XVI
Der messerähnliche Brieföffner steckte bis zum elfenbeingeschnitzten Heft in der Brust des Pfarrers. Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden der Bibliothek.
Die Bibliothek selbst war zwar nicht verwüstet, aber doch gründlich durchsucht worden: Bücher waren von den Regalen gefegt, Schubladen herausgezogen und Schränke geöffnet worden.
«Ich versteh das nicht», sagte Melrose Plant. «Gut, er war hinter dem Armband her – aber lohnte es sich wirklich, dafür ein solches Risiko einzugehen? Für alle außer Ruby und ihm war das doch ein ganz gewöhnliches Armband.»
«Ich glaube nicht, daß er es nur auf das Armband abgesehen hat. Vielleicht suchte er noch was anderes: Rubys Tagebuch. Nachdem einer von den vermißten Gegenständen aufgetaucht war, dachte er wohl, der Pfarrer sei auch im Besitz des andern. Und das war ihm offensichtlich zu gefährlich.» Jury ging um den Schreibtisch herum, setzte sich und rief die Polizei in Weatherington an; er vergaß dabei nicht, sein Taschentuch zu benutzen. Nachdem er Wiggins damit beauftragt hatte, die Laborleute zusammenzutrommeln, rief er Wachtmeister Pluck an.
«Großer Gott, schon wieder einer?» Pluck schnappte nach Luft.
«Ja, wieder einer. Und Sie sollten auf dem schnellsten Weg zur Pandorabüchse fahren und die Leute dort vernehmen – Simon Matchett, Sheila Hogg und Darrington. Und auch Lady Ardry. Alle übrigen schaffen Sie sich vom Hals.»
In einem Tonfall, der am Bett eines kranken Kindes angebracht gewesen wäre, sagte Pluck: «Ich weiß nicht, ob das geht, Sir, der Morris, Sie verstehen? Er gibt diesen komischen Summton von sich, ich –»
«Wachtmeister Pluck», sagte Jury mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit, «wenn Sie nicht sofort zur Pandorabüchse fahren, dann werden Ihnen die Ohren summen. Verdammt noch mal, Mann! Nehmen Sie irgendein Auto. Das von Ihrer Nachbarin, Miss Crisp. Oder halten Sie jemanden auf der Straße an –»
Etwas in Jurys Stimme ließ Pluck strammstehen. Sogar seine Stimme salutierte. «Jawohl, Sir.»
Jury knallte den Hörer auf die Gabel und knüllte das Papier zusammen, auf das er einen Morris gekritzelt hatte, der an einem Baum klebte. Er wollte es gerade in den Papierkorb werfen, als er einen Zettel bemerkte, der halb verdeckt unter einem lavaähnlichen Gesteinsbrocken lag, dem Briefbeschwerer des Pfarrers. Jury zog ihn hervor und überflog die zusammenhangslosen Stichworte, die anscheinend für eine Predigt gedacht gewesen waren.
«Hören Sie sich das an», sagte Jury zu Melrose, der immer noch mitten im Raum stand und auf die Leiche des Pfarrers starrte: «Bacchanals … Hirondelle … God encompasseth us … Können Sie sich einen Reim daraus machen?»
Plant trat an den Schreibtisch, blickte auf den Zettel und schüttelte den Kopf.
«Wir nehmen das mit, wenn die Spuren gesichert worden sind. Offen gestanden, habe ich nicht die geringste Hoffnung, daß dabei was herauskommt.» Er betrachtete die Gegenstände auf dem Schreibtisch: Löscher, Tintenfaß, Federhalter, eine Vase mit späten Rosen. Sein Blick wanderte zu den offenen Schubladen, und er bemerkte, daß der Inhalt zwar durchwühlt, aber nicht beschädigt worden war. Im Hof des Pfarrhauses war das Quietschen von Reifen zu hören, und durch die dunklen Scheiben konnten sie das Blaulicht aufleuchten sehen, das entweder zum Polizeiwagen oder zur Ambulanz gehörte. Dann kam die Mannschaft von Weatherington hereingestolpert, gefolgt von Kriminalwachtmeister Wiggins. Es hatte angefangen zu regnen, graue, schräg einfallende Regenschnüre und gelegentlich ein kurzes Donnern, das wie ein Trommelwirbel von einem fernen Planeten klang, begleitet von Wetterleuchten – ein perfekter Rahmen für einen Mord.
«Wer ist es denn dieses Mal?» fragte Appleby mit einem Lächeln so strahlend wie Lametta.
Jury, der sich am Tod des Pfarrers mitschuldig und dementsprechend erbärmlich fühlte – hätte er vermieden werden können, wenn er, statt nach Weatherington zu fahren, in Long Piddleton geblieben wäre? –, sagte niedergeschlagen: «Reverend Smith. Denzil Smith. Der Pfarrer von St. Rules.»
Der Polizeifotograf – Jury erinnerten sie immer an grimmig aussehende Touristen – nahm die Leiche aus jedem nur möglichen Blickwinkel auf und verrenkte sich dabei wie ein Schlangenmensch. Jury zog eine Zigarette aus seiner Packung und beobachtete, wie der Experte für Fingerabdrücke alles von den Türklinken bis zu den Lampenschirmen einstaubte. Ein Kriminalbeamter hatte sich an der Tür postiert, ein anderer inspizierte die oberen Räume, und ein dritter stand einfach nur herum und wartete auf Anweisungen.
