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Vorsichtig bog ich mit dem VW in die schmale, ungeteerte Straße am rückwärtigen Teil des Grundstücks ein. Früher war sie einmal asphaltiert gewesen, aber nun war ihre Oberfläche grau und rissig und mit Grasbüscheln überwachsen. Meine Scheinwerfer glitten über zwei Reihen immergrüner Eichen, die den holprigen Weg säumten. Die in den Wipfeln ineinander verschlungenen Zweige bildeten einen dunklen Tunnel. Büsche, die früher vielleicht einmal ordentlich gestutzt und zurechtgeschnitten waren, wucherten nun wild in alle Richtungen und erschwerten die Durchfahrt. Sicher hat mein Auto schon bessere Tage gesehen, aber es behagte mir trotzdem nicht, daß die Äste gegen den blaßblauen Lack schnellten. Die Schlaglöcher traktierten meine Stoßdämpfer bereits wie im Härtetest.
Ich gelangte auf eine Lichtung, wo in der Finsternis schemenhaft eine primitive Hütte zu erkennen war. Ich wendete den Wagen und parkte ihn so, daß ich vorwärts wieder hinausfahren konnte. Dann machte ich die Scheinwerfer aus. Schlagartig stellte sich ein Gefühl völliger Abgeschiedenheit ein. In den Sträuchern hörte ich Grillen zirpen. Sonst herrschte Stille. Es war kaum zu glauben, daß man sich hier mitten in der Stadt befand. Der schwache Lichtschein der Straßenlaternen reichte nicht bis hierhin, und der Verkehrslärm war nur noch das leise Rauschen einer entfernten Brandung. Die Umgebung wirkte wie eine Wildnis, obwohl mein Büro in der Innenstadt nur zehn Minuten entfernt lag.
Als ich in Richtung des Haupthauses blickte, sah ich weiter nichts als dicht wucherndes Gebüsch, uralte immergrüne Eichen und vereinzelte struppige Nadelgewächse. Obwohl die Zweige der wenigen Laubbäume kahl waren, konnte ich in der Ferne keine Lichter sehen. Ich klappte das Handschuhfach auf und holte meine Taschenlampe heraus und vergewisserte mich, daß die Batterien funktionierten. Dann stellte ich meine Handtasche auf den Rücksitz, stieg aus und schloß das Auto ab. In ungefähr fünfzehn Meter Entfernung konnte ich in dem nun verlassenen Garten zwischen mir und dem Haupthaus die Gerippe der zeltartigen Konstruktionen für die Stangenbohnen sehen. Die Luft roch intensiv nach feuchtem Moos und Eukalyptus.
Ich stieg die Stufen zur hölzernen Veranda an der Vorderseite der Hütte hinauf. Die Eingangstür war aus den Angeln gehoben worden und lehnte nun neben der Türöffnung an der Wand. Ich betätigte den Lichtschalter und stellte erleichtert fest, daß der Strom noch angeschlossen war. An der Decke hing lediglich eine Vierzigwattbirne, die die Räume in fahles Licht tauchte. Die Hütte war nur notdürftig — wenn überhaupt — isoliert, und es war eiskalt. Obwohl sämtliche Fensterscheiben unversehrt waren, hatte sich in jedem Winkel feiner Ruß abgelagert. Auf den Fensterbrettern lagen tote Insekten. In einer Ecke des Fensterrahmens hatte eine Spinne eine Fliege in einen weißen, seidigen Schlafsack eingewoben. Es roch nach Moder, verrostetem Metall und brackigem Wasser, das sich in den Rohren staute. Ein Teil des Holzfußbodens im großen Zimmer war von der Spurensicherung herausgesägt worden, dann hatte man die klaffende Öffnung mit einer verzogenen Sperrholzplatte abgedeckt. Ich bewegte mich vorsichtig darum herum. Direkt über mir trippelte und huschte irgend etwas über den Dachboden. Vor meinem geistigen Auge sah ich Eichhörnchen, die sich durch Ritzen im Dach zwängten und Nester für ihre Jungen bauten. Im Strahl meiner Taschenlampe konnte ich sehen, was sich in zehn Monaten Verwahrlosung angesammelt hatte: Kot von Nagetieren, verwelkte Blätter und von Termiten hinterlassene, pyramidenförmige Schutthäufchen.
