9

Am nächsten Morgen raffte ich mich um neun Uhr dazu auf, Ida Ruth anzurufen und ihr zu sagen, daß ich in Bälde käme, für den Fall, daß jemand nach mir fragte. Als ich die Decke wieder hochzog, warf ich einen Blick durch das Plexiglas-Oberlicht über meinem Bett. Klarer, wolkenloser Himmel und vermutlich achtzehn Grad Außentemperatur. Zum Teufel mit dem Joggen. Ich gönnte mir noch zehn Minuten Ruhe. Als ich das nächste Mal aufwachte, war es 12. Uhr 37 und ich fühlte mich so verkatert, als hätte ich mich in der Nacht zuvor besinnungslos betrunken. Der Trick beim Schlafen besteht darin, daß der Körper einen — abgesehen von der Anzahl der Stunden, die man ihm bewilligt — dafür zur Rechenschaft zieht, wann man schläft. Wenn man von vier Uhr morgens bis elf Uhr morgens schläft, kommt das nicht unbedingt derselben Anzahl von Stunden gleich, die man zwischen elf Uhr abends und sechs Uhr morgens an der Matratze horcht. Ich hatte mir volle sieben Stunden gegönnt, aber mein gewohnter Stoffwechselrhythmus war nun eindeutig aus dem Trott geraten und brauchte zusätzliche Ruhezeiten, um sich zu regulieren.

Ich rief Ida Ruth erneut an und war beruhigt zu erfahren, daß sie beim Mittagessen war. Ich hinterließ eine Nachricht des Inhalts, daß ich bei einem Termin mit einem Kunden aufgehalten worden sei. Fragen Sie mich nicht, warum ich eine Frau anschwindele, die meinen Gehaltsscheck nicht einmal zu sehen bekommt. Manchmal lüge ich einfach, um es nicht zu verlernen. Ich stolperte aus dem Bett und ins Badezimmer, wo ich mir die Zähne putzte. Ich fühlte mich wie nach einer Vollnarkose und war überzeugt davon, daß keines meiner Glieder funktionieren würde. Ich lehnte mich unter der Dusche an die Wand und hoffte, die Hydrotherapie würde mich wieder ins Gleichgewicht bringen. Endlich angezogen, ertappte ich mich um ein Uhr nachmittags beim Frühstücken und fragte mich, ob ich jemals wieder in den normalen Rhythmus käme. Dann machte ich mir eine Kanne Kaffee und schüttete mich mit Koffein voll, während ich ein paar Anrufe nach San Francisco erledigte.

Ich kam nicht besonders weit. Anstelle von Joseph Ayers erreichte ich einen Anrufbeantworter, der seiner gewesen sein könnte oder auch nicht. Er spulte eine dieser geschickt formulierten Mitteilungen ab, die keinerlei Bestätigung dafür geben, wen oder welche Nummer man erreicht hat. Eine mechanische Männerstimme sagte: »Leider war ich nicht hier, um Ihren Anruf entgegenzunehmen, aber wenn Sie mir Namen, Telefonnummer und eine kurze Mitteilung hinterlassen, rufe ich Sie zurück.«

Ich nannte meinen Namen und meine Büronummer und hinterließ anschließend Nachrichten auf den Anrufbeantwortern beider R. Turpins. Die eine Stimme war weiblich, die andere männlich. Beiden Turpins zwitscherte ich fröhlich aufs Band: »Ich weiß nicht, ob ich jetzt den richtigen Turpin habe oder nicht. Ich suche Russell. Ich bin eine Freundin von Lorna Kepler. Sie hat gesagt, ich soll mich melden, wenn ich mal in San Francisco bin, und da ich in den nächsten paar Tagen oben sein werde, dachte ich, ich sage mal hallo. Rufen Sie mich bitte zurück, wenn Sie diese Nachricht bekommen. Ich würde Sie gern kennenlernen. Sie hat so nett von Ihnen gesprochen. — Danke.« Bei der Auskunft in San Francisco fragte ich die Namen der anderen Mitglieder des Filmteams ab, bis ich die ganze Liste durch hatte. Die meisten von ihnen hatten keinen Eintrag.

Bevor ich das Haus verließ, holte ich ein frisches Päckchen Karteikarten aus meinem Schreibtisch und trug auf ihnen die Informationen ein, die ich bislang zu dem Fall gesammelt hatte — etwa vier Karten voll. Im Laufe der vergangenen Jahre hatte ich die Gewohnheit entwickelt, mit Hilfe von Karteikarten die Tatsachen zu notieren, die während einer Ermittlung zutage treten. Ich hänge die Karten an die Pinnwand über meinem Schreibtisch, und in ruhigen Momenten ordne ich die Daten ohne erkennbares Muster immer wieder anders an. Irgendwann wurde mir klar, wie anders sich ein Detail ausnehmen kann, wenn man es außerhalb seines Kontextes betrachtet. Wie bei den Teilen in einem Puzzle scheint die Form der Wirklichkeit der Umgebung entsprechend zu schwanken. Was merkwürdig oder ungewöhnlich erscheint, kann vollkommen stimmig sein, wenn es an die richtige Stelle kommt. In ganz ähnlicher Weise kann etwas ganz Unscheinbares plötzlich wertvolle Geheimnisse aufdecken, wenn man es vor einem anderen Hintergrund sieht. Ich gebe zu, daß dieses System meistens zu rein gar nichts führt, aber es lohnt sich doch oft genug, um es beizubehalten. Außerdem ist es geruhsam, hält mich zur Ordnung an und liefert eine visuelle Gedankenstütze für den jeweils aktuellen Fall.

