XV Samstag, 26. Dezember


Bei einem aus Würstchen, Spiegeleiern und Bücklingen bestehenden Frühstück berichtete Wachtmeister Wiggins, er habe sich gestern nach Jurys Anruf auch gleich mit dem Yard in Verbindung gesetzt und die Adressen von zwei Leuten bekommen, die früher einmal für das Wirtshaus zur Ziege mit dem Kompaß gearbeitet hatten. «Daisy Trump und Will Smollett, Sir. Von den Angestellten sind sie anscheinend die einzigen, die sie ausfindig machen konnten. Ich kann versuchen, Trump und Smollett anzurufen und einen Termin mit ihnen auszumachen.»

«Tun Sie das», sagte Jury und nahm sich noch von den Bücklingen. «Bei der Entdeckung von Mrs. Matchetts Leiche spielten Trump und Rose Smollett die Hauptrolle.»

«Und ich hab mir noch ein paar Dinge über Mr. Rivington notiert.» Wiggins schob Jury ein Blatt Papier hin.

Jury überflog die ordentlich getippte halbe Seite; die spärlichen Informationen fügten dem, was er schon von Vivian und Isabel erfahren hatte, nichts Neues hinzu. Aber er erfuhr den Zeitpunkt des Unfalls, und darauf kam es ihm an.

«Vielen Dank, Wachtmeister. Sie haben verdammt gute Arbeit geleistet. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Ihnen das Weihnachtsessen verdorben habe.»

Ein Lob von Jury war für Wiggins wichtiger als jede Weihnachtsgans. Er strahlte, aber ein Hustenanfall bereitete dem Strahlen ein abruptes Ende. Er entschuldigte sich und ging auf sein Zimmer, um seinen Rachen zu bepinseln.

«Sagen Sie doch bitte auch gleich Daphne Murch, daß ich sie sprechen möchte.»

Daphne erschien fünf Minuten später mit der Kaffeekanne in der Hand. «Wollten Sie noch Kaffee, Sir?»

«Haben Sie einen Augenblick Zeit, Daphne? Setzen Sie sich doch.» Ohne zu zögern nahm sie Platz. Anscheinend hatte sie sich an ihre Rolle als Kronzeugin und Ruby Judds einzige Freundin gewöhnt. «Daphne, es gibt da zwei Dinge, die Ruby gehört haben, die aber nicht aufgetaucht sind, was mir ziemlich komisch vorkommt: dieses Armband und ihr Tagebuch. Haben Sie nicht einmal gesagt, daß sie ihr Armband nie ablegte?»

«Sie sagte das, Sir. Und es stimmte auch – ich hab sie nie ohne es gesehen.»

«Sie hat es aber nicht umgehabt, als wir sie fanden.»

«Das ist wirklich sehr komisch. Vor allem, wo sie doch verreisen wollte. Ich meine, wenn sie es nicht einmal beim Putzen und Staubwischen abnahm, dann hätte sie es doch bestimmt auch auf diesem Trip getragen, oder? Vielleicht ist der Verschluß kaputtgegangen oder sonstwas. Ich erinnere mich, es ist noch gar nicht so lange her …» Daphne verstummte und wandte den Kopf ab.

«Ja?»

Sie hustete nervös. «Oh, wahrscheinlich hat das überhaupt nichts zu sagen. Ich war bei ihr im Pfarrhaus. Wir haben uns immer gegenseitig besucht. Mal kam sie hierher, mal ging ich zu ihr. Wir fingen an, uns rumzubalgen – es kam zu einer richtigen Kissenschlacht – und wir haben so aufeinander eingedroschen, daß Ruby vom Bett fiel und darunterrollte. Wir wären beinahe gestorben vor Lachen. Ich griff unters Bett und versuchte, sie zu erwischen. Während ich mit den Armen rumruderte, packte sie mich so fest am Handgelenk, daß mein Armband abging. Der Verschluß war nicht besonders gut. Ich lachte und wollte es gerade auflesen, als sie unter dem Bett hervorkam und sagte: ‹Das ist vielleicht komisch!› Ich weiß das noch ganz genau. ‹Komisch, wirklich komisch!› Sie machte ein Gesicht, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Oder einen Schock. Total entgeistert hockte sie da und hielt mein Armband in der Hand. Dann schaute sie auf ihr Armband und sagte: ‹Ich dachte, ich hätte es gerade eben gefunden›, als würde sie mit sich selbst sprechen. Ich sagte, sie solle aufhören, verrückt zu spielen. Sie ist dann aufgestanden, hat sich aber gleich wieder aufs Bett plumpsen lassen und immer nur den Kopf geschüttelt. Kurz danach fing sie dann auch mit dieser Geschichte an – daß sie was wüßte und jemanden in der Hand hätte.»