Die Wohnfläche war L-förmig, mit einem engen Badezimmer im Innenwinkel. Die Installationen für Bad und Kochnische hingen zusammen, und es gab eine Eßecke, die ins »Wohnzimmer« hineinragte. Ich sah die Metallplatte auf dem Fußboden, auf der der Holzofen gestanden hatte. An den weißgestrichenen Wänden tummelten sich Weberknechte, und ich ertappte mich dabei, wie ich sie während meines Rundgangs nervös im Auge behielt. Auf der einen Seite der Haustür befand sich der Klingelkasten für die Türglocke, der etwa so groß war wie eine Zigarettenschachtel. Jemand hatte das Gehäuse von der Wand gerissen, und ich sah, daß der Mechanismus fehlte. Ein mit grünem Kunststoff verkleidetes Elektrokabel war durchtrennt worden und hing nun zur Seite wie ein welker Blumenstengel, dessen Blüte abgefallen war.
Lornas Schlafnische hatte sich vermutlich im kürzeren Arm des Ls befunden. Die Küchenschränke waren leer und mit Linoleum ausgelegt, das noch von Maismehl und alten Corn-flakes-Bröseln bedeckt war. Sirup oder Melasse war ausgelaufen, und ich konnte die kreisrunden Abdrücke von Konservendosen erkennen. Dann sah ich mir das fensterlose Badezimmer an. Die Toilette war alt, der Spülkasten hoch und schmal. Die Toilettenschüssel selbst ragte in den Raum wie ein Adamsapfel aus Porzellan. Der braune Holzsitz war rissig und machte ganz den Eindruck, als würde er einen an Stellen zwicken, die einem lieb und teuer waren. Das Waschbecken war so groß wie eine Spüle und stand auf zwei Metallfüßen. Ich drehte am Kaltwasserhahn und sprang mit einem Schreckensschrei zurück, als ein Strahl braunes Wasser hervorsprudelte. Die Wasserrohre stimmten ein tiefes, summendes Geräusch an, unterirdische Sirenen, die vor unerlaubten Übergriffen warnten. Die Badewanne ruhte auf zwei kugelförmigen Füßen. Welke Blätter hatten sich in einem wirbelnden Muster um ihren Abfluß herum angesammelt, während schwarze Schwäne über einen undurchsichtigen grünen Duschvorhang aus Plastik glitten, der von einem ovalen Metallrahmen herabhing.
Trotz der fehlenden Möbel im großen Zimmer konnte ich mir vorstellen, wie der Raum aufgeteilt gewesen war. Nahe bei der Eingangstür ließen Kerben in den Kiefernbrettern erahnen, daß dort ein Sofa und zwei Sessel gestanden hatten. Am anderen Ende des Wohnzimmers, an der Ecke zur Küche, konnte ich mir eine kleine Eßecke vorstellen. Neben der Spüle hatte wohl ein kleines Wandschränkchen gestanden. Über der Fußleiste war die Telefonbuchse angebracht. Lorna hatte vermutlich ein schnurloses Telefon oder eins mit langem Kabel besessen und konnte es tagsüber in der Küche stehenlassen und nachts neben das Bett stellen. Ich drehte mich um und betrachtete den Raum. Die Schatten um mich herum verdüsterten sich, und die durch mein Eindringen aufgestörten Weberknechte begannen, die Wände hinunterzukrabbeln. Ich schlich mich aus der Hütte und behielt sie dabei genau im Auge.
Ich saß allein in meiner Lieblingsnische in Rosie’s Restaurant, einen halben Häuserblock von meiner Wohnung entfernt, und stocherte in meinem Abendessen herum. Wie üblich hatte Rosie mich dazu gebracht, das zu bestellen, was sie anordnete. Es ist ein Phänomen, über das ich mich nicht ernsthaft beschweren will. Über den Viertelpfünder mit Käse von McDonald’s hinaus habe ich in puncto Essen keine besonderen Vorlieben, und insofern ist es mir ganz recht, wenn mich jemand durch die Speisekarte führt. Heute abend empfahl sie die Kümmelsuppe mit Knödeln, danach geschmortes Schweinefleisch, ein weiteres ungarisches Gericht mit Fleischstücken, die von saurer Sahne und Paprika erdrückt wurden. Rosie’s ist weniger ein Restaurant als vielmehr eine stickige Kneipe, in der Rosie ganz nach Lust und Laune ausgefallene Gerichte zaubert. In ihrem Lokal hat man ständig das Gefühl, als stünde eine Razzia der Lebensmittelpolizei unmittelbar bevor, so knapp bewegt es sich neben den meisten gesetzlichen Hygienevorschriften. Die Luft ist geschwängert von ungarischen Gewürzen, Bier und Zigarettenrauch. Die Plätze in der Mitte des Raumes bestehen aus diesen Chrom-Resopal-Eßecken, die noch aus den vierziger Jahren übriggeblieben sind. Die Wände sind von Nischen gesäumt: steife Bänke mit hohen Lehnen, die aus Sperrholz gezimmert waren, das sich als Baumaterial geeignet hätte und dunkelbraun gebeizt war, damit man die ganzen Astlöcher und Splitter nicht sah.