Ich hängte Lornas Foto neben die Karten an die Wand. Sie sah mich mit ihren ruhigen, haselnußbraunen Augen und diesem rätselhaften Lächeln gelassen an. Ihr dunkles Haar war glatt aus dem Gesicht gestrichen. Schlank und elegant lehnte sie mit den Händen in den Taschen an der Wand. Ich studierte sie, als könne sie von sich geben, was sie in den letzten Minuten ihres Lebens erfahren hatte. Unergründlich wie eine Katze erwiderte sie meinen Blick. Zeit, mich mit Lornas Tagespersönlichkeit vertraut zu machen.

Ich fuhr die zweispurige Asphaltstraße entlang, an den flachen, wogenden Feldern mit trockenem Gras vorbei, mattes Grün, mit Gold überzogen. Da und dort standen immergrüne Eichen in Grüppchen beisammen. Es war bedeckt, und der Himmel bot eine fremdartige Mischung aus anthrazitfarbenen und schwefelgelben Wolken. Die ferne Bergkette lag in blauem Dunst, und auf ihrer Stirnseite waren die steilen Sandsteinwände zu sehen. Dieser Teil von Santa Teresa County besteht im Grunde aus Wüste, und der Boden eignet sich eher für Sträucher und Beifuß als für produktiven Ackerbau. Sämtliche Bäume wurden von den ersten Siedlern in dieser Gegend gepflanzt. Das einst so verdorrte Land ist inzwischen sanft und kultiviert, aber über den frisch bestellten Äckern schwebt immer noch die Aura der unerbittlichen Sonne. Nähme man die Bewässerungsanlagen, die Wasserschläuche und Sprenganlagen weg, würde die Vegetation in ihren Urzustand zurückkehren: Kreuzdorn- und Wermutsträucher, Bärentraube und Präriegras, die in trockenen Jahren ein Raub der Flammen werden. Träfen die derzeitigen Vorhersagen zu, und vor uns läge tatsächlich eine weitere Dürre, würde das ganze Buschwerk zum Pulverfaß, und das ganze Land fiele einer Feuerwalze zum Opfer.

Vor mir, zur Linken, stand die Wasseraufbereitungsanlage von Santa Teresa, die in den sechziger Jahren gebaut worden war: rotes Ziegeldach, drei weiße Stuckbögen und ein paar kleine Bäume. Hinter den flachen Umrissen des Gebäudes entdeckte ich den Irrgarten der Einfassungen von Betonbecken. Zu meiner Rechten wies ein Schild auf die Existenz des Largo-Reservoirs hin, obwohl das Gewässer selbst von der Straße her nicht sichtbar war.

Ich parkte vor dem Gebäude und ging die Steinstufen hinauf und durch die doppelte Glastür. Der Empfang befand sich links vom Eingang, hinter dem sich ein weiter Raum öffnete, der offensichtlich auch als Vortragssaal genutzt wurde. Die Angestellte hinter der Empfangstheke mußte Lornas Nachfolgerin sein. Sie wirkte jung und kompetent, besaß aber nicht einmal einen Anflug von Lornas Schönheit. Das kupferne Schildchen vor ihr besagte, daß sie Melinda Ortiz hieß.

Anstatt mich vorzustellen, gab ich ihr eine meiner Visitenkarten. »Könnte ich ein paar Minuten mit dem Werksleiter sprechen?«

»Der Lieferwagen hinter Ihrem Auto ist seiner. Er ist gerade gekommen.«

Ich drehte mich noch rechtzeitig um, um einen Lieferwagen, der dem County gehörte, in die Einfahrt biegen zu sehen. Roger Bonney stieg aus und ging mit besorgter Miene auf uns zu, als sei er auf dem Weg zu einer Besprechung und mit seinen Gedanken bereits bei der bevorstehenden Konferenz.

»Kann ich ihm sagen, worum es sich handelt?«

Ich sah wieder zu ihr hin. »Lorna Kepler.«

»Oh, die. Das war ja schrecklich.«

»Haben Sie sie gekannt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe andere über sie reden hören, bin ihr aber nie selbst begegnet. Ich bin erst seit zwei Monaten hier. Sie hatte diesen Job vor dem Mädchen, nach dem ich kam. Vielleicht gab es auch noch eine dazwischen. Mr. Bonney mußte nach ihr mehrere durchmachen.«

»Arbeiten Sie Teilzeit?«

»Nachmittags. Ich habe kleine Kinder, deshalb ist das für mich ideal. Mein Mann arbeitet nachts, und da kann er sie versorgen, solange ich nicht da bin.«