Als der Fotograf fertig war, beugte sich Dr. Appleby über die Leiche; Wiggins stand hinter ihm, das Notizbuch in der Hand. Er sah miserabel aus, was nicht gerade verwunderlich war. Appleby rasselte die Details herunter – Zustand der Leiche, Größe, Gewicht, Alter. Der Mord mußte zwischen sechs und acht Uhr an diesem Abend passiert sein. Er sagte jedoch, die Totenstarre allein sei kein hinreichendes Kriterium. Die ganze Szene wirkte erschreckend vertraut, als werde immer wieder dieselbe Filmrolle abgespult.
Wieder quietschten Reifen, und Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen. Dieses Mal waren es die Männer, die die Leiche abtransportieren sollten. Sie standen stumm herum und warteten darauf, daß Appleby ihnen ein Zeichen gab. Appleby beendete seine flüchtige Untersuchung, und sie hüllten die Leiche in eine Plastikplane.
Als alle fertig waren, zündete Appleby sich eine Zigarette an. Er blies einen kleinen Rauchkringel in die Luft und sagte: «Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, mir hier ein kleines Häuschen zu kaufen, für meine alten Tage. Aber unter diesen Umständen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob sich die Investition lohnen würde.» Er ließ seine Tasche zuschnappen und war schon an der Haustür, als er sich noch einmal umdrehte, um Jury ein «bis auf bald» zuzurufen.
«Dieser Arzt hat einen seltsamen Humor», meinte Melrose.
Jury hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt und über den Zettel mit den Notizen des Pfarrers gebeugt. Er hatte an einem Finger des Pfarrers einen Tintenfleck bemerkt, der dem Fleck auf dem Papier sehr ähnlich sah.
Man hörte, wie draußen die Autotüren auf- und zuklappten; Scheinwerfer färbten den Nebel gelb, als die Autos rückwärts aus dem Hof fuhren. Wiggins kam zurück, ließ sich auf das Sofa fallen und zog sein Taschentuch hervor. Long Piddleton war anscheinend Gift für seine Leiden. Ein Donnerschlag und ein Schrei des Entsetzens, der sich Wiggins entrungen hatte, veranlaßten Jury, sich blitzschnell umzudrehen: Vor der Fenstertür, die hinter dem Schreibtisch ins Freie führte, waren in dem grellen Licht des Blitzes eine Silhouette und ein weißes Gesicht sichtbar geworden. Jury stürzte auf die Tür zu, blieb aber sofort wieder stehen, als er erkannte, wer es war: «Lady Ardry! Was zum Teufel –?»
Sie trat in das Zimmer; das Wasser rann nur so in Strömen an ihr herunter. «Sparen Sie sich Ihre Flüche, Inspektor. Ich habe alles genau gesehen.»
Jury hatte genug. «Wiggins! Die Handschellen!»
In schneller Abfolge spiegelten sich auf ihrem Gesicht alle möglichen Seelenregungen, von totaler Fassungslosigkeit bis zu zähneklapperndem Entsetzen. Wiggins, der keine Handschellen bei sich hatte und auch noch nie welche gehabt hatte, warf Jury einen fragenden Blick zu.
Sie fand ihre Stimme wieder. «Melrose! Sag diesem verrückten Polizisten, er könne nicht –»
Melrose zündete sich seelenruhig eine Zigarre an. «Keine Angst, Agatha, ich besorge dir den besten Anwalt, den es gibt.»
Sie wollte sich gerade auf ihren Neffen stürzen, als Jury dazwischentrat. «Schon gut. Dieses Mal lassen wir Sie laufen. Aber was hatten Sie denn da draußen verloren?»
«Ich schaute zu, was denn sonst? Bräunen wollte ich mich nicht», bemerkte sie bissig.
«Du solltest dir dem Inspektor gegenüber einen andern Ton zulegen, Agatha; du warst vielleicht die letzte Person, die mit dem Pfarrer gesprochen hat!»
Sie schluckte und wurde leichenblaß. Sie hatte zwar nichts dagegen, als Zeugin aufzutreten, als eine so wichtige nun auch wieder nicht. «Na schön, ich bin euch gefolgt. Gleich nachdem ihr weggegangen seid. Auf Matchetts Fahrrad. Nicht gerade ein Vergnügen bei diesem Wetter.»
«Sie standen die ganze Zeit über da draußen?»
«Ich kam dazu, als dieser Arzt sich an der Leiche zu schaffen machte. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen! Truebloods Brieföffner! Hab ich’s Ihnen nicht gesagt!» Dann erinnerte sie sich wohl, daß der arme Denzil einer ihrer besten Freunde gewesen war; sie nahm den Kopf zwischen die Hände und gab ein paar klagende Laute von sich.
Jury fragte sie: «Sie haben das Armband doch hier gesehen?»
Sie nickte. «Mir ist ganz flau. Könnte ich einen Schluck Brandy haben?»
Plant stand auf, um die Flasche zu holen, während Jury ihr gegenüber Platz nahm. «Lady Ardry, mit was war der Pfarrer denn beschäftigt, als Sie bei ihm waren?»
«Er hat sich natürlich mit mir unterhalten.»
Ungeduldig fragte Jury: «Und außerdem?»
«Kann ich Ihnen nicht sagen, oder warten Sie mal, ja, er hat seine Predigt vorbereitet. Er versuchte wieder einmal, aus einem Kieselstein einen Diamanten zu schleifen. Irgendwelchen Blödsinn über das Bauen von Kirchen.» Sie nahm von Melrose den Cognacschwenker entgegen, leerte ihn zur Hälfte, wischte sich dann ziemlich unelegant mit ihrem neuen Lederhandschuh die Lippen ab und blickte sich niedergeschlagen im Raum um.
Jury zeigte ihr den Zettel. «Könnten das Notizen sein, die sich der Pfarrer zu seiner Predigt gemacht hat?»
