XIX


Jury näherte sich langsam der Dorfstraße; er fuhr aber nicht in die Richtung der Pandorabüchse, da er das lästige, wenn auch unvermeidliche Treffen mit Kriminaldirektor Racer solange wie möglich hinausschieben wollte. Vielleicht konnte er bei der Hammerschmiede haltmachen und Mrs. Scroggs bitten, ihm ein Essen aufzutischen.

Als er die Zufahrt zur Kirche sah, bog er ab und parkte den Wagen. Die Kirche war ein Ort, an dem der Kriminaldirektor wohl kaum herumschnüffeln würde, und Jury brauchte etwas Zeit zum Nachdenken.

Die St.-Rules-Kirche war immer noch so feucht und kalt wie am frühen Morgen und würde auch bald wieder so dunkel sein. Von einer der hinteren Reihen aus konnte er zuschauen, wie das abendliche Dämmerlicht aus den Seitenschiffen und Nischen wich. Er hatte es sich auf der harten Bank bequem gemacht und blickte sich um – auf die Streben, die Bossen, den «Dreidecker» und das kleine schwarze Brett mit den Nummern der Lieder, die von der Gemeinde gesungen worden wären, wenn der Gottesdienst stattgefunden hätte. Die dünnen Gesangbücher standen auf einem schmalen Brett, das an der Rückseite der Bänke angebracht war. Jury nahm sich eines, schlug die Nummer 136 auf und begann «Wohlauf, ihr christlichen Soldaten» zu singen. Er kam sich sofort lächerlich dabei vor und klappte das Buch zu; abwesend starrte er auf den Einband. Auf dem Deckel stand in verblichenen Goldlettern: Gesangbuch. Es war ziemlich klein, ungefähr 15 auf 17 Zentimeter, und in rotes Leder gebunden. Er erinnerte sich an die Stimme von Mrs. Gaunt – oder war es die von Daphne gewesen? – «Ich kam rein und sah sie in ein Buch schreiben. In ihr Tagebuch. Ein kleines, rotes Buch.»

In einer knappen Viertelstunde – Jury hatte hinter jedem Sitz nachgeschaut, jedes Gesangbuch hervorgezogen und wieder zurückgestellt – hielt er es dann schließlich in der Hand: Es war kaum dicker als die Gesangbücher, und der Einband war ebenfalls rot, nur etwas greller. Nicht schwer zu finden, man mußte nur danach suchen, da die Gesangbücher von dem schmalen Holzbrett auf der Rückseite der Sitze teilweise verdeckt wurden. Wäre am vergangenen Sonntag ein Gemeindemitglied auf diesem Sitz gesessen, so hätte er es gefunden. Es gab jedoch weit mehr Gesangbücher als Dorfbewohner, die daraus sangen. Hatte Ruby ihr Tagebuch, ähnlich wie das Armband, als eine Art Pfand zurückgelassen? Oder hatte sie es einfach bei den Gesangbüchern abgestellt und dann vergessen?

Statt Gesangbuch stand in goldener Kursivschrift Tagebuch auf dem Deckel. Dramatisch große Blockbuchstaben zierten die erste Seite: RUBY JUDD.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden; schon bei seiner Suche hatte er die Taschenlampe anzünden müssen. Er ging mit dem Buch zur Kanzel, stieg die kleine Treppe hoch und zog die schmale Messinglampe so weit herunter, daß das Licht direkt auf die Seiten des Buchs fiel.

