Angst
»Wohin fahren wir?«, fragte die Frau, als sich der schwarze Audi in hohem Tempo von der Piazza della Stazione in Florenz entfernte. Sie war gerade mit dem Zug aus Mailand eingetroffen.
Antonio schaltete geschmeidig in einen höheren Gang. »Das ist eine Überraschung«, antwortete er.
Marissa legte den Sicherheitsgurt an, während der Wagen in die engen, verwinkelten Straßen eintauchte. Bald hatte sie jede Orientierung verloren. Sie hatte ihre gesamten vierunddreißig Lebensjahre in Mailand gewohnt und kannte nur das Zentrum von Florenz. Antonio andererseits war gebürtiger Florentiner und raste selbstgewiss durch ein unergründliches Gewirr von Straßen und Gassen.
Eine Überraschung? Nun, er hatte den Ort für ihr gemeinsames langes Wochenende aussuchen wollen, und sie war einverstanden gewesen. Also, sagte sie sich, lehn dich zurück, und genieße die Fahrt... Ihre Arbeit war im letzten Monat besonders belastend gewesen; es tat gut, zur Abwechslung jemand anderen die Entscheidungen treffen zu lassen.
Schlank und blond, mit den Gesichtszügen des Nordens, war Marissa Carrefiglio mit Anfang zwanzig als Laufstegmodel tätig gewesen, hatte dann aber begonnen, Mode zu entwerfen, was ihr große Freude machte. Vor drei Jahren jedoch war ihr Bruder aus dem Familienunternehmen ausgestiegen, und sie hatte sich gezwungen gesehen, das Management des Kunst- und Antiquitätenhandels zu übernehmen. Sie war nicht glücklich darüber, aber ihr strenger Vater war kein Mann, der ein Nein akzeptierte.
Eine scharfe Kurve folgte der anderen. Marissa lachte nervös wegen Antonios aggressiver Fahrweise und schaute nicht auf die Straße, während sie ihm von der Zugfahrt erzählte, Neuigkeiten von ihrem Bruder in Amerika berichtete und von den jüngsten Erwerbungen in ihrem Familiengeschäft im Palazzo Brera sprach.
Er seinerseits beschrieb einen neuen Wagen, den er eventuell kaufen wollte, ein Problem mit dem Mieter in einem seiner Anwesen und einen kulinarischen Coup, der ihm gestern geglückt war: weiße Trüffel, die er auf einem Bauernmarkt unweit seines Hauses entdeckt und einem unangenehmen Küchenchef vor der Nase weggekauft hatte.
Noch eine scharfe Kurve und ein schneller Gangwechsel. Nur die tief stehende, untergehende Sonne in ihren Augen gab ihr einen Hinweis auf die Richtung, in die sie fuhren.
Sie kannte Antonio noch nicht sehr lange. Sie hatten sich vor einem Monat in Florenz in einer Galerie an der Via Maggio kennen gelernt, an die Marissas Firma gelegentlich Kunst und Antiquitäten lieferte. Sie hatte gerade mehrere Werke gebracht: Wandteppiche aus dem achtzehnten Jahrhundert, aus der berühmten Gobelinsmanufaktur in Frankreich. Nachdem sie aufgehängt waren, wurde Marissa von einem dunklen, mittelalterlichen Wandteppich angezogen, der eine ganze Wand in der Galerie einnahm. Von einem unbekannten Künstler gewebt, zeigte er wunderschöne Engel, die aus dem Himmel herabschwebten, um gegen Bestien zu kämpfen, die durch das Land streiften und Unschuldige angriffen.
Als sie wie hypnotisiert vor der grausamen Szenerie stand, flüsterte eine Stimme: »Eine hübsche Arbeit, aber es gibt erkennbar ein Problem damit.«
Sie blinzelte überrascht und drehte sich zu einem gut aussehenden Mann um, der neben ihr stand. Marissa runzelte die Stirn: »Ein Problem?«
Sein Blick blieb auf den Wandteppich gerichtet. »Ja«, sagte er. »Der schönste von allen Engeln ist aus der Szene entwischt.« Er drehte sich zu ihr und lächelte. »Und auf dem Boden neben mir gelandet.«
Sie hatte über die offensichtliche Anmache gelacht. Aber er hatte sie mit so viel zurückhaltendem Charme vorgebracht, dass sie ihre erste Reaktion – ihn einfach stehen zu lassen – schnell aufgab. Sie begannen eine Unterhaltung über Kunst und setzten sie eine halbe Stunde später bei Prosecco und Käse fort.
