XIV Freitag, 25. Dezember
Als er am Morgen des ersten Weihnachtstags aufwachte, lag die Akte auf dem Fußboden. Er sammelte sie auf und verbrachte eine volle Stunde damit, die losen Seiten zu studieren. Was Matchett erzählt hatte, fand er in ihr bestätigt. Sowohl Matchett wie dieses Mädchen, Harriet Gethvyn-Owen, hatten ein Alibi – das gesamte Publikum des Stücks hatte sie auf der Bühne gesehen. Ein Hausmädchen namens Daisy Trump hatte Celia Matchett das Tablett gebracht. Ihre Herrin hatte sie hereingerufen (normalerweise stellte sie das Tablett an der Tür ab) und ihr gesagt, sie solle es auf den kleinen Tisch neben der Tür stellen. Daisy konnte also bezeugen, daß Celia Matchett zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen war. In der Schokolade war ein Betäubungsmittel gewesen, etwas, was die Polizei sich nicht erklären konnte: Warum sollte ein gewöhnlicher Dieb ihr erst was in die Schokolade mischen und dann zurückkommen, um ihr Büro auszurauben? Warum hatte er nicht gewartet, bis die Luft rein war? Auch Jury fand diese Sache sehr merkwürdig. Er schaute sich den Plan von dem Büro an. Der Schreibtisch, an dem sie gesessen hatte, stand vor einem Fenster. Gegenüber von dem Schreibtisch war die Tür zum Korridor. Kleine Kästchen markierten Tisch, Stühle und den Sekretär.
Jury schob die Seiten wieder in die Mappe. Allmächtiger! Vor zwei Tagen waren es noch zwei Morde gewesen, die er aufklären sollte. Und jetzt am Weihnachtsmorgen hatte er plötzlich fünf Morde am Hals.
«Noch etwas Kaffee, Sir?» fragte Daphne, die sich in der Nähe seines Ellbogens aufhielt und darauf wartete, sich nützlich machen zu können.
«Nein, danke. Hat Ruby irgendwann mal erwähnt, daß sie in einem Londoner Friseurladen gearbeitet hat?»
«Ruby? Daß ich nicht lache. Sie hätte so was nie gemacht. Sie hatte andere Jobs, stand Modell – für Fotos, Sie wissen schon.»
Jury dachte an Sheila Hogg und ihre angebliche Karriere als Modell in Soho. Er fragte sich, was es wohl damit auf sich habe. In diese Überlegungen drang das entfernte Summen des Telefons; im nächsten Augenblick holte ihn auch schon Twig.
«Jury am Apparat.»
«Ich bin auf dem Polizeirevier in Long Pidd, Sir.» Wiggins benutzte bereits die Kurzform für das Dorf. Das durchdringende Pfeifen von Plucks Teekessel bildete die Geräuschkulisse. «Kein Tagebuch in Rubys Zimmer, weder bei ihren Eltern noch bei dem Pfarrer.» Wiggins unterbrach sich, um sich bei Pluck für seine Tasse Tee zu bedanken. «Diese Mrs. Gaunt – so heißt sie doch, der alte Drachen? – sagt, sie hat Ruby häufig in ein Buch schreiben sehen. Sie meint, es sei ziemlich klein und dunkelrot eingebunden gewesen. Als ich sie fragte, ob sie auch mal reingeschaut habe, war sie gleich eingeschnappt. Und wie! Sagte, sie kann sich nicht mehr erinnern, wann sie Ruby das letzte Mal dabei erwischt hat.»
«Gut. Folgendes würde ich gern noch wissen. Erstens: William Bicester-Strachan. Er war im Verteidigungsministerium – Sie rufen also das C1 an und versuchen herauszufinden, was es mit dieser Untersuchung auf sich hatte, die damals, als er noch in London lebte, angeordnet wurde. Zweitens: Die tödlichen Unfälle, die ungefähr vor 22 Jahren in Schottland, genauer gesagt in Sutherland, passiert sind, sollen nachgeprüft werden. Es dreht sich um einen gewissen James Rivington. Mich interessiert vor allem, wann sich der Unfall ereignete.»
