ich hab dem Mann sogar noch einen Drink spendiert –» Er preßte die Stirn gegen die sorgfältig manikürte Hand, als hätte er ihm einen Schierlingsbecher kredenzt.

«Ja, ich weiß. Über was haben Sie gesprochen?» Ein lautes Atemholen war zu hören, als Trueblood, der offensichtlich noch mehr Sauerstoff benötigte, sich zu konzentrieren versuchte. Hinter den getönten Gläsern ließ er seine weit aufgerissenen Augen in dem Raum umherschweifen. «Wissen Sie, eigentlich sprachen wir nur übers Wetter – es hatte seit zwei Tagen ununterbrochen geschneit, und an diesem Abend regnete es dann plötzlich in Strömen –, na ja, was man eben so redet.»

«Dieser Small war nicht irgendwie nervös oder verstört?»

«Nein, eher triumphierend.»

«Triumphierend?»

«Ja, als hätte er gerade eine gute Nachricht bekommen oder beim Wetten gewonnen. ‹Mensch, glaub mir, so ’n Glück hat man nicht alle Tage!› Der Mann jubilierte. Aber er wollte mir nicht verraten, warum.»

«Das war vor dem Essen?»

«Ja. So gegen acht, halb neun. Er hatte schon gegessen. Ja, ich erinnere mich wieder, Lorraine – Lorraine Bicester-Strachan – zerrte mich Förmlich von meinem Hocker an den Tisch.»

«Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen? Zwei volle Stunden scheint er dann von der Bildfläche verschwunden zu sein.»

«Ich glaube, der Ärmste war etwas wetterfühlig. Er sagte, er wolle auf sein Zimmer gehen. Hatte für zwei oder drei Stunden nur an der Bar gesessen und getrunken.» Von nebenan war das Pfeifen des Teekessels zu hören. «Sie dürfen wirklich nicht ablehnen. Der Darjeeling ist ein Genuß, und außerdem habe ich noch köstliche Petits fours, die mir ein Freund zu Weihnachten geschenkt hat.» Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und tänzelte in die Küche. «Eine Sekunde.» Er verschwand in den inneren Regionen.

Jury schaute sich Truebloods Bestände an. Hepplewhite – und Sheraton-Stühle, Sekretäre, Kommoden, Teebüchsen aus Atlasholz, Waterford-Glas in einer Vitrine. Eine vergoldete Bronzeuhr mit bemalten Porzellanteilen tickte leise an seinem Ellbogen. Wahrscheinlich kostete sie soviel, wie Jury in einem halben Jahr verdiente.

Trueblood war mit einem silbernen Tablett und dem allerfeinsten Porzellan zurückgekommen. Jury wußte nicht, wie er mit den hauchdünnen Tassen und Tellern umgehen sollte. Seine Tasse hatte die Form einer Muschel, der Henkel war eine zarte grüne Ranke. Er getraute sich kaum, sie anzufassen. Auf einem Teller lag hübsch glasiertes Konfekt.

«Und waren Sie an dem betreffenden Freitagabend auch in der Hammerschmiede?»

«Ja, gegen sechs, auf einen Campari mit Limone.»

«Sie haben diesen Ainsley nicht gesehen? Ich meine später. Er soll gegen sieben, vielleicht auch gegen halb acht dort angekommen sein.»

«Nein, tut mir leid.»

«Die Hammerschmiede hat doch noch einen Hintereingang, der gewöhnlich nicht verriegelt ist?»

«Ja, ich habe ihn auch schon benutzt.» Trueblood öffnete weit den Mund. «Ah! Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Wie bei Small – der Mörder kam durch den Hintereingang?»

Aber Jury zog überhaupt keine Parallelen; die Kellertür der Pandorabüchse hatte für ihn eine ganze andere Bedeutung. Jury blickte zur Decke. «Haben Sie noch weitere Räume über dem Laden?»

«Nein, Inspektor. Früher einmal, aber der Lärm der Kneipe –»

«Sie haben also nichts gesehen und auch nichts gehört?»

Die Tasse an den Lippen, schüttelte Trueblood den Kopf.

«Und Sie leben – wo?»

«In einem kleinen Haus gleich hinter dem Platz, jenseits der Brücke. Sie können es nicht verfehlen, es ist das mit den Krummstreben.»