Antonio war muskulös und schlank, mit dichtem, dunklem Haar und braunen Augen, immer bereit zu lächeln. Er war in der Computerbranche tätig. Sie verstand nicht genau, was er machte – es hatte mit Netzwerken zu tun -, aber er musste erfolgreich sein. Er war wohlhabend und schien über eine Menge freie Zeit zu verfügen.
Die beiden hatten viel gemeinsam, wie sich herausstellte. Sie hatten beide im Piemont studiert, ausgiebige Reisen durch Frankreich unternommen und teilten ein Interesse für Mode (während sie allerdings gern welche entwarf, zog er es vor, sie zu tragen). Er war ein Jahr jünger als sie und nie verheiratet gewesen (sie war geschieden), und bei beiden lebte nur noch ein Elternteil. Marissas Mutter war vor zehn Jahren gestorben, Antonios Vater vor fünf.
Es fiel ihr leicht, mit ihm zu reden. An jenem ersten Abend ihrer Bekanntschaft hatte sie ausführlich aus ihrem Leben erzählt – über ihren dominanten Vater geklagt, wie sehr sie es bedauerte, dass sie die Modewelt für eine langweilige Tätigkeit aufgeben musste, von ihrem Ex-Mann, dem sie gelegentlich Geld lieh, das er nie zurückzahlte. Als ihr bewusst geworden war, wie launisch und unzufrieden sie klang, hatte sie sich errötend entschuldigt. Es hatte ihm jedoch überhaupt nichts ausgemacht; er genoss es, ihr zuzuhören, gestand er ihr. Was für ein Unterschied zu den meisten Männern, mit denen sie ausging und die sich nur auf ihr Aussehen konzentrierten – und auf sich selbst.
Sie waren am Arno spazieren gegangen und dann über die Ponte Vecchio geschlendert, wo ein Junge ihm Rosen für »seine Frau« verkaufen wollte. Stattdessen hatte er ihr ein Touristensouvenir gekauft: einen Giftring von Lucrezia Borgia. Sie hatte heftig gelacht und ihn auf die Wange geküsst.
In der Woche darauf besuchte er sie im Navigli in Mailand; danach hatte sie ihn noch zweimal hier in Florenz gesehen, wenn sie geschäftlich in der Stadt war. Dies sollte nun ihr erster Wochenendausflug werden. Noch waren sie kein Liebespaar, aber Marissa wusste, das würde sich bald ändern.
Auf dem Weg zu ihrem »Überraschungsziel« bog Antonio nun erneut scharf in eine düstere Wohnstraße ein. Das Viertel war heruntergekommen. Marissa war beunruhigt, weil er diese Abkürzung nahm – und umso mehr, als er plötzlich am Randstein anhielt.
Was sollte das?
Er stieg aus. »Ich muss nur rasch etwas erledigen. Bin gleich zurück.« Er zögerte. »Vielleicht solltest du lieber die Türen verriegeln.« Er ging zu einem baufälligen Haus, sah sich um und trat ein, ohne anzuklopfen. Marissa bemerkte, dass er die Wagenschlüssel mitgenommen hatte, und fühlte sich wie in der Falle. Sie fuhr gern Auto – sie hatte einen silbernen Maserati -, und die Beifahrerrolle behagte ihr nicht. Sie beschloss, seinem Rat zu folgen, und überprüfte, ob die Türen versperrt waren. Als sie auf der Fahrerseite nachschaute, sah sie zwei Jungen, Zwillinge, etwa zehn Jahre alt, reglos auf der anderen Straßenseite stehen. Sie sahen sie an, ohne zu lächeln. Einer flüsterte etwas. Der andere nickte ernst. Sie schauderte bei dem beunruhigenden Anblick.
Als sie sich dann wieder umdrehte, stockte ihr vor Schreck der Atem. Das totenschädelartige Gesicht einer alten Frau starrte durch das Beifahrerfenster des Audi, vielleicht dreißig Zentimeter entfernt von ihr. Die Frau musste krank und dem Tod nahe sein.
Durch das halb offene Fenster fragte Marissa: »Kann ich Ihnen helfen?«
Die knochendürre Frau trug schmutzige, zerrissene Kleidung. Sie schwankte unsicher auf ihren Füßen. Die gelben Augen blickten rasch über die Schulter, als hätte sie Angst, gesehen zu werden. Dann betrachtete sie das Auto, das sie anscheinend kannte.
