7

Ich stand an meinen VW gelehnt, den ich vor meiner Wohnung geparkt hatte, als Cheney in einem VW um die Ecke bog, der noch älter aussah als meiner. Er war beige und verbeult, ein unheimlicher Doppelgänger des 68er Modells, das ich vor fast zwei Jahren in den Graben gesetzt hatte. Cheney kam tuckernd zum Stehen, und ich versuchte, die Beifahrertür zu öffnen. Ohne Erfolg. Schließlich mußte ich einen Fuß gegen das Auto stemmen, um soviel Hebelwirkung zu entfalten, daß ich die Tür aufbekam. Das Kreischen, das sie von sich gab, hörte sich an, als würde ein großes, unmanierliches Tier einen fahren lassen. Ich setzte mich in den Wagen und zerrte bei dem Versuch, sie wieder zuzumachen, erneut vergeblich an der Tür. Cheney griff über mich hinweg und schaffte es, sie heranzuziehen und zu schließen. Er schaltete in den ersten Gang und fuhr rumpelnd los.

»Schöner Wagen. Ich hatte mal genau den gleichen«, sagte ich. Ich riß am Sicherheitsgurt und mühte mich erfolglos ab, ihn auf meinem Schoß einschnappen zu lassen. Das ganze Teil war eingefroren, und so konnte ich schließlich nur darum beten, daß er keinen Unfall baute. Ich finde es sehr unangenehm, wenn ein Abend damit endet, daß ich durch die Windschutzscheibe fliege. Zu meinen Füßen spürte ich, wie durch ein Loch, das der Rost gefressen hatte, der Wind hereinblies. Ich wußte, wenn es Tag gewesen wäre, hätte ich die Straße vorbeirasen sehen, genau wie dieses Stückchen Gleise, das man zu sehen bekommt, wenn man im Zug die Toilettenspülung betätigt. Ich versuchte, meine Füße hochzuhalten, um keinen Druck auf die Stelle auszuüben und nicht ganz durchzubrechen. Sollte das Auto streiken, so könnte ich es — ohne aufzustehen — mit einem Fuß weiterbewegen. Dann wollte ich das Fenster herunterdrehen, mußte jedoch feststellen, daß die Kurbel fehlte. Schließlich öffnete ich das Ausstellfenster und kalte Luft drang herein. Bis jetzt war das Ausstellfenster das einzige, was auf meiner Seite funktionierte.

Cheney meinte: »Ich habe auch noch einen kleinen Sportwagen, aber ich halte es für unsinnig, mit so etwas in diese Gegend zu fahren. Hast du schon mit Dolan gesprochen?«

»Ich habe ihn heute abend im St. Terry’s besucht. Er war ganz reizend, muß ich sagen. Ich bin direkt vom Krankenhaus ins Polizeirevier gegangen, um mir die Akten durchzusehen. Er hat mir sogar Abzüge der Fotos vom Tatort beschafft.«

»Wie ging es ihm?«

»Ganz gut, denke ich. Nicht so griesgrämig wie sonst. Warum? Was hast du für einen Eindruck?«

»Als ich mit ihm geredet habe, wirkte er deprimiert, aber vielleicht hat er sich ja dir zuliebe zusammengerissen.«

»Er muß Angst haben.«

»Ich hätte jedenfalls Angst«, meinte Cheney.

Heute abend trug er ein Paar schicke italienische Schuhe, eine dunkle Hose, ein kaffeebraunes Sporthemd und eine Windjacke aus weichem, cremefarbenem Wildleder. Ich muß sagen, in meinen Augen sah er ganz anders aus als die verdeckten Ermittler, die ich sonst kannte. Er blickte zu mir herüber und merkte, daß ich ihn taxierte. »Was?«

»Wo bist du eigentlich her?« fragte ich.

»Perdido«, antwortete er, eine Kleinstadt, die knapp fünfzig Kilometer südlich von uns lag.

»Und du?«

»Ich bin von hier«, sagte ich. »Dein Name kommt mir bekannt vor.«

»Du kennst mich ja auch schon seit Jahren.«

»Ja, aber kenne ich dich nicht auch noch von woanders? Hast du Familie in der Gegend?«

Er gab ein unverbindliches Geräusch von sich, das wohl als »ja« ausgelegt werden durfte.

Ich musterte ihn eingehend. Da ich selbst zum Lügen neige, erkenne ich die Ausweichmanöver anderer Leute auf Anhieb. »Was macht denn deine Familie?«

»Banken.«

»Was mit Banken? Legen sie Geld an? Machen sie Überfälle?«

»Sie, ähmmm, besitzen ein paar.«

Ich starrte ihn an, und die Erkenntnis dämmerte mir wie eine riesige Comicsonne. »Dein Vater ist X. Phillips? Wie in >Bank of X. Phillips<?«

Er nickte stumm.