«Geht in Ordnung, Sir. Fröhliche Weihnachten, Sir.» Wiggins legte auf. Jury fühlte sich etwas beschämt. Er hatte Wiggins eigentlich immer unterschätzt, obwohl er sich sehr tapfer hielt. Würde sein armer Leichnam einmal ein Notizbuch und ein Taschentuch umklammern? Jahrelang hatte Jury versucht, ihn mit seinem Vornamen anzureden, aber irgendwie kam er nie über «Al» hinaus. Jedenfalls war Wiggins mit seinem Füllfederhalter und seinen Hustenbonbons immer zur Stelle. Wahrscheinlich freute er sich schon auf das Weihnachtsessen bei Wachtmeister Pluck und Familie. Jury zumindest freute sich auf das Essen bei Melrose Plant. Und Familie. Doch zuerst mußte er noch den Darringtons und Marshall Trueblood einen Besuch abstatten.
«Diese Kleine, Ruby Judd – hatte überall ihre Finger drin. Kein Wunder, daß der Pfarrer sie mochte, sie konnte jeden unter den Tisch reden. Ich wette, sie haben bestimmt ein paar nette Plauderstündchen zusammen verbracht.» Von Sheila Hoggs drittem Gin war nicht mehr viel übrig.
«Wo sind Sie ihr begegnet, Sheila?» fragte Jury.
«In den Läden. Sie hielt sich immer in meiner Nähe auf, wahrscheinlich, weil sie hoffte, ich würde sie mal einladen und ihr den großen Schriftsteller zeigen.» Sie saß neben Jury und wippte mit dem seidig schimmernden Bein und dem Samtpantöffelchen in der Farbe ihres langen Rocks. Sie blickte jedoch Oliver an – ein trostloser Blick trotz ihres Sarkasmus, fand Jury.
«Und hat sie es geschafft?» fragte Jury. «Ich meine, wurde sie eingeladen?»
«O ja. Ein paarmal half sie mir, Pakete nach Hause zu tragen. Sie sah sich alles gründlich an und stieß dabei hundert Ahs und Ohs aus; sie steckte den Kopf durch die Türen und so weiter. Neugieriges Kleines – aber lassen wir das, sie ist tot.»
«Und Sie, Mr. Darrington, haben Sie etwas mit Ruby Judd zu tun gehabt?»
Die Pause war eine Sekunde zu lang. «Nein.»
«Bist du dir ganz sicher, Liebling?» fragte Sheila. «Warum wurde sie plötzlich so aufdringlich? Hast du sie nicht doch ab und zu ein bißchen betätschelt?»
«Mein Gott, Sheila, du bist so ordinär!»
«Mr. Darrington, es ist für uns sehr wichtig, soviel wie möglich über Ruby Judd zu erfahren. Wissen Sie irgend etwas, was uns weiterhelfen könnte? Hat sie zum Beispiel gewisse Dinge über jemanden aus Long Piddleton gesagt, die für diese Person kompromittierend gewesen sein könnten?»
«Verdammt noch mal, ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.» Er schob sein beinahe leeres Glas zu Sheila hinüber. «Gib mir noch einen Drink.»
«Wo waren Sie beide Dienstagabend vor einer Woche? An dem Abend vor dem Essen in der Pandorabüchse?»
Oliver senkte die Hand, die das Glas hielt, und blickte Jury mit glasigen Augen an – entweder hatte er zuviel getrunken, oder er hatte Angst. «Für Sie ist inzwischen wohl klar, daß ich Ruby Judd umgebracht habe?»
«Ich muß über alle Erkundigungen einziehen, die an dem Abend, als Small ermordet wurde, in dem Gasthof waren. Denn offensichtlich besteht da ein Zusammenhang.»
Sheilas Fuß kam zu einem abrupten Halt. «Wollen Sie damit sagen, daß es einer von uns gewesen sein muß? Einer von den Leuten, die an diesem Abend in der Pandorabüchse gegessen haben?»
«Das ist durchaus möglich.» Jury blickte von Sheila zu Oliver. «Und wo waren Sie?»
«Wir waren zusammen.» Oliver leerte sein Glas. «Hier in diesem Zimmer.»
Jury wandte sich wieder Sheila zu, die einfach nur nickte, die Augen auf Oliver geheftet.
«Sind Sie sich da ganz sicher?» fragte Jury. «Die meisten müssen nämlich erst lange überlegen, wenn man sie fragt, was sie vor zwei Tagen getan haben. Und das ist schon über eine Woche her.»