«Sie haben auch schon in London gelebt – in Chelsea, genauer gesagt – stimmt das?» Jury ging im Geist noch einmal Pratts Bericht durch. «Und Sie hatten einen Laden in der Jermyn Street?»

«Donnerwetter! Ihr Polizisten!» Trueblood schlug sich mit gespielter Verwunderung gegen die Stirn. «Es ist, als würde die Vergangenheit auferstehen!»

«Northamptonshire liegt ja nicht gerade im Zentrum des Geschehens», sagte Jury.

Trueblood warf ihm einen lauernden Blick zu. «Sie meinen, für jemanden wie mich?»

Jury bemerkte, daß seine Stimme etwas tiefer klang. Irgendwie erschien er verstört oder irritiert oder beides. Aber Trueblood fiel schnell wieder in seinen früheren Ton und sagte: «Ich hatte genug von der Stadt. Und ich hörte, daß sich hier bessere Leute ansiedelten: Leute mit Geld, Künstler, Schriftsteller, diese Sorte.»

«Ich nehme an, daß Sie die Leute hier über Ihren Laden ziemlich gut kennengelernt haben? Den Besitzer der Pandorabüchse zum Beispiel …?»

«Simon Matchett. Ein netter Kerl, aber seine altenglischen Eichenmöbel werden eines Tages auseinanderfallen, so wurmstichig sind sie. Na ja, ein Gasthof muß schließlich wie ein Gasthof aussehen. Isabel Rivington findet ihn jedenfalls wundervoll. Ihn und Matchett.» Trueblood zwinkerte ihm zu. «Dabei hat sie überhaupt nichts Rustikales an sich.» Als er aufstand, um Jury den Kuchenteller zu reichen, blickte er kurz aus dem Fenster. «Und hier kommt Madam. Todschick wie immer.»

«Wer ist das?»

«Lorraine Bicester-Strachan.» Er verzog das Gesicht. «Louis Quinze.»

«Meinen Sie ihren Begleiter? Oder den Stil?» fragte Jury trocken.

Trueblood lachte. «Sehr komisch. Den Stil, Inspektor, den Stil. Sie ist aber nicht in der Lage, eine Kopie von einem Original zu unterscheiden. Ein richtiges kleines Aas. Ich möchte nicht mit dem guten, alten Willie tauschen – das ist ihr Mann – auch nicht für ein Oeben-Original. Auch eine, die’s auf Matchett abgesehen hat. Simon braucht nur Viv Rivington einen Blick zuzuwerfen, und schon gerät sie aus dem Häuschen. Läuft allem nach, was Hosen trägt, abgesehen natürlich von mir.» Er rückte seine Brille zurecht. «Muß ein harter Schlag gewesen sein für unsere liebe Lorraine, als ihr Melrose Plant einen Korb gab. Plant, das ist jemand mit Geschmack. Einer meiner besten Kunden. Bevorzugt Queen Anne. Was seine verrückte, alte Tante beinahe umbringt; sie mag’s viktorianisch. Waren Sie schon einmal bei ihr? Ein fürchterlicher Plunder, eine Beleidigung fürs Auge.»

«Ihr Neffe ist – oder vielmehr war – Lord Ardry?»

«Was halten Sie davon, Inspektor, seinen Titel wie ein Paar alte Schuhe abzulegen? Ich meine, das ist nicht gerade üblich hier. Aber Melrose fällt ja sowieso aus dem Rahmen.»

«Wissen Sie mehr über Small?»

«Nein, eigentlich nicht. Als ich ihn fragte, wohin er unterwegs sei, lachte er nur und sagte: ‹Ich bin am Ziel meiner Wünsche.› Er sah so aus wie die Typen, die man in den Wettbüros herumhängen sieht.»

«Interessant.» Jury stellte seine Tasse ab. «Ich danke Ihnen, Mr. Trueblood, daß Sie mir soviel Zeit gewidmet haben.» Jury stand auf. «Sie kennen nicht zufällig Ruby Judd, die Hausangestellte des Pfarrers?»

Trueblood rutschte verlegen auf seinem Sitz hin und her und stand dann auch auf. «Doch, natürlich kenne ich sie. Jeder kennt sie. Sie ist Long Piddletons Version von einem halbseidenen Mädchen. Wenn man von Sheila absieht. Aber keine üble Nachrede!» Trueblood lächelte. «Was ist mit Ruby?»

«Nichts weiter, nur daß sie seit einer Woche verschwunden ist, wie ich gehört habe.»

