Nachwort zu »Angst«
Ich möchte für einen Augenblick mein Dozentensakko
anlegen und Sie zum »Einführungskurs Furcht« willkommen heißen,
auch bekannt als: »Wie schaffe ich es, dass meinen Lesern die Haare
zu Berge stehen?« Dazu werde ich kurz erläutern, wie ich das Moment
der Angst in meine Werke einbaue.
Ich bin Krimiautor, kein Philosoph oder Psychiater.
Ich beschäftige mich mit Angst nur insoweit, als sie mit dem
Erzählen von Geschichten zu tun hat. Ich habe »Angst« geschrieben,
um fünf wesentliche Ängste zu illustrieren, die ich regelmäßig in
meinen Büchern verwende. Außerdem werde ich einige Regeln nennen,
die die Wirkung jener Ängste bei meiner Leserschaft
verstärken.
Die erste der fünf ist unsere Furcht vor dem
Unbekannten. Während der gesamten Geschichte »Angst« weiß Marissa
nie genau, was geschehen wird (und wir Leser ebenfalls nicht). Zu
Beginn sagt Antonio: »Es ist eine Überraschung«, und ich erhalte
die Unsicherheit, die mit diesem Satz begründet wird, so lange wie
möglich aufrecht. Marissa weiß nicht, wohin sie fahren, was die
alte Frau gemeint hat, wer Lucia war, was Antonio in dem Haus in
Florenz tat, was sich im Weinkeller befindet... Ja, ihr wird – zu
spät – klar, dass sie Antonio selbst im Grunde gar nicht
kennt.
Die zweite ist die Angst, die wir empfinden, wenn
andere Macht über unser Leben ausüben – wenn wir also befürchten,
verwundbar zu sein. Marissa ist eine mit allen Wassern gewaschene
Geschäftsfrau, intelligent und stark, und doch habe ich ihr alle
Mittel genommen. In »Angst« ist Antonio der Fahrer und Marissa nur
ein Passagier, wörtlich und im übertragenen Sinn. Am Ende der
Geschichte findet sie sich fast nackt in einem abgelegenen Landhaus
wieder, ohne Handy oder Waffe, in einer engen Zelle eingeschlossen,
vollkommen der Gnade eines Verrückten mit einem Messer
ausgeliefert, und niemand weiß, wo sie sich aufhält. Kann man noch
verwundbarer sein?
Die dritte Angst ist die vor anderen, die sich
selbst nicht in der Gewalt haben. Wenn die Menschen
gesellschaftliche Regeln einhalten, fürchten wir uns weniger vor
ihnen. Wenn nicht, dann fürchten wir uns mehr. Psychopathen wie
Antonio haben keine Kontrolle über ihr eigenes Handeln, deshalb
können wir nicht vernünftig mit ihnen reden, und sie werden nicht
von Gesetzen und Moral geleitet. Die Furcht ist dann am größten,
wenn die Kontrolle bei jemandem fehlt, der uns nahe ist. Ein
zufälliger Mörder oder sonstiger Krimineller ist schlimm genug,
aber wenn Leute, die wir kennen und die uns nahestehen, anfangen,
sich merkwürdig und bedrohlich zu verhalten, sind wir besonders
verängstigt. Aus diesem Grund lasse ich meine beiden Figuren ein
Liebespaar sein.
Die vierte Angst, die ich einsetze, ist unser
eigener Mangel an Selbstbeherrschung. Ich erwähne das unerklärliche
Verlangen, sich von einer Brücke oder einer Klippe zu stürzen – ein
Drang, den wir alle in der einen oder anderen Weise erlebt haben.
Marissa befürchtet, diesem speziellen Impuls nachzugeben, aber in
meiner Geschichte benutze ich ihn als Metapher für eine
umfassendere Angst von ihr, nämlich in Bezug auf Antonio die
Kontrolle über sich zu verlieren. Zusätzlich nötige ich ihr Drogen
auf, um ihre Selbstbeherrschung noch weiter zu untergraben.
Die fünfte Angst ist eigentlich eine sehr breit
gefasste Kategorie, die ich die Zeichen des Schreckens nenne. Es
handelt sich um Bilder (häufig klischeehafte), die uns Angst
machen, entweder weil sie von vornherein in unser Gehirn eingeprägt
sind oder weil wir gelernt haben, sie zu fürchten. Zu den Zeichen,
die ich in dieser Geschichte benutze, gehören
• der Vorbote des Bösen (die alte Frau mit den
gelblichen Augen und die Zwillinge in Florenz);
• die religiösen Motive und die gewalttätigen
Bilder auf dem Wandteppich, den Marissa beim Kennenlernen der
beiden betrachtet hat;
• der Giftring, den Antonio für Marissa gekauft
hat;
• die Echos des Bösen, die mit bestimmten
Örtlichkeiten in Verbindung stehen (das Ungeheuer von Florenz – ein
echter Serienmörder, nebenbei bemerkt – und die fiktiven
Foltermorde an der Straße zwischen Florenz und Siena);
• der tote Junge;
• Puppen (tut mir leid, Madame Alexander, aber
sie können schlicht und einfach unheimlich sein);
• die isolierte, düstere Szenerie um das
Wochenendhaus;
• die fensterlose Zelle;
• Blut;
• verschiedene Phobien (Marissas Klaustrophobie
zum Beispiel);
• Dunkelheit;
• das Okkulte (die Blumen und das Kreuz am
Bach).
Dies sind nur einige unter Hunderten von Zeichen
des Schreckens, mit denen man die Nerven der Leser sirren lassen
kann.
Zuletzt möchte ich zwei weitere Regeln erwähnen,
die ich beim Erzeugen von Angst berücksichtige:
Erstens, ich verstärke das Erlebnis des Schreckens,
indem ich dafür sorge, dass meine Figuren (und damit meine Leser)
etwas Wichtiges zu verlieren haben, falls das drohende Unglück
eintritt. Das bedeutet, die Personen in meinen Geschichten – die
guten wie die bösen – müssen ausgearbeitet sein und selbst
befürchten, ihr Leben zu verlieren oder einen anderen Verlust zu
erleiden. Marissa würde sich nicht fürchten, wenn es ihr egal wäre,
ob sie überlebt oder stirbt, und der Leser würde sich nicht
fürchten, wenn er nicht an ihr als Figur Anteil nähme.
Zweitens behalte ich immer im Auge, dass es meine
Aufgabe als Krimiautor ist, bei meinem Publikum Angst zu erzeugen,
nicht aber Ekel oder Abscheu, wie es geschieht, wenn es drastische
Gemetzel oder, sagen wir, Gewalt gegen Kinder oder Tiere gibt. Die
in einem Thriller erzeugte Angst sollte reinigend und belebend
sein. Ja, die Leser sollen ruhig feuchte Handflächen bekommen und
zögern, nachts das Licht auszumachen, aber am Ende der Fahrt sollen
sie unversehrt wieder aus ihrer Geisterbahn aussteigen.