Oliver erwiderte nichts darauf, aber Sheila blickte Jury mit einem etwas zu strahlenden Lächeln an, ein Lächeln, das die wilde Entschlossenheit in ihrer Stimme Lügen strafte: «Glauben Sie mir, mein Lieber – ich weiß, wann Oliver zu Hause ist.» Das Lächeln verschwand, als sie Darrington anblickte. «Und wann nicht.»
Da Truebloods Laden über Weihnachten geschlossen war, ging Jury zu seinem Haus am Dorfplatz hinüber. Ein reizvolles Haus. Der Dachstuhl bestand aus Krummstreben, und auf der ihm zugewandten Seite waren zwei weit auseinander liegende Fenster mit Butzenscheiben.
Trueblood war gerade dabei, seiner Toilette (anders ließ es sich wohl kaum bezeichnen) den letzten Schliff zu geben, bevor er sich zum Dinner bei den Bicester-Strachans begab.
«Wollen Sie nicht mitkommen, alter Freund? Da hätten Sie uns alle auf einem Haufen. Die Crème de la crème von Long Pidd. Alle außer Melrose Plant. Ihn würden keine zehn Pferde auf Lorraines Parties bringen.» Er band seine graue Seidenkrawatte.
«Ich bin bei Mr. Plant eingeladen.» Jury schaute sich nach einer Sitzgelegenheit um, aber alles sah so kostbar und so zerbrechlich aus, daß er Angst hatte, es würde unter ihm zusammenbrechen. Schließlich ließ er sich auf einem pflaumenblauen kleinen Sofa nieder. «Anscheinend hat sich Mrs. Bicester-Strachan einmal für Melrose Plant interessiert?»
«Interessiert? An einem Abend in der Pandorabüchse hat sie ihn beinahe aufs Kreuz gelegt, Herzchen.» Trueblood ließ die Krawatte in die Weste gleiten, zog sein tadellos geschnittenes Jackett zurecht und holte eine Kristallkaraffe, zwei wie Tulpenkelche geformte Sherry-Gläser und eine Schale mit Walnüssen, die er Jury hinstellte.
«Ich nehme an, Sie wissen, was mit Ruby Judd passiert ist?»
«O Gott, ja. Die Kleine, die sich aus dem Staub machen wollte. Ein Jammer!»
«Aus dem Staub machen wollte sie sich wohl nicht. Ich glaube, sie wurde vielmehr in eine Falle gelockt. Wahrscheinlich hat ihr der Mörder vorgeschlagen, sie solle ihre Tasche packen, damit ihre Abwesenheit nicht gleich auffalle. Sonst hätten sich ja alle möglichen Fragen gestellt.»
«Fragen, wie sie sich jetzt stellen, wenn ich Sie recht verstehe?» Trueblood zündete sich eine kleine Zigarre an. «Und Sie möchten wissen, wo ich mich an dem betreffenden Abend aufgehalten habe. Welcher Abend das auch immer gewesen ist, wie ich in aller Unschuld hinzufügen möchte.»
«Ja. Aber das ist nur eine Frage. Die andere lautet, welche Beziehung hatten Sie zu Ruby Judd?»
Trueblood war schockiert. «Beziehung? Das soll wohl ein Witz sein?» Er schlug seine maßgeschneiderten Hosenbeine übereinander und klopfte etwas Asche auf einen Porzellanteller. «Wenn die Knaben vom Scotland Yard mich mit einem Ring im Ohr auf einer Seitenstraße in Chelsea anträfen, könnte ich mir wahrscheinlich nicht einmal mehr den Schaumgummi rausnehmen, so schnell hätten sie mich in die Wanne verfrachtet.»
Jury verschluckte sich. «Nun übertreiben Sie mal nicht, Mr. Trueblood.»
«Nennen Sie mich doch Marsha. Wie alle andern.»
Jury hatte keine Zeit für Truebloods Geplänkel. «Haben Sie mit Ruby Judd geschlafen, ja oder nein?»
«Ja.»
Jury, der auf weitere Wortgefechte mit Trueblood gefaßt gewesen war, saß mit offenem Mund da. Seine direkte Antwort brachte ihn aus dem Konzept.