Das meiste davon – der Teil, in dem die ersten Monate des Jahres abgehandelt wurden – war irgendwelcher Blödsinn über irgendwelche Männer in Weatherington oder Long Piddleton – Geschäftsleute, ein Verkäufer; nichts über Trueblood oder Darrington – die Art von Blabla, die er erwartet hatte. Das Stichwort Simon Matchett fiel erst später; zwischendurch entdeckte er noch Bemerkungen über Trueblood (ein erstaunlich guter Liebhaber für einen Mann mit seinen Neigungen) und Darrington (ein erstaunlich schlechter). Sie kam aber immer wieder auf Matchett zurück, der «einfach umwerfend gut aussah», wie sie des öfteren betonte. Augen wie der Rydal River. Dieser überraschend hübsche Vergleich aus Ruby Judds prosaischer Feder versöhnte Jury etwas. Wenn ich daran denke, daß Daphne immer in seiner Nähe sein kann, während ich mich mit dem Drachen – Mrs. Gaunt höchstwahrscheinlich – und dem Pfarrer rumschlagen muß! Sie wären ganz schön sauer, wenn sie wüßten, daß ich hier herumsitze und mein Tagebuch schreibe, während ich eigentlich abstauben sollte. Wenn schon, ich krieg auch nicht annähernd soviel wie Daphne, die außerdem noch für ihn arbeiten darf. Auf den folgenden Seiten beschrieb sie ihre sexuellen Abenteuer mit Darrington, mit der Aushilfskraft des Zeitungshändlers und andern; hin und wieder ließ sie sich darüber aus, wie langweilig das Leben in Long Piddleton sei. Jury überblätterte ein paar Seiten und fand, was er gesucht hatte: die Kissenschlacht mit Daphne. Dann bin ich unters Bett gerollt, und als sie mit ihrem Arm über den Bettrand angelte und mich packen wollte, ging der Verschluß ihres Armbands auf, ein geschmackloses Ding mit einem goldenen Kreuz dran. Plötzlich fiel mir alles wieder ein: Ich lag unter dem Bett, und ein Arm baumelte herunter. Und von dem Arm rutschte das Armband. Ist schon Jahre her, das alles. War es möglich, daß Ruby, neugierig wie sie war, tatsächlich unter das Bett auf der Bühne gekrochen war und während der ganzen Vorstellung dort gelegen hatte? Sie konnte dabeigewesen sein, als Matchett Celia erstickte und überhaupt nichts bemerkt haben. Gott!!! Ich erinnerte mich auch plötzlich, was das für ein Armband war, das ich damals gefunden hatte. Es gehörte ihr, Mrs. Matchett, die an diesem Abend ermordet worden war. Was hat das zu bedeuten??? Das war fünfmal unterstrichen. Ein paar Tage lang gab es keine Eintragungen. Ruby hatte anscheinend in der Bibliothek von Weatherington alte Zeitungen durchgesehen: nach dem Mord im Gasthof der Matchetts. Und es war ihr klargeworden, daß Celia Matchett auf diesem Bett und nicht in ihrem Büro erwürgt worden war. Sie sah plötzlich wieder den schlaffen Arm vor sich, so wie sie ihn als Siebenjährige gesehen hatte.

Sie lungerte jetzt nur noch in der Pandorabüchse herum und versuchte, trotz der Entdeckung, die sie gemacht hatte, Simon Matchett rumzukriegen. Sie fing an, Pläne zu schmieden. Heute hab ich Onkel Will angerufen. Wenn er sich nur erinnern könnte, dann könnten sich auch die andern wieder erinnern. Zuerst erklärte er mich für total übergeschnappt – «Ruby, du warst damals gerade sieben Jahre alt, du kannst nicht mehr wissen, was da passiert ist.» Nach langem Hin und Her hab ich ihn dann doch überzeugt, daß Simon es gewesen sein muß, daß er sie umgebracht haben muß. Entweder er oder diese Harriet, die immer im Zusammenhang mit ihm erwähnt wurde. Ich erinnere mich auch wieder, was für einen Schreck ich gekriegt habe. Dieser Arm!! Uhh!!! Und ich hab auch nie jemanden von diesem Armband erzählt, weil ich dachte, ich würde mich damit nur in die Nesseln setzen.

Am Tag darauf: Onkel Will hat mich zurückgerufen und hat gesagt, ich soll nichts unternehmen, er will mit einem Freund von ihm sprechen, einem Bullen. Ich fragte ihn, ob er Simon verhaften lassen will, und er lachte nur. Ich glaube, er meint, er kann von Simon Geld kriegen. Ich erzählte ihm, hier würde gemunkelt, daß Simon diese komische alte Erbin heiraten will. Und die schwimmt im Geld.

Zwei Tage später: Wenn er Geld aus ihm herausschlägt, warum kann ich dann nicht was anderes rausschlagen? Jury konnte Ruby vor sich sehen, ihre blitzenden Augen und ihr Schulmädchengekicher, das von dem Gebälk der Kirche aufgefangen wurde.

