12

Sie besaß den Anstand, zu erröten. Trotz ihres dunkelbraunen Haars hatte sie einen hellen Teint, und die Farbe schoß ihr in die Wangen wie eine Hitzewallung. Sie senkte den Blick auf die vor ihr liegende Arbeit, schlagartig viel geschäftiger als zuvor. Ich wußte genau, daß sie hin und her überlegte, wie sie das Thema wechseln konnte. Sie beugte sich über ihre Arbeit. Vermutlich war es wichtig, die Farbkleckse genau richtig hinzubekommen.

»Trinny?«

»Was?«

»Wieso haben Sie das Video gesehen? Und fragen Sie jetzt bitte nicht »welches Video?«, denn Sie wissen ganz genau, von welchem ich spreche.«

»Ich habe das Video nicht gesehen.«

»Ach, hören Sie doch auf. Wenn Sie es nicht gesehen haben, woher wollen Sie dann wissen, daß mehr als ein Mann darin vorkam?«

»Ich weiß nicht einmal, wovon Sie reden«, sagte sie mit gespielter Empörung.

»Ich spreche von dem Pornofilm, in dem Lorna aufgetreten ist. Erinnern Sie sich? Ihre Mutter hat Ihnen davon erzählt.«

»Vielleicht hat Mom uns das auch erzählt. Das mit dem zweiten Typ, daß es nicht nur einer war.«

»Ä-hä«, sagte ich in meinem skeptischsten Tonfall. »Was ist denn passiert, hat Lorna Ihnen ein Exemplar davon gegeben?«

»Neiiin«, sagte sie und verlieh, von der Unterstellung beleidigt, dem Wort zwei langgezogene Silben, erst hoch, dann tief.

»Woher wußten Sie dann, daß mehr als ein Mann vorkam?«

»Ich habe es geraten. Was stört Sie das?«

Ich starrte sie an. Die nächstliegende Schlußfolgerung kam mir in den Sinn. »Haben Sie es verpackt und in den Briefkasten geworfen?«

»Nein. Und außerdem muß ich Ihnen keine Antwort geben.« Diesmal war ihr Tonfall störrisch, aber die Röte stieg ihr erneut ins Gesicht. Das war noch besser als ein Lügendetektor.

»Wer dann?«

»Ich weiß rein gar nichts über irgend etwas, also können Sie genausogut das Thema wechseln. Wir sind hier nicht vor Gericht, wissen Sie. Ich stehe nicht unter Eid.«

Eine verhinderte Anwältin. Einen Moment dachte ich, sie würde sich die Finger in die Ohren stecken und zu summen anfangen, nur um mich auszusperren. Ich legte den Kopf schief und versuchte, ihren Blick aufzufangen. »Trinny«, säuselte ich. Sie war vollständig in das vor ihr liegende T-Shirt vertieft und malte mit Plusterfarbe eine Spirale in schreiendem Orange hinzu. Ich sagte: »Kommen Sie. Mir ist ganz egal, was Sie getan haben, und ich werde es Ihren Eltern mit keinem Wort verraten. Ich habe mich schon gefragt, wer ihnen das Band geschickt hat, und jetzt weiß ich es. In gewisser Weise haben Sie uns allen einen Gefallen getan. Wenn Ihre Mutter sich nicht darüber aufgeregt hätte, wäre sie nicht zu mir gekommen, und die ganzen Ermittlungen wären zum Stillstand gekommen.« Ich wartete und legte ihr dann direkt etwas in den Mund. »War es Berlyns Idee oder Ihre?«

»Das muß ich nicht beantworten.«

»Wie wär’s mit einem Nicken, wenn ich richtig geraten habe?«

Trinny malte ein paar limonengrüne Sterne auf das T-Shirt. Es wurde von Minute zu Minute ekelhafter, aber ich hatte das Gefühl, daß wir weiterkamen.

»Ich wette, es war Berlyn.«

Schweigen.

»Hab’ ich recht?«

Trinny zog eine Schulter hoch, ohne Blickkontakt aufzunehmen.

»Ah. Ich nehme an, diese kleine Geste heißt >ja<. Berlyn hat also das Video geschickt. Jetzt bleibt nur noch die Frage, woher sie es hatte.«

Weiteres Schweigen.

»Kommen Sie, Trinny. Bitte, bitte, bitte.« Diese Verhörmethode habe ich in der Grundschule gelernt, und sie ist besonders wirkungsvoll, wenn das Thema ein verschworenes Geheimnis nur unter uns Mädels ist. Ich spürte förmlich, wie sie weich wurde. Egal wie geheim etwas ist, meistens brennen wir doch darauf, es zu verraten, vor allem wenn das Geständnis die Verurteilung eines Dritten mit sich bringt.

