VIII


Während Inspektor Richard Jury die Bicester-Strachans befragte, blies Lady Ardry in die Tasse Tee, die ihr Ruthven nur sehr unwillig gebracht hatte. Aber aus der Küche von Ardry End kamen sogar die kleinen Törtchen zum Vorschein, auf die sie so versessen war.

«Ich hoffe nur, er versteht etwas von seinem Beruf», sagte sie in bezug auf Inspektor Jury. Sie beobachtete, wie Melrose sich ein Glas sehr dunklen Portwein eingoß. «Ist es nicht etwas früh für Alkohol, Melrose?»

«Es ist für alles etwas früh», antwortete Melrose gähnend und korkte die Flasche wieder zu.

«Wie du meinst. Ich hab Jury jedenfalls die interessanteren Details über all die Leute erzählt, die am Donnerstagabend bei Matchett gewesen sind.»

«Das kann nicht länger als eine halbe Minute gedauert haben.» Wütend starrte er seine Tante an, die an diesem Morgen schon um halb neun Uhr bei ihm aufgetaucht war. Er hatte die halbe Nacht durch gelesen und konnte kaum die Augen aufhalten. Aber er hörte nur mit halbem Ohr zu. Fasziniert beobachtete er, wie ein Törtchen nach dem andern von dem silbernen Tablett verschwand: gräßliche kleine Dinger mit schwarzen Johannisbeeren obendrauf, die wie tote Fliegen aussahen. Er hatte Ruthven gesagt, er solle sie für Agatha auf Lager halten, da sie so verrückt nach ihnen war. Sie hatte bereits drei davon verschlungen und war gerade dabei, sich das vierte in den Mund zu schieben, den sie sich jedesmal zierlich mit der Serviette abwischte.

«Wen hast du denn verdächtigt, Agatha? Ich meine, außer mir?» Melrose starrte abwesend in das Feuer und hoffte, der Kriminalbeamte würde dem Ganzen ein schnelles Ende bereiten.

«Dich verdächtigen? Um Himmels willen, Melrose. Ich hab noch soviel Ehrgefühl im Leib, um nicht mein eigen Fleisch und Blut zu verraten –»

«Oder Oliver Darrington? Um die Konkurrenz auszuschalten. Es muß doch ziemlich unangenehm sein, mit einem Kollegen in ein und demselben Dorf zu wohnen. Obwohl seine Bücher nicht gerade überwältigend sind.» Er sah, wie sie aufstand, zu dem Kamin hinüberging und einen frühen Derby-Teller herunterholte, um den Stempel auf der Unterseite zu untersuchen.

Agatha stellte den Teller wieder zurück. «Du bist schon immer eifersüchtig auf ihn gewesen, mein lieber Plant, nicht?»

«Eifersüchtig? Auf Darrington?» Auf welchem geistigen Misthaufen scharrte sie nun herum?

«Wegen Sheila Hogg. Glaub nicht, ich wüßte nichts davon.» Sie hatte eine Vase aus Netzglas in die Hand genommen. War ihre Handtasche groß genug, um sie darin zu verstauen? Und wie kam sie nur darauf, daß er sich für Sheila interessierte?

Als er nichts darauf erwiderte, drehte sie sich blitzschnell nach ihm um, als wolle sie ihn auf frischer Tat ertappen. «Vivian Rivington also?» Agatha war es völlig gleichgültig, wie weit sie am Ziel vorbeischoß. Sie versuchte einfach ihr Glück. Einmal würde sie schon die Richtige erwischen.

Melrose gähnte wieder. «Hast du etwa meine Tanzkarte studiert, liebe Tante?»

Als sie sich wieder gesetzt hatte und die verschiedenen silbernen und goldenen Gegenstände auf dem Tisch zurechtrückte, fragte Melrose: «Hat der Inspektor denn schon eine Theorie? Ich meine, abgesehen davon, welche von diesen charmanten Damen ich nun heiraten werde?»

«Bild dir nur nicht soviel ein, mein lieber Plant. Nicht jeder interessiert sich für deine Privatangelegenheiten.» Sie ließ einen Aschenbecher aus Muranoglas von einer Hand in die andere wandern, als wolle sie sein Gewicht für den Zoll abschätzen. «Aus irgendeinem Grund interessierte sich Inspektor Jury ganz besonders für die Anwesenden – uns, meine ich. Warum, ist mir nicht klar. Er sollte sich besser um diesen Verrückten kümmern, bevor er uns noch alle abmurkst.»