»Was heißt das X? Xavier?«

»Eigentlich nur X.«

»Was für eine Marke ist denn dein Zweitwagen? Ein Jaguar?«

»He, nur weil er die dicke Kohle besitzt, heißt das nicht, daß ich sie auch habe. Ich habe einen Mazda. Nichts Besonderes. Na ja, ein bißchen besonders, aber er ist bezahlt.«

Ich sagte: »Du mußt dich nicht rechtfertigen. Wie bist du denn dazu gekommen, Bulle zu werden?«

Cheney lächelte. »Als Kind habe ich viel ferngesehen. Ich wuchs in einer Atmosphäre wohlwollender Vernachlässigung auf. Meine Mutter hat hochwertige Grundstücke verkauft, während mein Vater seine Banken leitete. Die Fernsehkrimis haben mich schwer beeindruckt. Jedenfalls stärker als Finanzangelegenheiten.«

»Ist dein Vater damit einverstanden?«

»Er hat ja keine Wahl. Er weiß, daß ich seine Nachfolge nicht antreten werde. Außerdem bin ich Legastheniker. Bedruckte Seiten sehen für mich wie Nonsens aus. Und was ist mit deinen Eltern? Leben sie noch?«

»Nimm bitte zur Kenntnis: Mir ist bewußt, daß du das Thema wechselst, aber ich bin bereit, deine Frage zu beantworten. Sie sind beide schon lange tot. Es hat sich herausgestellt, daß ich oben in Lompoc noch Verwandte habe, aber ich muß mir noch überlegen, was ich mit ihnen anfangen soll.«

»Was gibt’s da zu überlegen? Es ist mir neu, daß wir in diesen Dingen eine Wahl haben.«

»Lange Geschichte. Sie haben meine Existenz neunundzwanzig Jahre lang ignoriert, und jetzt kommen sie mir auf die nette Tour. Das behagt mir nicht. Für so eine Familie habe ich keine Verwendung.«

Cheney lächelte. »Sieh’s doch mal.so. Mir geht’s mit meiner genauso, und ich stehe seit meiner Geburt mit ihr in Kontakt.«

Ich lachte. »Sind wir jetzt zynisch oder was?«

»>Oder was< trifft es ganz gut.«

Ich wandte meine Aufmerksamkeit der Gegend zu, die wir abfuhren. Wir waren nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Den Cabana Boulevard hinunter, dann links über die Gleise. Die Eigentumswohnanlagen und kleinen Häuser machten allmählich Geschäftsgebäuden Platz: Lagerhäuser, Leichtindustrie, ein Fischgroßhändler, eine Umzugs- und Lagerfirma. Viele der Gebäude waren langgestreckt, flach und fensterlos. In einer Seitenstraße lag verborgen einer der beiden »Nur für Erwachsene«-Läden. Der zweite befand sich am unteren Ende der State Street, einige Blocks weiter. Hier standen in großen Abständen kleine, kahle Bäume. Die Straßenbeleuchtung erschien bläßlich im Kontrast zu den weiten, dunklen Flächen. Immer wieder kamen wir an kleinen Menschengruppen vorbei, fünf oder sechs Personen, die an Autos lehnten, Cliquen von Jugendlichen, deren Geschlecht schwer zu bestimmen war. Ihre Blicke folgten uns aufmerksam, und ihre Gespräche verstummten vorübergehend, wohl in der Hoffnung, daß mit uns das eine oder andere Geschäft zu machen sei. Sex oder Drogen. Das war vermutlich egal, solange nur Geld den Besitzer wechselte. Ich konnte durchs Autofenster das Haschisch riechen, während draußen die Joints kursierten.

Das dumpfe Brummen von Bässen kündigte die Nähe des Etablissements an, das wir suchten.

Neptune’s Palace war eine Mischung aus Bar und Billardsalon mit einem offenen Innenhof auf der einen Seite und einem weitläufigen, asphaltierten Parkplatz davor. Gäste standen sowohl im Hof als auch auf dem Parkplatz herum. Der gelbe Schein von Quecksilberdampflampen ergoß sich über die glänzenden Autodächer. Aus der Bar drang laute Musik. In der Nähe der Vorderseite des Lokals standen Mädchen an eine niedrige Mauer gelehnt und verfolgten mit Blicken die endlose Prozession vorüberfahrender Fahrzeuge, deren Insassen auf der Suche nach einem nächtlichen Abenteuer waren. Die Doppeltüren standen offen wie der Eingang zu einer Höhle, und das Rechteck aus gelbbraunem Licht verschwamm durch den Nebel aus Zigarettenrauch. Wir fuhren zweimal um den Block, und Cheney hielt Ausschau nach Danielle.