Ihre Zunge fuhr über ihre Zähne, als tastete sie sie nach Flaum ab. Schließlich sagte sie: »Schwören Sie, daß Sie es nicht weitersagen?«

Ich hielt die Hand hoch, als leistete ich einen Eid. »Ich werde keiner Menschenseele auch nur ein Wort verraten. Ich werde nicht einmal erwähnen, daß Sie es erwähnt haben.«

»Wir hatten einfach die Nase voll davon, uns anzuhören, wie wunderbar sie war. Weil sie nämlich gar nicht so toll war. Sie war hübsch und hatte eine Superfigur, aber als ob das so umwerfend wäre, verstehen Sie?«

»Klar«, sagte ich.

»Außerdem hat sie Geld für Sex genommen. Ich meine, Berlyn und ich hätten das nie getan. Also weshalb wurde Lorna in den Himmel gehoben? Sie war nicht makellos. Sie war nicht einmal gut

»So ist die menschliche Natur, schätze ich. Ihre Mutter kann Lorna nicht mehr in ihrem Leben haben, aber sie bewahrt sich ein perfektes Bild in ihrem Herzen«, sagte ich. »Es ist schwer, das abzulegen, wenn es das einzige ist, was man besitzt.«

Ihre Stimme wurde schriller. »Aber Lorna war ein Miststück. Sie dachte einzig und allein an sich selbst. Sie hat Mom und Dad praktisch ignoriert. Ich bin diejenige, die ihnen hilft, warum auch immer. Ich bin so nett, wie ich nur kann, aber es spielt einfach keine Rolle. Lorna ist diejenige, die Mom liebt. Berlyn und ich sind nichts als Schrott.« Die Gefühle ließen ihre Haut chamäleonartig die Farbe wechseln. Tränen wallten auf wie Blasen in Wasser, das plötzlich zu kochen beginnt. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht, das zuckte, als sie zu schluchzen begann.

Ich berührte ihre Hand. »Trinny, das stimmt einfach nicht. Ihre Mutter liebt Sie sehr. An dem Abend, als sie in mein Büro gekommen ist, hat sie über Berlyn und Sie gesprochen, über den ganzen Spaß, den Sie zusammen haben und welche Hilfe Sie im Haushalt sind. Sie bedeuten ihr viel. Ehrlich.«

Mittlerweile weinte sie, und ihre Stimme klang hoch und gequält. »Warum sagt sie es uns dann nicht? Nie sagt sie ein Wort.«

»Vielleicht traut sie sich nicht. Oder vielleicht weiß sie nicht mehr wie, aber das heißt nicht, daß sie Sie nicht über alles liebt.«

»Ich halte es nicht aus. Ich halt’s einfach nicht aus.« Sie schluchzte wie ein Kind und ließ ihrem Kummer freien Lauf. Ich blieb sitzen und ließ sie die Sache allein ausleben. Schließlich versiegten die Tränen, und sie seufzte schwer. Sie wühlte in der Tasche ihrer abgeschnittenen Jeans und zog ein ramponiertes Taschentuch hervor, das sie sich gegen die Augen preßte. »O Gott«, sagte sie. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und schneuzte sich. Dann sah sie nach unten und merkte, daß sich an ihrem Unterarm die nasse Farbe abgedrückt hatte. »Ach, Mist. Sehen Sie sich das an«, sagte sie. Sprudelndes Lachen stieg in ihr auf, wie ein versehentlich entwichener Rülpser.

»Was ist denn hier los?« Berlyn stand in der Tür und sah argwöhnisch drein.

Wir fuhren beide zusammen, und Trinny schnappte nach Luft. »Berl! Du hast mich fast zu Tode erschreckt«, rief sie. »Wo kommst du denn her?« Sie wischte sich hastig die Augen und versuchte die Tatsache zu vertuschen, daß sie geweint hatte.

Berlyn hielt eine Plastiktüte mit Lebensmitteln in der einen Hand und ihren Schlüsselbund in der anderen. Sie sah Trinny durchdringend an. »Tut mir leid, wenn ich hier hereinplatze. Ich wußte nicht, daß ich störe. Ich habe unübersehbar in der Einfahrt geparkt.« Ihr Blick fiel auf mich.»Was ist denn mit Ihnen los?«

»Nichts«, sagte ich. »Wir haben über Lorna gesprochen, und Trinny hat die Fassung verloren.«

»Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich habe schon genug über sie gehört. Daddy hat wirklich recht. Lassen wir das Thema doch endlich fallen und reden von etwas anderem. Wo ist Mom? Ist sie schon aufgestanden?«

»Ich glaube, sie steht unter der Dusche«, sagte Trinny.

Verspätet fiel mir auf, daß irgendwo Wasser lief.