Es war noch vor sieben Uhr, und bisher war keiner der üblichen Sportfans aufgetaucht. An den meisten Abenden, vor allem in den Sommermonaten, ist das Lokal voll von lärmenden Kegelclubs und Softballmannschaften in Firmentrikots. Im Winter müssen sie improvisieren. Erst diese Woche hatte eine Gruppe Nachtschwärmer ein Spiel namens »Wirf den Männertanga« erfunden, und ein glückloses Exemplar dieses nützlichen Kleidungsstücks baumelte nun vom Stachel eines staubigen Rochens über der Bar. Rosie, die sonst herrisch und humorlos ist, schien das witzig zu finden und ließ es, wo es war. Offenbar hatte ihre bevorstehende Eheschließung ihren IQ um einige ausschlaggebende Punkte gesenkt. Momentan kauerte sie auf einem Barhocker und überflog die Lokalzeitung, während sie eine Zigarette rauchte. Am einen Ende der Bar plärrte ein kleiner Farbfernseher, aber keine von uns schenkte der Sendung große Beachtung. Rosies geliebter William, Henrys älterer Bruder, war mit diesem nach Michigan geflogen. Rosie und William wollten in einem Monat heiraten, obwohl das Datum immer noch zu schwanken schien.
Das Telefon, das an unserem Ende der Bar stand, klingelte. Rosie warf ihm einen verärgerten Blick zu, und zuerst dachte ich schon, sie würde gar nicht abnehmen. Sie ließ sich jedenfalls Zeit und faltete die Zeitung ordentlich zusammen, bevor sie sie beiseite legte. Beim sechsten Klingeln nahm sie schließlich den Hörer ab, und nachdem sie ein paar kurze Sätze mit dem Anrufer gewechselt hatte, fiel ihr Blick auf mich. Sie hielt den Hörer in meine Richtung und knallte ihn dann derart auf die Theke, daß sie wahrscheinlich jemandem das Trommelfell zerstörte.
Ich schob meinen Teller zur Seite und wand mich aus der Nische heraus, wobei ich aufpaßte, daß ich mir keinen Spreißel in den Oberschenkel bohrte. Eines Tages leihe ich mir eine Schleifmaschine und schmirgle sämtliche hölzernen Sitzflächen säuberlich ab. Ich habe es satt, ständig fürchten zu müssen, von Spießen aus billigem Sperrholz gepfählt zu werden. Rosie war ans andere Ende der Bar gegangen und stellte den Fernseher leiser. Ich ging zum Tresen und nahm den Hörer. »Hallo?«
»Hallo, Kinsey. Cheney Phillips. Wie geht’s?«
»Woher hast du gewußt, wo ich bin?«
»Ich habe mit Jonah Robb gesprochen, und er hat mir verraten, daß du dich öfter bei Rosie’s herumtreibst. Zuerst habe ich es bei dir zu Hause versucht und den Anrufbeantworter erwischt, also habe ich mir gedacht, daß du vielleicht beim Abendessen bist.«
»Gute Detektivarbeit«, sagte ich. Ich wollte gar nicht wissen, wie er auf die Idee verfallen war, mit Jonah Robb über mich zu sprechen. Jonah hatte im Vermißtendezernat der Polizei von Santa Teresa gearbeitet, als ich ihn vor drei Jahren kennenlernte. Ich hatte während einer der bei seiner Frau periodisch auftretenden Anfälle von Ehemüdigkeit eine kurze Affäre mit ihm gehabt. Jonah und seine Frau Camilla waren seit der siebten Klasse zusammen. Sie verließ ihn immer wieder, aber er nahm sie jedesmal wieder auf. Es war eine Art Schülerliebe, die für Außenstehende mit der Zeit ausgesprochen ermüdend wurde. Mir war nicht klar gewesen, was gespielt wurde, und ich begriff nicht, welche Rolle mir zugedacht war. Als ich es kapierte, beschloß ich auszusteigen, aber ich fühlte mich dennoch niedergeschlagen. Als Single macht man mitunter solche Fehler. Auf jeden Fall finde ich es beunruhigend, wenn mein Name ins Gerede kommt. Mir mißfiel die Vorstellung, daß ich im Umkleideraum der hiesigen Polizei Gesprächsthema war.
»Was gibt’s?« fragte ich Cheney.