«Wie sah das Armband denn aus?»

«Ganz gewöhnlich. Ein Armband mit kleinen Anhängern. Aber ich glaube, die Anhänger waren aus Gold. Zumindest hat sie das behauptet, Ruby konnte man aber nicht alles glauben. Ich erinnere mich – eines war ein kleiner Würfel mit einer Münze drin. Ein Pferdchen war auch dabei. Und ein Herz. Was sonst noch dran war, hab ich vergessen.» Erschrocken blickte sie Jury an. «Hat das, was passiert ist, denn mit dem Armband zu tun?»

«Es würde mich nicht wundern.»

Jury stellte den blauen Morris vor der Polizeiwache von Long Piddleton ab und ging hinein. Er zog gerade seinen Mantel aus, als das Telefon schrillte. Kriminalwachtmeister Wiggins war am Apparat.

«Ich hab mich mit dieser Daisy Trump in Verbindung gesetzt. Und auch mit den Smolletts – das heißt, mit einer Kusine, die nebenan wohnt. Smollett ist weggefahren, und seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben. Rosamund hieß sie.»

Verdammt, dachte Jury. «Und was ist mit der andern Frau – kann ich die sehen?»

«Daisy Trump? Ja, sie lebt in Robin Hood’s Bay. In Yorkshire.»

«Lassen Sie sie hierherkommen, Wachtmeister. Oder warten Sie, am besten, Sie fahren selbst nach Robin Hood’s Bay – mehr als ein paar Stunden kann das nicht dauern. Und reservieren Sie dieser Trump dann irgendwo hier ein Zimmer. Vielleicht finden Sie ja in dieser gottverdammten Gegend einen Gasthof, in dem noch niemand umgebracht wurde, oder ist das unmöglich?»

Wiggins hatte den Hörer abgelegt, und Jury hörte, wie sie beratschlagten. Dann ließ sich der Wachtmeister wieder vernehmen. «Es gibt den Sack voll Nägel, ganz in der Nähe von Dorking Dean. Ein paar Kilometer hinter dem Schwanen.» Wiggins schlürfte seinen Tee. «Hieß so nicht auch einer von Matchetts Gasthöfen?» fragte er unschuldig.

«Ja», sagte Jury. «Es ist ein ziemlich häufiger Name. Gut, quartieren Sie sie dort ein und stellen Sie um Gottes willen einen Wachtposten vor die Tür der armen Frau.»

«Ja, Sir», sagte Wiggins. «Superintendent Pratt möchte wissen, ob Sie nicht nach Weatherington kommen könnten. Er hat da ein paar Dinge mit Ihnen zu besprechen.» Wiggins senkte seine Stimme, als befürchtete er, London könne ihn hören.

«Und Kriminaldirektor Racer hat auch angerufen. Er scheint auf hundertachtzig zu sein. Kann ich ihm denn was ausrichten, wenn er das nächste Mal anruft?»

«Aber ja. Wünschen Sie ihm frohe Feiertage von mir. Mit etwas Verspätung, aber trotzdem von ganzem Herzen.» Jury legte auf, während Wiggins noch in sich hineinkicherte. Offensichtlich hatte er Racer auch nicht gerade ins Herz geschlossen.

Melrose Plant saß an dem Tisch in der Fensternische und verschlang gerade ein Stück von Mrs. Scroggs Kalbfleischpastete; als die Tür aufging und Marshall Trueblood hereinkam. Trueblood gehörte zu den Leuten, die Melrose sehr viel sympathischer waren, wenn er ihnen begegnete, als wenn er nur an sie dachte. An einem Spätnachmittag im Winter bei einer Pinte Bier konnte Trueblood sehr unterhaltsam sein.

«Hallo, alter Knabe, darf ich mich dazusetzen?» Trueblood schüttelte seinen grauen Kaschmirschal aus und drapierte ihn über den Stuhl.