Zwei oder drei Tage fehlten, dann schrieb sie: Er war im Keller, um den Wein für das Essen zu holen, und ich ging einfach auch runter, hielt ihm das Armband unter die Nase und fragte ihn, ob er sich nicht daran erinnern kann. Er würde doch immer daran herumspielen, wenn ich es trage. Und dann erzählte ich alles, was ich wußte. Zuerst dachte ich, er will mich schlagen. Aber er packte mich nur, zog mich an sich und küßte mich!!! Er sagte, es wäre wirklich dumm, daß ich meinem Onkel davon erzählt hätte, und fragte mich, ob ich auch mit andern darüber gesprochen hätte. Ich sagte nein, mit keinem. Was auch stimmte. Er meinte, im Augenblick sei wohl nichts zu machen – zu schade, aber er hätte sich nie recht getraut, weil ich so viel jünger sei als er. Richtig traurig sah er aus. Und dann fragte er mich, ob ich mit ihm übers Wochenende wegfahren will, wir könnten dann die Sache in Ruhe besprechen. Aber so dumm bin ich auch nicht. Ich sagte ihm, er braucht das gar nicht erst zu versuchen. Er will doch nur, daß ich den Mund halten soll. Er machte eine Champagnerflasche auf, und wir prosteten uns zu, alberten herum und küßten uns. Ich weiß jetzt auch, daß er es ernst meint. Ich soll meine Tasche packen und den andern sagen, ich würde nach Weatherington fahren, damit sich niemand Gedanken macht. Ich erinnerte mich aber auch wieder, daß Onkel Will gesagt hat, ich soll das Armband abnehmen und gut aufheben. Von mir aus. Ich trage ja doch bald einen dicken Diamanten am Finger. Eben ist mir auch ein prima Versteck für das Armband eingefallen. Wenn das nicht komisch ist!!!

Und der letzte Eintrag: Kann jetzt nicht schreiben. Sie kommt angewalzt. – Mrs. Gaunt wahrscheinlich – Muß mein Buch verstecken. FORTSETZUNG FOLGT!!!

Ruby mußte ihr Tagebuch zu den Gesangbüchern gestellt und den Besen zur Hand genommen haben. Wahrscheinlich hatte sie es nur weggestellt, um es später wieder hervorholen zu können, und es dann in der Aufregung vergessen.

FORTSETZUNG FOLGT!!! Jury blickte noch einmal auf die rührend hoffnungsvollen Worte. Die kleine Närrin. Für Ruby Judd hatte es keine Fortsetzung mehr gegeben. Er stand in der dunklen Kirche, nur die kleine Lampe warf ihren Lichtkegel auf die weißen Seiten von Rubys Tagebuch. Jury war so absorbiert von dieser blinden Schulmädchenleidenschaft, die Ruby Judd für Simon Matchett empfunden hatte, daß er überhaupt nicht bemerkte, wie die schwere Eichentür aufging und dann wieder ins Schloß fiel.

Jury konnte in der dunklen Halle der Kirche nichts erkennen, als er jedoch die Stimme hörte, wußte er sofort, daß es Simon Matchett war.

«Ich hab von der Straße aus Licht gesehen und fragte mich, wer sich um diese Zeit wohl noch in der Kirche aufhält. Ein ungewöhnlicher Ort für einen Kriminalbeamten – die Kanzel.»

Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann bewegte sich etwas; Jury nahm an, daß Matchett in einem der hinteren Kirchenstühle Platz genommen hatte.

«Und Sie, Mr. Matchett? Was tun Sie um diese Zeit noch in der Kirche? Oder sind Gastwirte noch eifrigere Kirchgänger als Kriminalbeamte?»

«Wohl kaum. Ich war nur neugierig.»

Jury hätte es in jeder Situation als unangenehm empfunden, sich mit einer körperlosen Stimme unterhalten zu müssen. Die einzige Lichtquelle in der Kirche war die kleine Lampe, die die Kanzel erleuchtete. Jury kam sich vor wie ein geblendetes Wild.

«Ich folgte wohl derselben Eingebung wie Sie, Inspektor. Wenn das Tagebuch nicht im Pfarrhaus war, dann blieb doch wohl nur noch die Kirche übrig …? Ich nehme nicht an, daß Sie dort oben das Gebetbuch lesen?»

«Wenn ich das täte, Mr. Matchett, dann hätten Sie wohl ausgespielt, nicht?»