»Nichts Großartiges. Ich fahre heute am späteren Abend in die untere State Street, weil ich einen Burschen suche, der mir gewisse Informationen geben kann. Ich habe mir gedacht, daß du vielleicht mitkommen möchtest. Eine alte Freundin von Lorna verkauft ihren Hintern meistens auch in dieser Gegend. Wenn sie uns über den Weg läuft, kann ich euch bekannt machen... das heißt, falls du interessiert bist.«
Meine Stimmung sank, da ich den Traum vom frühen Schlafengehen dahinschwinden sah. »Klingt gut. Danke für das Angebot. Wie sollen wir es machen? Soll ich dort unten auf dich warten?«
»Das könntest du machen, aber wahrscheinlich ist es besser, wenn ich vorbeikomme und dich abhole. Ich grase ein großes Gebiet ab und kann schlecht sagen, wo genau ich zu finden bin.«
»Weißt du, wo ich wohne?«
»Klar«, meinte er und rasselte meine Adresse herunter. »Ich komme gegen elf Uhr vorbei.«
»So spät?« krächzte ich.
»So richtig geht der Rummel dort erst nach Mitternacht los«, sagte er. »Irgendwelche Probleme?«
»Nein, alles bestens.«
»Also, bis dann«, sagte er und legte auf.
Ich sah auf meine Uhr und stellte verzweifelt fest, daß ich noch vier Stunden totschlagen mußte. Das einzige, was ich mir wirklich wünschte, war, mich in die Falle zu hauen, aber nicht, wenn ich dann wieder aufstehen mußte. Wenn ich einmal liege, ziehe ich es vor liegenzubleiben. Nach einem Nickerchen fühle ich mich wie verkatert, und das ohne die paar sorglosen Momente des dazugehörigen Saufgelages. Wenn ich bis in alle Herrgottsfrühe mit Cheney Phillips herumkutschieren mußte, sollte ich wohl besser auf den Beinen bleiben. Ich beschloß, die Zwischenzeit mit etwas Arbeit zu überbrücken. Ich trank zwei Tassen Kaffee, bezahlte Rosie mein Abendessen, griff mir Jacke und Handtasche und ging hinaus in die Nacht.
Die Sonne war um Viertel vor sechs untergegangen, und der Mond würde vermutlich nicht vor zwei Uhr morgens aufgehen. Zu dieser Stunde war die ganze Gegend noch hellwach. In fast jedem Haus, an dem ich vorbeifuhr, strahlten die Fenster so hell, als stünden die Zimmer hinter ihnen in Flammen. Motten schwirrten wie weiche Vögel sinnlos gegen Außenleuchten. Der Februar hatte sämtliche Sommerinsekten zum Schweigen gebracht, aber ich konnte immer noch ein paar tapfere Grillen im vertrockneten Gras zirpen und den einen oder anderen Nachtvogel krächzen hören. Abgesehen davon herrschte tiefste Stille. Es schien wärmer zu sein als letzte Nacht, und aus der Abendzeitung wußte ich, daß die Wolkendecke dichter wurde. Der Wind wehte aus Norden und blies durch die trockenen Palmwedel vor mir. Ich marschierte den halben Häuserblock zu meinem Apartment zu Fuß und ging kurz hinein, um zu sehen, ob Nachrichten eingegangen waren.
Auf dem Anrufbeantworter war nichts. Ich verließ die Wohnung wieder, bevor ich der Versuchung unterlag, Cheney anzurufen und das große Abenteuer von heute abend abzusagen. Das Quietschen des Tors klang melancholisch, so als ob das kalte Metall gegen mein Verschwinden protestierte. Ich stieg ins Auto, drehte den Zündschlüssel und schob den Hebel für die Heizung ganz nach oben, sowie der Motor ansprang. Es war völlig ausgeschlossen, daß das System so schnell heiße Luft abgeben konnte, aber ich brauchte die Illusion von Wärme und Gemütlichkeit.
Ich fuhr einen halben Kilometer auf der 101 stadtauswärts und bog an der Ausfahrt Puerta Street ab. Von hier aus waren es nur zwei Blocks zum St. Terry’s Hospital. In einer Seitenstraße fand ich einen Parkplatz, sperrte das Auto ab und ging den restlichen halben Block zum Haupteingang zu Fuß. Im Prinzip fing die Besuchszeit erst um acht Uhr an, aber ich hoffte, daß die Oberschwester auf der Herzstation ein Auge zudrücken würde.
Die Glastüren öffneten sich beim Näherkommen von selbst. Ich ging am Krankenhauscafe links von der Eingangshalle vorbei, wo Sofas zu verschiedenen Gruppierungen zusammengestellt waren. Mehrere nicht ans Bett gefesselte Patienten waren in Bademantel und Pantoffeln heruntergekommen, um sich hier mit Freunden und Verwandten zu treffen. Der Raum wirkte mitsamt der Musik aus Lautsprechern und den Bildern von hiesigen Künstlern fast wie ein großes, gemütlich möbliertes Wohnzimmer. Der Geruch in der Halle war ganz und gar nicht unangenehm, erinnerte mich aber trotzdem an schwere Zeiten. Meine Tante Gin war in einer Februarnacht vor über zehn Jahren hier gestorben. Ich verdrängte diesen Gedanken und sämtliche Erinnerungen, die er mit heraufbeschwor.