«Bitte, tun Sie das.» Während Melrose auf den Platz am Fenster deutete, ging die Tür noch einmal auf, und Melrose fügte mit einem Grinsen hinzu: «Jetzt, wo Ihre Hoheit eingetroffen ist, sind wir sozusagen komplett.»

Mrs. Withersby stand in der Tür und blickte sich mißtrauisch um, als könnte der Gasthof über Nacht den Besitzer gewechselt und sich in ein Nest von Dieben und Totschlägern verwandelt haben.

«Hallo, Withers, altes Haus», sagte Trueblood. «Willst du diese Runde spendieren oder soll ich? Aber streiten wir uns nicht, deine Großzügigkeit ruiniert dich noch.» Trueblood warf eine Handvoll Kleingeld auf den Tisch.

Mrs. Withersby hatte ihr Gebiß nicht eingesetzt, und wenn sie sprach, wölbte sich ihr Mund weit nach innen.

«Wenn das nicht der Besitzer vom Bubisalong ist! Zeit, daß du mal ’ne Runde ausgibst. Die letzte hab ich bezahlt, ist kaum ’ne Woche her.»

«Withers, die letzte Runde von dir fand im Ring statt. Was soll’s denn sein?»

«Das Übliche», sagte sie und plumpste neben Melrose auf den Stuhl; sie nahm ihn auch gleich unter Beschuß. «Wär’s nicht mal an der Zeit, daß Sie sich nach ’ner ehrlichen Arbeit umschaun, gnädiger Herr?»

Melrose neigte höflich den Kopf und hielt ihr sein goldenes Zigarettenetui hin; der Geruch, der ihm entgegenschlug, ließ ihn zurückprallen – es war eine Mischung aus Gin, Knoblauch und was sonst noch in den Rezepten ihrer seligen Mutter für ein langes Leben enthalten war.

«Und was macht der gnädige Herr hier im Dunkeln mit unserm Hübschen, hmmm? Hoffentlich kommt das Tantchen nicht dahinter. Oh! Vielen Dank, du bist ein Schatz.» Ihr Ton veränderte sich plötzlich, als Trueblood ihr ein Glas hinstellte. «Du bist wirklich ein Schatz, der Beste bist du, ich hab das immer gesagt. Wenn alle so spendabel wären.» Sie warf Melrose einen bösen Blick zu.

«Sag mal, Withers», meinte Trueblood leutselig, während er sich eine lavendelfarbene Balkan Sobranie anzündete, «was hältst du von den Greueltaten, die sich hier in Long Pidd zugetragen haben? Ich hoffe, du hast dich kooperativ gezeigt bei der Polizei?» Trueblood lehnte sich zu ihr hinüber und senkte die Stimme. «Ich hab natürlich keinem erzählt, daß ich dich den Balken runterklettern gesehen habe –» er zeigte zum Fenster – «in der Mordnacht.»

«Verpiß dich, Bubi. Das ist erstunken und erlogen!» Sie zog aus der Tasche ihrer Strickjacke einen Zigarettenstummel, knipste das verkohlte Ende ab und steckte sich den Rest in den Mund. Sie brachte die Kippe zum Brennen, blies Melrose den Gestank ins Gesicht und sagte stolz: «Heute morgen hab ich ’nen Skunk gehäutet.»

Trueblood hatte ein kleines, silbernes Taschenmesser hervorgeholt und säuberte sich die Fingernägel. Die Sache schien ihn nicht weiter zu beeindrucken. «Einen Skunk hast du gehäutet? Was du nicht sagst!»

Mrs. Withersby nickte, klopfte mit ihrem leeren Glas auf den Tisch, blickte gen Himmel und brüllte beinahe. «Ja, gehäutet, und den Kadaver hab ich an einen Baum genagelt! Anscheinend war das eine Warnung an die Götter dort oben. Meine Mudder hat das auch gemacht, wenn was im Anzug war. Vertreibt die bösen Geister –»

Und noch einmal ging die Tür auf, und Lady Ardry erschien, in ihr Inverness-Cape gehüllt.

«Anscheinend nicht alle», meinte Melrose. Er beobachtete, wie seine Tante ins Dunkel spähte und dann die heitere Runde entdeckte. Was für ein Bild sie wohl abgaben?