«Das wundert mich nicht. Von Ruby heißt es, sie habe überall ihre Liebhaber.»

«Ja, vielleicht. Vielen Dank jedenfalls.» Jury blickte sich noch einmal in dem Laden um. «Sie haben hübsche Sachen hier. Leider verstehe ich nicht viel davon.»

«Oh, ich bezweifle, daß es irgend etwas gibt, wovon Sie nichts verstehen, Inspektor.»

Das Kompliment klang aufrichtig, wenn auch etwas gesucht. Jury fühlte sich Trueblood einen Augenblick lang seltsam nahe. Er hatte etwas, was auf Männer wie auf Frauen wirkte. Sicher, er war homosexuell, aber gehörte er wirklich zu der Sorte mit den Seidenschals, den getönten Gläsern und dem affektierten Benehmen?

Jury blieb an der Tür stehen und sagte: «Ich frage mich, ob er das wörtlich gemeint hat.»

Trueblood blickte ihn verständnislos an. «Wer meinte was?»

«Small. ‹Ich bin am Ziel meiner Wünsche.› Er muß mit einer bestimmten Absicht nach Long Piddleton gekommen sein.»

Trueblood lachte. «Wer käme hier schon mit einer Absicht her, vor allem mitten im Winter? Und dazu noch ein vollkommen Fremder

«Vielleicht war er kein vollkommen Fremder. Auf Wiedersehen, Mr. Trueblood.»

Als Jury und Wiggins von dem betagten Kellner in die Bar der Pandorabüchse geführt wurden, unterhielt sich Simon Matchett gerade sehr angeregt mit einer dunkelhaarigen, gutgekleideten Frau, die zu dem Typ von Frauen gehörte, deren Alter sich unmöglich schätzen läßt. Sie konnte fünfunddreißig oder auch vierundfünfzig sein.

Der Besitzer brauchte sich nur vorzustellen, und schon war Jury klar, warum er so erfolgreich war bei Frauen. Hätte Jury nicht in Pratts Bericht gelesen, daß er bereits 43 Jahre alt war, hätte er ihn bestimmt zehn Jahre jünger geschätzt. Hellbraunes, dicht gelocktes Haar, ein ziemlich kantiges Gesicht, ein schmaler, aber sympathischer Mund. Der ganze Mann machte einen sehr liebenswürdigen Eindruck, auch wenn diese Liebenswürdigkeit etwas Einstudiertes an sich hatte. Sein Gesicht glich einer aristokratischen, fein ziselierten Maske; die Augen waren leuchtend blau, kleine Stückchen eines gefrorenen Himmels. Es lag wohl an seiner Fähigkeit, ihren Ausdruck so intensivieren zu können, daß jede Frau das Gefühl hatte, das alleinige Objekt seiner Begierde und vielleicht auch seiner Liebe und Zuneigung zu sein. Die Farbe von Matchetts Augen außerdem noch durch das am Hals offene blaue Wollhemd betont, dessen lange Ärmel über die Handgelenke hochgerollt waren.

DieseMiss Rivington war gewiß nicht unscheinbar und verhuscht; ihr elegantes, blaues Wollkleid schien passend zu seiner Augenfarbe ausgesucht zu sein; vielleicht sollte es aber auch nur unterstreichen, wie gut sie zusammenpaßten. Eine Kaskade russischer Bernsteinperlen endete kurz vor ihrer Taille. Über dem Barhocker lag eine Nerzstola.

Matchett stellte sie als Isabel Rivington vor; dann zog er zwei eichene Barhocker herbei und sagte: «Darf ich Ihnen und dem Wachtmeister etwas anbieten?»

Wiggins, der wie ein Laternenpfahl dastand, fragte, ob er etwas Heißes haben könne, eine Tasse Tee vielleicht. Er spüre eine Erkältung nahen. Matchett entschuldigte sich und ging in die Küche.

«Ich würde gern einmal bei Ihnen vorbeikommen», sagte Jury zu Isabel Rivington. «Ich hätte da ein paar Fragen.»

«Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie mich noch fragen könnten. Ich hab alles, was ich weiß, bereits dem Superintendenten erzählt.»

«Das ist mir bewußt. Aber vielleicht gibt es doch noch ein paar Kleinigkeiten, die Sie vergessen oder übersehen haben.»