«Unser Freund schlich sich also in den Keller, erdrosselte diesen Small, steckte seinen Kopf in das Bierfaß und schlich sich wieder hinaus?»

«Natürlich.» Sie schaute ihn mit großen Augen an. «Du glaubst doch nicht im Ernst, daß es einer von denen war, die schon da waren?»

«Aber gewiß.»

«Du lieber Himmel, das ist doch absurd. Ich dachte, du hättest das neulich nur im Spaß gesagt.» Fassungslos griff sie nach einem neuen Törtchen, einem mit Kokosnußraspeln, die wie Flimmerhärchen aussahen.

Ekelhafte Dinger, dachte Melrose und ließ sich tiefer in seinen Sessel gleiten. Er hörte die Standuhr in der Halle die halbe Stunde schlagen. Du lieber Himmel, es war beinahe Mittag, und sie war immer noch da. Er beschloß, sie nicht auch noch zum Lunch einzuladen.

«Also?»

Durch seine halbgeschlossenen Lider konnte er sehen, daß sie erwartete, er würde seine Behauptung, einer ihrer lieben Nachbarn könne all diese Greueltaten begangen haben, wieder zurücknehmen. Da er sich nicht auf eine Diskussion einlassen wollte, meinte er ausweichend: «Die Polizei wird bald alles aufgeklärt haben.» Er hoffte nur, daß das auch der Fall sein würde; sie würde ihn sonst jeden Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl heimsuchen, um ihre Bulletins zu verkünden.

«Es gibt natürlich auch noch eine andere Möglichkeit.» Sie hatte ihr Katz-und-Maus-Lächeln aufgesetzt.

«Und die wäre?» fragte er ohne großes Interesse.

«Daß dieser Small gar nicht in dem Gasthof ermordet wurde. Der Mörder hat ihn draußen erdrosselt und durch die hintere Kellertür hereingeschleppt. Er muß nach einem Platz für die Leiche gesucht haben. Small kann überall ermordet worden sein.»

«Warum?»

Sie blickte ihn mißtrauisch an. «Was heißt warum?»

«Warum sollte ihn jemand in die Pandorabüchse gebracht haben? Warum hat der Betreffende diesen Small nicht einfach liegen lassen, irgendwo, auf freier Wildbahn, über einen Baum drapiert oder sonstwas?»

Agatha hatte den Blick auf ein Rosinenbrötchen geheftet. «Weil er wußte, daß die Polizei so argumentieren würde wie du und die Polizei das nun auch tun! Daß einer von uns der Schuldige sein muß.» Ihre Augen glitzerten triumphierend, und sie machte sich über das Rosinenbrötchen her.

Melrose goß sich etwas Port nach und sagte: «Aber selbst in diesem Fall kann es nur einer aus Long Piddleton sein, begreifst du das nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, daß jeder Killer der Britischen Inseln wußte, daß unsere kleine, illustre Runde in diesem Gasthof speisen würde und daß er seine Leiche nur in unserm Keller abzuladen brauchte, damit einer von uns es dann auszubaden hat.» Er nippte an seinem Portwein; über sein Glas hinweg sah er, wie sich ihre Augen zu bösen kleinen Schlitzen verengten. Er hatte schon wieder eine ihrer Tontauben abgeschossen, und sie wollte sie zurückhaben.

«Und was ist mit dem zweiten Mord? Mit diesem Ainsley? Mein lieber Plant, nur ein Verrückter würde eine Leiche auf –»

Melrose war in seinen braunen Ledersessel gerutscht und hatte die Augen geschlossen, in der Hoffnung, seine Tante würde auf diesen Wink reagieren. Aber nein, wie eine alte, senile Spinne spann sie ihre klebrigen, kleinen Theorien weiter …

«Melrose!»

Seine Augendeckel klappten wieder auf.

«Du bist schon wieder in meiner Gegenwart eingeschlafen! Ruthven möchte dich sprechen.»

Der Butler schloß gequält die Augen. Seit Jahren sprach Agatha seinen Namen falsch aus. War es Absicht? Nein, dachte Melrose, sie hat einfach nur Schwierigkeiten mit englischen Namen.