Der Geschenkeladen hatte geöffnet, und ich machte einen kleinen Abstecher hinein. Ich wollte Lieutenant Dolan etwas kaufen, obwohl mir nicht klar war, was. Weder die Teddybären noch die Négligés schienen das Passende zu sein. Schließlich entschied ich mich für einen überdimensionalen Schokoriegel und die neueste Ausgabe von People. Es ist immer einfacher, ein Krankenzimmer mit etwas in der Hand zu betreten — irgend etwas, was das Eindringen in die Intimität einer Krankheit abmildert. Normalerweise käme ich nicht im Traum auf die Idee, mit einem Mann im Schlafanzug etwas zu besprechen.
Ich ging zur Information, um seine Zimmernummer zu erfahren und mir den Weg zur Herzstation erklären zu lassen, und marschierte anschließend endlose Korridore entlang, bis ich zu den Aufzügen im Westflügel kam. Ich drückte den Knopf für den zweiten Stock und gelangte in ein helles, lichtes Foyer mit einem glänzenden, schneeweißen Fußboden. Dann ging ich links um die Ecke in einen kurzen Durchgang. Direkt zur Rechten lag der Warteraum für die Herzstation. Ich spähte durch das Glasfenster in der Tür. Der Raum war menschenleer und spärlich möbliert: ein runder Tisch, drei Stühle, zwei kleine Sofas, ein Fernseher, ein Münztelefon und mehrere Zeitschriften. Ich ging zu der Tür, die in die Herzstation führte. An der Wand hing ein Telefon mit einem Schild daneben, das mich aufforderte, anzurufen und um Einlaß zu bitten. Eine Krankenschwester oder Verwaltungsangestellte nahm das Gespräch entgegen, und ich sagte ihr, daß ich Lieutenant Dolan besuchen wolle.
»Warten Sie einen Moment, ich sehe nach.«
Nach einer kurzen Pause bat sie mich herein. Das Seltsame an Krankenhäusern ist, daß vieles genauso aussieht, wie man es erwartet. Wir kennen es alle aus dem Fernsehen: die Geschäftigkeit im Schwesternzimmer, die Diagramme und die Geräte, mit denen die Leidenden überwacht werden. Hier in der Herzstation trugen die Schwestern normale Straßenkleidung, wodurch die Atmosphäre entspannter und weniger klinisch wirkte. Sie waren zu fünft oder sechst, alle jung und recht freundlich. Das Pflegepersonal konnte sämtliche Lebenszeichen von einer zentralen Überwachungsstelle aus im Blick behalten. Ich stand davor und sah acht verschiedenen Herzen beim Schlagen zu, eine Reihe grüner, eigensinnig hüpfender Punkte auf Bildschirmen, die nebeneinander auf der Theke standen.
Die Station selbst war in den Farben des Südwestens gehalten: matte Rosatöne, zartes Himmelblau, kühles Blaßgrün. In alle Zimmer führten gläserne Schiebetüren, so daß sie für die Schwestern leicht einsehbar waren, jedoch gab es auch Vorhänge, die zugezogen werden konnten, wenn Ungestörtheit erwünscht war. Die ganze Station wirkte so sauber und still wie eine Wüste: keine Blumen, keine künstlichen Pflanzen, ebene, leere Flächen. An den Wänden hingen Wüstenbilder, auf denen sich in der Ferne Berge erhoben.
Ich fragte, wo Lieutenant Dolan läge, und ein Pfleger wies den Korridor hinunter. »Zweite Tür links«, sagte er.
»Danke.«
Ich blieb in der Tür zu Lieutenant Dolans Zimmer stehen, das schick und modern war. Das Bett, in dem er lag, war so schmal wie das eines Mönchs. Ich war daran gewöhnt, ihn bei der Arbeit zu sehen, in einem verknitterten grauen Anzug, griesgrämig, genervt und absolut geschäftsmäßig. Hier sah er kleiner aus. Bekleidet war er mit einem unförmigen, pastellfarbenen Baumwollhemd mit kurzen Ärmeln, das hinten zugebunden wurde. Er trug einen Eintagesbart zur Schau, der sich stachelig-grau auf seinen Wangen abzeichnete. Ich sah das müde, sehnige Fleisch seines Halses, und seine früher so muskulösen Arme wirkten abgezehrt und dünn. An einer Stange neben dem Kopfende seines Bettes befanden sich alle Utensilien, die zur Überwachung seines Zustandes nötig waren. Auf seine Brust geklebte Kabel schlangen sich zu einem Stecker an der Stange hinauf, wo ein Bildschirm die Daten seiner Lebensfunktionen ausspuckte wie ein Fernschreiber. Er las Zeitung, und die Halbbrille saß ihm weit vorne auf der Nase. In einem Arm hatte er eine Infusion. Als er mich sah, legte er die Zeitung beiseite und nahm die Brille ab. Dann zupfte er an seiner Decke und zog sie sich über die nackten Füße.