»Keine Spur von ihr?« fragte ich.

»Sie muß hier irgendwo sein. Für sie ist das hier wie das Arbeitsamt.«

Um die Ecke, wo es ruhiger war, fanden wir einen Parkplatz. Wir stiegen aus, sperrten den Wagen ab und gingen an zahlreichen gleichgeschlechtlichen Pärchen vorüber, die uns amüsiert zu beäugen schienen. Heterosexuelle sind ja so was von out.

Cheney und ich drängten uns bis zur Bar durch und mengten uns unter die angetrunkenen Gäste. Von der Tanzfläche dröhnte laute Musik herüber. Durch die feuchten, erhitzten Leiber war es hier drinnen fast tropisch. Zudem roch die Luft vom billigen Faßbier ganz salzig. Und überall Meeresmotive. Riesige Fischernetze hingen an Balken quer über die Decke, an der verspiegelte Glühbirnen wie Sonnenlicht auf dem Wasser glitzerten und eine Lightshow die Dämmerung auf dem Meer simulierte: der Tag ging in den Abend und schließlich in pechschwarze Nacht über. Manchmal wurden Sternbilder projiziert, dann wieder signalisierten grell leuchtende Blitze das Nahen eines Sturms auf hoher See. Die Wände waren in einer Vielzahl von Blautönen gestrichen, deren Schattierungen vom ruhigen Blau einer sommerlichen Dünung bis hin zum Mitternachtsblau der Tiefsee reichten. Sägespäne auf dem Betonfußboden schufen die Illusion von sandigem Meeresgrund. Die Tanzfläche selbst wurde von etwas begrenzt, das wie der Bug eines gesunkenen Schiffs aussah. Der Eindruck, daß man sich unter der Meeresoberfläche befand, war so stark, daß ich für jeden Atemzug dankbar war.

In Nischen, die wie Korallenriffe gestaltet waren, hatte man Tische gestellt. Die Beleuchtung war gedämpft und kam zum größten Teil aus mächtigen Salzwasser-Aquarien, in denen große Barsche mit schmollenden Mündern auf der Suche nach Beute unermüdlich ihre Kreise zogen. Reproduktionen von antiken Seekarten zierten in Acryl gegossen die Tischplatten. Sie zeigten eine Welt weiter, menschenleerer Ozeane, an deren Rändern heimtückische Kreaturen lauerten. Den Gästen gar nicht so unähnlich.

In den Pausen zwischen zwei Musikstücken nahm ich wahr, daß leise Klangeffekte aus den Lautsprechern drangen: Schiffsglocken, das Knarren von Holz, flatternde Segel, das Kreischen von Möwen und die blechernen Signale von Bojen. Am unheimlichsten waren allerdings die kaum hörbaren Jammerlaute ertrinkender Seeleute, als wären wir allesamt in einer Art maritimem Fegefeuer gefangen, in dem Alkohol, Zigaretten, Gelächter und ohrenbetäubende Musik dazu dienten, diese leisen Schreie zu übertönen und verstummen zu lassen. Sämtliche Kellnerinnen waren in hautenge, paillettenbesetzte Bodystockings gehüllt, die wie Fischhäute schillerten. Ich nahm an, daß die meisten von ihnen wohl aufgrund ihres androgynen Aussehens eingestellt worden waren: kurzgeschorenes Haar, schmale Hüften und keine nennenswerten Brüste. Sogar die Jungen waren geschminkt.

Cheney hielt sich dicht hinter mir und hatte mir beruhigend die Hand auf den Rücken gelegt. Einmal beugte er sich vor und sagte etwas, aber der Lärm schluckte seine Stimme. Zwischendurch verschwand er kurz und kam mit einer Flasche Bier in jeder Hand zurück. Wir fanden einen freien Platz an der Wand, von dem aus wir den Laden relativ ungehindert überblicken konnten. Wir lehnten uns an und ließen uns von den anderen begaffen. Die Musik war dermaßen laut, daß hinterher ein Hörtest fällig war. Ich sah förmlich vor mir, wie meine Gehörknöchelchen zusammenzuckten. Ich habe einmal aus den Tiefen eines Müllcontainers eine Pistole abgefeuert und bin seither von einem periodisch auftretenden Zischen im Kopf geplagt. Diese Kids würden im Alter von fünfundzwanzig Hörrohre benötigen.