Agatha holte ihre Brille hervor und hielt sich das Blatt vor die Nase. «God encompasseth us – was soll denn das, so ein Blödsinn. Klingt auch gar nicht nach Denzil. Viel zu religiös.»
Jury faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Innentasche seiner Jacke. «Wo lag denn das Armband?»
Sie streckte den Finger aus: «Er holte es aus der Schreibtischschublade.»
«Und er sagte, er würde es wieder in das alte Versteck legen, stimmt das?» Sie nickte. «Wir haben dieses Haus von oben bis unten durchsucht», sagte Jury kopfschüttelnd.
«Und wie steht’s mit der Kirche?» fragte Melrose.
«Oh, mein Gott!» meinte Jury. «Natürlich – an die Kirche hat keiner gedacht. Gehn wir doch gleich mal rüber.» Wiggins befahl er, das Haus zu bewachen.
«Meidet die Hundeseite des Friedhofs», flüsterte Agatha, die hinter ihnen her den Weg zur Kirche einschlug.
«Die was?»
«Oh, du weißt doch, bei ungetauften Kindern und Selbstmördern wird ein Hund mitbegraben, damit sie nicht als Geister umgehen.»
«Wie interessant», sagte Jury.
Jury hatte seine elektrische Taschenlampe dabei, und auch Plant hatte noch eine in seinem Bentley gefunden. Die Kirche war modrig und kalt, und das Mondlicht, das durch das Maßwerk der Fenster fiel, lag wie ein Netz aus Spinnweben auf den Steinen. Jury knipste seine Taschenlampe an und fuhr mit dem Strahl über das Gestühl auf den beiden Seiten des Mittelschiffes. Matte Felder auf der Täfelung ließen erkennen, daß es früher einmal an den Bänken Namensschilder gegeben haben mußte, die dann demokratischerweise entfernt worden waren. Er stellte sich vor, daß eine der Bänke Melrose Plants Familie gehört hatte. Die größeren waren mit grünem oder braunem Stoff ausgekleidet, während die Reihen der einfacheren, für die Bauern und das gemeine Volk bestimmten Bänke keine Dekorationen aufwiesen.
Da Agatha keine Taschenlampe bei sich hatte und sich auch nicht Plants Taschenlampe bemächtigen konnte, hielt sie sich mal an dem einen, mal an dem anderen Ärmel fest. Einmal blieb sie mit ihrem Absatz in dem weichen, nicht befestigten Teppich hängen und wäre beinahe gestürzt. Plant und Jury hievten sie wieder hoch.
«Wo zum Teufel sind denn die Lichtschalter?» fragte Jury. Keiner schien es zu wissen.
Sie gingen das Mittelschiff entlang und leuchteten dabei die Seitenschiffe aus; Agatha hing an ihren Ärmeln wie eine Blinde.
Es gab einen Lettner, der zweifellos nach der Reformation wieder aufgebaut worden war. In das Mauerwerk war eine Treppe gehauen worden. Die Kanzel war ungewöhnlich hoch, die höchste die Jury je gesehen hatte, ein sogenannter «Dreidecker» aus dem achtzehnten Jahrhundert, bei dem Kanzel, Pult und Sitz des Meßdieners drei Ebenen bildeten. Der Pfarrer gelangte über eine kleine Treppe zur Kanzel.
«Ich schau mir das mal an», sagte Jury und ging die enge, nicht sehr stabile Treppe hoch. Auf der Innenseite der Kanzel lief ein Regal entlang, auf dem ein paar Bücher standen, die er mit seiner Taschenlampe inspizierte. Es waren jedoch nur ein abgegriffenes Neues Testament und ein Gebetbuch.
«Haben Sie was entdeckt?» fragte Melrose.
Jury schüttelte den Kopf und bemerkte die Lampe, die an einem Messingarm über der Kanzel hing. Er streckte die Hand aus und zog an der Schnur. Ein warmes Licht breitete sich über der Kanzel aus; es erhellte auch noch den Chor bis zum Altar, wo es dann von dem Dunkel geschluckt wurde.
Er stieg von der Kanzel, und sie gingen gemeinsam durch den Chorbogen. Lady Ardry hatte sich an Plants Mantel geklammert, als stünde der Mörder hechelnd in einem der dunklen Seitenschiffe. Der Altar war für die Feiertage mit Blumen geschmückt worden. Sie erfüllten den schwach erleuchteten, feuchten Chorraum mit einem schweren, exotischen Duft. In der nördlichen Ecke befand sich eine winzige Sakristei, in die man durch eine Tür in der Chorwand gelangte. Jury öffnete sie und leuchtete den kleinen Raum aus; bei dem Kelch verweilte er einen Augenblick. Vielleicht war es einfach nur die unersättliche Neugierde eines Kriminalbeamten, die ihn trieb; jedenfalls ging er zu dem Kelch hinüber und zog das Tuch, das ihn bedeckte, herunter.
In dem Kelch lag ein goldenes Armband mit kleinen Anhängern.
Schnell zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, schüttelte es auf und griff damit in den Kelch. Dann ging er zum Altar zurück, bei dem Melrose und Agatha standen und sich umschauten.
«Großer Gott!» rief Agatha, als sie sah, was er in der Hand hielt.
«Im Kelch, ob Sie’s glauben oder nicht!»
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, während sie den Fund betrachteten. «Hätte es nicht schon letzten Sonntag gefunden werden müssen?»
«Da gab es kein Abendmahl», sagte Lady Ardry. «Denzil vergaß es immer. Er hätte den Kelch auch gar nicht benutzt, den hielt er für unhygienisch. Statt dessen nahm er gelegentlich kleine Silberbecher.»