»Kennen Sie Antonio?«, fragte Marissa und beruhigte sich allmählich.
»Ich bin Olga. Ich bin die Königin der Via Magdalena. Ich kenne jeden...« Ein Stirnrunzeln. »Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen.«
»Wozu?«
»Na, zum Tod Ihrer Schwester natürlich.«
»Meiner Schwester? Ich habe keine Schwester.«
»Sie sind nicht Lucias Schwester?«
»Ich kenne keine Lucia.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Aber Sie sehen ihr so ähnlich.«
Marissa ertrug es kaum, in die feuchten, gelbsüchtigen Augen der Frau zu blicken.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe«, sagte Olga und wandte sich ab.
»Warten Sie«, rief Marissa. »Wer war sie, diese Lucia?«
Die Frau hielt inne. Dann beugte sie sich zum Fenster hinunter und flüsterte: »Eine Künstlerin. Sie fertigte Puppen. Aber ich rede nicht von Spielzeug. Es waren Kunstwerke. Sie machte sie aus Porzellan. Die Frau war eine Zauberin. Es war, als könnte sie menschliche Seelen einfangen und in ihre Puppen verpflanzen.«
»Und sie ist gestorben?«
»Letztes Jahr, ja.«
»Woher kannten Sie sie?«
Olga warf noch einen Blick auf das Gebäude, in das Antonio gegangen war. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe. Ich habe mich geirrt, wie es scheint.« Dann humpelte sie fort.
Einen Augenblick später kam Antonio mit einer kleinen, grauen Papiertüte zurück und legte sie auf den Rücksitz. Er sagte nichts über das, was er zu erledigen gehabt hatte, außer dass er sich entschuldigte, weil es länger als geplant gedauert habe. Als er sich in den Fahrersitz fallen ließ, sah Marissa an ihm vorbei auf die andere Straßenseite. Die Zwillinge waren verschwunden.
Antonio legte den Gang ein, und sie brausten los. Marissa fragte ihn nach der alten Frau. Er blinzelte überrascht. Nach kurzem Zögern lachte er. »Ach, Olga... die ist verrückt. Nicht ganz richtig im Kopf.«
»Kennst du eine Lucia?«
Antonio schüttelte den Kopf. »Hat sie das behauptet?«
»Nein, aber... Es kam mir vor, als würde sie mir von ihr erzählen, weil sie dein Auto erkannt hat.«
»Also, wie gesagt, sie ist verrückt.«
Antonio verstummte und fuhr auf gewundenen Wegen aus der Stadt hinaus, bis sie schließlich auf die A 7 kamen. Dann bog er nach Süden auf die SS 222 ab, die berühmte Straße durch das Chianti, die Weinbauregion zwischen Florenz und Siena.
Marissa hielt sich an dem Griff über der Tür des Wagens fest, während sie durch Strada rasten, an dem zauberhaften Castello di Uzzano vorbei, dann durch Greve und in die kargere Region südlich von Panzano. Die Landschaft war wunderschön hier – aber sie hatte etwas Unheimliches an sich. Nicht allzu weit nördlich hatte das Ungeheuer von Florenz von Ende der Sechziger- bis Mitte der Achtzigerjahre mehr als ein Dutzend Menschen abgeschlachtet, und hier, im Süden, hatten zwei andere Verrückte vor gar nicht langer Zeit mehrere Frauen gefoltert und ermordet. Diese letzteren Mörder waren gefasst worden und saßen in Haft, aber ihre Taten waren besonders grausam gewesen und nicht weit von dort geschehen, wo sie sich gerade befanden. Nun, da Marissa daran gedacht hatte, brachte sie die Morde nicht mehr aus dem Kopf.
Sie wollte Antonio eben bitten, das Radio anzuschalten, als er plötzlich, drei Kilometer von Quercegrossa entfernt, scharf in eine einspurige Sandstraße abbog. Sie fuhren beinahe einen Kilometer, ehe Marissa schließlich mit unsicherer Stimme fragte: »Wo sind wir hier, Antonio? Sag es mir, bitte.«
Er sah in ihr besorgtes Gesicht. Dann lächelte er. »Tut mir leid.« Er streifte das Geheimnisvolle, Düstere ab, das er zur Schau getragen hatte, und war wieder der alte Antonio. »Ich wollte dir kein Unbehagen bereiten, sondern nur eine dramatische Wirkung erzielen. Wir fahren zum Landhaus meiner Familie. Es ist eine alte Mühle. Mein Vater und ich haben sie gemeinsam renoviert. Es ist ein besonderer Ort, und ich wollte ihn dir zeigen.«
Marissa entspannte sich und legte ihm die Hand aufs Bein. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht ins Kreuzverhör nehmen... Aber in der Arbeit war zuletzt so viel los... Und meinen Vater zu überreden, dass er mir ein paar Tage freigibt – ach, es war ein Albtraum.«
»Na, jetzt kannst du dich ja erholen.« Er schloss seine Hand um ihre.