Cheney berührte mich am Arm und deutete auf die andere Seite des Raumes. Mit dem Mund formte er das Wort »Danielle«, und ich folgte seinem Blick. Sie stand in der Nähe der Tür, offenbar allein, obwohl ich annahm, daß sie das nicht mehr lange bleiben würde. Sie war vermutlich noch nicht zwanzig und daran gewohnt, über ihr Alter falsche Angaben zu machen, denn wie hätte sie sonst hier hereinkommen sollen. Sie hatte dunkles Haar, das so lang war, daß sie darauf sitzen konnte, und lange Beine, die gar nicht aufzuhören schienen. Sogar über die Entfernung hinweg sah ich schmale Hüften, einen flachen Bauch und jugendliche Brüste, ein Körpertyp, den Männer jenseits der Wechseljahre glühend bewundern. Sie trug limonengrüne Hot pants aus Satin und ein schulterfreies Top mit einer limonengrünen Bomberjacke darüber.

Wir durchquerten den Raum. Während wir uns näherten, bemerkte sie Cheney. Er zeigte auf den Hof. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging vor uns hinaus. Der Temperaturunterschied zu drinnen war drastisch, und das plötzliche Fehlen von Zigarettenrauch ließ die Luft nach frischem Heu duften. Die Kälte ergoß sich wie eine Flüssigkeit über meine Haut. Danielle hatte sich mit den Händen in den Jackentaschen zu uns umgedreht. Aus der Nähe erkannte ich, wie gekonnt sie verschiedene Kosmetika im Kampf gegen ihr jugendliches Aussehen eingesetzt hatte. Sie hätte für zwölf durchgehen können. Ihre Augen besaßen das leuchtende Grün bestimmter Tropenfische, und ihr Gesichtsausdruck war herausfordernd.

»Wir haben um die Ecke einen Wagen stehen«, sagte Cheney unvermittelt.

»Und?«

»Und dort können wir uns ein bißchen unterhalten. Nur wir drei.«

»Worüber?«

»Über das Leben im allgemeinen und Lorna Kepler im besonderen.«

Danielle hielt den Blick auf mich geheftet. »Wer ist das?«

»Das ist Kinsey. Lornas Mutter hat sie engagiert.«

»Das ist doch wohl keine Falle«, sagte sie argwöhnisch.

»Ach, komm schon, Danielle. Es ist keine Falle. Sie ist Privatdetektivin und untersucht Lornas Tod.«

»Ich sag’s dir nämlich, Cheney, wenn du mich reinlegst, könntest du mich in echte Schwierigkeiten bringen.«

»Es ist kein krummes Ding. Nur eine Unterhaltung. Sie bezahlt dir den üblichen Satz.«

Ich warf Cheney einen Blick zu. Ich sollte diese halbe Portion bezahlen?

Danielles Augen suchten den Parkplatz ab und wanderten dann in meine Richtung. »Ich mach’s nicht mit Frauen«, sagte sie mürrisch.

Ich beugte mich vor und sagte: »He, ich auch nicht. Falls das irgend jemand schert.«

Cheney ignorierte mich und wandte sich wieder an sie. »Wovor hast du Angst?«

»Wovor ich Angst habe?« fragte sie und wies sich mit dem Finger auf die eigene Brust. Ihre Nägel waren bis aufs Fleisch heruntergebissen. »Zuerst einmal vor Lester. Dann, daß mir die Zähne ausfallen. Ich habe Angst, daß mir Mr. Dickhead noch einmal die Nase plattschlägt. Der Kerl ist ein Schwein, ein richtiges Arschloch...«

»Du hättest ihn anzeigen sollen. Das habe ich dir schon letztes Mal gesagt«, sagte Cheney.

»Oh, natürlich. Ich hätte mir gleich einen Platz im Leichenschauhaus sichern sollen, dann hätte ich mir die unangenehme Zwischenzeit erspart«, fauchte sie.

»Komm schon. Hilf uns weiter«, bettelte Cheney.

Sie dachte darüber nach und ließ den Blick in die Dunkelheit schweifen. Schließlich sagte sie widerwillig: »Ich rede mit ihr, aber nicht mit dir.«

»Weiter habe ich ja um gar nichts gebeten.«

»Ich mache es auch nicht, weil du darum gebeten hast. Ich tue es für Lorna. Und nur dieses eine Mal. Das ist mein Ernst. Ich will nicht, daß du mich noch einmal so in die Enge treibst.«

Cheney lächelte verführerisch. »Du bist einfach perfekt.«

Danielle verzog das Gesicht und äffte seine Tour nach, die sie ihm nicht eine Minute lang abgekauft hatte. Dann ging sie auf die Straße zu und sagte über die Schulter nach hinten: »Bringen wir’s hinter uns, bevor Lester auftaucht.«

Cheney begleitete uns zum Auto, wo wir die erforderliche Tür-zerrarie absolvierten. Das Kreischen war diesmal so laut, daß ein Pärchen einen halben Häuserblock weiter seine Knutscherei unterbrach, um zu sehen, was für ein Tier wir quälten. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und überließ Danielle die Fahrerseite, für den Fall, daß sie eilig die Flucht antreten mußte. Wer immer auch Lester sein mochte, ich wurde selbst schon leicht nervös.