«Sie glauben also, Ruby hat es dort deponiert? Bevor sie verschwand?» fragte Melrose.
«Ja. Das war ziemlich schlau von ihr. Ich glaube, das Armband war eine Art Pfand. Sie wußte, daß viel davon abhing, und sie wußte, daß es dort irgendwann gefunden werden würde, falls sie es nicht selbst abholte. Man möchte fast glauben, sie hatte Köpfchen, die Kleine.»
«Das», sagte Lady Ardry, «möchte ich doch bezweifeln.»
Als sie eine Viertelstunde später wieder in der Pandorabüchse auftauchten, stellte Jury befriedigt fest, daß Pluck seinen Anweisungen nachgekommen war und die ganze Gesellschaft festgehalten hatte. Und auch, daß ihnen das nicht gerade zu behagen schien. Alle drängten sich in der Bar: Trueblood, Simon Matchett, die Bicester-Strachans und Vivian Rivington. Isabel saß allein am Tresen und trank einen sirupartigen Likör. Sheila Hogg war, wie Pluck berichtete, schon gegangen, als er ankam, anscheinend erbost darüber, daß Darrington so schamlos mit Mrs. Bicester-Strachan geflirtet hatte.
Jury ließ sich von Daphne Murch eine Schachtel Zigaretten bringen und las die von Pluck zu Protokoll genommenen Aussagen durch. Es gab keinen mit einem hieb- und stichfesten Alibi für die ein, zwei Stunden vor dem Essen in dem Gasthof. Er erinnerte sich vage, daß Plant gesagt hatte, Lady Ardry sei bei ihm zu Hause gewesen, was zumindest sie freisprechen würde. Aber Jury wollte das erst einmal für sich behalten. Was die anderen betraf, so konnte jeder von ihnen den Gasthof für kürzere Zeit verlassen haben, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Das Pfarrhaus war nur wenige Minuten entfernt, und in dem gepflasterten Hof fuhren ständig Autos ein und aus. Jury entnahm Plucks Bericht, daß Darrington Lorraine nach Hause gefahren hatte, weil sie ihr Scheckbuch holen wollte. Sehr überzeugend! Sheila Hogg mußte das auch gefunden haben. Jury erinnerte sich, daß auch Matchett einmal die Bar verlassen hatte. Ein anderes Mal war Isabel eine Zeitlang verschwunden gewesen. Vielleicht war sie nur auf die Toilette gegangen; möglich war alles. In Frage kamen alle und keiner.
Als er von dem Protokoll hochblickte, starrten sie entweder in die Luft oder spielten mit Knöpfen, Gürteln oder ihren Haaren herum. Jury schickte Wiggins zu Sheila Hogg, damit er auch von ihr eine Aussage einholte; er selbst wollte im Gasthof bleiben und Wachtmeister Plucks Bericht vervollständigen.
Simon Matchett brach schließlich das Schweigen, indem er sagte: «Ich hab das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Man könnte an eine Wiederholung des Abends glauben, an dem Small …» Er war nicht imstande, seinen Satz zu beenden.
«Wie wahr, Mr. Matchett. Und wenn ich jetzt bitte jeden einzeln sprechen könnte. Wachtmeister Pluck, ich glaube, das vordere Zimmer ist für diesen Zweck am besten geeignet.»
«Mr. Bicester-Strachan, für Sie muß das besonders schmerzlich sein. Ich weiß, Sie waren ein guter Freund des Pfarrers.» Bicester-Strachan hielt den Kopf abgewandt; er suchte nach einem Taschentuch, das er dann aber wieder wegsteckte. «Sie sagten doch, Sie wollten sich mit Mr. Smith hier treffen?»
Bicester-Strachan nickte. «Ja, wir wollten nach dem Essen Dame spielen. Zum Essen selbst wollte er nicht kommen, sondern erst danach, wenn er seine Predigt fertig hatte …» Seine Stimme versagte.
«Wann haben Sie mit ihm gesprochen?»
«Heute nachmittag. Ich glaube, so gegen zwei.» Der alte Mann ließ seine Augen im Raum umherwandern, als suchte er nach etwas, was ihn vom Tod des Pfarrers ablenken könnte.
«Sie gingen nach draußen, um sich die Beine zu vertreten – haben Sie das Grundstück verlassen?»
«Was? Oh, nein, ich bin nur ein paar Mal auf und ab gegangen. Die Luft wird unerträglich in der Bar, wenn alle rauchen. Außerdem machte ich mir Sorgen wegen Denzil.» Er machte einen verstörten Eindruck. «Er ist immer so pünktlich.» Und Bicester-Strachans Blick wanderte zur Tür, als erwarte er immer noch, daß der Pfarrer gleich eintreten würde.
«Erkennen Sie das, Mr. Bicester-Strachan?» Auf dem Klapptisch lag auf Jurys ausgebreitetem Taschentuch Ruby Judds Armband. Bicester-Strachan schüttelte den Kopf und blickte Jury mißbilligend an, als finde er es unpassend, in diesem Augenblick über Schmuck zu reden.
«Aber Sie wußten, daß Mr. Smith es heute morgen gefunden hat?»
Bicester-Strachan runzelte die Stirn. «Ich weiß nicht, worüber Sie sprechen.»
«Hat Ihnen der Pfarrer nicht erzählt, daß er Ruby Judds Armband gefunden hat?»
«Ruby? Die arme Kleine, die … ja, doch, ich glaube schon. Aber ich habe mir keine großen Gedanken darüber gemacht.»
Jury dankte ihm und ließ ihn gehen; der Mann schien in den letzten zwei Stunden um zehn Jahre gealtert zu sein.