«Warum schießen Sie nicht gleich los?» Sie blickte zu der Tür, durch die Matchett verschwunden war, als suche sie nach moralischem Beistand. Über den Rand ihres kleinen Glases, das mit einer giftig aussehenden Flüssigkeit gefüllt war, warf sie Jury einen abschätzenden Blick zu. Sie hatte dunkle Augen, stark geschminkte, lavendelfarbene Lider und Wimpern, in deren Spitzen kleine Perlen von Wimperntusche hingen.

«Im Augenblick bin ich mit Mr. Matchett beschäftigt», sagte Jury.

Sie stellte ihr Glas ab und nahm ihre Nerzstola von dem Hocker. «Mit andern Worten, ich kann mich verabschieden.»

Matchett war zurückgekommen und sagte Wiggins, der Koch habe das Teewasser aufgesetzt.

«Na schön, ich gehe», sagte Isabel Rivington und glitt von ihrem Barhocker. «Bis später, Simon, Morde hin, Morde her», fügte sie mit eisiger Freundlichkeit hinzu.

Als sie gegangen war, bat Jury Matchett, das Fremdenbuch zu holen. Er entdeckte am 17. Dezember den mit ungelenker Hand geschriebenen Namen von William T. Small, Esq.

«Er kam nachmittags gegen drei hier an. Ich wollte gerade nach Sidbury fahren, um einen Laib Stilton zu holen, vorsichtshalber, da am Donnerstag die Geschäfte früh schließen.»

«Und er hat nicht gesagt, warum er hier haltgemacht hat?»

«Nein, nichts.»

Jury wiederholte die Namen der Gäste, die in Matchetts Lokal zu Abend gegessen hatten. «Fehlt noch einer?»

«Nein. Oder doch, Betty Ball tauchte auch einmal auf. Sie brachte gegen sechs oder sieben das Gebäck und den Kuchen vorbei. Sie hat hier im Dorf eine Bäckerei. Ich erwähne das, weil sie durch den Hintereingang gekommen ist und vielleicht die Kellertür gesehen hat. Natürlich war das sehr viel früher …»

«Ja. Ich werde mit ihr sprechen. Wiggins!» rief Jury. Der Wachtmeister, der zusammen mit Matchetts Hund vor dem Feuer saß, schien eingenickt zu sein. Wiggins fuhr hoch, und alle drei gingen nach hinten und dann einen kurzen Gang entlang, der zum Keller führte. Rechts und links befanden sich die Toiletten mit kleinen, schwarzen Schattenrissen auf den Türen, die diskreten Hinweise auf «Damen» und «Herren».

«Ist die Kellertür gewöhnlich abgeschlossen?»

«Nein. Wir müssen ja immer wieder runter; eine Hälfte davon ist der Weinkeller.»

«Dann kann also durch diese Tür jeder in den Keller gehen?»

«Ja, im Prinzip schon.» Matchett blickte ihn fragend an. «Aber wie ich der hiesigen Polizei schon sagte, ist die hintere Kellertür aufgebrochen worden.»

Jury erwiderte nichts darauf. Der Keller war ziemlich groß. Der linke Teil war mit Körben und Gerümpel vollgestellt; im rechten standen mehrere Reihen von Regalen, in denen die Flaschen mit den Hälsen schräg nach unten gelagert waren. In der Wand gegenüber der Treppe war die Tür, die nach draußen führte. Jury und Wiggins inspizierten sie. Es war eine kleine, sehr alte Tür mit verrosteten Scharnieren, und der Teil des Riegelschlosses, der am Türpfosten festgenagelt gewesen war, hing noch an einem alten Nagel. Jury öffnete sie, und er und Wiggins blickten auf schmale, mit halbverfaultem Herbstlaub bedeckte Zementstufen. Jurys Blick wanderte über den Zementfußboden des Kellers. Die Tür aufzubrechen mußte auch für jemanden, der über keine großen Körperkräfte verfügte, einfach gewesen sein. Aber warum alle zu glauben schienen, daß sie aufgebrochen worden war, fand Jury einfach unverständlich.

«Sehen Sie, Inspektor, die Tür war vorher noch in Ordnung gewesen, der Mörder muß also hier eingebrochen sein.»

Jury ging zu den Regalen hinüber. Zwischen den einzelnen Reihen standen große Holzfässer. «Das war das Faß, Inspektor», sagte Matchett. «Ich hab im letzten Jahr etwas herumexperimentiert, ich wollte mein eigenes Bier brauen. Aber ohne großen Erfolg. Hier fand Daphne die Leiche – sie baumelte da im Faß», meinte Matchett mit matter Stimme. «Hat ihn denn jemand verfolgt? Er war doch nicht vorbestraft, oder?»