Cheney lehnte sich gegen das Ausstellfenster. »Bin gleich wieder da.«

»Wenn du Lester siehst, sag ihm bloß nicht, wo ich bin«, warnte sie ihn.

»Vertrau mir«, meinte Cheney.

»Ihm vertrauen. Was für ein Witz«, sagte sie vor sich hin.

Wir sahen ihm durch die Windschutzscheibe nach, als er in der Dunkelheit verschwand. Ich saß da und hoffte, daß ihr Satz für Montagnacht nicht allzu hoch wäre. Ich wußte nicht, wieviel Bargeld ich bei mir hatte, und ich nahm nicht an, daß sie meine Visa-Karte akzeptieren würde, die aber sowieso schon über den Höchstbetrag hinaus belastet war.

»Sie können gern rauchen, wenn Sie möchten«, sagte ich im Glauben, mich so einschmeicheln zu können.

»Ich rauche nicht«, wehrte sie beleidigt ab. »Rauchen ruiniert einem die Gesundheit. Wissen Sie, wieviel wir in diesem Land für Krankheiten ausgeben, die mit dem Rauchen zusammenhängen? Fünfzehn Milliarden im Jahr. Mein Vater ist an einem Emphysem gestorben. Jeden Tag seines Lebens wirkte er wie der wandelnde Erstickungstod. Die Augen traten ihm hervor. Wenn er atmete... dann klang es so...« Sie unterbrach sich, um es mit der Hand auf dem Brustkasten vorzumachen. Die Geräusche, die sie von sich gab, klangen wie eine Mischung aus Rasseln und Würgen. »Und dann hat er keine Luft mehr gekriegt. Es ist eine entsetzliche Art zu sterben. Mußte andauernd diesen Sauerstoffbehälter mit sich herumschleppen. Geben Sie’s lieber auf, solange noch Zeit ist.«

»Ich rauche nicht. Ich dachte nur, Sie vielleicht, und wollte höflich sein.«

»Wegen mir brauchen Sie nicht höflich zu sein«, meinte sie. »Ich hasse Rauchen. Erstens ist es schädlich, und zweitens stinkt es.« Danielle sah sich um und beäugte angewidert das Innere des VWs. »So ein Schweinestall. Womöglich holt man sich eine Krankheit, wenn man in diesem Ding sitzt.«

»Wenigstens wissen Sie dann, daß er nicht bestechlich ist«, sagte ich.

»Die Bullen hier in der Stadt nehmen kein Geld«, sagte sie. »Es macht ihnen viel zuviel Spaß, Leute in den Knast zu stecken. Er hat noch ein wesentlich schöneres Auto, aber er ist zu paranoid, um es hierher mitzunehmen. So. Schluß mit dem Geplapper und dem Kennenlern-Quatsch. Was möchten Sie über Lorna wissen?«

»Alles, was Sie mir sagen können. Wie lange haben Sie sie gekannt?«

Danielle verzog den Mund zu einer Art mimischem Achselzucken. »Etwa zwei Jahre. Wir haben uns bei der Arbeit für diesen Hostessenservice kennengelernt. Sie war ein guter Mensch. Sie war wie eine Mutter zu mir. Sie war meine — wie nennt man das... Mentorin... ich hätte mehr auf sie hören sollen.«

»Weshalb?«

»Lorna war der Hammer für mich. Sie war toll. Sie hat mich echt umgehauen. Ich war praktisch total voller Ehrfurcht. Sie wußte, was sie wollte, und sie hat es sich geholt, und wenn einem nicht gepaßt hat, wie sie drauf war, so war das sein Pech.«

»Was wollte sie denn?«

»Zunächst einmal eine Million Dollar. Sie wollte mit dreißig in den Ruhestand gehen. Das hätte sie auch geschafft, wenn sie lange genug gelebt hätte.«

»Wie wollte sie das schaffen?«

»Was glauben Sie wohl?«

»Das ist aber ein hartes Stück Arbeit«, meinte ich.

»Nicht bei den Preisen, die sie verlangte. Nachdem sie beim Hostessenservice aufgehört hat. Sie hat zweihunderttausend Dollar im Jahr verdient. Zweihunderttattsend. Ich konnte es nicht fassen. Sie war schlau. Sie hat investiert. Sie hat das Geld nicht derart hinausgeworfen, wie ich es an ihrer Stelle getan hätte. Ich habe keinen Kopf für Finanzen. Was ich in der Tasche habe, gebe ich aus, und wenn es weg ist, fange ich von vorn an. Zumindest war ich so, bevor sie mir den Kopf gewaschen hat.«

»Was wollte sie denn tun, wenn sie im Ruhestand war?«

»Reisen. Relaxen. Vielleicht irgendeinen Typen heiraten, der ihr Leben lang für sie sorgen würde. Die Sache ist die... damit hat sie mich immer wieder traktiert... wenn du Geld hast, bist du unabhängig. Du kannst tun und lassen, was du willst. Wenn dich ein Kerl mißhandelt, machst du eben die Mücke. Du hast ja zwei Beine. Wissen Sie, wovon ich rede?«

»Genau meine Philosophie«, sagte ich.