Ein kurzes Lachen driftete durch die Dunkelheit. «Oh, tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie von nichts. Ihr Wachtmeister war mir ständig auf den Fersen. Ich konnte machen, was ich wollte, er schien fest entschlossen zu sein, mich in seiner Nähe zu behalten. Nein, nein, keine Angst, es ist ihm nichts passiert; er schläft wie ein Murmeltier beim Feuer. In seinem Rum waren ein paar Tropfen Baldrian. Wie wär’s Inspektor, wenn Sie mir jetzt das kleine Buch herunterbringen würden?»

Jury nahm an, daß eine Pistole auf ihn gerichtet war. Daß Matchett so sicher damit rechnete, das Tagebuch ausgehändigt zu bekommen, schien das zu beweisen.

«Und wenn Sie eine Knarre bei sich haben, Inspektor, dann werfen Sie die am besten auch gleich weg. Ich hab Sie zwar noch nie mit einer gesehen, aber man kann ja nie wissen.»

Jury hatte keine Waffe bei sich. Er war schon vor Jahren zu der Überzeugung gekommen, daß es im allgemeinen viel gefährlicher war, eine zu haben. Aber es war sinnlos Machett das zu erklären. Jury lag vor allem daran, Zeit zu gewinnen, um seine mißliche Lage zu überdenken. Nicht weit von der Kanzel entfernt – etwas höher und in einem Abstand von ungefähr einem Meter – befand sich die Lettnerempore. «Mr. Matchett, wenn Sie die Absicht haben – und die haben Sie wohl –, mich aus dem Weg zu räumen, sollten Sie sich da nicht vorher noch vergewissern, ob außer mir jemand Bescheid weiß?» Jury hatte nicht vor, Plant zu erwähnen, er wollte nur versuchen, Matchett zum Sprechen zu bringen.

«Was soll das, Inspektor. Diesen alten Trick können Sie sich bei mir sparen. Nicht einmal Ihr Kriminaldirektor weiß was. Ihrem Wachtmeister müssen Sie ja wohl was gesagt haben, aber um den kümmere ich mich später.»

Die Höhe und Entfernung der Empore waren nicht besonders groß, aber, Gott sei’s geklagt, er war auch nicht mehr so beweglich, wie er es einmal gewesen war. «Dürfte ich Sie bitten, in einem oder zwei Punkten meine Neugierde zu befriedigen, Mr. Matchett? Warum, um Gottes willen, haben Sie Ihre Leichen auf eine so groteske Art zur Schau gestellt? Sie hätten Hainsley doch einfach in seinem Bett liegen lassen und Ruby im Wald verscharren können?» Jury wußte, daß Massenmörder wie Matchett unglaublich eitel waren. Sie waren fasziniert von ihrer eigenen Schlauheit. Es mußte ja auch frustrierend sein, etwas so schlau einzufädeln und dann niemanden von dem Geniestreich erzählen zu können. Zuerst dachte er jedoch, Matchett würde nicht antworten. In den dunklen Gewölben wurde das kleinste Geräusch um ein Vielfaches verstärkt, und Jury glaubte das Klicken eines Sicherungshebels gehört zu haben. Er behielt jedoch recht, was das zwanghafte Mitteilungsbedürfnis von Massenmördern betraf.

«Inspektor, Sie haben doch bestimmt erraten, daß das nur ein Ablenkungsmanöver war. Ein schrilles Geräusch übertönt man durch ein noch schrilleres. Ich hatte ja gar nicht die Zeit, diese Leute diskret und unauffällig, ah, beiseite zu schaffen. Die kleine Judd, ihr Onkel, Hainsley und dieser Polizist Creed, den sie sich noch angeheuert hatten – sie stürzten sich beinahe gleichzeitig auf mich. Und da ich nicht diskret zu Werke gehen konnte, entschied ich mich für das Gegenteil: Ich wollte ein solches Spektakel veranstalten, daß man einen Irren verantwortlich machen würde, einen, der die Leute einfach nur so abschlachtet. Einen Psychopathen.»

«Eine Zeitlang hat man das ja auch gedacht.» Jury mißfielen die Geräusche, die darauf hindeuteten, daß Matchett aufgestanden war und durch das Mittelschiff ging. Von der Lettnerempore bis zu der Empore, die an den andern Seiten der Kirche entlanglief – das ließ sich noch schaffen, es mußte nur schnell geschehen.

«Dürfte ich Sie auch etwas fragen? Ich vermute, Sie wissen, daß ich meine Frau umgebracht habe. Aber wie zum Teufel –»

«Nicht sehr klug von Ihnen, Mr. Matchett, eine solche Vermutung zu äußern. Und gleichzeitig den Mord zu gestehen. Was ich mich die ganze Zeit über fragte, war, was Sie eigentlich mit Miss Rivington verband?»