«Eure Lordschaft», sagte Ruthven. «Ich frage mich, was wir wegen der Weihnachtsgans unternehmen sollen. Martha braucht Maronen für die Füllung, Sir, und es sieht so aus, als hätten wir keine.»

Verdammt, dachte Melrose und wünschte, Ruthven hätte dieses Thema nicht in Agathas Gegenwart erwähnt. «Vielleicht können Sie jemand zu Miss Ball schicken. Wenn alle andern nichts mehr haben, sie hat immer noch was.» Ruthven nickte und glitt aus der Tür.

«Gans? Es gibt eine Gans dieses Jahr? Wie hübsch!» Das Festessen vor Augen, rieb sich Agatha erwartungsfreudig die Hände.

Er hätte sie natürlich wie immer zum Weihnachtsessen eingeladen. Sein Plan war jedoch gewesen, einen alten Truthahn für sie zu besorgen und die Gans für einen kleinen Mitternachtssnack aufzuheben, zu dem er sich eine Flasche Château Haut-Brion gönnen wollte. «Kannst du überhaupt eine Gans von einem Truthahn unterscheiden? Ich meine, wenn du sie gerupft auf einem Teller siehst?»

«Was brabbelst du denn da, Melrose? Natürlich kann ich das.» Sie begutachtete einen Limoges-Aschenbecher.

«Auch wenn der Truthahn ganz dünn ist?»

«Ich glaube, du hast einen Nervenzusammenbruch, Melrose. Deine Augen sehen ganz fiebrig aus. Also wenn Ruthven –»

«Könntest du dir bitte angewöhnen, seinen Namen richtig auszusprechen. Rivv’n nicht Ruth-ven. Rivv’n

«Warum wird er dann Ruth-ven geschrieben? Rivv’n hat kein th.»

«Da wir schon dabei sind, du sprichst Bicester-Strachan aus, als hätte das Wort zwanzig Silben. Sie heißen Bister-Strawn

Noch bevor sie diesen Angriff parieren konnte, stand Ruthven wieder in der Tür. «Ein Herr vom Scotland Yard möchte Sie sprechen, in der Halle. Oberinspektor Jury ist sein Name.»

Gerettet! «Um Himmels willen, lassen Sie ihn nicht draußen rumstehen, Lady Ardry wollte sowieso gerade gehen –» Melroses Griff konnte wie eine Eisenklammer sein, wenn er es darauf anlegte. In der einen Hand hielt er ihre Handtasche, während er mit der andern Agatha praktisch aus ihrem Sessel zog; an der Tür brüllte sie jedoch: «Meine Uhr! Meine Uhr! Ich hab’ meine Uhr verloren!» Und sie befreite ihren Arm und stürzte in den Salon zurück, um zwischen den Kissen danach zu suchen.

Melrose seufzte – wieder eine Runde, die er verloren hatte.

Während Agatha im Salon die Kissen durchwühlte, stand Jury in der Eingangshalle, eine Bezeichnung, die eigentlich viel zu banal war für diesen prachtvollen Raum mit seiner faszinierenden Sammlung mittelalterlicher Waffen: Schwerter, Gewehre, Speere, Lanzen, die über den Rundbögen der Eingänge hingen und so blank poliert waren, daß man den Eindruck hatte, die Klingen wären aus Licht geschmiedet.

Der Butler kam zurück und führte Jury durch die geschnitzten Holztüren.

Zu seinem Erstaunen erblickte er Lady Ardry, die die Wohnung zu durchsuchen schien. Kaum hatte er einen Schritt in das Zimmer getan, kam sie auch schon mit ausgestreckter Hand auf ihn zugestürmt. «Inspektor Jury! So trifft man sich wieder!» Während sie ihm die Hand schüttelte, musterte Jury den Mann, der in der Mitte des Raums stand. Er war groß, sehr sympathisch und trug einen legeren, seidenen Liberty-Morgenmantel; die Haare waren so zerzaust, als hätte man ihn gerade aus dem Bett geholt. Am auffälligsten fand Jury jedoch den Ausdruck der smaragdgrünen Augen, vor die er gerade eine Goldrandbrille schob: äußerst wach und intelligent.

«Meine Tante wollte gerade aufbrechen, Inspektor. Ich bin Melrose Plant.»