Berlyn ließ ihre Handtasche auf einen Stuhl fallen und ging zur Anrichte hinüber, wo sie die Lebensmittel auszupacken begann.* Wie Trinny trug auch sie abgeschnittene Jeans, ein T-Shirt und Gummilatschen, die Berufskleidung der Assistentin des vielbeschäftigten Installateurs. Man konnte die dunklen Wurzeln an ihrem blonden Haar sehen. Trotz des Altersunterschieds von vier Jahren sah sie so aus, wie Lorna im mittleren Alter ausgesehen hätte. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, jung zu sterben — die vollkommene Schönheit konserviert im Bernstein der Zeit.

Berlyn wandte sich an Trinny. »Könntest du mir vielleicht helfen?« fragte sie beleidigt. »Wie lange ist sie denn schon da?«

Trinny warf mir einen flehentlichen Blick zu und ging hinüber, um ihrer Schwester zur Hand zu gehen.

»Zehn Minuten«, warf ich ein, obwohl ich gar nicht gefragt worden war. »Ich wollte nur die Sachen abholen, die Ihre Mutter für mich bereitgestellt hat. Trinny hat mir gezeigt, wie man T-Shirts macht, und dann sind wir über Lornas Tod ins Gespräch gekommen.« Ich griff nach der Schachtel, in der Absicht, das Haus zu verlassen, bevor Janice auftauchte.

Berlyn musterte mich interessiert. »Das haben Sie schon gesagt.«

»Ah. Na ja. So nett es hier auch ist, ich muß mich auf die Socken machen.« Ich erhob mich, schlang mir den Riemen meiner Umhängetasche über die Schulter und nahm die Schachtel. »Danke für die Malstunde«, sagte ich zu Trinny. »Das mit Lorna tut mir leid. Ich weiß, daß Sie sie gern hatten.«

Ihr Lächeln wirkte gequält. Sie sagte »Bye« und winkte mir halbherzig zu. Berlyn ging ohne auch nur den Blick zu wenden ins Fernsehzimmer und schloß die Tür mit einem energischen Klicken hinter sich. Ich streckte ihr die Zunge heraus und schielte, was Trinny zum Lachen brachte. Mit lautlosen Lippenbewegungen warf ich ihr ein »Dankeschön« zu und verabschiedete mich.

Es war schon fast halb sechs, als ich die Tür zu meinem Büro aufschloß und die Schachtel mit Lornas Akten auf meinen Schreibtisch stellte. Alle anderen aus der Firma waren bereits nach Hause gegangen. Sogar Lonnie, der meist Überstunden macht, hatte sich bereits getrollt. Meine ganzen Steuerformulare und Rechnungen lagen noch genau da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Ich war enttäuscht darüber, daß keine Feen und Elfen gekommen waren und mir die Arbeit abgenommen hatten. Ich packte alle Zettel zusammen und stopfte sie in eine Schublade, um Raum zu schaffen. Ich bezweifelte, daß sich in Lornas Akten irgendwelche Informationen finden würden, aber ich mußte sie trotzdem durchsehen. Ich machte Kaffee und setzte mich. Dann nahm ich den Deckel der Schachtel ab und begann, mich durch die Aktenordner zu arbeiten. Es hatte den Anschein, als hätte jemand Lornas Papiere aus einer Schreibtischschublade genommen und sie direkt in die Schachtel gelegt. Jeder Ordner war säuberlich beschriftet. Vorne waren Kopien verschiedener Nachlaßformulare hineingeschoben worden, die Janice vermutlich vom Anwalt bekommen hatte. Es sah ganz danach aus, als sei sie es gewesen, die mittels handschriftlicher Anmerkungen alles schon im voraus aussortiert und zusammengesucht hatte. Ich studierte jedes einzelne Blatt und versuchte, mir ein Bild von Lorna Keplers finanzieller Situation zu machen.