Bonney betrat mit einem braunen Umschlag in der Hand die Empfangshalle. Er hatte ein stark gebräuntes, breites Gesicht und zerzaustes, lockiges Haar, das vermutlich bereits zu ergrauen begonnen hatte, als er fünfundzwanzig war. Die Kombination von Furchen und Falten in seinem Gesicht wirkte attraktiv. Womöglich war er in seiner Jugend allzu gutaussehend gewesen, die Art Mann, dessen Äußeres mich störrisch und unzugänglich macht. Mein zweiter Mann war schön gewesen, und unsere Beziehung hatte äußerst niederschmetternd geendet... zumindest aus meiner Sicht. Daniel schien der Meinung gewesen zu sein, alles sei ganz wunderbar, herzlichen Dank. Mittlerweile neige ich dazu, mich von bestimmten Männertypen fernzuhalten. Mir gefallen Gesichter, die der Reifeprozeß weicher gemacht hat. Irgendwie finde ich ein paar schlaffe Stellen und Tränensäcke ganz beruhigend. Bonney sah mich und blieb höflich an Melindas Tisch stehen, um unser Gespräch nicht zu unterbrechen.

Sie zeigte ihm meine Karte. »Sie möchte Sie gern sprechen. Es geht um Lorna Kepler.«

Rasch sah er zu mir her. Mit den braunen Augen hatte ich nicht gerechnet. Bei seinem silbergrauen Haar hätte ich auf blau getippt.

»Ich kann gerne einen Termin für später ausmachen, wenn es Ihnen jetzt ungelegen kommt.«

Er sah auf die Uhr. »Ich erwarte in fünfzehn Minuten die Jahresinspektion der Gesundheitsbehörde, aber Sie können gerne mitkommen, während ich die Anlage abgehe. Es sollte nicht lange dauern. Ich möchte mich gern davon überzeugen, daß alles in Ordnung ist, bevor sie kommen.«

»Das wäre wunderbar.«

Ich folgte ihm nach links einen kurzen Korridor entlang und wartete, während er in sein Büro ging und den Umschlag auf den Schreibtisch warf. Er trug ein hellblaues Sporthemd mit offenem Kragen und schiefsitzender Krawatte, stonewashed Blue Jeans und schwere Arbeitsstiefel. Mit Helm und Klemmbrett versehen, hätte man ihn auf eine Baustelle plazieren und mit dem Ingenieur verwechseln können. Er war knapp 1,80 groß und hatte sich das stattliche Aussehen eines Mannes Mitte Fünfzig angeeignet. Er war ganz und gar nicht dick, hatte aber breite Schultern und einen massigen Brustkorb. Ich vermutete, daß er inzwischen sein Gewicht durch regelmäßiges Training kontrollierte, vermutlich Tennis und Golf und dazwischen gelegentlich ein schnelles Squash-Match. Er besaß nicht die drahtigen Muskeln eines Langstreckenläufers, und irgendwie schätzte ich ihn so ein, daß er gern seine Kräfte mit anderen maß, während er sich in Form hielt. Ich stellte ihn mir vor, wie er Football spielte, was in zehn Jahren seinen Gelenken zu schaffen machen würde.

Beim Weitergehen folgte ich ihm dichtauf. »Danke, daß Sie so kurzfristig bereit sind, mit mir zu sprechen.«

»Das ist kein Problem«, sagte er. »Haben Sie schon einmal eine Führung durch die Wasseraufbereitungsanlage mitgemacht?«

»Ich wußte nicht einmal, daß es sie gibt.«

»Wir klären die Öffentlichkeit gerne auf.«

»Wohl für den Fall, daß die Preise wieder steigen.«

Er lächelte gutmütig, und wir drängten uns durch eine schwere Tür. »Wollen Sie den Sermon hören oder nicht?«

»Unbedingt.«

»Das dachte ich mir«, sagte er. »Das Wasser aus dem Staubecken auf der anderen Straßenseite fließt durch das Einlaufwerk, das unterhalb der Empfangshalle verläuft. Vielleicht wäre es Ihnen aufgefallen, wenn Sie gewußt hätten, auf was Sie horchen müssen. Fischzäune und Müllrechen verringern das Eindringen von Fremdkörpern bis auf ein Minimum. Das Wasser kommt hier durch. Der große Kanal verläuft unter diesem Teil des Gebäudes. Wir werden in den nächsten Tagen wegen einer Wartungsinspektion vorübergehend schließen.«

Dort, wo wir entlanggingen, vollzog eine Reihe von Pegeln und Meßuhren den Weg des Wassers nach, das mit leisem Rauschen durch die Anlage floß. Die Fußböden waren aus Beton, und die in einem verwirrenden Netz über die Wand verlaufenden Rohre waren rosa, dunkelgrün, braun und blau gestrichen, und auf ihnen zeigten Pfeile in vier Richtungen. Ein Fußbodenelement war entfernt worden, und Bonney wies wortlos nach unten. Ich spähte in das Loch. Gut einen Meter weiter unten konnte ich schwarzes Wasser sehen, das sich blind durch den Kanal bewegte wie ein Maulwurf. Die Haare auf meinen Armen schienen sich als Reaktion darauf zu sträuben. Es ließ sich unmöglich sagen, wie tief es war oder was wohl in seinem Innersten wallte. Ich trat einen Schritt von dem Loch zurück und malte mir ein langes, mit Saugnäpfen bewehrtes Tentakel vor, das ausholte, um meinen Fuß zu umschlingen und mich hinabzureißen. Ich bin schrecklich leicht beeinflußbar. Hinter uns fiel mit metallischem Klirren eine Tür ins Schloß, und ich mußte mit aller Kraft einen Schrei unterdrücken. Bonney schien nichts zu bemerken.