Jury ergriff seine Hand und bemerkte, daß Lady Ardry nicht gerade den Eindruck machte, als wolle sie aufbrechen. Ihre Beine schienen mit dem Fußboden verwurzelt zu sein.

«Der Inspektor hätte vielleicht gern eine Bestätigung deiner Aussage», sagte sie.

«Erst einmal braucht er die Aussage, Agatha. Und dazu wird er mich wahrscheinlich unter vier Augen sprechen wollen.»

Ihre Augen verengten sich. «Unter vier Augen? Aber warum denn? Du wirst ihm doch nichts erzählen, was nicht für meine Ohren bestimmt ist?»

Melrose packte sie entschlossen am Arm, schob die Handtasche darunter und führte sie zur Tür. «Wir sehen uns morgen. Aber nicht in aller Herrgottsfrühe, es sei denn, auf dem Rasen vor meinem Haus soll ein Duell stattfinden.»

Agatha bellte immer noch Anweisungen, während ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde.

Plant wandte sich an Jury und sagte: «Entschuldigen Sie, Inspektor, aber meine Tante hat in den letzten drei Stunden pausenlos auf mich eingeredet, ich hatte nicht einmal Zeit zum Frühstücken. Wenn Sie mir Gesellschaft leisten wollen – wir könnten uns ja unterhalten, während wir essen.»

«Danke, ich habe schon gefrühstückt.»

Ruthven erschien, fragte Melrose nach seinen Wünschen und verschwand wieder, um sie zu erfüllen.

Melrose Plant bot Jury den Platz an, von dem seine Tante gerade vertrieben worden war. «Sie haben sich in der Pandorabüchse einquartiert?»

Jury nickte und nahm eine Zigarette aus dem Lackkästchen, das Melrose ihm hinhielt.

«Sie wollen bestimmt etwas über Donnerstag- und Freitag abend hören? Was möchten Sie haben, Tatsachen oder meine persönlichen Eindrücke?»

Jury lächelte. «Schaffen wir uns erst mal die Tatsachen vom Hals, wenn Ihnen das recht ist, Sir.»

«Inspektor, ich bin wohl kaum älter und bestimmt nicht weiser als Sie. Es besteht also keine Veranlassung, mich mit ‹Sir› anzureden.»

Jury spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. «Gut, ah – Mr. Plant, sollte einer der Fakten, die ich zusammengetragen habe, nicht stimmen, können Sie mich dann bitte berichtigen.» Jury charakterisierte kurz die Anwesenden, erwähnte die Verfassung, in der sich die Gäste befunden hatten, sowie das Auftauchen und Verschwinden Smalls.

«Ja, genauso hab ich das auch in Erinnerung. Es muß acht oder halb neun gewesen sein, als Small mit Trueblood an der Bar saß.»

«Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen?»

Melrose schüttelte sehr bestimmt den Kopf. «Nein, nicht, bis meine Tante brüllend –»

«Ihre Tante? Brüllend?» Jury unterdrückte ein Lächeln.

«Und wie. Man konnte ihr Gebrüll bis nach Sidbury hören.» Plant musterte Jury durch halbgeschlossene Lider. «Sie hat Ihnen wohl erzählt, sie hätte die Situation im Griff gehabt. Sie brauchen mir gar nicht zu antworten. Ich sehe schon: Um sie herum das Chaos. Agatha selbst fest und unerschütterlich wie ein Fels.»

«Sie meinte, die Serviererin – Miss Murch – sei völlig durchgedreht.»

«Oh, das ist sie wohl auch. Alle reagierten, wie man in solchen Fällen reagiert – man faßt sich an die Kehle, rollt mit den Augen, springt vom Stuhl auf –»

«Das hört sich ja sehr theatralisch an, Mr. Plant.»

Plant lächelte. «Ich muß zugeben, daß ich mich auch fragte, wer von ihnen es wohl gewesen war.»

Jurys Hand mit der Zigarette verharrte auf halbem Weg. «Sie dachten also, es war jemand in dem Gasthof?»

Melrose blickte ihn erstaunt an. «Daran ist meiner Meinung nach überhaupt nicht zu zweifeln. Sofern man nicht die Ripper-Theorie meiner Tante vertritt oder diese andere Theorie von dem Mann, der Long Piddleton unsicher macht, weil er einen geheimen Groll gegen Gasthofbesucher hegt. Aber alle in der Pandorabüchse schienen zu glauben, der Mörder sei durch die Kellertür hereingekommen.»