«Mr. Darrington, Sie haben Mrs. Bicester-Strachan nach Hause gefahren, damit sie ihr Scheckbuch holen konnte. Stimmt das?»
«Ja.» Oliver vermied es, ihm in die Augen zu schauen.
«Warum wollte sie es haben?»
«Warum? Du lieber Himmel, woher soll ich denn das wissen?»
«Mr. Bicester-Strachan hatte doch bestimmt genügend Geld bei sich, um das Essen zu bezahlen. Außerdem würde Matchett wohl jedem von Ihnen Kredit geben.»
«Inspektor, ich weiß nicht, warum Lorraine ihr Scheckbuch haben wollte.»
«Erkennen Sie dieses Armband, Mr. Darrington?»
«Es kommt mir irgendwie bekannt vor.»
Ein unmöglicher Lügner, dachte Jury. Darrington konnte die Augen nicht davon abwenden. «Sie haben es schon mal gesehen?»
Oliver zündete sich eine Zigarette an und sagte achselzuckend: «Vielleicht.»
«An Ruby Judds Handgelenk vielleicht?»
«Möglich.»
«Sie sagten aus, Sie hätten Mrs. Bicester-Strachan abgesetzt und seien dann nach Hause gefahren. Warum?»
«Warum? Um Geld zu holen, deswegen.»
«Heute abend scheinen ja alle ziemlich knapp bei Kasse zu sein. Sind Sie sicher, daß Sie Mrs. Bicester-Strachan nicht nach Hause begleitet haben?»
«Hören Sie, Inspektor, ich verbitte mir diese Anspielungen!»
«Sie ist doch nicht mit Ihnen nach Hause gegangen?»
«Nein!»
«Ich verstehe. Zu dumm. Ich meine, wenn sie mitgekommen wäre, dann hätten Sie beide ein Alibi.»
Lorraine Bicester-Strachan rückte ihren Stuhl so nahe wie möglich an Jury heran und schlug die seidenbestrumpften Beine übereinander. Da ihr langer Tweedrock nur von der Taille bis kurz über dem Knie zugeknöpft war, zeigte sie sehr viel Bein. «Nein, ich hab es noch nie gesehen», sagte sie von dem Armband. «Soll es denn mir gehören und ist am Tatort gefunden worden?»
Die Gleichgültigkeit, die manche Leute an den Tag legten, erstaunte Jury immer wieder. «Der Tod des Pfarrers hat Ihren Mann sehr erschüttert. Die beiden müssen eng befreundet gewesen sein.»
Auf diese Bemerkung hin klopfte sie einfach ihre Asche über dem Kamingitter ab. «Aber vielleicht bedeutet Ihnen das nichts, Freundschaft und Loyalität.»
«Was soll das heißen?»
«Diese Information, die damals in die falschen Hände gelangte – das waren doch Ihre Hände, nicht wahr? Oder zumindest haben Sie sie an jemanden weitergegeben, der nicht gerade ein Gentleman der alten Schule war.»
Sie hätte eine Skulptur aus Eis sein können.
«An Ihren Liebhaber, stimmt’s? Der sogleich ein ‹Freund› Ihres Mannes war. Um Ihren Ruf zu schützen, hat Mr. Bicester-Strachan seinen eigenen ruiniert. Immer wieder hat er sich vor Sie gestellt. Das verstehe ich unter Loyalität. Manche nennen es sogar Liebe –»
Lorraine beugte sich plötzlich zu ihm hinüber; ihre Hand schoß auf ihn zu, aber Jury fing sie wie einen Ball in der Luft auf, und er drückte sie nicht gerade sanft in ihren Sessel zurück. «Sollen wir uns wieder der Gegenwart zuwenden? Sie haben sich heute abend wohl etwas gelangweilt, Mrs. Bicester-Strachan? Haben Sie deshalb Mr. Darrington mit nach Hause genommen?»
Inzwischen war sie nicht nur wütend, sondern auch noch verunsichert. Von Jurys ausdruckslosem Gesicht ließ sich unmöglich ablesen, ob Oliver ihm etwas gesagt hatte oder nicht.
«Nun?» fragte Jury, amüsiert über das Dilemma, in das Darrington und Lorraine geraten waren.
«Er lügt, wenn er behauptet, ich sei mit ihm nach Hause gegangen.» Sie drehte an dem Diamantverschluß ihres Uhrarmbands.
Jury lächelte. «Er hat es nicht behauptet, Mrs. Bicester-Strachan. Es ist nur eine Vermutung von mir.»
Ihre Selbstzufriedenheit und dieses kleine Lächeln, das eher der eigenen Schlauheit als ihm galt, reizten ihn zum Lachen. Und als sie beim Hinausgehen herausfordernd die Hüften schwenkte, dachte er, daß allein schon die Vorstellung von Oliver und Lorraine, wie sie sich in einer dunklen Ecke liebten, unsäglich langweilig war.
Pluck öffnete Simon Matchett die Tür.
«Es gehörte Ruby Judd», sagte Matchett, ohne zu zögern. Er rollte seine dünne Zigarre im Mund.
«Woher wissen Sie das so genau, Mr. Matchett?»
«Weil das Mädchen ziemlich oft hierherkam, um Daphne zu besuchen. Sie hat es immer getragen.»
Jury nickte. «Haben Sie heute abend das Haus verlassen? In der Zeit zwischen sechs und acht?»
«Sie wollen wissen, ob ich ein Alibi habe? Geben Sie mir doch einen Anhaltspunkt, Inspektor.»
Jury fragte noch einmal. «Haben Sie das Haus verlassen?»