»Wann haben Sie das letzte Mal mit Lorna gesprochen?« fragte ich.

»Am Freitag morgen, dem zwanzigsten April«, antwortete er. »Ich weiß es noch, weil ich an diesem Wochenende ein Golfturnier hatte und hoffte, früh aus der Arbeit zu kommen und noch aufs Drivingrange zu gehen. Sie hätte um ein Uhr da sein sollen, rief aber an und sagte, sie hätte einen ganz schlimmen Allergieanfall. Sie wollte ohnehin verreisen, wissen Sie, um den Pollen zu entkommen, und so habe ich gesagt, sie soll sich ruhig den Tag freinehmen. Es wäre sinnlos gewesen, sie herkommen zu lassen, wenn sie sich miserabel fühlte. Der Polizei zufolge ist sie am Tag darauf gestorben.«

»Und sie sollte am siebten Mai wieder zu arbeiten beginnen?«

»Das müßte ich nachsehen. Es müßte zwei Wochen nach dem drauffolgenden Montag gewesen sein, aber da hatten sie sie ja schon gefunden.« Er schaltete wieder auf den Reiseführertonfall um und sprach über Baukosten, als wir den nächsten Teil der Anlage betraten. Das leise Rauschen des plätschernden Wassers und der Chlorgeruch schufen ein geändertes Bewußtsein. Die allgemeine Stimmung gemahnte an Stauwasserventile und unter Druck stehende Tanks, die kurz vorm Explodieren sind. Es hatte den Anschein, als bedürfe es nur eines heftigen Rucks des San-Andreas-Grabens, und die ganze Anlage würde zusammenbrechen und Milliarden von Litern Wasser und Schutt ausspeien, die uns beide binnen Sekunden töten würden. Ich drängte mich näher an ihn heran und heuchelte ein Interesse, das ich im Grunde nicht hatte.

Als ich wieder zuhörte, sagte er gerade: »Das Wasser wird vorchloriert, um Krankheitserreger auszuschalten. Dann setzen wir Gerinnungsmittel zu, durch die sich die feinen Partikel zusammenklumpen. Dabei werden meist Polymere zugegeben, um die Bildung unlöslicher Flocken zu fördern, die dann ausgefiltert werden können. Wir haben hinten ein Labor, damit wir die Wasserqualität überwachen können.«

Oh, toll. Nun konnte ich mir Sorgen über Krankheitserreger machen, die frei im Labor herumliefen. Dabei hatte ich Trinkwasser immer für etwas so Einfaches gehalten. Man holt sich ein Glas, dreht den Hahn auf, füllt es bis zum Rand und schüttet es hinunter, bis man rülpsen muß. Ich hatte noch nie über unlösliche Flocken oder Gerinnungsmittel nachgedacht. Igitt.

Während er die Funktionsweise der Anlage erklärte, was er in der Vergangenheit bereits hundertmal durchexerziert haben mußte, merkte ich, wie er jeden Zentimeter des Gebäudes peinlich genau musterte, um für die bevorstehende Inspektion gerüstet zu sein. Polternd stiegen wir eine kurze Eisentreppe hinunter und gingen durch eine Tür nach draußen. Nach dem ganzen Kunstlicht drinnen schien der Tag seltsam hell zu sein, und die feuchte Luft roch nach Chemikalien. Lange Arbeitsstege verliefen zwischen Gruppen offener, von Metallgeländern umgebener Becken, in denen stilles Wasser bewegungslos wie Glas ruhte und den grauen Himmel und die Unterseite der Gitter widerspiegelte.

»Das sind die Ausflockungs- und Gerinnungsbecken. Das Wasser wird immer wieder umgewälzt, um Flocken von gewisser Größe und Dichte zu erzeugen, die später in den Klärbecken entfernt werden.«

Ich sagte so etwas wie »Hmm« und »Mhm«.

Er redete weiter, da für ihn die ganzen Vorgänge selbstverständlich waren. Was ich vor mir sah (wobei ich mich darum bemühte, meinen heftigen Ekel zu unterdrücken), waren Tröge, in denen das Wasser mit einer zähflüssigen Masse an der Oberfläche stand, von Blasen bedeckt und trüb. Der Schlamm war so schwarz wie Lakritze und sah aus, als bestünde er aus geschmolzenen Autoreifen und befände sich kurz vor dem Siedepunkt. Perverserweise malte ich mir einen Sprung in die teerigen Tiefen aus und fragte mich, ob mir, wenn ich mich wieder an die Oberfläche gekämpft hätte, aufgrund der ganzen Chemikalien das Fleisch in Fetzen vom Körper hinge. Steven Spielberg könnte sich mit diesem Zeug sicher köstlich amüsieren.

»Sie sind aber nicht von der Polizei?« fragte er. Er war nicht ein einziges Mal stehengeblieben.