Ein Steuerberater wäre mit diesem Zeug sicher schnell fertig geworden. Ich dagegen hatte in der High-School immer nur gerade noch »befriedigend« in Mathe bekommen und mußte nun die Stirn runzeln und am Bleistift kauen. Janice hatte eine Aufstellung von Lornas Vermögenswerten angefertigt, auf der das Bargeld, das sie zum Zeitpunkt ihres Todes besaß, nicht eingelöste, auf sie ausgestellte Schecks, Bankkonten, Aktien, Wertpapiere, Staatsanleihen und Investmentfonds aufgelistet waren. Lorna hatte weder eine Renten- noch eine Lebensversicherung gehabt. Allerdings verfügte sie über eine kleine Versicherungspolice für ihren Schmuck. Sie hatte zwar keinen Besitz im eigentlichen Sinne gehabt, doch ihre Geldanlagen beliefen sich auf knapp fünfhunderttausend Dollar. Nicht schlecht für eine Teilzeit-Bürokraft/Hure. Janice hatte eine Kopie von Lornas Testament beigelegt, das ziemlich eindeutig schien. Sie hatte ihre gesamten Wertsachen einschließlich Schmuck, Bargeld, Aktien, Wertpapiere und andere Geldwerte ihren Eltern hinterlassen. An das Testament angeheftet war eine Kopie des gültigen »Nachweises über ein eigenhändig verfaßtes Testament«, den Janice eingereicht hatte. Darin bezeugte sie, daß sie mit der Toten seit fünfundzwanzig Jahren vertraut war, ihre Handschrift persönlich kannte und »das Testament untersucht und festgestellt hatte, daß die Verstorbene sowohl die handschriftlich niedergelegten Bestimmungen selbst geschrieben als auch die Urkunde eigenhändig unterzeichnet hat«.

Danielle hatte gemutmaßt, daß Lorna kein Testament gehabt hatte, doch das Dokument schien zu Lornas systematischem Charakter zu passen. Sie hatte weder Berlyn noch Trinny Geld hinterlassen, aber das schien nicht außergewöhnlich. Zweitausend Dollar für jede hätten vielleicht Wunder gewirkt, was ihre Einstellung anging, aber womöglich wußte Lorna gar nicht, welche Feindseligkeit sie ihr gegenüber hegten. Oder vielleicht wußte sie es und empfand dasselbe ihnen gegenüber. Auf jeden Fall war der Nachlaß nicht kompliziert. Ich fand nicht, daß die Dienste eines Anwalts notwendig gewesen wären, aber vielleicht hatten sich die Keplers von dem ganzen offiziellen Papierkrieg einschüchtern lassen.

Ich überprüfte die letzten paar Jahre von Lornas Einkommensteuer. Die einzigen Einträge auf den Lohnsteuerkarten stammten von der Wasseraufbereitungsanlage. Unter »Beruf« hatte sie »Sekretärin« und »Beraterin für Psychohygiene« eingetragen. Darüber mußte ich schmunzeln. Sie hatte ihre Einkünfte peinlich genau angegeben und lediglich die üblichen Abzüge vorgenommen. Sie hatte nie auch nur einen Cent für wohltätige Zwecke gespendet, war aber (im großen und ganzen) dem Staat gegenüber ehrlich gewesen. Für den Kunden ließen sich die Dienste einer Prostituierten wohl durchaus unter Psychohygiene abbuchen. Was die Zahlungen selbst anging, so hatte sich offenbar im Finanzamt nie jemand gefragt, warum ihr der größte Teil ihrer »Beratungshonorare« in bar bezahlt wurde.

Janice hatte beim Postamt beantragt, daß Lornas Post an ihre Adresse weitergeleitet würde und einen Stapel noch ungeöffneter Kontoauszüge in die Schachtel geworfen: Fensterumschläge von verschiedenen Absendern, alle mit dem Aufdruck »wichtige Steuerinformationen« . Ich öffnete einige von ihnen, einfach um den Rechnungsabschluß mit meiner Liste zu vergleichen. Darunter war ein Auszug von einer Bank in Simi Valley, die in den letzten beiden Jahren immer wieder in ihren Steuererklärungen aufgetaucht war. Das Konto war aufgelöst worden, aber die Bank hatte ihr ein 1099-INT-Formular geschickt, auf dem die in den ersten vier Monaten des Jahres angefallenen Zinsen vermerkt waren. Das steckte ich zu den anderen Auszügen. Sämtliche Kreditkarten waren gekündigt und alle Gesellschaften verständigt worden. Ich ging einige der von Lorna angelegten Ordner durch: eingelöste Schecks, Stromrechnungen und mehrere Kreditkartenquittungen.

Ich breitete die Scheckabrechnungen vor mir aus wie eine Patience. Unter »Memo« hatte sie pflichtbewußt den Zweck der Zahlung eingetragen: Lebensmittel, Maniküre, Friseur, Bettwäsche, Verschiedenes. Ihre Sorgfalt hatte etwas Rührendes. Sie konnte nicht wissen, daß sie tot sein würde, wenn diese Quittungen zurückkamen. Sie wußte nicht, daß ihre letzte Mahlzeit die letzte war, daß jede Handlung, jedes Vorhaben, Teil eines begrenzten Reservoirs war, das bald erschöpft sein würde. Das schwerste an meinem Beruf ist, daß ich unaufhörlich an die Tatsache erinnert werde, die wir alle so beharrlich zu ignorieren versuchen: Wir sind nur vorübergehend hier... das Leben ist uns nur geliehen.