«Nein, ich bin nur mal kurz rausgegangen, um nach den Sicherungen zu schauen. In der Küche hat es einen Kurzschluß gegeben.»
«Wann war das?»
«Gegen sieben, halb acht.»
«Hier steht –» Jury zeigte auf Plucks Bericht, «daß Sie nach Sidbury gefahren sind und ungefähr um halb sieben wieder zurückkamen.»
«Ja, soviel ich mich erinnere. Die Läden schließen um sechs, und für den Rückweg braucht man ungefähr eine halbe Stunde.»
«Ich verstehe.» Der Name des Geschäfts, das er als letztes aufgesucht hatte, war vermerkt. Es würde sich also leicht überprüfen lassen, ob er dort gewesen war. Jury änderte seine Taktik. «Mr. Matchett, wie stehen Sie zu Isabel Rivington?»
«Zu Isabel!»
«Ja, zu Isabel.»
«Ich glaube, ich verstehe nicht.»
«Doch, Sie haben richtig verstanden. Ich habe den Eindruck, daß die Gefühle, die sie für Sie hegt, nicht nur rein freundschaftlicher Natur sind. Das ist Ihnen doch bestimmt auch schon aufgefallen.» Jury lächelte dünn.
Matchett ließ sich mit seiner Antwort viel Zeit; schließlich sagte er. «Sie müssen verstehen, das liegt schon lange zurück. Schon sehr lange. Auch wenn es nicht gerade galant ist, möchte ich doch hinzufügen, daß zumindest für mich die Sache vorbei ist.»
Jury war verblüfft. Daß sie früher einmal ein Verhältnis gehabt haben könnten, an diese Möglichkeit hatte er überhaupt nicht gedacht. Das war zumindest eine gute Erklärung für die Gefühle, die er bei Isabel entdeckt zu haben glaubte. «Weiß Vivian Bescheid?»
«Ich hoffe nicht.»
Jury funkelte ihn an. «Wie rücksichtsvoll, Mr. Matchett.»
Isabel Rivington saß ihm gegenüber, und alles an ihr sah sehr elegant und sehr teuer aus. Das raffiniert einfache Kleid aus dem groben, braunen Stoff mußte ein Vermögen gekostet haben.
«Wo waren Sie, Miss Rivington, bevor Sie hierherkamen?» Er streckte den Arm aus, um ihre Zigarette anzuzünden, die sie der Packung auf der Lehne ihres Sessels entnommen hatte.
«Ich erzählte das schon Wachtmeister Pluck.»
Er lächelte. «Ich weiß, und nun erzählen Sie es mir.»
«Ich machte einen Spaziergang. Zuerst bummelte ich die Dorfstraße entlang und schaute mir die Läden an. Ich ging bis zur Sidbury Road und nahm dann einen Feldweg.»
«Hat Sie jemand gesehen?» Isabel machte auf Jury keinen sehr wanderlustigen Eindruck.
«Auf der Dorfstraße bestimmt. Später wohl nicht.» Als sie sich vorbeugte, um ihre Zigarette über dem Porzellanaschenbecher abzuklopfen, fiel ihr Blick auf das Armband. Ohne etwas zu sagen, lehnte sie sich wieder zurück.
«Haben Sie dieses Armband schon einmal gesehen, Miss Rivington?»
«Nein. Warum?»
«Wie stehen Sie zu Mr. Matchett?»
Dieser plötzliche Themawechsel überraschte sie. «Simon? Was soll das heißen? Wir sind Freunde, nichts weiter.»
Jury machte ein Geräusch in seiner Kehle, das, wie er hoffte, seine Zweifel ausdrückte, und wechselte wieder das Thema. Seit zwei Tagen brannte er darauf, ihr diese Frage zu stellen: «Miss Rivington, warum haben Sie all diese Jahre Vivian in dem Glauben gelassen, sie sei für den Tod ihres Vaters verantwortlich?» Mit ihrem erstaunt geöffneten Mund und der Zigarette, die sie starr vor sich hielt, sah sie wie eine Schaufensterpuppe aus. Und als sie antwortete, klang ihre Stimme unnatürlich hoch und zittrig. «Ich weiß nicht, was Sie meinen.»
«Machen Sie mir doch nichts vor, Miss Rivington. Angenommen, es war tatsächlich ein Unfall, so saßen doch Sie und nicht Vivian auf dem Pferd?»