»Nein, nicht mehr. Vom Gemüt her eigne ich mich besser für den privaten Sektor.«

Ich trottete hinter ihm drein wie ein Kind am Wandertag, das unrettbar vom Rest der Klasse isoliert ist. Vor dem Hintereingang der Anlage stand ein großes, seichtes Staubecken mit rissigen, schwarzen Rückständen, das wie ein auftauender Schmutztümpel aussah. In ein paar tausend Jahren würden Anthropologen das Ganze ausgraben und sich einbilden, es sei eine Art Opferbecken gewesen.

Er fragte: »Dürfen Sie sagen, für wen Sie arbeiten? Oder ist das geheim?«

»Für Lornas Eltern«, sagte ich. »Manchmal ziehe ich es vor, diese Information für mich zu behalten. Aber in diesem Fall liegt es auf der Hand. Kein Riesengeheimnis. In der vergangenen Nacht habe ich schon mit Serena über die Sache gesprochen.«

»Mit meiner Ex-Frau in spe? Also, das ist mal ein interessanter Ausgangspunkt. Warum mit ihr? Weil sie die Leiche gefunden hat?«

»Genau. Ich konnte nicht schlafen. Ich wußte, daß sie in der Nachtschicht im St. Terrys arbeitet, und deshalb habe ich mir gedacht, ich könnte ebensogut zuerst mit ihr sprechen. Wenn ich angenommen hätte, daß Sie wach seien, hätte ich auch bei Ihnen angeklopft.«

»Ganz schön unternehmungslustig«, bemerkte er.

»Ich bekomme fünfzig Dollar die Stunde dafür. Erscheint mir sinnvoll, so oft wie möglich tätig zu werden.«

»Wie geht es bislang voran?«

»Momentan bin ich noch dabei, Informationen zu sammeln und versuche, ein Gefühl dafür zu bekommen, womit ich es eigentlich zu tun habe. Soweit ich weiß, hat Lorna für Sie gearbeitet. Wie lange — drei Jahre?«

»In etwa. Ursprünglich war es ein Vollzeitjob, aber nach den Budgetkürzungen haben wir beschlossen zu versuchen, mit zwanzig Stunden in der Woche hinzukommen. Bislang hat das auch gut geklappt, es war zwar nicht ideal, aber machbar. Lorna hat drüben im City College Kurse besucht, und die Teilzeitarbeit kam ihrem Stundenplan sehr entgegen.«

Mittlerweile waren wir durch eine unterirdische Ebene zum Ausgangspunkt zurückgekommen. Das gesamte Untergeschoß war von wuchtigen Rohren durchzogen. Wir stiegen eine lange Treppe hinauf und standen plötzlich in einem hellerleuchteten Korridor, nicht weit von seinem Büro. Er geleitete mich hinein und wies auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich.«

»Sie haben Zeit?«

»Sehen wir einfach, wie weit wir kommen, und was wir nicht schaffen, können wir an einem anderen Tag besprechen.« Er beugte sich vor und drückte auf einen Knopf an seiner Sprechanlage. »Melinda, rufen Sie mich an, wenn die Inspektoren kommen.«

Ich hörte ein dumpfes: »Ja, Sir.«

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Fragen Sie nur«, sagte er.

»Kein Problem. Hat Lorna ihre Arbeit gut gemacht?«

»Ich hatte nichts auszusetzen. Die Arbeit an sich war nicht so anspruchsvoll. Sie war im Grunde Empfangsdame.«

»Wußten Sie viel über ihr Privatleben?«

»Ja und nein. In einer Anlage wie der unseren, wo man weniger als zwanzig Angestellte in jeder Schicht hat, lernt man einander eigentlich recht gut kennen. Wir sind vierundzwanzig Stunden am Tag in Betrieb, sieben Tage die Woche, und daher ist das hier wie eine Familie für mich. Ich muß sagen, Lorna war ein bißchen unnahbar. Sie war nicht unhöflich oder abweisend, aber reserviert. In den Pausen schien sie regelmäßig die Nase in ein Buch zu stecken. Sie brachte sich ein Lunchpaket mit und setzte sich manchmal zum Essen hinaus in ihr Auto. Freiwillig gab sie einem nicht viele Informationen. Sie antwortete auf Fragen, aber sie war nicht entgegenkommend.«

»Sie wurde mir von manchen als verschlossen beschrieben.«

Bei diesem Begriff verzog er die Miene. »Das würde ich nicht sagen. >Verschlossen< klingt in meinen Ohren irgendwie düster. Sie war freundlich, aber irgendwie distanziert. Der Begriff zurückhaltend könnte es treffen.«

»Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihr beschreiben?«

»Mein Verhältnis?«

»Ja, ich wüßte gern, ob Sie sie je außerhalb der Arbeit getroffen haben.«

Sein Lachen wirkte verlegen. »Wenn Sie das meinen, was ich glaube, muß ich sagen, daß ich mich geschmeichelt fühle, aber sie war nichts weiter als eine Angestellte. Sie war ein hübsches Mädchen, aber sie war... was — vierundzwanzig Jahre alt?«

»Fünfundzwanzig.«

»Und ich bin doppelt so alt. Glauben Sie mir, Lorna war an einem Mann meines Alters nicht interessiert.«