»Ja, meine auch — mittlerweile. Nach ihrem Tod habe ich ein kleines Sparkonto eröffnet und zahle immer wieder ein bißchen ein. Es ist nicht viel, aber es reicht, und ich werde es liegen lassen. Das hat Lorna immer gesagt. Man bringt es auf die Bank und läßt es wachsen. Sie hat viel von ihrem Geld in Standardwerte, Kommunalobligationen und dergleichen gesteckt, aber sie hat das alles allein gemacht. Sie hatte nichts mit Anlageberatern und solchen Leuten am Hut, weil das, so hat sie gesagt, die perfekte Methode für irgendein Arschloch ist, einen auszunehmen. Wissen Sie, was Börsenmakler sind? Sie nannte sie Wertpapierzuhälter.« Sie lachte über den Ausdruck, offenbar amüsiert angesichts der Vorstellung von Zuhältern an der Wall Street. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie Ersparnisse?«

»Ja, schon.«

»Und wo haben Sie die? Wie haben Sie die angelegt?«

»Ich habe sie als Festgeld angelegt«, sagte ich und wurde bei dem Thema etwas hellhörig. Es kam mir merkwürdig vor, meine finanzielle Strategie gegenüber einem Mädchen zu rechtfertigen, das auf den Strich ging.

»Das ist gut. Das hat Lorna zum Teil auch gemacht. Sie hatte ein Faible für steuerfreie Kommunalobligationen, und sie hat auch Geld in Staatsanleihen gesteckt, was immer das ist. Wenn man Geld hat, hat man Macht, und kein Kerl kann daherkommen und einen fertigmachen, stimmt’s?«

»Sie haben gesagt, daß sie zweihunderttausend verdient hat. Hat sie die versteuert?«

»Aber klar! Leg dich nicht mit dem Finanzamt an, das war ihre erste Regel. Das war auch das erste, was sie mir beigebracht hat. Alles, was du einnimmst, gibst du an. Wissen Sie, wie sie Al Capone und seine Kumpels gekriegt haben? Steuerhinterziehung. Wenn du das Finanzamt übers Ohr haust, landest du im Knast, wie ein Schwerverbrecher, ohne Witz.«

»Was ist mit —«

»Einen Moment mal«, unterbrach sie mich. »Lassen Sie mich noch etwas anderes fragen. Wieviel verdienen Sie?«

Ich starrte sie an. »Wieviel ich verdiene?«

»Ja, zum Beispiel letztes Jahr. Wie hoch war Ihr Jahreseinkommen? Wieviel haben Sie versteuert?«

»Das wird langsam ziemlich persönlich, oder nicht?«

»Sie brauchen sich nicht so zu haben. Es bleibt strikt unter uns. Erst sagen Sie es und dann ich. Eine Hand wäscht sozusagen die andere.«

»Fünfundzwanzigtausend.«

Jetzt riß sie die Augen auf. »Das ist alles? Ich habe doppelt soviel verdient. Ohne Witz. Zweiundfünfzigtausendfünfhundert und ein paar Zerquetschte.«

»Dafür haben Sie sich aber Ihre Nase gebrochen«, wandte ich ein.

»Ja, gut, und Sie haben sich Ihre Nase gebrochen. Das sehe ich doch. Soll keine Kritik sein. Ich will Sie nicht beleidigen«, sagte sie. »Sie sehen nicht schlecht aus, aber für fünfundzwanzigtausend kriegen Sie genauso Ihre Abreibung, hab’ ich recht?«

»So würde ich das nicht sehen.«

»Verarschen Sie sich doch nicht selbst. Das habe ich auch von Lorna gelernt. Sie können’s mir glauben. Ihr Job ist genauso gefährlich wie meiner, und das bei halber Bezahlung. Meiner Meinung nach sollten Sie sich was anderes suchen. Nicht, daß ich meine Branche anpreisen möchte. Ich sage Ihnen nur, was ich denke.«

»Danke für die Anteilnahme. Wenn ich mich zum Umsatteln entschließe, komme ich bei Ihnen zur Berufsberatung vorbei.«