Ich legte meinen Stift zur Seite, schwang die Füße auf den Schreibtisch und lehnte mich in meinem Drehstuhl zurück. Der Raum kam mir dunkel vor, und so streckte ich den Arm aus und schaltete die Lampe ein, die hinter mir auf dem Bücherregal stand. Unter Lornas Eigentum war weder ein Adreßbuch noch ein Kalender, noch irgendein Terminplaner gewesen. Das hätte meine Neugier wecken können, aber ich fragte mich, ob es nicht eher für Lornas Vorsicht hinsichtlich ihrer Kunden sprach. Danielle hatte mir berichtet, daß sie sehr verschwiegen war, und ich dachte mir, daß diese Diskretion sich vielleicht auch auf schriftliche Notizen erstreckte. Ich nahm den braunen Umschlag mit den Fotos vom Tatort in die Hand und ging sie durch, bis ich die Einstellungen fand, die die Papiere auf ihrem Tisch und der Anrichte zeigten. Ich zog die Lampe näher heran, aber es war nicht zu erkennen, ob irgendwo ein Terminkalender lag. Ich sah auf die Uhr. Ich war hundemüde. Außerdem war ich angeödet und hungrig, merkte aber, wie sich meine Sinne mit der zunehmenden Dunkelheit schärften. Vielleicht wurde ich langsam zu einem Vampir oder Werwolf — vom Sonnenlicht vertrieben, vom Mond verführt.

Ich stand auf und warf mir die Jacke über. Lornas Papiere ließ ich auf dem Tisch liegen. Was störte mich? Ich musterte die Schreibtischplatte. Eine Tatsache... etwas Offensichtliches... war durch meine Hände gegangen. Das Problem mit der Müdigkeit besteht darin, daß das Gehirn nicht gerade auf Hochtouren arbeitet. Wie beiläufig blieb ich stehen, schob einen Stoß Papiere zur Seite und blätterte die Formulare durch. Ich sah das eigenhändig verfaßte Testament und Janices entsprechende Erklärung. Das war es wohl nicht. Theoretisch schien es unsinnig, daß Janice die Gültigkeit eines Testaments bezeugen konnte, von dem sie in erster Linie selbst profitierte. Andererseits lagen die Dinge aber so, daß das Ergebnis genau das gleiche gewesen wäre, wenn Lorna ohne Testament gestorben wäre.

Ich nahm die Kontoauszüge und wühlte sie ebenfalls noch einmal durch. Ich hielt inne, als ich zu dem Formular der Bank in Simi kam. Die Zinsen waren minimal, da sie das Konto im April aufgelöst hatte. Davor hatte der Kontostand ungefähr zwanzigtausend Dollar betragen. Ich sah nach dem Datum der Kontoauflösung. Das ganze Geld war am Freitag, dem 20. April, abgehoben worden. Am Tag vor ihrem Tod.

Ich holte die Akten heraus, die mir Lieutenant Dolan überlassen hatte. Die Aufstellung der gesamten persönlichen Habe nannte alle möglichen Gegenstände in Lornas Behausung, unter anderem ihre Handtasche mit der Brieftasche, in der sämtliche Kreditkarten und hundert Dollar in bar steckten. Nirgends eine Spur von zwanzigtausend Dollar. Ich nahm den Bankauszug mit in den Kopierraum, lichtete ihn ab und steckte ihn in meine Handtasche. Serena Bonney war die erste am Tatort gewesen. Ich suchte in meinen Unterlagen die Adresse ihres Vaters heraus, packte Lornas Papiere und die Fotos vom Tatort zusammen und trug die Schachtel die Treppen hinunter ins Auto.

*

Clark Esselmanns Adresse erwies sich als ein weitläufiges Anwesen von vielleicht zweieinhalb oder drei Hektar, umringt von einer niedrigen Sandsteinmauer, hinter der die Rasenflächen von der Dunkelheit verschluckt wurden. Außenscheinwerfer gossen Licht über die Fassade des Hauses, das dem französischen Landhausstil nachempfunden war und unter einem steilen Dach langgestreckt und niedrig dalag. Sprossenfenster bildeten auf der Fassade ein gelbes Netzwerk, während die hohen Natursteinkamine wie schwarze Türme in den anthrazitfarbenen Himmel ragten. Niedrigvoltlampen beleuchteten Büsche und Gehwege, so daß ich einen brauchbaren Eindruck davon bekam, wie es hier bei Tag aussehen mußte. Das Licht aus einem kleinen Gebäude hinter dem Haupthaus ließ vermuten, daß es noch ein Gästehaus oder vielleicht Personalwohnungen gab.