Er winkte mich herein. »Sieh mal an, wer da kommt. Was bringt Sie denn hierher?« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das bestenfalls noch spärlich zu nennen war und momentan aussah, als sei es mit Schweiß nach hinten gestrichen worden. Dann stützte er sich auf das hochgeklappte Kopfteil. Das Krankenhausarmband aus Plastik ließ sein Handgelenk verletzlich wirken, aber er sah nicht krank aus. Es war, als hätte ich ihn an einem Sonntagmorgen überfallen, während er vor dem Kirchgang noch im Schlafanzug herumsaß.
»Cheney hat mir erzählt, daß Sie hier gelandet sind, und da habe ich mir gedacht, ich schaue mal vorbei. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei der Zeitungslektüre.«
»Ich habe sie schon dreimal gelesen. Ich bin derart verzweifelt, daß ich schon bei den Kleinanzeigen angelangt bin. Jemand namens Erroll möchte, daß Louise ihn anruft, für den Fall, daß Sie einen von beiden kennen.«
Ich lächelte und wünschte, er sähe kräftiger aus, wußte dabei aber, daß ich an seiner Stelle noch schlimmer wirken würde. Ich hielt ihm die Illustrierte hin. »Für Sie«, sagte ich. »Ich nehme an, daß eine Überdosis Klatsch Ihrem Zustand nicht schadet. Wenn Sie sich richtig langweilen, können Sie immer noch das Kreuzworträtsel im hinteren Teil machen. Wie fühlen Sie sich? Sie sehen gut aus.«
»Es geht mir nicht schlecht. Ging mir aber auch schon besser. Der Arzt meint, er könne mich morgen eventuell aus der Station verlegen, und das scheint mir ein gutes Zeichen zu sein.«
Er kratzte sich die Stoppeln am Kinn. »Jetzt kann ich’s mir leisten, mich nicht zu rasieren. Wie finden Sie’s?«
»Äußerst verwegen«, antwortete ich. »Sie können direkt von hier aus ein Leben auf der Straße beginnen.«
»Holen Sie sich einen Stuhl. Setzen Sie sich. Legen Sie die Sachen einfach weg.«
Auf dem Stuhl in der Ecke lagen der Rest der Zeitung und ein Stapel Zeitschriften. Ich legte den ganzen Haufen zur Seite und zog den Stuhl ans Bett heran, wobei mir bewußt war, daß Dolan und ich Konversation und Aktivität benutzten, um eine grundlegende Nervosität zu verbergen. »Was meinen die Ärzte, wann Sie wieder arbeiten können?«
»Dazu äußern sie sich momentan nicht, aber ich schätze, das wird noch ein Weilchen dauern. Zwei, drei Monate. Ich muß allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt haben, nach dem zu urteilen, was sie mir erzählen. Mein Gott, Tom Flowers hat sogar Mund-zu-Mund-Beatmung bei mir gemacht, worüber er nie hinwegkommen wird. Das muß vielleicht ein Anblick gewesen sein.«
»Auf jeden Fall weilen Sie noch unter uns.«
»Allerdings. Na, und wie geht’s Ihnen? Cheney hat mir das von Janice Kepler erzählt. Wie läuft es denn bislang?«
Ich zuckte die Achseln. »Ganz gut, denke ich. Ich arbeite noch nicht einmal einen ganzen Tag daran. Später treffe ich mich noch mit Cheney. Er fährt auf der Suche nach einem Informanten die untere State Street ab und hat mir angeboten, mir dabei eine Freundin von Lorna zu zeigen.«
»Wahrscheinlich Danielle«, sagte Dolan. »Wir haben sie damals befragt, aber sie war uns keine große Hilfe. Sie kennen ja diese kleinen Mädchen. Das Leben, das sie führen, ist so verdammt gefährlich. Sich Nacht für Nacht mit Fremden einlassen. Du steigst in ein Auto und mußt dir dessen bewußt sein, daß es die letzte Fahrt sein könnte, die du je unternimmst. Und sie betrachten uns als den Feind. Das ist mir unbegreiflich. Sie sind doch nicht dumm.«
»Sie sind verzweifelt.«
»Das ist es vermutlich. Diese Stadt ist nichts im Vergleich mit L. A., aber das ist trotzdem das Letzte. Sehen Sie sich nur jemanden wie Lorna an — es ist so absolut sinnlos.«