«Aber nur einmal bitte. Sie war zwar ein dralles kleines Ding, aber einfach tödlich langweilig. Ohne Sinn und Verstand. Aber ich möchte doch sehr um Diskretion bitten, Herzchen.» Jury konnte sich vorstellen, daß Trueblood auch bei Frauen Erfolg haben könnte, wenn er sein Benehmen etwas ändern würde. «Es würde meinen Ruf völlig ruinieren. Ich könnte meinen Laden zumachen. Und dann ist da auch noch dieser Freund in London, wenn der erfährt, daß ich ihm untreu geworden bin, bricht ihm das Herz. Ruby war eine dumme kleine Gans. Aber was kann man in einem gottverlassenen Kaff wie diesem schon anderes tun, als dem Hickhack zweier alter Krähen wie Miss Crisp und Agatha zuzuhören. Ich nehme an, sie wird auch dies Mal wieder Melrose das Fest verderben. Ach, kommen Sie doch mit zu Lorraine, Sie würden sich sehr viel besser amüsieren. Dort sind viel mehr Leute, die Sie verdächtigen könnten …»
«Ich versuche herauszufinden, über wen Ruby so viel wußte, daß es ihr das Leben kostete.»
Trueblood blickte ihn verständnislos an. «Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht folgen.»
«Ich glaube, sie hat versucht, jemanden zu erpressen.»
«Mich etwa? Das sieht den Bullen ähnlich, kutschieren in ihren Pandas herum, immer auf der Jagd nach Schwulen, die haben wieder mal an allem Schuld –»
«Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß Sie es waren, aber ich muß Sie vielleicht doch mit aufs Revier nehmen, damit Sie mir meine Fragen beantworten.»
Trueblood senkte seine Stimme, bis sie etwas normaler klang. «Schon gut, ich werde versuchen, mich an etwas zu erinnern, was Ihnen weiterhelfen könnte. Sie gab nur nicht viel Interessantes von sich. Geschichten aus ihrem Leben, so was.»
«Dann erzählen Sie mir das.»
«Ich hab nur mit ihr geschlafen, Inspektor, nicht Material für ihre Biographie gesammelt. Meistens hörte ich nur mit halbem Ohr zu.»
Jury wünschte, irgend jemand hätte zugehört.
«Sie hat mal gesagt, daß ihre Mutter eine bigotte, alte Spießerin ist und daß ihr Vater eine Trockenkur macht, aber immer wieder abspringt. Und Schwesterherz hockt anscheinend den ganzen Abend vor der Glotze und schaut sich amerikanische Krimis an.» Er war nicht imstande, seinen Satz zu beendTrueblood nahm einen Schluck Sherry und zündete sich wieder eine seiner kleinen Zigarren an. «Dann gab es noch diese Tante und diesen Onkel in Devon, bei ihnen hat sie den größten Teil ihrer Kindheit verbracht; ein vernachlässigtes, ungehobeltes Kind. Später hatte sie dann alle möglichen Jobs, mal hier, mal da …»
«Zum Beispiel als ‹Modell›, für Pornofotos.»
«Wer, Ruby? Kann ich mir kaum vorstellen. Vielleicht hat sie sich ab und zu einen Kunden von der Straße aufgegabelt. Als Pornomodell hätte sie bestimmt wenig getaugt.»
«Wo waren Sie letzten Dienstagabend, am 15. Dezember?»
«Zu Hause, mutterseelenallein. Und wo waren Sie?»
«Noch etwas Gans, Sir?»
Ruthven stand bei Jurys Ellbogen und hielt ihm eine riesige Silberplatte hin, auf der die mit Kirschen und Trüffeln garnierten Reste von zwei Bratvögeln lagen. Jury schien ihn jedoch kaum wahrzunehmen; sein Blick galt Vivian Rivington, die ihm direkt gegenübersaß. Ihr bernsteinfarbenes Haar lockte sich über einem Kaschmirpullover, und sie sah aus, als wäre sie den Nebeln von Dartmore oder den geheimnisvollen Mooren Yorkshires entstiegen. Die Gans hätte sich erheben und über den Tisch watscheln können, ohne daß es Jury aufgefallen wäre. Ihre Schwester Isabel hatte den Bicester-Strachans den Vorzug gegeben.