Am Haupteingang angekommen, sah ich die elektronisch gesteuerten Tore. Eine Tastatur mit Sprechanlage war auf Höhe der Fenster teurer Wagen angebracht. Natürlich brachte mich mein VW hier in Verlegenheit, und um klingeln zu können, mußte ich die Handbremse anziehen, die Autotür öffnen und auf die Gefahr hin, mir heftige Rückenkrämpfe einzuhandeln, meinen ganzen Körper verrenken. Ich drückte auf den Knopf und wünschte, ich könnte einen Big Mac und Pommes frites bestellen.

Eine körperlose Stimme meldete sich.»Ja?«

»Oh, hallo. Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich habe einen Schlüsselbund, der Serena Bonney gehört.«

Es kam keine Antwort. Was hatte ich denn erwartet — daß sie verblüfft nach Luft schnappte? Eine halbe Sekunde später schwangen die zwei Hälften des Tors lautlos nach innen. Ich bewegte meinen VW langsam die kreisförmige, von Wacholderbüschen gesäumte Einfahrt hinauf. Der Vorplatz war gepflastert, und von dort führte eine Fahrspur nach links und eine zweite hinters Haus. Ich konnte Garagen sehen, die wie Pferdeställe aneinandergereiht waren. Aus reiner Aufsässigkeit fuhr ich an der Vordertür vorbei und ums Haus herum bis zu einem hellerleuchteten, gekiesten Stellplatz. Die Vierergarage war mit dem Haupthaus durch einen langen, überdachten Gang verbunden, hinter dem ich einen schmalen Streifen Gras sehen konnte, unterbrochen von einem künstlich angelegten Teich, zwischen dessen Steinen Unterwasserscheinwerfer verborgen waren. Auf dem ganzen Anwesen hoben Lichter landschaftliche Besonderheiten hervor: ornamental zurechtgestutzte Büsche und Baumstämme, die aussahen wie mit Ölfarbe auf schwarzem Samt gemalt. Auf der klaren schwarzen Oberfläche des Teichs wuchsen Büschel von Seerosen, die die perfekte Spiegelung des Hauses brachen.

Nachtblütiger Jasmin verströmte seinen Duft. Ich ging zurück zur Vordertür und klingelte, wie es sich gehört. Kurz darauf machte mir Serena in Hosen und weißer Seidenbluse die Tür auf.

»Ich habe Ihnen Ihren Schlüsselbund gebracht«, sagte ich und hielt ihr die Schlüssel hin.

»Das sind meine? Ach ja, stimmt«, sagte sie. »Woher haben Sie die?«

»Lornas Mutter hat sie gefunden. Sie müssen sie Lorna gegeben haben, als sie Ihren Vater betreut hat.«

»Danke. Das hatte ich vergessen. Nett, daß Sie sie mir vorbeibringen.«

»Außerdem habe ich noch eine Frage, falls Sie einen Moment Zeit haben.«

»Sicher. Kommen Sie herein. Dad sitzt draußen auf der Terrasse. Er ist heute erst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Kennen Sie ihn eigentlich?«

»Ich glaube nicht, daß wir uns je begegnet sind«, sagte ich.

Ich folgte ihr durchs Haus in eine große, rustikale Küche. Eine Köchin war dabei, das Abendessen zuzubereiten, sah aber kaum von ihrem Küchenbrett auf, als wir den Raum durchquerten. Ein zwanglos gedeckter Eßtisch, groß genug für acht Personen, stand auf der anderen Seite des Raums in einem Erker mit Glastüren. Die Balkendecke erhob sich bis auf anderthalb Stockwerke. An hölzernen Haken hingen Körbe in allen Größen und getrocknete Kräuter. Der Fußboden bestand aus hellem, glänzendem Kiefernholz. Der Schnitt des Raums bot Platz für zwei separate Kochinseln, die etwa drei Meter voneinander entfernt standen. Eine von ihnen besaß eine Oberfläche aus dunklem Granit, in den Schneidflächen aus Hartholz und eine kleine Spüle eingelassen waren. In der anderen befanden sich eine große Spüle, zwei Spülmaschinen und eine Müllpresse. In einem offenen Kamin brannte ein loderndes Feuer.

Serena öffnete die Glastüren, und ich folgte ihr nach draußen. Eine großzügige, mit Platten ausgelegte Terrasse erstreckte sich über die gesamte Länge des Hauses. Die Außenbeleuchtung schuf ein künstliches Tageslicht. Ein schwarzgrundiges Schwimmbecken, etwa fünfundzwanzig mal sechs Meter groß, markierte den äußeren Rand der Terrasse. Das Wasser war klar, doch die schwarzen Fliesen schienen seine inneren Dimensionen auszulöschen. Unterwasserscheinwerfer beleuchteten ein wogendes, smaragdgrünes Gespinst, das das Becken unendlich tief erscheinen ließ. Dort hineinzutauchen käme einem Sprung ins Loch Ness gleich. Gott weiß, was für Kreaturen im Abgrund lauerten.