«Sie hat sich daran erinnert? Vivian hat sich erinnert?» Gut, dachte er mit einem Seufzer der Erleichterung, das wäre geklärt. Wenn sie etwas geistesgegenwärtiger gewesen wäre, hätte sie es vielleicht geschafft, sich herauszureden. «Nein, sie hat sich nicht erinnert. Mich störte nur, daß weder Ihre noch Vivians Geschichte sehr plausibel klang. Vivians klang beinah wie auswendig gelernt. Ich nehme an, Sie haben sie ihr vorgebetet. Vivian hat offensichtlich sehr an ihrem Vater gehangen, und wenn das kleine Mädchen auch nur die geringste Ähnlichkeit mit der Erwachsenen gehabt hat, dann erscheint es höchst unwahrscheinlich, daß sie ständig auf ihren Vater losgegangen sein soll. Vor allem war es aber die Beschreibung, die sie beide von dieser Nacht gaben. ‹Es war eine dunkle, mondlose Nacht›, als sie zu den Ställen rannte. Sie war damals gerade acht Jahre alt – es ist zwar durchaus möglich, daß eine Achtjährige noch nicht im Bett liegt, wenn es draußen dunkel wird, aber wir sprechen hier von Sutherland. Ich habe einen Freund, der Maler ist; er liebt die Highlands, und er malt sehr gern dort. Nicht nur wegen der Landschaft, sondern auch wegen des Lichts. Er macht Witze darüber, daß er um Mitternacht noch auf der Straße ein Buch lesen könne, so hell sei es. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, daß ein kleines Mädchen noch vollständig angezogen um Mitternacht herumtollt.» Jury zog den Bericht über James Rivington aus der Mappe, die er in der Hand hielt. «Zeit des Unfalls: 23 Uhr 50. Es wundert mich nur, daß die Polizei damals nicht weiter nachfragte.» Er hatte beobachtet, wie Isabel immer blasser geworden war. «Ich zog also meine Schlüsse: Ob die Sache mit dem Pferd tatsächlich ein ‹Unfall› war oder von Ihnen inszeniert wurde, weiß ich nicht. Ich stelle mir es ungefähr so vor: Sie sitzen auf dem Pferd, das Pferd schlägt aus und trifft Ihren Stiefvater; sie rennen auf das Zimmer Ihrer Schwester, ziehen ihr was über und nehmen sie mit in die Ställe. Sie auf das Pferd zu setzen war nicht einmal nötig. Es genügte, ihr einzureden, daß sie draufsaß. Und im Lauf der Jahre haben Sie ihr dann auch den ganzen Quatsch mit den Auseinandersetzungen, die sie mit ihrem Vater gehabt haben soll, eingeredet. Damit sie sich schuldig fühlte und Sie sie um so fester in der Hand hatten.» Jury, der sich selten einen Kommentar erlaubte, konnte sich nicht mehr zurückhalten. «Wie gemein, Miss Rivington, wie abgrundtief gemein und niederträchtig. Warum haben Sie ihn um die Ecke gebracht? Sein Testament muß ja eine herbe Enttäuschung für Sie gewesen sein.»
Ihr Mund war so rot in ihrem weißen Gesicht, daß sie wie ein hübscher, grellgeschminkter Clown aussah. «Was werden Sie tun?»
«Mit Ihnen einen Deal machen. Sie werden Vivian die Wahrheit sagen –» als sie protestieren wollte, hob er die Hand -«sagen Sie ihr gerade so viel, daß sie nicht mehr diese unerträgliche Schuld mit sich herumschleppen muß; erzählen Sie ihr, Sie hätten den Unfall verursacht. Als Erklärung dafür, daß Sie ihr die Schuld zugeschoben haben, sagen Sie, man hätte Sie wegen Totschlags anklagen können, wenn Sie zugegeben hätten, auf dem Pferd gesessen zu haben. Sie können ja eine große Show abziehen, und ihre Angst und das Durcheinander etwas übertreiben. Und lassen Sie auch Tränen fließen. Sie schaffen das schon. Sie haben ihr zwanzig Jahre lang was vorgemacht; es dürfte Ihnen also nicht schwerfallen, noch einmal Theater vorzuspielen.»
In Isabels Gesicht war wieder etwas Farbe und auch gleich sehr viel von ihrer alten Überheblichkeit zurückgekehrt. «Und wenn ich mich weigere? Können Sie denn irgendwas beweisen?»
Jury beugte sich zu ihr vor. «Vielleicht schon. Ihnen ist doch wohl klar, daß man bei Ihnen nicht lange nach einem Motiv suchen müßte?»
«Das ist absurd –»
Jury schüttelte den Kopf. «Und wenn Sie es ihr nicht sagen, dann sag ich’s ihr, darauf können Sie sich verlassen. Und ich mache vielleicht keinen Unfall daraus.»
Sie schoß aus ihrem Sessel und rannte zur Tür.
«… Und, Miss Rivington, ich brauche hier nur ein paar Andeutungen fallenzulassen, und Sie sind erledigt.»
An der Tür drehte sie sich noch einmal nach ihm um. «Und Ihre Berufsethik? Ein anständiger Polizist würde so etwas nie tun.»
«Ich habe auch nie behauptet, ich wäre einer, oder?»
Nervös die Hände ringend, saß ihm Vivian in einem einfachen rosa Wollkleid gegenüber. «Ich kann das einfach nicht glauben. Wer konnte dem Pfarrer nur so etwas antun? Diesem harmlosen, alten Mann!»
«Opfer sind gewöhnlich harmlos. Nur eben nicht für den Mörder. Kommt Ihnen dieses Armband bekannt vor, Miss Rivington?» Er schob es zu ihr hinüber.
«Ist das das Armband, das er gefunden hat?»
«Sie wissen davon? Wann hat er es Ihnen erzählt?»
«Heute. Irgendwann heute nachmittag. Ich schaute kurz im Pfarrhaus vorbei, um mit ihm zu plaudern.»
Jury verließ der Mut. «Wann war das?»
«Oh, so um fünf. Vielleicht auch etwas später. Ich bin doch nicht –» Ihre Hände bedeckten ihr Gesicht. «Nein, doch nicht schon wieder. Sie wollen mir hoffentlich nicht erzählen, daß ich wieder dabeigewesen bin, als der Mord passierte.»
«Ich will Ihnen gar nichts erzählen», Jury lächelte, aber es war ihm nicht danach zumute. Warum zum Teufel war sie nicht zu Hause geblieben und hatte Gedichte geschrieben? Er schaute auf Plucks Notizen. «Danach waren Sie dann zu Hause? Ich meine, nach Ihrem Besuch im Pfarrhaus und vor dem Essen in der Pandorabüchse?»
«Ja.» Ihr Kopf hing über ihrem Schoß, und ihre Hände zerknitterten ihren Rock.