«Die Ermittlungen sind noch nicht soweit gediehen. Wir sind gerade dabei, die Fakten zusammenzutragen.» Die wenigen Fakten, die es gab.

«Ja, natürlich.» Matchett legte den runden Holzdeckel auf das inzwischen geleerte Faß. «Möchten Sie hier unten noch etwas sehen, Inspektor?»

«Nein, ich denke nicht. Ich würde gern mit der Kellnerin sprechen, wenn das möglich ist.» Die drei Männer stiegen wieder die Treppe hoch.

Als Matchett Jury in den Speiseraum führte, war Twig gerade dabei, den Tisch mit den Soßen und Zutaten herzurichten, während Daphne das Besteck auflegte.

«Twig, Daphne – das ist Inspektor Jury aus London; er möchte euch ein paar Fragen stellen. Ich lasse Sie allein, Inspektor. Wenn Sie mich brauchen, ich bin in der Bar.»

Das Mädchen erblaßte und zupfte nervös an seiner weißen Schürze. So nervös, wie das zu erwarten ist, dachte Jury.

«Mr. Twig, nicht?»

«Nur Twig, Sir.» Er nahm Haltung an.

«Und Miss Murch? Darf ich Daphne zu Ihnen sagen?» Jury setzte ein herzerwärmendes Lächeln auf – eines, das auch von Herzen kam, da das arme Mädchen gleich umzufallen drohte. Sie nickte beinahe unmerklich.

«Sie haben dem Superintendent bestimmt schon alles haargenau erzählt, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir noch ein paar Einzelheiten durchzugehen – vielleicht sollten wir uns besser setzen.»

Twig und Daphne blickten auf den Tisch, als wäre es für sie völlig unvorstellbar, sich an ihm niederzulassen. Jury bot Daphne einen Stuhl an, und sie nahm nur zögernd darauf Platz.

«Twig, Sie sind an diesem Abend zwischen halb neun und neun in den Keller gegangen. Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen?»

«Viertel vor neun, würde ich sagen, Sir. Alles war in bester Ordnung – ich hab das auch schon diesem Mr. Pratt gesagt.»

«Und das Schloß und der Riegel an der Tür waren intakt?»

Twig kratzte sich an dem grauen Wuschelkopf. «Die Tür war auf jeden Fall zu, Sir. Nicht wie später. Aber ich kann nicht beschwören, ob das Schloß schon aufgebrochen war. Ich hab mir die ganze Zeit darüber das Hirn zermartert.»

«Schon gut. Also, Daphne –»

Ein tiefes Atemholen war zu vernehmen, als wäre sie aufgerufen worden, für einen ewig nörgelnden Lehrer etwas aufzusagen.

«Sie haben sich vorbildlich benommen, Daphne. Die wenigsten hätten sich so unter Kontrolle gehabt.» Das entsprach zwar nicht dem, was ihm Lady Ardry erzählt hatte, aber er gab sowieso nicht viel auf ihr Gerede. Twig schnaubte verächtlich.

In ihre Wangen war wieder etwas Farbe zurückgekehrt, und schon nicht mehr ganz so hilflos wandte sie sich an Twig: «Sie brauchen gar nicht so zu tun, Mr. Twig. Wären Sie mal völlig ahnungslos die Treppe runtergegangen und hätten Sie mal den armen Mann gefunden –» Sie hielt die Hand vor den Mund, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

«Es muß schrecklich für Sie gewesen sein.»

«O ja, es war entsetzlich, einfach entsetzlich. Er war halb drin in dem Faß und halb draußen. Ich traute meinen Augen nicht. Zuerst hielt ich es für einen Scherz. Einen Streich oder so was. Dann sah ich aber an dem Anzug, daß es Mr. Small war.»

«Und was haben Sie dann gemacht?»

«Ich rannte wieder die Treppe hoch. Und an der Tür stieß ich auf Lady Ardry, die gerade aus dem Klo kam – entschuldigen Sie, Sir –» Sie errötete. «Ich kriegte kaum ein Wort raus, solches Herzklopfen hatte ich. Sie fragte mich, was denn passiert wäre, und ich zeigte die Treppe hinunter. Sie ging dann selbst runter, und gleich darauf hörte ich diesen Schrei – wie eine Herde Elefanten kam sie hochgestürmt und brüllte wie wahnsinnig. Es gab ein großes Durcheinander. Ich rannte in die Küche und hielt mir die Hände vors Gesicht.»