«Und Sie glauben das also nicht?»

Melrose schaute ihn an, als hätte er von Scotland Yard mehr erwartet, sei aber zu höflich, es zu sagen. «Dieser Small wird immer als ‹Ortsfremder› bezeichnet, der ganz zufällig in Long Piddleton aufkreuzte, was eigentlich schon ziemlich unwahrscheinlich ist.»

«Und wieso, Mr. Plant?»

«Weil er den Zug und anschließend den Bus genommen hat. Wie kann er da ‹auf Durchreise› gewesen sein?» Der Butler erschien, und Plant sagte: «Ah, das Frühstück.»

«Ich habe es im Eßzimmer serviert, Sir.»

«Vielen Dank, Ruthven. Kommen Sie, Inspektor Jury.»

Unter dem Fächergewölbe des Eßzimmers hingen riesige, prachtvolle Porträts der Ardry-Plant-Linie. Eines der kleinsten am Ende der Reihe zeigte Melrose Plant an einem Schreibtisch mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich.

«Etwas selbstherrlich, finden Sie nicht auch? Von sich selbst ein Porträt aufzuhängen? Aber meine Mutter bestand darauf. Sie ließ es kurz vor ihrem Tod malen. Das hier ist meine Mutter. Die Frau in Schwarz.»

Es war das Porträt einer hübschen jungen Frau in einem schwarzen Samtkleid, die sehr schlicht und würdevoll wirkte. Neben ihr hing das Bild eines untersetzten, freundlich dreinblickenden Mannes, der von einer Meute Jagdhunde umgeben war. Plant war seiner Mutter nachgeschlagen.

Während Melrose sich auftat, sagte er: «Martha hat wohl angenommen, meine Tante würde bleiben – das hier reicht für zwölf Personen. Bitte, nehmen Sie doch etwas, Inspektor Jury.» Er hob die gewölbten Silberdeckel hoch: gebratene Nieren, seidig schimmernde Eier in Butter, Seezunge, heiße Brötchen.

Jury mußte zugeben, daß er sich in einem sehr gastfreundlichen Dorf befand; dennoch lehnte er dieses elegante zweite Frühstück ab. «Vielen Dank, Mr. Plant. Eine Tasse Kaffee genügt mir. Sie sagten, Sie glauben nicht, daß der Mörder die Kellertür aufgebrochen hat?»

«Inspektor – ich nehme auch nicht an, daß Sie das glauben, aber ich will Ihnen gern meine Gründe nennen. Angenommen, der Mörder kam von draußen – ist es dann anzunehmen, daß er sich ein öffentliches Lokal aussuchte, um sich mit seinem Opfer zu treffen? Aber gehen wir trotzdem davon aus, daß er diese seltsame Verabredung getroffen hat und daß Small ihn wie abgemacht im Keller erwartete – warum mußte er dann die Tür aufbrechen, um reinzukommen? Hätte Small ihm nicht aufgemacht? Es ist wohl kaum anzunehmen, daß der Mörder rein zufällig um den Gasthof herumging, Small durch das verstaubte Kellerfenster erblickte und sich sagte, ‹Oh, mein Gott, das ist doch Small, mein Erzfeind!› Worauf er dann die Tür eintrat.» Melrose Plant schüttelte den Kopf und schenkte Kaffee ein.

Jury lächelte, da Plant seine eigenen Gedanken wiedergegeben hatte. Er zog seine Players hervor und bot Plant eine an. Sie fingen an zu rauchen.

«Was glauben Sie also, Mr. Plant?»

Plant betrachtete einen Augenblick lang die Bilder an der Wand und sagte dann: «Bei einem solchen Treffpunkt kann es meiner Meinung nach nur eine ganz spontane Sache gewesen sein. Für einen der Anwesenden muß Small überraschend aufgetaucht sein; im Lauf des Abends hat er sich dann mit ihm im Keller verabredet. Die Art und Weise, wie er ihn ermordet hat, scheint das auch zu bestätigen. Der Mörder erdrosselte ihn mit dem Stück Draht von einer Champagnerflasche und steckte dann seinen Kopf in dieses Bierfaß. Soll ich Ihnen den Ablauf schildern?»