Clark Esselmann, mit Bademantel, Pantoffeln und einem Stock in der Hand, versuchte, einen schwarzen Labrador zum Sitzen zu bringen. »Okay, Max. So ist’s gut. So ist’s gut.«

Der Hund war erwachsen und an Hundejahren wahrscheinlich genauso alt wie der Mann. Max zitterte beinahe, völlig von dem Spielchen in Anspruch genommen. Als wir uns näherten, warf der Alte den Stock ins Schwimmbecken. Der Hund stürzte sich ins Wasser und schwamm auf den Stock zu, der nun am anderen Ende im Wasser auf und ab hüpfte. Ich erkannte Serenas Vater wegen der zahlreichen Fotos, die im Lauf der Jahre von ihm im Santa Teresa Dispatch erschienen waren. Weißhaarig und Mitte Siebzig, hielt er sich ganz altmodisch so aufrecht, als hätte er einen Ladestock verschluckt. Falls ihm seine Herzprobleme zu schaffen machten, so sah man es ihm zumindest nicht an.

Serena sah ihnen lächelnd zu. »Das ist das erste Mal, daß er dazu kommt, sich um Max zu kümmern. Normalerweise machen sie das morgens als allererstes. Das ist vielleicht ein Anblick. Dad schwimmt auf der einen Bahn und der Hund auf der anderen.«

Undeutlich nahm ich wahr, daß irgendwo im Haus das Telefon klingelte. Der Hund nahm den Stock zwischen die Zähne, schwamm auf uns zu und erklomm dann die Stufen am vorderen Ende des Beckens.

Das Wasser troff ihm von seinem fettigen Fell. Max ließ den Stock zu Esselmanns Füßen fallen und schüttelte sich heftig. Wasser spritzte in alle Richtungen. Serena und ihr Vater lachten. Esselmann wischte die Tropfen ab, die das Wasser auf seinem Bademantel hinterlassen hatte. Ich hätte schwören können, daß Max grinste, aber ich kann mich auch getäuscht haben.

Ein Dienstmädchen in einer schwarzen Uniform erschien in der Terrassentür. »Mr. Esselmann? Telefon für Sie.«

Der Alte drehte sich um und sah in ihre Richtung, dann ging er aufs Haus zu, während der Hund an seiner Seite tänzelte und bellte, wohl in der Hoffnung auf weiteres Stöckchenwerfen. Serena fing meinen Blick auf und lächelte. Die Entlassung ihres Vaters aus dem Krankenhaus hatte ihre Stimmung sichtlich aufgehellt. »Kann ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?«

»Lieber nicht«, sagte ich. »Von Wein werde ich schläfrig, und ich habe noch etwas zu erledigen.«

Wir gingen durch die Terrassentür in die Küche zurück, wo das Kaminfeuer fröhlich knisterte. Esselmann stand an der Wand gegenüber und telefonierte. Er warf einen Blick über die Schulter und hob die Hand, um anzuzeigen, daß er unsere Anwesenheit registriert hatte. Die Tür zum Flur stand offen, und die nassen Pfotenabdrücke des Hundes führten zu einer zweiten Tür, die nun geschlossen war. Ich nahm an, daß man Max in den Keller verbannt hatte, bis er wieder trocken war. Ich hörte ein kratzendes Geräusch, und dann stieß der Hund ein kurzes Bellen aus, mit dem er seinen Wunsch kundtat.

»Mach dich doch nicht lächerlich. Natürlich komme ich... Aber sicher bin ich dagegen. Wir reden hier von einer Zuteilung von 45 Millionen Liter im Jahr. Von diesem Standpunkt weiche ich um keinen Millimeter ab, und es ist mir schnurzegal, wer das erfährt.« Er ging zu einem etwas weniger schroffen Tonfall über. »Mir geht’s gut... Danke, sehr freundlich, Ned, und richte bitte Julia aus, daß ich ihre Blumen bekommen habe und sie sehr schön waren... Ja, mach’ ich. Ich habe ja kaum eine andere Wahl. Serena hält mich äußerst streng.« Er drehte sich um und rollte mit den Augen, da er ganz genau wußte, daß sie direkt neben ihm stand. »Wir sehen uns dann auf der Versammlung am Freitag abend. Sag einfach Bob und Druscilla, wie ich dazu stehe. Wir können ja dann darüber sprechen, aber ich hoffe, wir sind uns einig... Danke. Das mach’ ich... Dir auch.«

Er legte kopfschüttelnd den Hörer auf. »Verdammte Idioten. Kaum wende ich ihnen den Rücken zu, schon lassen sie sich zu etwas überreden. Ich hasse Ölfirmen. Dieser Stockton wird seinen Kopf in dieser Sache nicht durchsetzen.«