Matchett schwieg einen Augenblick, dann fragte er. «Mit welcher Miss Rivington?»

«Ich glaube, damit ist meine Frage schon beantwortet.» Jury schätzte immer noch die Entfernungen ab. «Und hat Small – ich meine Smollett – die andern beiden hierherbestellt, oder haben Sie das getan?»

«Ich habe sie kommen lassen. Smolletts Stimme nachzuahmen war kein Problem mehr, nachdem er mir erzählt hatte, daß auch Hainsley und Creed von ihm eingeweiht worden waren. Ich hab sie einfach angerufen und ihnen gesagt – als Smollett – daß sie sofort hierherkommen sollten. Und ich sagte ihnen auch, daß sie in der Hammerschmiede und im Schwanen absteigen sollten – ich konnte sie ja nicht alle in der Pandorabüchse abkratzen lassen.»

«Sie waren also nicht um elf, sondern schon um halb elf beim Schwanen. Sie haben Ihren Wagen im Wald abgestellt … daß wir dieses Fenster und die Fußspuren entdecken würden, war Ihnen ja wohl klar?»

«Ja, natürlich. Das lag auch in meiner Absicht; da ich zu dem Zeitpunkt des Mordes – oder zumindest um den Dreh – mit Vivian im Schwanen saß, war mir egal, wen Sie verdächtigen würden, durch dieses Fenster eingestiegen zu sein. Übergroße Stiefel und ein Overall, um mich nicht zu beschmutzen – eine todsichere Sache.»

Jury wollte, daß er weiterredete. «Und wie haben Sie es geschafft, sich von hinten an Creed ranzuschleichen?»

«Er dachte – oder vielmehr legte ich ihm das nahe –, ich würde nach der Heizung schauen. Der Overall kam mir dabei sehr zustatten. Und außerdem bin ich nun mal Schauspieler, Inspektor –»

«Das kann ich bestätigen. Aber warum in Gottes Namen haben Sie sich mit Creed nicht irgendwo anders getroffen, warum haben Sie ihn denn nach Long Piddleton kommen lassen?»

«Ganz einfach – weil Sie uns festgehalten haben. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Und allmählich fand ich auch Gefallen an dem Gasthof-Motiv, das sich die Zeitungen ausgedacht haben.»

«Ich verstehe.» Jury war zu sehr damit beschäftigt, den Kraftaufwand abzuschätzen, den dieser Sprung erfordern würde, um sich noch um die Gefühle dieses unsichtbaren Mannes in dem pechschwarzen Raum unter ihm kümmern zu können. «Wird denn Mord mit der Zeit zur Gewohnheit?»

«Vielleicht. Aber ich möchte Sie doch bitten, mir jetzt dieses Tagebuch zu übergeben, Inspektor. Und seien Sie so nett und kommen Sie ganz langsam die Kanzeltreppe herunter.»

«Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, Kumpel?» Jury knipste plötzlich das Licht aus und ging hinter dem Pult in Deckung, als die erste Kugel schon in das Holz über seinem Kopf einschlug. Dann schwang er sich auf den Rand der Kanzel und verlagerte sein Gewicht, um den Sprung auf die Empore zu wagen. Sein einziger Schutz war die Dunkelheit, und er brauchte seine ganze Kraft, um den Rand der Empore zu erreichen. Seine Hände griffen danach, hielten sich fest, und einen Augenblick lang baumelte er in der Luft, bis er sich dann mit letzter Anstrengung hochhieven konnte. Eine weitere Kugel flog in die Richtung der Bosse über ihm, und dann herrschte wieder absolute Stille, eine Stille, die er nicht durch seine Atemstöße unterbrechen wollte, obwohl er das Gefühl hatte, seine Lungen würden gleich platzen. Von der Lettnerempore auf die Seitenempore zu springen war ein Kinderspiel – wie ironisch, dachte Jury, daß die Kirche einem Theater gleicht; im Augenblick beschäftigte ihn jedoch die Frage, was für einen Revolver Matchett in der Hand hielt und wie viele Kugeln noch in dem Magazin steckten. Matchett würde nicht so dumm sein und sie einfach verballern.