Lady Ardry ergriff das Wort. «Sie haben wohl keinen sehr großen Hunger, Inspektor? Sie müßten sich vielleicht etwas mehr bewegen, um Appetit zu kriegen. So wie ich.»
«Was du nicht sagst, Tante. Was hast du denn so getan?»
«Ich habe meine eigenen Nachforschungen angestellt, mein lieber Plant. Wir wollen doch nicht jeden Tag einen neuen Mord!»
Sie häufte sich ein paar Löffel Maronenfüllung auf ein halbes Brötchen und stopfte sich den kohlehydratreichen Bissen in den Mund.
«Oh, ich weiß nicht», sagte Plant. «Vielleicht noch einen. Nein, danke, Ruthven.»
«Ich nehme noch etwas», sagte Agatha. «Apropos Nachforschungen – wie steht’s denn mit Ihrem Alibi, Vivian?»
Jury warf Agatha einen feindseligen Blick zu. Offensichtlich hatte sie ihm noch nicht verziehen, daß er Melrose Plant mit einem Alibi versehen hatte.
«Ich muß gestehen», meinte Vivian, «daß mein Alibi auf sehr wackligen Füßen steht. Nur das von Simon ist vielleicht noch wackliger. Wir saßen im Schwanen, als der Mann ermordet wurde.» Der Blick, den sie Jury zuwarf, war so unglücklich, daß er die Augen abwandte und auf sein Weinglas starrte.
«Wir sitzen alle im selben Boot, meine Liebe», meinte Agatha zuckersüß. «Abgesehen von Melrose natürlich. Der einzige in Long Pidd mit einem einwandfreien Alibi.» Man hätte glauben können, Melrose drucke in einem Hinterzimmer Alibis und weigere sich, welche davon abzugeben, so ingrimmig klang diese Bemerkung. Sie kämpfte gerade mit einem Gänseschlegel, den sie sich von der Platte gespießt hatte. Es sah aus, als wäre sie mit dem Vogel in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. «Sie brauchen gar nicht so zu grinsen, Inspektor, Plant ist auch nicht über jeden Zweifel erhaben. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie nur von halb zwölf bis ungefähr zwölf mit ihm zusammen waren, dann kam ich wieder zurück.»
«Aber davor hatten Sie ihm ja schon drei Stunden Gesellschaft geleistet, Lady Ardry.» Was zum Teufel hatte sie jetzt schon wieder ausgeheckt?
«Das klingt ja so, als würde es Ihnen leid tun, daß Melrose ein Alibi hat», sagte Vivian.
«Werfen wir doch eine Münze, Tante Agatha, vielleicht gewinnst du», sagte Melrose und zog ein Geldstück aus der Tasche.
«Sei nicht so leichtfertig, Melrose», sagte sie zu ihrem Neffen, und dann zu Vivian: «Natürlich würde ich mich freuen, wenn Plants Unschuld erwiesen wäre. Die Wahrheit kommt aber doch immer an den Tag –»
«Wahrheit? Welche Wahrheit denn?» fragte Jury.
Sorgsam legte sie Messer und Gabel ab – die erste Pause, die sie nach einer halben Stunde einlegte. Sie bettete ihr Kinn auf die verschränkten Hände, stützte die Ellbogen auf den Tisch auf und sagte: «Ich will damit nur sagen, daß ich nicht jede Minute mit dir zusammen war. Erinnerst du dich nicht, mein lieber Plant? Einmal ging ich in die Küche, um nach dem Weihnachtspudding zu schauen. Martha geht manchmal etwas zu sparsam mit der Muskatnuß um.»
Ruthven erinnerte sich noch genau, auch wenn Melrose es vielleicht vergessen hatte. Ohne einen Tropfen von dem Wein zu verschütten, den er gerade einschenkte, schloß er gequält die Augen.
«Ich dachte, du seist nur auf die Toilette gegangen.» Melrose seufzte und bat Ruthven, die Teller abzuräumen. «Lange kann das aber nicht gedauert haben.» Sein Ton besagte, daß die Atempausen, die Agatha einem gönnte, nur von kurzer Dauer waren.
Sehnsüchtig beobachtete Jury, wie Vivian ihre Hand auf Melroses Hand legte, die an dem Stiel seines Weinglases drehte. «Agatha! Sie sollten sich schämen!»