«Möchten Sie einen Brandy, Miss Rivington?» fragte Jury besorgt. Er beugte etwas den Kopf, um ihr Gesicht sehen zu können. Nach dem Zucken ihrer Schultern zu urteilen, weinte sie – ja, er war sich ziemlich sicher. Automatisch streckte er die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück. Er stellte sich ihr Gesicht vor – verquollen wie das eines heulenden Kindes –, und es tat ihm in der Seele weh. Er zog ein zusammengefaltetes Taschentuch aus der Tasche und legte es ihr in den Schoß. Dann stand er auf, ging zu einem der Fenster und setzte sein Verhör fort.
«Waren Sie zu Hause mit Ihrer Schwester zusammen?»
Den Blick immer noch gesenkt, schüttelte sie den Kopf. «Nein, Isabel war nicht da.»
«Und die Haushälterin?»
Vivian schneuzte sich. «Auch weggegangen.»
Jury seufzte. Verdammtes Pech. «Vielen Dank, Miss Rivington. Soll Sie jemand nach Hause begleiten? Wachtmeister Pluck?»
Sie war aufgestanden, blickte aber immer noch auf den Boden. Sie schüttelte den Kopf. Ihre linke Hand hielt sein Taschentuch umklammert, mit der rechten strich sie sich den Rock glatt. Sie sagte nichts und ging mit gesenktem Kopf zur Tür.
«Miss Rivington!»
Sie wandte sich nach ihm um.
Jury fühlte sich elend. «Das ist, ah, ein sehr hübsches Kleid, was Sie da anhaben.» Idiot, dachte er, wütend auf sich selbst.
Aber es hatte ihr ein winziges Lächeln entlockt. Und schließlich blickte sie auch zu ihm hoch; ihr Gesicht war so todernst, und ihre Bernsteinaugen wirkten so gefaßt, daß er plötzlich von der Angst gepackt wurde, sie könne ihm diese ganze Serie von Morden gestehen.
Als sie die Lippen öffnete, um zu sprechen, hätte er ihr am liebsten die Hand auf den Mund gelegt. «Inspektor Jury –»
«Ist schon gut –»
«Ich werde Ihr Taschentuch waschen.» Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer.
«Lady A wird mir bis auf weiteres ein Paar Manschetten anlegen, Inspektor.» Marshall Trueblood schlug elegant ein Bein übers andere. «Sie ist überzeugt, daß ich es war. Du meine Güte, ich, der keiner Fliege was zuleide tun könnte. Oder gar dem reizenden alten Herrn.»
«Wann haben Sie diesen Brieföffner das letzte Mal gesehen, Mr. Trueblood?»
Er starrte einen Augenblick zur Decke hoch und meinte dann: «Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Vor ein paar Tagen vielleicht.»
«Lassen Sie Ihren Laden oft unbeaufsichtigt?»
«Ich geh manchmal zu Scroggs rüber; das ist gleich nebenan. Gewöhnlich schließe ich ihn dann nicht ab.»
«Heute nachmittag hätte also jeder in Ihrem Laden ein- und ausgehen können, ohne daß Sie was bemerkt hätten?»
«Ja, aber wer will das schon? Gibt es nicht so etwas wie einen Tatstil, Inspektor? Ich meine, warum plötzlich ein Messer? Alle andern wurden doch erdrosselt.» Trueblood besann sich. «Entschuldigen Sie, ich hätte mich vielleicht etwas anders ausdrücken sollen …»
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, das ist eine gute Frage, Mr. Trueblood. Ich nehme an, das Messer diente demselben Zweck wie Darringtons Buch, das im Schwanen gefunden wurde: Es sollte den Verdacht auf einen andern lenken. Wer war heute in Ihrem Laden?»
«Da war einmal Miss Crisp, die mir irgendwelchen Kram aus ihrem Ramschladen andrehen wollte. Die Gute hat es gewöhnlich mit Landfahrern zu tun und bildet sich ein, sie könne mir – mir, stellen Sie sich vor – einreden, ihr Silber sei georgianisch. Ich würde auf Zigeuner tippen –»
Jury seufzte. «Können wir bitte beim Thema bleiben?»
«Tut mir leid. Dann tauchte dieses Pärchen aus Manchester auf, das eine Kohlespur hinterließ und nach Art Deco suchte – fürchterliches Zeug. Und Lorraine, die Simon Matchett suchte. Wahrscheinlich hatte sie schon das ganze Dorf nach ihm abgeklappert. Danach – das weiß ich nicht.» Er zündete sich eine rosarote Zigarette an.
«Wann haben Sie bemerkt, daß das Messer fehlte?»
«Der Brieföffner, mein Lieber. Heute nachmittag. Nachdem Lady A auf ihre unnachahmliche Art Dick Scroggs Kneipe geleert hatte.»
Jury beobachtete wie Trueblood zu dem Armband hinsah, wegblickte und sich dann darüberbeugte, um es sich genauer anzuschauen. «Woher haben Sie denn das? Gehörte es nicht der kleinen Judd?»
«Sie erkennen es also?»
«Ja, wertloser Plunder.» Er lehnte sich zurück und hielt sich mit gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. «Wahrscheinlich habe ich gerade mein eigenes Todesurteil gesprochen. Und dann noch dieser Brieföffner in der Leiche des armen, alten Pfarrers, das bricht mir wohl das Genick?» Sein spöttischer Ton konnte jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sein Gesicht aschgrau aussah.
«Welches Motiv käme denn in Frage? Gibt es denn etwas in Ihrer Vergangenheit, Mr. Trueblood, worüber Sie lieber nicht reden möchten?»
Truebloods Erstaunen war nicht gespielt. «Das soll wohl ein Witz sein, alter Junge?»