Sie lächelte, fand meinen Sarkasmus oder was sie dafür hielt, wohl amüsant. »Ich sage Ihnen noch etwas, was sie mir beigebracht hat. Halt deinen dummen Mund. Wenn du’s mit einem Kerl treibst, erzähl es hinterher nicht herum. Und erst recht nicht den Leuten, mit denen du andauernd zu tun hast. Sie hat einmal dagegen verstoßen und sich geschworen, es nie wieder zu tun. Manche von diesen Typen... puuuh! Da ist es besser, wenn man vergißt, daß man sie je kennengelernt hat.«

»Verkehren Sie auch in diesen Kreisen? In der High Society?«

»Na ja, nicht andauernd. Zur Zeit nicht. Als sie noch gelebt hat, schon ab und zu. Manchmal hat sie mich sagenhaft ausstaffiert und zu einem dicken Fisch mitgenommen. Mich und diese andere, Rita heißt sie. So was Irres! Manche Typen stehen auf ganz Junge. Man rasiert sich die Schamhaare und tut so, als wäre man nicht älter als zehn. Wie an diesem einen Abend. Ich habe über fünfzehnhundert Dollar verdient. Fragen Sie mich nicht, was ich dafür tun mußte. Das ist auch etwas, worüber man nicht spricht. Lester hätte mich umgebracht, wenn er es herausgekriegt hätte.«

»Was ist mit ihrem ganzen Geld passiert, als sie gestorben ist?« wollte ich wissen.

»Keine Ahnung. Das müßten Sie ihre Familie fragen. Ich wette, daß sie kein Testament hatte. Ich meine, wozu hätte sie ein Testament brauchen sollen? Sie war jung. Na ja, fünfundzwanzig, aber das ist noch nicht so alt. Ich wette, sie war sich sicher, daß sie noch Jahre vor sich hatte, und dann stellt sich heraus, daß es damit nichts war.«

»Wie alt sind Sie?«

»Dreiundzwanzig.«

»Sind Sie nicht.«

»Bin ich schon

»Danielle, das stimmt nicht.«

Sie lächelte schwach. »Okay, ich bin neunzehn, aber reif für mein Alter.«

»Siebzehn trifft es wahrscheinlich eher, aber belassen wir es dabei.«

»Fragen Sie mich lieber noch etwas über Lorna. Sie verschwenden Ihr Geld, wenn Sie nach mir fragen.«

»Was hat Lorna in der Wasseraufbereitungsanlage gemacht? Es klingt nicht danach, als sei dieser Job auch nur den Halbtagsverdienst wert gewesen.«

»Sie mußte ja irgend etwas arbeiten. Sie konnte doch ihren Eltern nicht erzählen, womit sie ihr Geld verdiente. Sie waren ziemlich konservativ; zumindest ihr Dad. Ich habe ihre Mutter bei der Beerdigung kennengelernt und fand sie recht nett. Ihr Alter war ein Arsch, war ihr die ganze Zeit auf den Fersen und hat ihr nachspioniert. Lorna war wild und ungestüm, sie wollte nicht kontrolliert werden.«

»Ich habe heute schon mit ihrem Vater gesprochen, und er hat gesagt, daß Lorna nicht viele Freunde hatte.«

Danielle wehrte das mit einem Kopfschütteln ab. »Was weiß der schon? Bloß weil er nie welche kennengelernt hat. Lorna mochte Nachtmenschen. Alle, die sie kannte, kamen nach Sonnenuntergang aus ihren Verstecken. Wie Spinnen und diese ganzen — wie heißt das doch gleich — nachtaktiven Lebewesen. Eulen und Fledermäuse. Wenn Sie ihre Freunde kennenlernen möchten, gewöhnen Sie sich besser daran, die ganze Nacht auf Achse zu sein. Was noch? Das macht Spaß. Ich wußte gar nicht, daß ich so schlau bin.«

»Was war mit dem Pornofilm? Warum hat sie den gedreht?«

»Ach, die alten Gründe, die alten Gründe. Sie wissen doch, wie es ist. Da kam irgendein Typ aus San Francisco. Sie hat ihn eines Abends im Edgewater kennengelernt und mit ihm über solches Zeug geredet. Er hielt sie für phänomenal, und ich schätze, das war sie auch. Zuerst wollte sie es nicht machen, aber dann dachte sie sich, he, warum denn nicht? Sie hat nicht viel Geld dafür bekommen, aber es hat ihr Spaß gemacht. Was haben Sie denn davon gehört?«

»Ich habe nicht davon gehört. Ich habe den Film gesehen.«

»Das gibt’s nicht. Sie haben ihn gesehen?«

»Klar, ich habe ihn auf Band.«

»Tja, das ist aber seltsam. Das Video ist nie veröffentlicht worden.«

Nun war es an mir, skeptisch zu werden. »Wirklich? Es ist nie in den Verleih gekommen? Das kann ich nicht glauben.« Wir hörten uns an wie ein Papageienpaar.