«Wir müssen alle unsere Pflicht tun, mein liebes Kind, auch wenn es uns manchmal schwerfällt. Wir können nicht einfach unsere Lieben beschützen, nur weil wir sie gern unschuldig sähen. Die Tugend, die England groß gemacht hat –»
«Lassen wir die Tugend Englands mal aus dem Spiel, Agatha», sagte Melrose. «Erzähl uns lieber, wie ich es bewerkstelligt habe, in der kurzen Zeit, in der du Martha zur Verzweiflung getrieben hast, zum Schwanen zu eilen, Creed um die Ecke zu bringen und mich dann wieder hierher zurückzuschleichen?»
Gelassen bestrich sie eine Toastscheibe. «Mein lieber Plant, du erwartest doch wohl nicht, daß ich dir auch noch deine Strategien liefere.»
Jury blinzelte. Er hatte zwar einige Bücher über formale Logik gelesen, aber Lady Ardry schlug sie alle.
«Da wir schon am Spekulieren sind», fuhr sie fort, «du hättest dich ja nur in deinen Bentley setzen müssen, Gas geben –»
Jury konnte sich nicht mehr zurückhalten. «Aber Lady Ardry, Sie erinnern sich doch bestimmt noch, daß der Motor völlig kalt war. Er brauchte fünf Minuten, um anzuspringen.» Vivian schenkte Jury ein herzerwärmendes Lächeln.
Als Agatha ein langes Gesicht machte, meinte Melrose: «Gib nicht auf, Agatha. Wie wär’s mit meinem Fahrrad? Nein, zu langsam.» Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. Dann schnalzte er mit den Fingern. «Mein Pferd! Das ist es! Ich hätte ja folgendes tun können – den alten Bouncer satteln, über die Wiese zum Schwanen galoppieren, Creed umbringen und schwuppdich! Wie ein Kaninchen zurückhoppeln!»
Vivian sagte: «Ja, schwuppdich! Wie ein Kaninchen – so hätte es wohl ausgesehen, bei deinem Pferd.»
Melrose schüttelte den Kopf. «Zu dumm, Agatha. Es haut nicht hin. Mein Alibi ist einfach hieb- und stichfest.»
Während Agatha sich zähneknirschend geschlagen gab, brachte Ruthven den Nachtisch – einen prächtigen Weihnachtspudding. Er hielt ein Streichholz an die mit Brandy übergossene Oberfläche. Und als er ihn serviert hatte, goß er den Gästen noch Madeira in das dritte Glas.
Melrose sah Agatha mißvergnügt am Tisch sitzen, wahrscheinlich damit beschäftigt, einen neuen Angriff vorzubereiten, und er sagte zu Ruthven: «Sehen Sie das Päckchen auf dem Kaminsims? Könnten Sie das bitte Ihrer Ladyschaft überreichen?»
Agathas Miene hellte sich auf, als sie das Geschenk in Empfang nahm und öffnete.
Vivian schnappte nach Luft; Agatha zog ein mit Smaragden und Rubinen besetztes Armband aus der kleinen Schachtel. Sie glänzten und glitzerten und verwandelten sich beinahe selbst in kleine Flammen, als das Kerzenlicht auf sie fiel. Agatha bedankte sich überschwenglich bei Melrose, ohne ihrer Attacken wegen die geringste Spur von schlechtem Gewissen zu zeigen. Dann ließ sie Vivian das Armband bewundern, die es an Jury weiterreichte.
Als er das letzte Mal echte Juwelen in der Hand gehabt hatte, war Jury noch ganz jung und für Einbrüche zuständig gewesen. Er verstand nun, warum man Rubine als «blutrot» bezeichnete. Und plötzlich driftete auch jenes Detail, das immer noch gefehlt hatte, in sein Bewußtsein. Rubine. Ruby. Ein Armband. Das Bild eines Handgelenks, das aus dem Boden ragte. Sie hat es immer getragen, Sir – ich hab sie nie ohne es gesehen, hörte er Daphne sagen.
Wo war es dann? Seine Augen hingen immer noch an den Steinen, als er Agatha das Armband zurückgab, und der Gedanke an Rubys nacktes Handgelenk beherrschte ihn so ausschließlich, daß Agathas Kommentar kaum in sein Bewußtsein drang: «Sehr hübsch, Melrose, für eine Imitation.»