«Ich bitte darum.»

«Unser Mörder diskutiert mit Small und dreht dabei den Draht auf, und dann –» Plant hob die Arme und legte sich ein fiktives Stück Draht um den Hals. «Er drückt so lange gegen den Kehlkopf, bis Small ohnmächtig wird, dann steckt er den Kopf des Opfers in das Faß. Das scheint ganz spontan passiert zu sein. Oder …»

«Was?»

«Es ist natürlich auch möglich, daß der Mord geplant war, dann aber so ausgeführt wurde, daß es spontan aussah. So groteske Details, wie Smalls Kopf in ein Bierfaß zu stecken und Ainsley auf diesen Balken zu stellen –» Plants grüne Augen glitzerten. «Warum das alles? Dieses bizarre Beiwerk kommt mir irgendwie schon zu bizarr vor.»

«Sie meinen, weil es die Aufmerksamkeit auf die Ausführung lenkt und gleichzeitig von etwas anderem ablenkt – zum Beispiel von dem Motiv? Ein Ablenkungsmanöver also?»

«Oder ist der eine Mord nur begangen worden, um von dem andern abzulenken?» gab Melrose zu bedenken. «Ainsley wurde vielleicht nur umgebracht, um Small den ersten Platz streitig zu machen, oder umgekehrt.»

«Damit die Polizei schließlich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht?» Jury ließ sich Kaffee aus der silbernen Kanne nachgießen und dachte, daß Plant ein außergewöhnlich scharfsinniger Mann war. Er hoffte nur, er war nicht der Mörder.

«Komisch», meinte Melrose, «Small und Ainsley schienen hier wirklich völlig fremd gewesen zu sein. Keiner kannte sie, und sie kannten einander auch nicht – oder zumindest sah es so aus. Was für ein Schlamassel; praktisch kommt jeder in Frage, aber keiner scheint ein Motiv zu haben. Es würde die Sache wesentlich vereinfachen, wenn das Opfer einer von uns gewesen wäre.»

«Warum das?»

«Weil dann kein Mangel an Motiven bestünde. Wäre es zum Beispiel Willie Bicester-Strachan gewesen, hätte man Lorraine verdächtigen können. Und wäre ich es gewesen, dann würde es gleich eine Reihe von Verdächtigen geben – angefangen mit meiner Tante. Wäre Sheila Hogg das Opfer gewesen, käme Oliver Darrington in die engere Wahl –»

«Darrington sollte Miss Hogg ermorden wollen? Aber wieso denn?»

«Weil er dann versuchen könnte, Vivian Rivington zur Ehe zu bewegen. Das Geld, Sie verstehen. Zweifellos hat Sheila sich schon genau überlegt, wie sie Oliver erpressen kann, falls er ihr zu entlaufen droht. Und im Falle meiner Tante Agatha käme praktisch das ganze Dorf in Frage.»

«Und bei Vivian Rivington?»

Melrose warf ihm einen prüfenden Blick zu. «Was ist mit Vivian?»

«Die Tatsache, daß Miss Rivington in sechs Monaten ein ziemlich großes Vermögen erben wird, ist doch wohl ziemlich bedeutsam, oder nicht? Wer gewinnt und wer verliert dabei?»

«Ich habe doch nur so herumgespielt. Was hat denn Vivs Vermögen mit Small und Ainsley zu tun?»

«Nichts, soviel mir bekannt ist. Es wäre aber nicht das erste Mal, daß mehrere Leute gekillt wurden, um von dem eigentlichen Motiv abzulenken.»

«Ich kann Ihnen nicht folgen, Inspektor.»

Jury wechselte das Thema. «Mrs. Bicester-Strachan erzählte, Sie hätten eine Zeitlang Ihren Tisch geteilt. An dem Abend, als Small ermordet wurde.»

«Nicht wirklich ‹geteilt›. Ich hab meine Tischhälfte mit einem strategischen Scharfsinn verteidigt, um den mich Rommel beneidet hätte.» Melrose nahm sich eine Scheibe Toast von dem silbernen Toastständer, biß hinein und sagte: «Warum sagt man den Engländern eigentlich nach, sie äßen am liebsten kalten Toast?» Er legte den Rest der Scheibe auf seinen Teller.