Jury hörte das leise Scharren von Füßen, und er wußte, daß Matchett die Treppe zur Lettnerempore hochstieg, eine Treppe, die in die Mauer zu seiner Linken gehauen worden war. Geduckt schlich er sich auf die andere Seite und sprang dann von der Lettnerempore auf die Seitenempore rechts von ihm; im selben Augenblick hatte auch Matchett die oberste Treppenstufe erreicht – ein kurzes Aufblitzen und ein Schuß, der, wie Jury hätte schwören können, knapp an seinem Ohr vorbeigegangen war. Immer noch geduckt, bewegte er sich zwischen den Bänken entlang und blieb dann stehen. Wieder herrschte Totenstille. Vorsichtig holte er die elektrische Taschenlampe aus der Tasche seines Regenmantels; er stellte sie auf den Sims der Empore, knipste sie an und rannte die westliche Empore entlang, während Matchett einen weiteren Schuß abgab. Die Taschenlampe fiel um und schlug auf dem Boden des Kirchenschiffs auf.

Beim Herauskramen seiner Taschenlampe waren Jury die Hustenbonbons in der Innentasche seines Mantels eingefallen. Wenn er nur das Zellophanpapier abreißen könnte, ohne seinen Standort zu verraten – in der andern Tasche befand sich nämlich die Schleuder des kleinen Jungen. Gott segne dich, James. Er löste ein klebriges Bonbon von dem Klumpen in der Packung, preßte es gegen den Gummi und zielte auf das nächste Fenster. Auf das Klirren erfolgte dann auch gleich der nächste Schuß. Er versuchte, Matchetts Reflexe weiter zu reizen, indem er den Gummi schnell wieder anspannte und ein weiteres Hustenbonbongeschoß in das Kirchenschiff sandte. Er zielte in eine dunkle Nische und hörte ein Splittern; vielleicht hatte er die Gipsstatue der Heiligen Jungfrau getroffen. Jury betete so inbrünstig wie noch nie in seinem Leben.

Aber statt eines Schusses hörte er, wie Matchett die Treppe zu der Lettnerempore hinunterrannte und in das Mittelschiff lief.

Wieder war nichts zu vernehmen, bis dann plötzlich ein Lichtstrahl die Empore entlangwanderte. Jury duckte sich.

«Ihre Täuschungsmanöver waren großartig, Inspektor», ertönte es von unten, «aber Sie machten den Fehler, Ihre Taschenlampe aufzugeben, und das war genau so dumm, wie daß ich keine mitgebracht habe. Da Sie offensichtlich keine Kanone besitzen, während ich meine in der Hand halte, sollten Sie sich vielleicht doch bequemen herunterzukommen, finden Sie nicht auch?»

Da Matchett bestimmt keinen weiteren Schuß mehr vergeuden würde, blieb Jury keine andere Wahl. Würde er ihn gleich abknallen, wenn er in sein Blickfeld käme? Oder würde er warten, bis er das Tagebuch in der Hand hätte? Jury hoffte nur, er würde warten.

«Wenn Sie sich bitte in den Mittelgang begeben, Inspektor. Tut mir leid, aber ich muß dieses Tagebuch haben. Danach können wir dann eine kleine Spazierfahrt machen.»

Jury atmete auf. Zwischen hier und einem Grab im Wald würde ihm bestimmt noch etwas einfallen. «Ich komme herunter, Matchett.»

«Sachte, immer sachte!»

Jury ging zwischen den Bankreihen zu der Treppe hinüber, die Matchett vor ein paar Minuten hinuntergerannt war. Jury blickte in das Kirchenschiff und sah Matchett ungefähr in der Mitte zwischen den Stuhlreihen stehen. Jury schnappte sich eines der Gesangbücher und hielt es mit beiden Händen fest. Dann stieg er die Treppe hinunter. Als er unten angekommen war, hielt er das Buch über seinem Kopf.

«Bringen Sie es hier rüber –»

Jury ging auf ihn zu, und als er ungefähr drei Meter von ihm entfernt war, befahl ihm Matchett stehenzubleiben. «Das ist nahe genug –»

In diesem Augenblick lockerte Jury seinen Griff, und das Gesangbuch fiel auf den weichen Teppich, auf dem sie standen.

«Wie ungeschickt», meinte Matchett.

Jury tat so, als wolle er sich bücken, wußte jedoch, daß Matchett ihn davon abhalten würde.