Sie kam an ihren Tisch gestapft. «Hier bist du also!»

«Hallo, altes Mädchen», sagte Trueblood; es klappte sein kleines Taschenmesser zusammen und ließ es in die Tasche gleiten. «Setzen Sie sich zu uns?»

«Ja, setz dich doch», sagte Melrose. «Drei deiner liebsten Menschen in Long Pidd haben sich hier versammelt, um dich zu begrüßen.» Er stand auf, um ihr einen Stuhl anzubieten.

Mrs. Withersby nuschelte gerade ein Willkommen, als Lady Ardry plötzlich ihren Stock schwenkte und sie beinahe enthauptet hätte. «Ich muß mit dir reden, Plant.» Sie starrte düster auf die andern. «Unter vier Augen.»

Trueblood machte keine Anstalten zu gehen; ungerührt trank er sein Bier. «Setzen Sie sich doch, Withers hat ein Stinktier gehäutet.»

Agatha sah aus, als würde sie Trueblood am liebsten unter den Tisch prügeln. «Sie hab ich auch schon gesucht, Mr. Trueblood. Hätte mir ja denken können, daß Sie sich hier herumtreiben und zechen, statt nach Ihrem Laden zu schauen. Dabei steht die Tür sperrangelweit auf. Wissen Sie denn nicht, daß jeder reinspazieren und sich bedienen könnte?»

«Stimmt. Und haben Sie sich bedient? Taschen nach außen, ja, so ist’s brav – unter diesem Cape könnte sich mein kleines viktorianisches Sofa verbergen.»

Agatha fuchtelte mit ihrem Stock herum, und Trueblood wich zurück. «Ein Wort unter vier Augen, mein lieber Plant.»

Melrose gähnte. «Oh, warum kommst du nicht nach Torquay. Wir haben einen hübschen kleinen Ausflug geplant, du wärst die vierte im Bunde.»

Als Agatha mit ihrem Stock auf den Tisch schlug, fuhr Mrs. Withersby erschrocken hoch, brabbelte etwas und schlurfte davon.

«Scroggs!» brüllte Agatha und nahm auf Mrs. Withersbys Stuhl Platz. «Bringen Sie mir von diesem kratzenden Sherry.»

Mrs. Withersby war jedoch wieder zurückgekehrt.

«Wenn’s heute abend runterfällt, wenn’s vom Baum fällt, dann ist der Zauber gebrochen, und nichts kann mehr passieren.» Und sie ließ ihren leeren Krug auf den Tisch heruntersausen, so daß diesmal Agatha von ihrem Stuhl aufsprang.

«Was phantasieren Sie da, gute Frau?»

«Ich sagte Ihnen doch», meinte Trueblood, «das Stinktier. Wir warten darauf, daß es vom Baum fällt, damit wir wieder ruhig in unsern Betten schlafen können.»

«Mr. Trueblood, in Ihrem Laden warten zehn Leute darauf, bedient zu werden. Sollten Sie sich nicht um sie kümmern?»

Trueblood leerte sein Glas und erhob sich träge. «Zehn Leute in meinem Laden, das gab’s noch nie. Aber ich seh schon, ich bin hier nicht erwünscht. Tja  …» Er entfernte sich.

«Du hast’s geschafft, alle zu vertreiben, Agatha. Was zum Teufel willst du?»

Triumphierend verkündete sie: «Wir haben Ruby Judds Armband gefunden!»

«Was? Wer ist ‹wir›?»

«Ich. Und Denzil Smith.» Sie erwähnte den Namen so beiläufig, daß Melrose sofort vermutete, daß der Pfarrer den Fund gemacht hatte.

«Sie haben doch das Pfarrhaus von oben bis unten durchsucht. Wo war es denn?»

Agathas Antwort ließ auf sich warten. Er stellte sich einen Maulwurf vor, der in den Gängen ihres Gehirns nach einer Antwort suchte, die sie nicht in Verlegenheit bringen würde. «Ich glaube, ich sollte nicht darüber sprechen.» Beiläufig fügte sie hinzu: «In der Nähe des Hauses.»

«Mit andern Worten, liebe Tante, du weißt es nicht. Der Pfarrer hat es gefunden. Hat er es denn schon Inspektor Jury gegeben?»