»Haben Sie eine Theorie darüber, wer sie umgebracht haben könnte?«
»Ich wünschte, ich hätte eine. Sie blieb auf Distanz. Sie freundete sich nicht mit anderen Leuten an. Ihr Lebensstil war für die meisten viel zu unkonventionell.«
»Oh, allerdings. Hat Ihnen jemand von dem Video erzählt?«
»Cheney hat es erwähnt. Ich nehme an, Sie haben es gesehen. Ich sollte es mir vermutlich selbst daraufhin ansehen, ob ich einen der Beteiligten kenne.«
»Damit warten Sie besser, bis Sie nach Hause kommen. Es wird Ihren Herzschlag auf hundertachtzig hochtreiben. Janice Kepler hat mir ihr Exemplar gegeben. Sie ist ungemein paranoid, und ich mußte ihr versprechen, das verdammte Ding unter Einsatz meines Lebens zu verteidigen. Ich habe die Schmutz-und-Schund-Läden noch nicht abgeklappert, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie ein halbes Dutzend Exemplare auf Lager hätten. Der Verpackung nach sieht es so aus, als wäre es in der Gegend um San Francisco entstanden.«
»Fahren Sie hoch?«
»Ich würde gern. Ich glaube, daß es einen Versuch wert wäre, wenn ich Janice davon überzeugen kann.«
»Cheney sagt, Sie möchten einen Blick auf die Fotos vom Tatort werfen.«
»Falls Sie nichts dagegen haben. Ich habe die Hütte heute nachmittag gesehen, aber sie steht ja seit Monaten leer. Ich wüßte gern, wie es dort aussah, als die Leiche gefunden wurde.«
Lieutenant Dolan zog angewidert die Brauen zusammen. »Sie können sie sich gerne ansehen, aber Sie sollten sich wappnen. Das war der schlimmste Fall von Verwesung, den ich je gesehen habe. Wir mußten die toxikologische Untersuchung anhand von Knochenmark und winzigen Resten Lebergewebe, die wir noch retten konnten, vornehmen.«
»Aber es besteht kein Zweifel daran, daß es Lorna war?«
»Absolut keiner«, antwortete er. Er hob die Augen zum Monitor, und ich folgte seinem Blick. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt, und der grüne Strich sah aus wie ein Streifen zerzaustes Gras. »Erstaunlich, wie die Erinnerung an so etwas noch nach so vielen Monaten eine physiologische Reaktion auslösen kann.«
»Haben Sie sie je lebend gesehen?«
»Nein, und das ist wohl auch ganz gut so. Es ging mir so schon ziemlich an die Nieren. >Staub zu Staub< trifft es nämlich nicht ganz. Auf jeden Fall werde ich in der Aktenabteilung anrufen und alles für Sie heraussuchen lassen. Wann möchten Sie denn hinübergehen?«
»Gleich jetzt, falls möglich. Cheney holt mich erst in drei Stunden ab. Ich war letzte Nacht lange auf und bin todmüde. Meine einzige Chance besteht darin, aktiv zu bleiben.«
»Die Fotos werden Sie aufwecken.«
Die meisten Abteilungen des Polizeireviers machen um sechs Uhr zu. Das kriminaltechnische Labor war geschlossen, und die Ermittlungsbeamten waren schon nach Hause gegangen. Im Inneren des Gebäudes saßen aber nach wie vor die Mitarbeiter der Notrufzentrale an ihren Telefonen und nahmen unter 911 Anrufe entgegen. Der Haupttresen, an dem auch die Falschparker ihre Bußgelder bezahlen mußten, war so blank wie die Rippen eines Rollschranks, und ein Schild besagte, daß der Schalter am nächsten Morgen um acht Uhr wieder geöffnet sein würde. Die Tür zum Archiv war verschlossen, aber ich merkte, daß ein paar Leute noch an der Arbeit sein mußten, vermutlich Fachkräfte für Datenverarbeitung, die die tagsüber angefallenen Haftbefehle in die EDV eingaben. Im Moment war die kleine Empfangstheke nicht besetzt, aber es gelang mir, mich vorzubeugen und nach rechts um die Ecke zu spähen.