«Schon gut, Inspektor. Schubsen Sie es einfach mit dem Fuß zu mir rüber.»

Darauf hatte er gewartet; er hoffte nur, daß ihn sein Bein nicht im Stich lassen würde. Jury trat mit dem Absatz gegen den dünnen Deckel, und das Buch flog zu ihm zurück. Das geschah so schnell, daß Matchett keine Zeit zum Überlegen blieb. Der letzte Schuß ging los, und die Kugel streifte Jurys Arm. Mit einem Satz stürzte sich Jury auf ihn, und es fiel ihm nicht besonders schwer, Matchett gegen den Kirchenstuhl zu drängen; Jury war so geladen – seine ganze Wut auf diesen Wahnsinnigen brach aus ihm hervor –, daß der Tritt und der Kinnhaken, die er Matchett versetzte, beinahe gleichzeitig erfolgten und auch die erhoffte Wirkung hatten. Matchett sackte zusammen und blieb auf den Fliesen zwischen den Stuhlreihen liegen.

Jury hob das Gesangbuch auf. Das Tagebuch lag immer noch auf der Kanzel. Er hatte es unter die riesige, beleuchtete Bibel geschoben, während er sich mit Matchett unterhalten hatte. Er blickte auf ihn hinunter und fragte sich, ob dieser Mann eine Vorliebe fürs Töten entwickelt hatte, wie andere für Austern. Jury sagte zu der reglosen Gestalt: «Mr. Matchett, Sie sind berechtigt, die Aussage zu verweigern; wenn Sie jedoch eine Aussage machen, kann diese zu Protokoll genommen und gegen Sie verwandt werden, kapiert?»

Er drehte sich um, ging auf den Altar zu und stieg noch einmal die Kanzel hoch. Oben angelangt, knipste er die kleine Lampe an, hob die Bibel hoch und zog Rubys Tagebuch darunter hervor. Die Arme auf dem Pult ausgebreitet – einem Geistlichen zum Verwechseln ähnlich –, blickte er auf das Buch, das Simon Matchetts Ende bedeutete.

Und wieder hörte er hinter sich die schwere Tür aufgehen und gleich darauf wieder zuschnappen. Aus der dunklen Eingangshalle tönte ihm die angriffslustige Stimme von keinem Geringeren als Kriminaldirektor Racer entgegen.

«Haben Sie endlich Ihre Berufung entdeckt, Jury?»

Matchett wurde auf das Polizeirevier in Weatherington gebracht. Er war «offiziell» von Racer und seiner rechten Hand, Inspektor Briscowe, verhaftet worden. Wie Briscowe es später an diesem Abend den Reportern gegenüber formulierte, war er seinem Chef nach Long Piddleton gefolgt, um der Sache «etwas Dampf» zu machen. Und tatsächlich hatte sich der Fall auch von dem Augenblick an, als der Kriminaldirektor auf der Bildfläche erschien, wie von selbst aufgelöst. Racer drückte das natürlich etwas anders aus, aber die Reporter aus London begriffen sofort.

«Dieser fiese Kerl», sagte Sheila Hogg, die um Mitternacht noch so freizügig Scotch ausschenkte, als käme er aus dem Wasserhahn. «Sie haben die ganze Dreckarbeit geleistet, und er heimst die Lorbeeren ein. Und dabei wäre es Ihnen beinahe an den Kragen gegangen. Hier!» Sie drückte ein Halbliterglas in Jurys freie Hand; der andere Arm war ihm von einem ziemlich kleinlauten Dr. Appleby verbunden worden.

Eine Stunde nach Matchetts Verhaftung wußte ganz Long Piddleton Bescheid – ohne Zweifel Plucks Verdienst. (Jury hatte amüsiert beobachtet, wie Pluck Briscowe aus dem Bild zu drängen versuchte.) Sheila hatte Jury förmlich zu sich nach Hause geschleppt, um ihm einen Drink aufzunötigen. In ihren Augen war er der Held des Tages.

Auf diese anklagende Feststellung antwortete ihr Jury: «Was soll’s. Ende gut, alles gut, finden Sie nicht?»

«War auch an der Zeit», sagte Darrington, dessen alte Feindseligkeit inzwischen noch von Eifersucht verstärkt wurde. «Sie wollten ja schon mich zur Strecke bringen.» Darrington grinste hämisch.