«Mrs. Bicester-Strachans Gefühle für Sie scheinen etwas zwiespältig zu sein.»

«Das ist sehr höflich ausgedrückt.» Melrose seufzte und meinte dann: «Nein, Inspektor, zwischen Lorraine und mir hat es nie was gegeben.»

«Und auch nicht zwischen Ihnen und Miss Rivington?»

«Sie erinnern mich an meine Tante. Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen meinem Privatleben und dieser Sache.»

«Oh, Mr. Plant, überlegen Sie doch. Wenn wir das Privatleben ausklammern würden, hätten wir überhaupt keine Chance, jemals einen Schuldigen zu finden.»

Plant hob die Hand. «Schon gut, schon gut. Auch wenn meine Tante denkt, jede heiratsfähige Frau der Grafschaft hätte es darauf abgesehen, mich einzufangen und sie um ihr ‹rechtmäßiges› Erbe zu bringen, kann ich Ihnen nur versichern, daß es bis jetzt nur ganz wenige waren, die sich für mich interessiert haben. Es gab natürlich ein paar Frauen in meinem Leben, ganz normale Beziehungen zu ganz normalen schönen Frauen. Ich war einmal verlobt, aber meine Verlobte hat sich wieder entlobt, da sie der Meinung war, ich sei ein Snob und Müßiggänger, was ich wahrscheinlich auch bin. Es ist der Alptraum meiner Tante, daß eine Frau ‹mich an Land ziehen› könnte, um einen ihrer Amerikanismen zu gebrauchen. Aber keine hat das wirklich vor.»

Jury bezweifelte das, aber er wechselte wieder das Thema. «Wie mir Mr. Scroggs erzählte, kamen mehrere von Ihnen am Abend darauf in die Hammerschmiede – am Freitag, als Ainsley ermordet wurde.»

«Ja. Ich war ungefähr um acht oder halb neun dort. Auch die andern hatten sich wieder beinahe vollständig eingefunden. Neben mir saß Vivian; selbst Matchett kam vorbei und bestellte sich etwas zu essen. Anscheinend hielt er es bei sich nicht mehr aus. Auf jeden Fall gibt es in der Hammerschmiede diesen hinteren Ausgang. Jeder aus Long Piddleton kann dort ein und aus gegangen sein –»

«Ihnen ist das also auch bekannt?»

«Natürlich, es ist jedem bekannt. Es hilft Ihnen also nicht viel weiter, wenn Sie wissen, wer im Lokal war.»

«Was halten Sie von dem Gerücht, daß Mr. Matchett sich mit Vivian Rivington verlobt hat?»

«Dazu kann ich nichts sagen. Ich hoffe, nicht.»

«Warum?»

«Weil ich Matchett nicht leiden kann. Sie ist viel zu gut für ihn. Sie sprachen davon, daß das ‹eigentliche› Motiv vielleicht verschleiert werden sollte. Denken Sie denn, daß es noch weitere Morde geben könnte?»

«Ich möchte keine solche Voraussage machen. Sie sagten doch selbst, daß in Long Piddleton mehrere Leute ein Motiv hätten.»

«Ach, das habe ich nicht wirklich ernst gemeint.» Melrose drehte sich nach der Tür um, hinter der ein aufgeregtes Hin und Her und ärgerliche Stimmen zu vernehmen waren.

Ruthven kam herein. «Es tut mir leid, Sir. Es ist Lady Ardry. Sie besteht –»

«Meine Tante? Zweimal an einem Tag –?»

Bevor er seinen Satz beenden oder Ruthven zur Seite treten konnte, kam Agatha schon mit fliegendem Cape durch die Tür gestürmt, Ruthven vor sich herschiebend. «Was sehe ich da, alle beide gemütlich bei Nieren und Speck, während das ganze Dorf in Aufruhr ist!»

«Das Dorf ist schon seit Tagen in Aufruhr, Agatha. Was, um Himmels willen, hat dich zurückgebracht?»

Lady Ardry baute ihren Stock vor sich auf und hätte den Triumph in ihrer Stimme wohl kaum verheimlichen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. «Was mich zurückbringt? Ich wollte nachsehen, ob Oberinspektor Jury abkömmlich ist. Es gab wieder einen!»

«Wieder einen?»

«Einen Mord. Im Schwanen.»