Jury legte die Hand auf ihren Arm. «Vielen Dank, Daphne. Ich hab keine weiteren Fragen mehr.» Als sie von ihrem Tisch aufstanden, dachte Jury, daß Daphne bis jetzt wohl die einzige gewesen war, die ihm die reine, ungeschminkte Wahrheit gesagt hatte.

Matchett erschien in der Tür zum Speiseraum. «Inspektor, wenn Sie und der Wachtmeister etwas früher zu Abend essen wollen, dann geht das in Ordnung.»

Wiggins, der sich, wie er sagte, in dem feuchten Keller erkältet hatte, saß wieder mit dem Hund zusammen vor dem Feuer. «Ja, wollen wir», sagte Jury. «Und ich hätte mich auch noch gern mit Ihrer Köchin unterhalten.»

Daß die Köchin ihm nicht weiterhelfen würde, war zu erwarten gewesen. Mrs. Noyes hatte diesen Small überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Die Sache hatte ihr einen solchen Schrecken eingejagt, daß Mr. Matchett sie nur mit Mühe und Not überreden konnte, bei ihm zu bleiben. Jury dankte ihr und ging zur Bar zurück, wo Matchett die leeren Flaschen aussortierte.

«Versuchen Sie sich zu erinnern – was hat Small an diesem Abend alles gemacht?»

Matchett schenkte sich und Jury einen Whisky ein und dachte nach. «Er hat gegen sieben gegessen, bevor die andern gekommen sind. Dann verschwand er – wahrscheinlich ging er auf sein Zimmer zurück – und tauchte erst wieder gegen acht oder halb neun auf. Er trank etwas an der Bar. Danach kann ich mich nicht erinnern, ihn noch einmal gesehen zu haben.»

«Nahm er den Drink mit Mr. Trueblood zusammen?»

«Ja. Ich glaube, Willie Bicester-Strachan war auch an der Bar.»

«Alle haben ihn also gesehen oder hätten ihn zumindest sehen können?»

«Ja, ich denke doch. Ich selbst war ziemlich beschäftigt, darum habe ich mir auch nicht gemerkt, wer wann wohin ging.»

«Und die wenigsten waren nüchtern? Was Ihnen nicht gerade geholfen hat, alles im Gedächtnis zu behalten.»

«Ich muß zugeben, daß ich selbst schon etwas intus hatte. Die Feiertage, Sie wissen schon.»

«Sie können also nicht ausschließen, daß zwischen 20 Uhr 45, als Twig den Wein heraufholte, und 23 Uhr, als Miss Murch dann runterging, jemand die Kellertreppe benutzt hat?»

«Nein.» Matchett schüttelte den Kopf. «Etwas verstehe ich nicht, Inspektor –»

«Und das wäre?»

«Ihre Fragen. Sie scheinen anzunehmen, daß einer von denen hier drin, hier im Gasthof … den Mord begangen hat. Dabei kannte doch überhaupt keiner diesen Small.»

«Sie meinen, keiner hat angegeben, daß er ihn kannte.»

Dick Scroggs wischte gerade seinen Tresen, als Jury etwas später am Abend in die Hammerschmiede kam, sich vorstellte und seinen Ausweis zeigte. Daraufhin erhob sich ein Gemurmel unter dem halben Dutzend Stammgästen, die Jury wie das Wasser zu teilen schien, so daß er drei zu seiner Rechten und drei zu seiner Linken hatte. Sie zogen sich die Mützen ins Gesicht oder ließen die Nasen einfach tiefer in ihre Schoppen mit Bass und Ind Coope hängen. Man hätte denken können, Jury wäre im Begriff, eine Razzia durchzuführen.

«Guten Abend, Sir», sagte Scroggs, der nervös mit dem Gläsertuch herumhantierte. «Ich hörte schon, daß Sie in der Stadt sind. Ich nehme an, Sie wollen mir ein paar Fragen stellen.»