»Ich dachte, du wärst auf seiner Seite.«

»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte er mit Nachdruck. Dann reichte er mir die Hand. »Bitte sehen Sie mir die schlechten Manieren nach. Ich sollte Sie nicht herumstehen lassen, während ich schimpfe und tobe. Clark Esselmann. Sie haben mich mitten in meiner täglichen Balgerei mit dem Hund erwischt. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

Ich stellte mich vor. Sein Händedruck war fest, aber ich spürte ein leichtes Zittern in seinen Fingern. Aus der Nähe konnte ich sehen, daß seine Gesichtsfarbe ungesund war. Er wirkte blutarm, und das Fleisch auf dem Rücken seiner rechten Hand hatte von irgendeinem medizinischen Eingriff einen blauen Fleck zurückbehalten. Dennoch strahlte er eine gewisse robuste Entschlossenheit aus, die trotz seiner ständigen gesundheitlichen Probleme vorzuherrschen schien.

»Dad, du hast doch nicht allen Ernstes vor, zu einer Kommissionssitzung zu gehen.«

»Du kannst du aber Gift darauf nehmen.«

»Du bist gerade erst entlassen worden. Du bist in keiner guten Verfassung. Der Arzt will dich noch nicht einmal Auto fahren lassen.«

»Ich kann ein Taxi nehmen, wenn es sein muß. Oder ich lasse mich von Ned abholen.«

»Ich kann dich auch fahren. Darum geht es überhaupt nicht«, sagte sie. »Ich finde wirklich, du solltest dich ein paar Tage schonen.«

»Unsinn! Ich bin weder so alt noch so krank, daß ich nicht mehr darüber entscheiden kann, was ich wann tue. Wenn die Damen mich jetzt bitte entschuldigen möchten, ich gehe nach oben, um mich vor dem Abendessen etwas hinzulegen. Es war mir ein Vergnügen, Miss Millhone. Ich hoffe, Sie werden mich bei unserer nächsten Begegnung anständig bekleidet antreffen. Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, der Öffentlichkeit im Bademantel gegenüberzutreten.«

Serena faßte ihn am Arm. »Brauchst du Hilfe beim Treppensteigen?«

»Erfreulicherweise nicht«, erwiderte er. Er verließ den Raum in schleppendem Gang, bewegte sich aber dennoch mit beinahe normaler Geschwindigkeit vorwärts. Als er am Keller vorbeiging, streckte er den Arm aus und öffnete die Tür. Der Hund mußte am oberen Treppenabsatz gelauert haben, da er sofort hervorkam und dem Alten nachtrottete, nicht ohne uns einen zufriedenen Blick zuzuwerfen.

Serena drehte sich zu mir und seufzte verzweifelt. »Dieser Mann ist dermaßen stur, daß es mich zum Wahnsinn treibt. Ich hatte nie Kinder, aber Eltern sind garantiert schlimmer. Doch was soll’s. Genug davon. Sie sind bestimmt nicht hergekommen, um sich mein Gemecker anzuhören. Sie sagten, Sie hätten eine Frage.«

»Ich bin auf der Suche nach einer Geldsumme, die Lorna besessen haben könnte, als sie starb. Anscheinend hat sie am Freitag jener Woche ein Bankkonto aufgelöst. Soweit ich es überblicke, sind zwanzigtausend Dollar verschwunden. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht in ihrer Behausung Bargeld haben liegen sehen.«

Serena schlug sich erstaunt die Hand auf die Brust. »Sie hatte soviel Geld? Das ist ja unglaublich.«

»Sie hatte sogar noch um einiges mehr, aber dieser Betrag ist der einzige, der zu fehlen scheint.«

»Jetzt weiß ich, daß ich in der falschen Branche bin. Warten Sie nur, bis Roger das hört.«

»Sie haben keine Spur davon gesehen, als Sie die Leiche gefunden haben? Es hätte auch ein Bankscheck sein können.«

»Ich nicht. Fragen Sie ihren Vermieter. Ich bin ja nicht einmal hineingegangen.«

»Ist er denn hineingegangen?«

»Na ja, nur eine Minute lang, aber drinnen war er auf jeden Fall.«

»Zu mir hat er gesagt, daß er, sowie er den Geruch wahrnahm, stehenden Fußes in sein Haus zurückgegangen sei und die Polizei verständigt hätte.«

»Das stimmt auch, aber als wir dann auf die Polizei gewartet haben, hat er die Tür aufgemacht und ist hineingegangen.«

»Zu welchem Zweck?«

Serena schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Vermutlich wollte er sehen, was es war. Ich hatte das völlig vergessen, bis Sie mich jetzt darauf gebracht haben.«