«Hätte er bestimmt gern», sagte Agatha mit einem liebreizenden Lächeln. «Wenn er Inspektor Jury nur finden könnte. Er scheint immer unterwegs zu sein, wenn man ihn braucht.»

«Hast du es weitererzählt?» Melrose hatte ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, daß die Neuigkeit im Dorf die Runde machte.

«Ich? Nein, ich nicht. Ich kann den Mund halten. Aber du weißt doch, was für eine Klatschbase Denzil Smith ist. Ich war eben bei Lorraine, und sie wußte es bereits.» Sie klang verärgert; offensichtlich hatte sie gehofft, es ihr brühwarm erzählen zu können.

Melrose seufzte. «Der Inspektor wird es wieder als letzter erfahren.»

«Wenn er mal fünf Minuten lang im Dorf bleiben würde, dann könnte er auch der erste sein. Ich war gerade auf der Polizei. Aus Wachtmeister Pluck war kein Wort rauszukriegen. Den ganzen Morgen habe ich getan, was eigentlich Jury tun sollte.»

Melrose bezweifelte das, konnte es sich aber nicht verkneifen, sie zu fragen: «Und was hast du getan?»

«Ich habe systematisch alle Verdächtigen auf dieser Liste verhört.» Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Tasche und gab es Melrose; gleichzeitig brüllte sie noch einmal zu Dick Scroggs hinüber, er solle sich beeilen und ihr endlich ihren Sherry bringen. «Ich habe mich die Dorfstraße hochgearbeitet.»

Melrose rückte seine Brille zurecht und überflog die Liste. Es gab zwei Rubriken: Verdächtige und Motive. «Was haben denn diese ganzen Eifersuchtsgeschichten unter Motiven zu suchen? Auf wen sollte denn Vivian Rivington eifersüchtig sein? Und Lorraines Name hast du ganz ausgestrichen?»

«Sie war’s offensichtlich nicht. Ah, da ist mein Sherry.» Dick dräute über ihr und wartete darauf, daß sie bezahlte. Melrose fischte in seiner Tasche nach Kleingeld.

«Übrigens treffen wir uns heute abend alle in der Pandorabüchse zum Abendessen.»

Melrose hielt in der einen Hand sein Glas, in der andern die Liste. «Wer ist ‹wir alle›?»

«Die Bicester-Strachans, Darrington und diese Person, mit der er liiert ist. Und dein Sonnenschein Vivian.» Maliziös bemerkte sie noch: «Simon war übrigens bei ihr, als ich heute nachmittag vorbeiging.»

Melrose ignorierte diese Bemerkung. «Woher willst du wissen, daß Lorraine nichts mit den Morden zu tun hat?»

«Weil sie aus einem guten Stall kommt, mein lieber Melrose.»

«Das würde ihr Pferd freisprechen, aber nicht Lorraine.»

Er hatte inzwischen auch seinen Namen auf der Liste entdeckt – ganz versteckt und in kleinen Druckbuchstaben zwischen Sheila und Darrington eingeschoben, als wäre er erst nachträglich eingetragen worden. Unter Motiven war ein Fragezeichen. «Heißt das, daß dir für mich kein Motiv eingefallen ist, liebe Tante?»

Sie grunzte: «Zuerst warst du überhaupt nicht drauf. Wegen diesem verdammten Alibi, das du mit dem Inspektor zusammengebastelt hast.»

«Wie ich sehe, fehlt dein Name.»

«Natürlich, du Schlaukopf, ich war’s nicht.»

«Aber unter Truebloods Name steht Drogen. Was hat er denn mit Drogen zu tun?»

Sie grinste: «Mein lieber Plant. Trueblood handelt doch mit Antiquitäten, oder nicht?»

«Ja, das ist mir bekannt.»

«Diesen ganzen Kram, den er aus dem Ausland bezieht – wahrscheinlich auch aus Pakistan und Arabien – also, wo würdest du dein Haschisch oder Kokain verstecken, wenn du es ins Land schaffen wolltest?»

«Keine Ahnung, in meinem Ohr vielleicht?»

«Diese Männer, die um die Ecke gebracht wurden, waren – wie nennt man das? – Mittelsmänner. Vielleicht haben sich irgendwelche Verbrecherbanden gegenseitig liquidiert.»

«Aber Creed war doch ein pensionierter Polizeibeamter.»

Gegen seine bessere Einsicht ließ er sich auf eine Diskussion mit ihr ein.