«Ja, das würde ich gerne, Mr. Scroggs. Kann ich mir mal das Zimmer von Mr. Ainsley anschauen?» Jury spürte, wie sich die Blicke der Männer in seinen Rücken bohrten, als Scroggs ihn die enge, wacklige Treppe hochführte und ihm dabei erklärte, daß er nur selten eines seiner Fremdenzimmer vermiete, da die Hammerschmiede im Gegensatz zu Matchetts Gasthof eher eine Bierkneipe sei. Dieser Ainsley sei vor ein paar Tagen hereingeschneit gekommen und habe nach einem Zimmer gefragt. Ohne zu sagen, woher er kam oder wohin er wollte.

Das Zimmer war eine schwachbeleuchtete Zelle mit dem üblichen Mobiliar – Bett, Schreibtisch und ein ziemlich abgewetzter Sessel. In dem Schrank gab es keine Geheimnisse; das Dachfenster war das dritte von fünf; es ging wie alle andern auf die Straße hinaus.

Scroggs war zu einer Tür in der Wand gegangen, die sich im rechten Winkel zum Fenster befand. «Diese Tür führt in das nächste Zimmer. Alle Zimmer sind miteinander verbunden. Da es aber außer ihm keine weiteren Gäste gab, meinte dieser Ainsley, es sei nicht nötig, die Türen abzuschließen.»

«Mit anderen Worten, jemand könnte von diesem Zimmer hier in die Abstellkammer gelangen, ohne den Gang zu benutzen?»

«Ja, das ist möglich.»

«Sehr praktisch für den Mörder.»

Sie gingen durch die Tür in das nächste Zimmer, das bis auf die Anordnung der einzelnen Möbelstücke genauso wie das erste aussah, und kamen dann in die mit alten Möbeln, ausrangierten Lampen, Koffern, Zeitungen und Magazinen vollgestopfte Abstellkammer.

Das Flügelfenster war sehr niedrig und zum Teil von dem Strohdach verdeckt; als Jury dagegendrückte, sprang es sofort auf. Direkt darunter, in einem Abstand von ungefähr 30 Zentimetern, befand sich der Balken, auf dem die geschnitzte Figur des «Jack» gestanden hatte. Der Mörder hatte einfach den Schmied von dem Stützpfosten abgehoben und statt dessen sein Opfer auf den Balken gesetzt.

«Sie haben Superintendent Pratt gesagt, daß dieser Ainsley ungefähr um sieben hier ankam, nicht?»

«Ja, Sir.»

«Und was hat er dann gemacht?»

Scroggs kratzte sich am Kopf und erinnerte sich dann wieder. «Er wollte sein Abendessen haben – das heißt, zuerst habe ich ihm sein Zimmer gezeigt. Um acht aß er dann und saß noch eine Weile herum, bis er wieder auf sein Zimmer ging; soviel ich mich erinnere, hatte es gerade neun geschlagen.» Dick Scroggs dachte einen Augenblick nach und fügte hinzu: «Das heißt, ich hab angenommen, daß er auf sein Zimmer gegangen ist.»

Jury blickte ihn an. «Das ist eine interessante Unterscheidung, Mr. Scroggs. Wollen Sie damit sagen, daß er auch weggegangen sein könnte? Durch den Hinterausgang?»

«Ja, das wäre durchaus möglich. Aber nicht durch die vordere Tür, da hätte ich ihn nämlich gesehen. Bleibt also die Tür hinten» – Scroggs zeigte mit dem Daumen darauf – «sie ist eigentlich immer auf.»

«Er hätte sich also draußen mit jemandem treffen können.»

Scroggs nickte. «Oder jemand hätte zu ihm auf sein Zimmer hochgehen können.»

«Wer war sonst noch in der Hammerschmiede?»

«Praktisch das ganze Dorf.» Er zog eine Grimasse, so angestrengt dachte er nach; dann ratterte er die Namen derselben Leute herunter, die auch in der Pandorabüchse gewesen waren, abgesehen von Trueblood und Lady Ardry. Aber das, dachte Jury, hat nichts zu bedeuten. Wie Scroggs schon gesagt hatte – jeder hätte durch die hintere Tür hereinkommen und die Treppe hochsteigen können.

Scroggs schaute aus dem Fenster. «Ist doch nicht zu fassen. Bugsiert ihn auf den Balken, wo jeder ihn sehen konnte. Ist das nicht bescheuert?»

«Das scheint nur so, Mr. Scroggs. Schließlich dauerte es eine ganze Weile, bis ihn einer gesehen hat, nicht?»