In gespielter Verwunderung zog Jury die Augenbrauen hoch. «Sie? Oh, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Sie standen noch nie auf meiner Liste. Das war doch wohl klar. Sie haben gar nicht so viel Phantasie. Schauen Sie sich doch Matchett an – er hätte Schriftsteller werden können, wenn er nicht so abnorm veranlagt wäre.»

Sheila kicherte amüsiert und angeheitert. Darrington wurde rot und stand auf. «Warum, zum Teufel, hauen Sie nicht endlich ab? Seit Sie hier sind, hab ich nur Scherereien. Sie haben hier nichts mehr zu suchen!»

Sheila knallte ihr Glas auf den Tisch. «Dasselbe gilt für mich!» Obwohl sie ziemlich wacklig auf den Beinen stand, versuchte sie eine würdevolle Haltung einzunehmen. «Oliver, du bist ein Mistkerl. Meine Sachen lasse ich später abholen.»

Darrington hatte sich wieder gesetzt und beachtete sie kaum. «Du bist betrunken», sagte er und starrte in sein Glas.

Jury stützte sie mit seinem Arm ab, während sie sich nach Darrington umdrehte und ihm entgegenschleuderte: «Besser betrunken, du Narr, du verdammter, als … als phantasielos! Hab ich nicht recht, Inspektor?»

Obwohl ihre Aussprache nicht mehr ganz klar war und sie sich an ihn klammerte, als befände sie sich auf einem schlingernden Schiff, pflichtete ihr Jury voll und ganz bei. Er bot ihr sogar seinen Arm an, als sie zusammen aus dem Zimmer gingen.

«Er denkt, ich mache Witze. Es ist aber mein Ernst. Ich werde mir bei Scroggs ein Zimmer nehmen. Es sei denn …» und sie blickte ihn unter ihren dichten Wimpern hervor hoffnungsvoll an.

Er lächelte. «Tut mir leid, Süße. Die Pandorabüchse ist besetzt. Keine weiteren Gäste.» Als er ihr in den Mantel half, bemerkte er, daß sie vor Enttäuschung ganz zerknittert aussah. Er blinzelte ihr zu: «Aber London ist ja auch noch da. Sie kommen doch bestimmt ab und zu mal in die Stadt, oder nicht?»

Aufgemuntert antwortete sie: «Verlaß dich drauf, Süßer!»

Als sie zum Wagen gingen, sah Jury Darringtons Silhouette, die sich gegen das Licht der Eingangshalle abzeichnete. «Sheila? Was zum Teufel …!»

Nachdem er Sheila Mrs. Scroggs mütterlicher Fürsorge anvertraut hatte, fuhr Jury stockbetrunken zur Pandorabüchse zurück. Als er aus dem Morris stieg, bemerkte er, daß unten in der Bar noch Licht war.

Völlig aufgelöst wartete Daphne Murch auf ihn. Jury fiel ein, daß sie dabeigewesen sein mußte, als Matchetts Sachen abgeholt wurden.

Sie lief ihm entgegen und sagte: «Ich konnte es einfach nicht fassen, Sir. Mr. Matchett! Wo er doch immer so offen und ehrlich gewesen ist!»

«Tut mir leid, Daphne. Ich weiß, es muß schrecklich für Sie sein.» Sie saßen an einem der Tische, und Daphne servierte Tee – ob müde Füße oder ein überführter Massenmörder, Tee war nie verkehrt. Sie schüttelte immer noch ungläubig den Kopf.

«Hören Sie, Daphne, Sie haben jetzt keinen Job mehr, nicht?»

Sie sah ihn niedergeschlagen an, und Jury fügte hinzu, «ich hab da ein paar Freunde in Hampstead Heath.» Er holte sein kleines Adreßbuch hervor, schrieb die Adresse auf und gab sie ihr. «Ich weiß zwar nicht, ob Sie nach London wollen» (ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, daß sie die Vorstellung offensichtlich sehr aufregend fand), « –  aber ich kann Ihnen versichern, daß es sehr nette Leute sind, und ich weiß auch, daß sie eine Hausangestellte suchen.» Er wußte außerdem, daß sie einen sehr stattlichen jungen Chauffeur hatten. «Wenn Sie wollen, setze ich mich in London gleich mit ihnen in Verbindung und …»

Er konnte seinen Satz nicht beenden, da Daphne um den Tisch gelaufen kam und ihn küßte. Dann flüchtete sie hochrot aus der Bar.