Ein uniformierter Beamter entdeckte mich, unterbrach sein Gespräch mit einem Zivilangestellten und ging auf mich zu. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich habe gerade drüben im St. Terry’s mit Lieutenant Dolan gesprochen. Er und Detective Phillips haben mir erlaubt, ein paar Akten einzusehen. Es müßte ein Satz Fotos vorliegen, den ich mitnehmen kann, hat er gesagt.«
»Es geht um den Fall Kepler, stimmt’s? Der Lieutenant hat gerade angerufen. Ich habe alles hier hinten. Möchten Sie mitkommen?«
»Ja, danke.«
Der Polizist drückte auf einen Knopf, woraufhin sich die Tür öffnete. Im rückwärtigen Flur wandte ich mich nach rechts. Der Polizist tauchte wieder in der Abteilungstür auf. »Wir haben einen Schreibtisch hier hinten, wenn Sie sich setzen möchten.«
Ich las mir die Akte aufmerksam durch und machte mir dabei immer wieder Notizen. Janice Kepler hatte mir bereits einiges Material gegeben, aber hier fanden sich noch zahlreiche Kommentare und Anmerkungen für den internen Dienstgebrauch, über die sie nicht verfügte. Ich stieß auf die Zeugenbefragungen von Hector Moreno, J. D. Burke und Serena Bonney, deren Privatadresse und Telefonnummer ich mir aufschrieb. Es folgten zusätzliche Befragungen von Lornas Familie, ihrem ehemaligen Chef, Roger Bonney, und eben jener Danielle Rivers, der ich heute abend auf der unteren State Street zu begegnen hoffte. Erneut notierte ich mir Privatadressen und Telefonnummern. Das waren zwar Daten, die ich mir ohne weiteres selbst beschaffen konnte, aber warum sollte ich die Gelegenheit nicht nutzen? Lieutenant Dolan hatte veranlaßt, daß ich alles fotokopieren durfte, was ich brauchte. Ich kopierte zahllose Seiten. Vermutlich würde ich im großen und ganzen dieselben Personen befragen, und der Vergleich zwischen ihren heutigen Meinungen und Beobachtungen und jenen von damals versprach interessant zu werden. Schließlich wandte ich meine Aufmerksamkeit den Fotos vom Tatort zu.
In mancher Hinsicht läßt sich schwer sagen, was schmutziger ist — sexuelle Pornographie oder die Pornographie des Mordes. Beide erzählen von Gewalt, von den Entwurzelten und Erniedrigten und von den Demütigungen, die wir uns im Feuer der Leidenschaft gegenseitig zufügen. Manche Formen der Sexualität sind so kaltblütig wie Mord, und manche Formen von Mord für den Täter so erregend wie eine sexuelle Begegnung.
Die Verwesung hatte Lorna Keplers Körper sämtliche Konturen genommen. Die Enzyme ihrer eigenen Zellen hatten diese Zersetzung herbeigeführt. Ihr Körper war einer Invasion zum Opfer gefallen: Mutter Naturs kleine Putzkolonne hatte sich eifrig ans Werk gemacht — Maden, so leicht wie frisch gefallener Schnee und so weiß wie Zwirn. Es dauerte einige Minuten, bevor ich die Fotos ohne Ekel ansehen konnte. Schließlich fand ich die nötige Distanz. Das hier war schlicht und einfach die Wirklichkeit des Todes.
Was mich interessierte, war, wie die Hütte in möbliertem Zustand ausgesehen hatte. Ich kannte sie nur leer: rußig und verlassen, voll Spinnen und Moder und muffigem Geruch. Hier konnte ich sowohl in Farbe wie auch in Schwarzweiß Stoffe sehen, vollgestellte Arbeitsflächen, zerdrückte Sofakissen, eine Vase mit herabhängenden Blumen, die zwei Finger breit in dunkel gewordenem Wasser standen, Flickenteppiche und spindeldürre, hölzerne Stuhlbeine. Ich sah einen Stapel Post, den sie auf einem Sofakissen hatte liegenlassen. Die ungewohnten Einblicke in ihren Lebensraum hatten etwas Abstoßendes. Wie bei einem Gast, der zu früh eintrifft und die Wohnung sieht, bevor die Gastgeberin zum Aufräumen gekommen ist.
Abgesehen von einigen Fotos, die zur Orientierung des Betrachters gedacht waren, stand Lornas Leiche im Mittelpunkt der meisten Abzüge im Format 18 X 27. Sie lag auf dem Bauch. Ihre Stellung war die einer Schlafenden, und ihre Glieder waren in den klassischen Kreideumrissen angeordnet, die in jedem Fernsehkrimi die Lage bezeichnen. Kein Blut, kein Erbrochenes. Es war schwer, sich vorzustellen, was sie wohl in dem Moment tun wollte, als sie fiel — die Haustür öffnen oder ans Telefon gehen. Sie trug BH und Höschen, und ihr Jogginganzug lag als Häufchen neben ihr auf dem Boden. Ihr langes, dunkles Haar hatte seinen Glanz noch nicht verloren und bildete einen Wirrwarr schimmernder Strähnen. Im Blitzlicht leuchteten kleine weiße Maden wie winzige Perlen. Ich schob die Bilder wieder in den dicken, gelben Umschlag und steckte ihn in meine Handtasche.