«Das ist ja der Punkt, mein lieber Plant! Er war ihnen auf der Spur, begreifst du denn nicht? Dem ganzen Ring. Trueblood mußte also –» Sie fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.

Melrose verfluchte sich. «Und Ruby Judd  –?»

«Auch eine Mittelsperson.»

«Zwischen wem?»

«Mittelsleute gibt es immer.»

Melrose gab auf. «Hör zu, Jury muß verständigt werden.»

Agatha nippte an ihrem kratzenden Sherry. «Vielleicht kann die Interpol nach ihm fahnden», meinte sie mit einem maliziösen Lächeln.

Jury saß an der Bar der Pandorabüchse und wartete auf Melrose Plant. Sie hatten sich am Vormittag für diesen Abend in der Pandorabüchse verabredet. Jury blickte auf seine Uhr: 20.35.

Jury gähnte. Wo blieb er nur? Als er sein Gesicht in dem bronzefarbenen Glas des Barspiegels mit dem komplizierten Filigranmuster aus Winden und Reben betrachtete, fand er seine Züge völlig verzerrt. Er hatte den ganzen Nachmittag lang mit Superintendent Pratt die Aussagen verglichen und war hundemüde.

Außerdem war er voller Selbstmitleid, da er Vivian Rivington und Simon Matchett tête-à-tête an einem Tisch in der Ecke sitzen sah. Nicht weit von ihnen saßen Sheila Hogg und Oliver Darrington, die sich noch angegiftet hatten, als er hereinkam, jetzt aber lächelnde Gesichter für Lorraine Bicester-Strachan und Isabel Rivington aufsetzten. Willie Bicester-Strachan wanderte auf der Suche nach dem Pfarrer durch alle Räume. Vor ein paar Minuten hatte er auch Jury nach Smith gefragt.

Jury hörte seinen Namen und sah im Spiegel Melrose Plant hinter sich stehen. «Ich – wir – sind gerade erst angekommen. Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, aber meine Tante hat mir eine Stunde lang die Ohren voll geredet. Sie steht jetzt draußen in der Halle und tut dasselbe mit Bicester-Strachan.» Plant setzte sich auf den Hocker neben Jury. «Haben Sie Denzil Smith gesehen?»

«Nein, aber er wollte auch hierherkommen.»

Plant schien sich Sorgen zu machen. «Hören Sie, nach dem, was Agatha gesagt hat –»

«Danke, Melrose, aber Agatha kriegt selbst den Mund auf!» Sie drängte sich zwischen sie und schubste dabei Jury zur Seite. «Einen rosa Gin, bitte, Melrose.»

Als Melrose die Getränke bestellte, sagte er: «Ob Sie’s glauben oder nicht, Inspektor, aber selbst ich bin der Meinung, daß Sie sich anhören sollten, was meine Tante zu sagen hat.»

Jury bemerkte, daß Lady Ardrys Armband einen eleganten Lederhandschuh umschloß. Er fragte sich, was wohl aus den Wollhandschuhen geworden war, und verspürte so etwas wie Bedauern. Sie blickte ihn an wie Ihre Majestät eine Küchenmagd und sagte: «Wenn Sie sich an mich gewandt hätten, Inspektor, hätte ich Ihnen vielleicht ein paar nützliche Tips geben können.»

«Ich würde mich freuen, wenn Sie das jetzt auch noch tun könnten, Lady Ardry.» Jury bemühte sich, bescheiden und unterwürfig zu wirken, und hoffte nur, sie würde gleich zur Sache kommen … was sie natürlich nicht tat. Zuerst mußte sie sich noch um ihr Aussehen kümmern – sie drückte den kleinen Knopf an dem Handschuh zu, verrückte den schäbigen Fuchspelz um einen halben Zentimeter und brachte ihre Haare noch mehr durcheinander. Als Melrose den rosa Gin vor sie hinstellte, war sie dann soweit. «Heute nachmittag bin ich bei dem Pfarrer vorbeigegangen. Vorher hab ich noch kurz bei den Rivingtons reingeschaut. Und ich muß schon sagen, Melrose, deine liebe Vivian könnte ruhig etwas freundlicher sein. Wenn sie mich fragen, Inspektor –»

«Warum ist die Banane krumm», sagte Melrose. «Komm zur Sache, Agatha!»

«Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen. Ich bin bei meinen Nachforschungen auf verschiedene kleine Dinge gestoßen, die Inspektor Jury bestimmt interessieren werden», meinte sie selbstgefällig. Jury faßte sich in Geduld. Sie antreiben zu wollen würde alles nur noch schlimmer machen. «Man kann ja auch», fuhr sie fort, «ganz offensichtliche Dinge übersehen – wie zum Beispiel die Tatsache, daß Trueblood Antiquitätenhändler ist –»

«Komm zu dem Pfarrer, Agatha.»

«Wer spricht, du oder ich?»

Er zuckte mit den Schultern. «Zarathustra?»

«Nachdem ich beinahe sämtlichen Personen auf meiner Liste einen Besuch abgestattet hatte –»

«Das Armband, Agatha.»

«Sie meinen doch nicht das Armband der kleinen Judd, Lady Ardry?»

«Doch, darauf wollte ich hinaus, die ganze Zeit schon, wenn mich mein Neffe nur nicht immer unterbrochen hätte. Ich fand das Arm –»

«Du meinst, er fand es», verbesserte Melrose sie. «Du hast bereits zugegeben, daß der Fund ohne dich gemacht wurde.»

«Und wo, Lady Ardry? Wir haben das ganze Haus danach durchsucht.»

Agatha studierte die Spitzen ihrer Schuhe. «Ich weiß nicht genau, aber –»

«Oh, zum Teufel, Agatha, Smith hat es dir nur nicht gesagt, weil er nicht wollte, daß ganz Long Piddleton davon erfährt.»

«Das war nicht der Grund.» Sie hatte eine nachdenkliche Miene aufgesetzt. «Er wollte mein Leben nicht in Gefahr bringen!» Beunruhigt fragte sie: «Du lieber Himmel, das ist doch wohl nicht zu befürchten?»

Jury spürte, wie ihm die Kopfhaut prickelte. «Wann hat er es gefunden? Seit wann ist der Fund bekannt?»

«Ich weiß nicht genau. Ich war heute morgen bei ihm. Er hat versucht, Sie zu erreichen, aber Sie waren gerade wieder einmal unterwegs – wahrscheinlich haben Sie wieder eine falsche Fährte verfolgt.»

«Und Sie haben das Armband mit eigenen Augen gesehen?»

«Ja, natürlich!»

«Wo ist es jetzt?»

«Denzil hat es wieder versteckt. Er sagte, er wolle es wieder da hinlegen, wo er es gefunden habe, es sei ein so gutes Versteck. Aber er wollte mir nicht sagen, wo.» Sie schubste schmollend ihr Ginglas hin und her. Dann sagte sie: «Meine Theorie ist, daß dieser Katalog der Verbrechen mit Marshall Truebloods –»

«Mit Marshall Truebloods was, altes Haus?»

Jury hatte ihn nicht hereinkommen sehen. Trueblood schien die Tatsache, daß hinter seinem Rücken über ihn geredet wurde, nicht im geringsten zu stören. Lächelnd blickte er in die Runde. «Hör’n Sie, meine Liebe, den Brieföffner rücken Sie am besten gleich wieder heraus, dann brauch ich nicht die Polizei zu verständigen. Sie waren heute in meinem Laden, erinnern Sie sich?»

Agatha wurde puterrot. «Ich muß doch bitten! Ich würde mich nie an Ihrem arabischen Ramsch vergreifen.»

«Oho. Ich würde den Brieföffner nicht als Ramsch bezeichnen. Er hat mich zwanzig Pfund gekostet. Also her damit, meine Liebe.» Er schnalzte ein paar Mal mit den Fingern.

Jury stand von ihrem Tisch auf und ging zu den Bicester-Strachans hinüber. «Mr. Bicester-Strachan  hat der Pfarrer gesagt, er würde zu einer bestimmten Zeit hier sein?»

«Ja.» Bicester-Strachan zog eine große, plumpe Uhr hervor. «Eigentlich schon vor einer Stunde. Punkt acht, sagte er.»

«Verdammt», murmelte Jury. Er eilte zu seinem Tisch zurück und fragte: «Mr. Plant, könnten wir Ihren Bentley nehmen?»

Bevor die andern ihre offenen Münder wieder zukriegten, waren sie schon aus der Tür.