»Warum nicht? Sie sehen gut aus und machen einen sympathischen Eindruck.«

»Ihr Urteil freut mich, aber für ein Mädchen in ihrer Position bedeutet das nicht viel. Sie war vermutlich auf Heiraten und Familiengründung aus, das letzte, was mich interessieren würde. In ihren Augen war ich doch bloß ein leicht übergewichtiger, alter Knallkopf. Außerdem schätze ich es, wenn mich mit den Frauen, mit denen ich ausgehe, gemeinsame Interessen verbinden, aber sie hatte von der Tet-Offensive noch nie gehört, und die einzigen Kennedys, die ihr ein Begriff waren, sind Caroline und John-John.«

»War ja nur eine Möglichkeit«, sagte ich. »Ich habe dasselbe Thema bei Serena angesprochen und mich gefragt, ob Lorna in irgendeiner Form mit Ihrer Scheidung zu tun hatte.«

»Nicht im geringsten. Meiner Ehe mit Serena ging einfach die Luft aus. Manchmal denke ich, Meinungsverschiedenheiten wären noch besser gewesen. Konflikte haben etwas Zündendes an sich. Zwischen uns war alles lahm.«

»Serena sagt, Sie wollten die Scheidung.«

»Tja, das stimmt«, sagte er, »aber ich habe mir ein Bein ausgerissen, um den freundschaftlichen Rahmen zu wahren. Es ist so, wie ich zu meinem Anwalt gesagt habe: Ich fühle mich ohnehin schon schuldig genug, also machen wir es nicht noch schlimmer. Ich habe Serena sehr gern. Sie ist ein wahnsinnig nettes Mädchen, und ich halte große Stücke auf sie. Ich bin nur einfach noch nicht bereit, ohne Leidenschaft zu leben. Ich kann bloß hoffen, daß sie die Situation ähnlich dargestellt hat.«

»Das hat sie durchaus«, sagte ich, »aber im Zusammenhang mit Lornas Tod war es die Sache wert, überprüft zu werden.«

»Aha. Natürlich hat es mir unheimlich leid getan, als ich hörte, was mit ihr passiert ist. Sie war ehrlich und flink, und soweit ich weiß, kam sie mit allen gut aus.« Ich sah, wie er unter dem Vorwand, das Armband zurechtzurücken, unauffällig auf seine Uhr sah.

Ich richtete mich auf. »Ich sollte Sie jetzt besser gehen lassen«, sagte ich. »Sie sind mit den Gedanken schon ganz woanders.«

»Das muß ich wohl zugeben, jetzt wo Sie es sagen. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich.«

»Überhaupt nicht. Danke, daß Sie mir soviel Zeit gewidmet haben. Die nächsten zwei Tage bin ich verreist, aber ich melde mich vielleicht wieder bei Ihnen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Aber sicher. Manchmal bin ich schwer zu erreichen, aber Sie können jederzeit bei Melinda nachfragen. Am Samstag machen wir wegen Wartungs- und Reparaturarbeiten zu, deshalb werde ich hier sein, falls Sie mich brauchen.«

»Ich werd’s mir merken. Wenn Ihnen in der Zwischenzeit etwas einfällt, würden Sie mich dann anrufen?«

»Sicher«, sagte er.

Ich hinterließ eine weitere Visitenkarte. Wir schüttelten uns über dem Schreibtisch die Hände, dann brachte er mich hinaus. Neben Melindas Tisch warteten zwei Inspektoren. Der männliche Teil trug ein Sporthemd, Jeans und Tennisschuhe. Mir fiel auf, daß seine Kollegin wesentlich besser gekleidet war. Roger begrüßte sie freundlich und winkte mir noch rasch zu, als er sie den Flur entlang geleitete.

Ich fuhr zu meinem Büro. Es war mitten am Nachmittag, und die schwachen Strahlen der Wintersonne drängten durch die Wolkendecke. Der Himmel war weiß und das Gras lebhaft limonengrün gefärbt. Der Februar bringt Santa Teresa einen Dschungel von Geranien in leuchtendem Pink, magentafarbenen Bougainvilleen und orangeroter Kapuzinerkresse. Mittlerweile war ich daran gewöhnt, in der Dunkelheit zu agieren, und das Licht erschien mir hart und die Farben zu grell. Die Nacht wirkte weicher, wie eine Flüssigkeit, die alles einhüllte, kühl und besänftigend.

Ich ging zum Seiteneingang hinein und setzte mich an meinen Schreibtisch, wo ich verschiedene Papiere hin- und herschob und versuchte, so zu tun, als verfolgte ich ein Ziel. Für Gesellschaft war ich viel zu müde, und der Mangel an Schlaf erzeugte erneut das Gefühl, bekifft zu sein. Mir war, als hätte ich zwei Tage lang ununterbrochen Haschisch geraucht. Zugleich verursachte der Kaffeekonsum ein knisterndes Geräusch mitten im Gehirn, ähnlich einer Antenne, die Signale aus dem Weltraum empfängt. Gleich würden Funksprüche der Venusbewohner die bevorstehende Invasion ankündigen, aber ich wäre viel zu daneben, um die Polizei zu alarmieren. Ich legte den Kopf auf den Schreibtisch und versank in Bewußtlosigkeit.