»Das hat sie aber gesagt. Ihr hat es auch gestunken. Sie dachte, es könnte ihr großer Durchbruch werden, aber sie konnte ja nichts machen.«

»Die Kassette, die ich gesehen habe, war mit einem Nachspann versehen, sie war verpackt und alles. Sie müssen einen Haufen Geld investiert haben. Was steckt denn dahinter?«

»Ich weiß nur das, was sie mir erzählt hat. Vielleicht ist der Filmfirma das Geld ausgegangen oder so. Wie sind Sie an das Band gekommen?«

»Jemand hat es ihrer Mutter geschickt.«

Danielle stieß ein heiseres Lachen aus. »Das ist nicht Ihr Ernst. Das ist ja brutal. Was für ein Perverser macht denn so was?«

»Das weiß ich noch nicht, aber ich hoffe, ich werde es herausfinden. Was können Sie mir sonst noch sagen?«

»Nein, nein. Sie fragen und ich antworte. So ganz von allein fällt mir nichts ein.«

»Wer ist Lester?«

»Lester hatte nichts mit Lorna zu tun.«

»Aber wer ist er?«

Sie warf mir einen Blick zu. »Was geht Sie das an?«

»Sie haben Angst vor ihm, und ich möchte wissen, warum.«

»Geben Sie’s auf. Sie werfen Ihr Geld zum Fenster raus.«

»Vielleicht kann ich mir das leisten.«

»Oh, sicher. Bei dem, was Sie verdienen? Das ist ja Schwachsinn.«

»Offen gestanden weiß ich nicht einmal, wieviel Sie verlangen.«

»Den Satz für eine Nummer. Fünfzig Mäuse.«

»Für die Stunde?« japste ich.

»Nicht für die Stunde. Was haben Sie denn für Vorstellungen? Fünfzig Mäuse für eine Nummer. Nichts beim Sex dauert eine Stunde«, sagte sie verächtlich. »Jeder, der sagt, es dauert eine Stunde, verarscht Sie.«

»Ich nehme an, Lester ist Ihr Zuhälter.«

»Hör sie dir an. >Zuhälter<. Wer hat Ihnen denn beigebracht, so zu reden? Lester Dudley — für Sie Mr. Dickhead — ist mein persönlicher Manager. Er ist so etwas wie mein geschäftlicher Repräsentant.«

»Hat er Lorna auch repräsentiert?«

»Natürlich nicht. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß sie schlau war. Sie hat seine Dienste abgelehnt.«

»Glauben Sie, daß er Informationen über Lorna hat?«

»Niemals. Vergessen Sie’s. Der Typ ist ein richtiger Dreckskerl.«

Ich überlegte kurz, aber ich hatte die Fragen, die mir aus dem Stegreif einfielen, bereits alle gestellt. »Gut. Das müßte fürs erste genügen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich dann bei mir?«

»Klar«, sagte sie. »Solange Sie Geld haben, habe ich einen Mund... sozusagen.«

Ich griff nach meiner Tasche und nahm die Brieftasche heraus. Dann gab ich ihr eine Visitenkarte und schrieb meine Privatadresse mit Telefonnummer auf die Rückseite. Normalerweise gebe ich diese Daten nicht gerne weiter, aber ich wollte es ihr so leicht wie möglich machen. Ich musterte meine Geldvorräte. Ich dachte, sie würde sich vielleicht großherzig zeigen und auf ihre Gebühren verzichten, doch sie hielt die Hand auf und sah mir aufmerksam dabei zu, wie ich ihr die Scheine auf die Hand zählte. Den letzten Dollar mußte ich mit Kleingeld bestreiten, das auf dem Grund meiner Tasche herumflog. Natürlich reichte es nicht.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie können mir die zehn Cents schuldig bleiben.«

»Ich schreibe Ihnen einen Schuldschein aus«, bot ich an.

Sie winkte ab. »Ich vertraue Ihnen.« Dann steckte sie das Geld in ihre Jackentasche. »Männer sind komisch, wissen Sie. Männerphantasien über Huren? Die kann man in all diesen Büchern lesen, die Männer geschrieben haben. Typ lernt Hure kennen, sie ist umwerfend: hat Riesentitten, eine kultivierte Art, und sie fährt komplett auf ihn ab. Schließlich bumsen sie miteinander, und als er fertig ist, will sie sein Geld nicht annehmen. Er ist ja so traumhaft, daß sie bei ihm nicht abkassieren will wie bei allen anderen. Das ist völliger Schwachsinn. Ich habe noch keine Hure kennengelernt, die es gratis mit einem Typ treiben würde. Und überhaupt, Hurensex ist doch für den Arsch. Wenn er sich einbildet, das sei ein Geschenk, dann ist er der Dumme.«