Nach einer Stunde und fünf Minuten im tiefsten aller Nickerchen klingelte das Telefon. Das Geräusch durchfuhr mich wie eine Kettensäge. Ich sprang auf wie angestochen. Dann packte ich den Hörer und meldete mich, wobei ich mich bemühte, hellwach zu klingen.

»Miss Millhone? Hier ist Joe Ayers. Was kann ich für Sie tun?«

Ich kam nicht dahinter, wer zum Teufel er war. »Mr. Ayers, vielen Dank für Ihren Anruf«, sagte ich begeistert. »Einen Moment bitte.« Ich legte die Hand über die Sprechmuschel. Joe Ayers. Joseph Ayers. Ah. Der Pornofilmproduzent. Ich legte den Hörer ans andere Ohr, damit ich mir während des Gesprächs Notizen machen konnte. »Soweit ich weiß, waren Sie der Produzent eines künstlerischen Films, in dem Lorna Kepler mitgespielt hat.«

»Das stimmt.«

»Können Sie mir etwas über ihre Mitwirkung an diesem Projekt sagen?«

»Mir ist nicht ganz klar, was Sie wissen möchten.«

»Ich fürchte, mir auch nicht. Jemand hat ihrer Mutter ein Band geschickt, und sie hat mich gebeten, Nachforschungen anzustellen. Sie waren als Produzent genannt —«

Ayers unterbrach mich barsch. »Miss Millhone, da müssen Sie mir schon auf die Sprünge helfen. Wir haben nichts zu besprechen. Lorna Kepler wurde vor sechs Monaten ermordet.«

»Vor zehn Monaten. Das ist mir bekannt. Ihre Eltern hoffen, mehr über den Vorfall in Erfahrung bringen zu können.« Ich fand mich ziemlich schwülstig, aber seine Gereiztheit machte mich ebenfalls gereizt.

»Tja, bei mir werden Sie nichts in Erfahrung bringen«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber mein Kontakt mit Lorna war äußerst begrenzt. Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht mehr sagen kann.«

Eilig überflog ich meine Notizen und versuchte, schnell genug zu sprechen, um sein Interesse zu wecken. »Was ist mit den beiden anderen Schauspielern, die mit ihr in dem Film aufgetreten sind, Nancy Dobbs und Russell Turpin?«

Ich konnte hören, wie er vor Verärgerung hin- und herrutschte. »Was ist mit den beiden?«

»Ich würde gern mit ihnen sprechen.«

Schweigen. »Ich kann Ihnen vermutlich sagen, wie Sie ihn erreichen können«, sagte er schließlich.

»Haben Sie seine derzeitige Adresse und Telefonnummer?«

»Sie muß hier irgendwo sein.« Ich hörte, wie er ruckartig umblätterte, vermutlich in seinem Adreßbuch. Ich klemmte mir den Hörer zwischen Ohr und Schulter und zog die Kappe von meinem Füller.

»Da haben wir’s«, sagte er.

Er ratterte die Daten herunter, und ich notierte sie. Die Adresse in der Haight Street entsprach der, die ich von der Auskunft bekommen hatte. Ich sagte: »Das ist ja wunderbar. Herzlichen Dank. Und was ist mit Miss Dobbs?«

»Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Können Sie mir vielleicht sagen, wie Ihr Terminplan in den nächsten beiden Tagen aussieht?«

»Was hat denn mein Terminplan damit zu tun?«

»Ich hatte gehofft, wir könnten uns treffen.«

Ich konnte durchs Telefon seine Gehirnzellen surren hören, als er dieses Ansinnen verarbeitete. »Ich weiß wirklich nicht, wozu. Ich kannte Lorna kaum. Ich hatte höchstens vier Tage lang mit ihr zu tun.«

»Wissen Sie noch, wann Sie sie zum letzten Mal gesehen haben?«

»Nein. Ich weiß, daß ich sie nach den Dreharbeiten nie wieder gesehen habe, und das war im Dezember vor einem Jahr. Das war das absolut einzige Mal, daß wir miteinander gearbeitet haben. Außerdem wurde der Film nie veröffentlicht, daher hatte ich auch keinerlei Veranlassung, danach Kontakt mit ihr aufzunehmen.«

»Warum wurde er denn nicht veröffentlicht?«

»Ich glaube nicht, daß Sie das etwas angeht.«

»Warum denn, ist es ein Geheimnis?«

»Es ist nicht geheim. Es geht Sie nur einfach nichts an.«

»Das ist aber schade. Ich hatte gehofft, Sie würden uns weiterhelfen.«

»Miss Millhone, ich weiß im Grunde nicht einmal, wer Sie sind. Sie rufen mich an, hinterlassen auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht mit einer Vorwahl, die mir rein gar nichts sagt. Sie könnten sonst jemand sein. Warum zum Teufel soll ich Ihnen helfen?«

»Stimmt. Sie haben recht. Sie haben keine Ahnung, wer ich bin, und ich habe keine Möglichkeit, Sie dazu zu bringen, mir Informationen zu geben. Ich wohne drunten in Santa Teresa, mit dem Flugzeug eine Stunde entfernt. Ich will nichts Besonderes von Ihnen, Mr. Ayers. Ich tue nur mein Möglichstes, um herauszufinden, was Lorna zugestoßen ist, und dazu hätte ich gern einige Hintergrundinformationen. Ich kann Sie nicht zur Kooperation zwingen.«

»Es ist keine Frage der Kooperation. Ich habe nichts beizutragen. Ehrlich.«

»Es würde vermutlich nicht einmal eine Stunde Ihrer Zeit in Anspruch nehmen.«

Ich konnte ihn atmen hören, während er darüber nachdachte. Ich erwartete schon beinahe, er würde auflegen. Statt dessen klang er nun argwöhnisch. »Sie versuchen doch nicht etwa, in die Branche einzubrechen, oder?«

»Die Branche?« Ich dachte, er meinte Privatdetektive.

»Wenn Sie nämlich irgendeine bescheuerte Schauspielerin sind, dann verschwenden Sie bloß Ihre Zeit. Es ist mir egal, wie groß Ihre Titten sind.«

»Ich versichere Ihnen, das bin ich nicht. Es ist alles völlig legitim. Sie können sich meine Befugnis bei der Polizei von Santa Teresa bestätigen lassen.«

»Sie hätten mich nicht zu einem übleren Zeitpunkt erwischen können. Ich bin gerade von einem sechswöchigen Europa-Aufenthalt zurückgekommen. Meine Frau veranstaltet heute abend irgendeinen idiotischen Schwof, bei dem ich mitmachen soll. Sie haut ein Vermögen auf den Kopf, und ich kenne nicht einmal die Hälfte der Leute, die sie eingeladen hat. Außerdem bin ich sowieso schon todmüde.«

»Was ist mit morgen?«

»Da ist es noch schlimmer. Ich habe einiges zu erledigen.«

»Dann heute abend? Ich kann wahrscheinlich in ein paar Stunden da sein.«

Er schwieg, aber seine Verärgerung war greifbar. »Ach, verflucht. In Ordnung. Was soll’s«, sagte er. »Wenn Sie tatsächlich herauffliegen, können Sie mich ja anrufen. Wenn mir danach ist, rede ich mit Ihnen. Wenn nicht, Pech gehabt. Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen, und ich werde vermutlich bereits das bedauern.«

»Wunderbar. Hervorragend. Kann ich Sie wieder unter derselben Nummer erreichen?«

Er seufzte und zählte vermutlich bis zehn. Ich hatte ihn so maßlos genervt, daß wir schon fast Freunde geworden waren. »Ich gebe Ihnen meine Privatnummer. Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen auch gleich die Adresse geben. Sie klingen, als könnten Sie entsetzlich lästig werden, wenn Sie nicht bekommen, was Sie wollen.«

»Ich bin fürchterlich«, sagte ich.

Er nannte mir seine Privatadresse.

»Und jetzt gehe ich ins Bett«, sagte er. Ich hörte, wie der Hörer aufgeknallt wurde.

Ich rief Lupe, meine Kontaktperson im Reisebüro, an und bat sie, mir einen Platz für den nächsten Flug zu reservieren. Dummerweise war bis neun Uhr abends alles ausgebucht. Sie ließ mich auf die Warteliste setzen und sagte mir, ich solle schon zum Flughafen hinausfahren. Ich ging in meine Wohnung und warf ein paar Dinge in einen Seesack. In letzter Minute fiel mir ein, daß ich ja Ida Ruth gar nicht mitgeteilt hatte, wo ich hinfuhr. Ich rief sie zu Hause an.

Sie gab folgenden Kommentar ab, als sie hörte, daß ich nach San Francisco fliegen würde: »Nun, ich hoffe, du hast etwas Besseres an als Jeans und Rollkragenpullover.«

»Ida Ruth, ich fühle mich beleidigt. Es ist rein geschäftlich«, sagte ich.

»Ä-hä. Sieh nach unten und beschreibe, was du anhast. Obwohl — spar’s dir. Ich bin sicher, du siehst umwerfend aus. Möchtest du mir eine Nummer geben, unter der du zu erreichen bist?«

»Ich weiß nicht, wo ich übernachten werde. Ich rufe an, wenn ich dort bin und lasse es dich wissen.«

»Sprich es auf den Anrufbeantworter im Büro. Bis du in San Francisco ankommst, liege ich im Bett«, sagte sie. »Paß auf dich auf.«

»Ja, Madam. Ich versprech’s.«

»Nimm ein paar Vitamine ein.«

»Mach’ ich. Bis dann«, sagte ich.

Ich räumte meine Wohnung auf für den Fall, daß das Flugzeug abstürzte, und brachte als Abschiedsgeste für die Götter den Müll hinaus. Wie wir alle wissen, wird genau an dem Tag, an dem ich dieses wichtige Ritual vergesse, der Flieger abschmieren, und alle werden sich denken, was für eine Schlampe ich war. Außerdem möchte ich, daß in meiner Behausung Ordnung herrscht. Wenn ich von einer Reise nach Hause komme, möchte ich einen erfreulichen Anblick vor mir haben und kein Tohuwabohu.