Sie ließ das Fenster herunter und atmete die würzige Luft ein. »Es ist hübsch hier draußen.«
»Oh ja, das ist es. Frieden und Ruhe pur. Keine Nachbarn im Umkreis von mehreren Kilometern.«
Sie fuhren noch einmal fünf Minuten und parkten dann. Antonio holte die graue Tüte aus dem windschiefen Haus in Florenz vom Rücksitz und die Koffer sowie eine Tasche voll Lebensmittel aus dem Kofferraum. Sie gingen fünfzig Meter auf einem Pfad durch einen von dornigem Gestrüpp überwucherten Olivenhain, dann nickte er zu einer Fußgängerbrücke über einen schnell fließenden Bach. »Da ist sie.«
Im schwachen Dämmerlicht konnte Marissa das Haus gerade so erkennen. Es war sehr eindrucksvoll, wenngleich weit eher schauerlich als romantisch – eine alte, zwei Stockwerke hohe steinerne Mühle mit kleinen vergitterten Fenstern.
Sie überquerten die Brücke, und Antonio stellte die Koffer an der Eingangstür ab. Er fischte nach dem Schlüssel. Marissa drehte sich um und sah auf den Wasserlauf hinunter. Er war schwarz, floss sehr schnell und schien ziemlich tief zu sein. Nur ein niedriges Geländer trennte sie von einem senkrechten, sieben Meter tiefen Fall ins Wasser.
Antonios Stimme dicht an ihrem Ohr ließ sie zusammenfahren. Er war hinter sie getreten. »Ich weiß, was du denkst.«
»Was denke ich?«, fragte sie, und ihr Herz schlug schnell.
Er legte den Arm um sie und sagte: »Du denkst an diesen Drang.«
»Drang?«
»Dich hineinzustürzen. Es ist dasselbe, was man empfindet, wenn man auf einer Aussichtsplattform oder am Rand einer Klippe steht – dieses seltsame Verlangen, einen Schritt ins Leere zu tun. Grundlos, unlogisch. Aber es ist immer da. Als ob...« – er ließ ihre Schulter los – »... dich nichts mehr davon abhalten würde, zu springen, wenn ich loslasse. Weißt du, was ich meine?«
Marissa zitterte – hauptsächlich, weil sie genau wusste, was er meinte. Aber sie sagte nichts. Um der Unterhaltung eine neue Richtung zu geben, zeigte sie zum anderen Ufer, auf ein kleines, weißes Holzkreuz, das von Blumen umkränzt war. »Was ist das?«
Er kniff die Augen zusammen. »Ach, schon wieder? Das lassen Leute hier, die unbefugt bei uns eindringen. Das passiert oft, es ist sehr ärgerlich.«
»Warum tun sie das?«
Er zögerte. »Ein kleiner Junge ist hier gestorben. Bevor uns die Mühle gehörte... Er wohnte ein Stück die Straße hinauf. Niemand weiß genau, was passiert ist, aber anscheinend hat er mit einem Fußball gespielt, und der ist ihm ins Wasser gerollt. Er fiel hinein, als er ihn herausfischen wollte. Das Wasser fließt sehr schnell, wie du siehst. Er wurde in diesen Abflusskanal dort gesogen und kopfüber eingeklemmt.«
Marissa litt unter Klaustrophobie. Die Vorstellung entsetzte sie.
»Es dauerte eine halbe Stunde, bis er tot war. Jetzt kommen seine Verwandten immer und hinterlassen das Gedenkkreuz. Sie streiten es jedoch ab. Sie behaupten, die Kreuze und Blumen würden aus dem Nichts auftauchen. Aber natürlich lügen sie.«
Marissas Augen waren auf den dunklen, engen Einlass fixiert, wo das Kind gestorben war. Was für eine schreckliche Art, sein Leben zu beenden.
Antonios laute Stimme ließ sie erneut zusammenzucken. Doch diesmal lachte er. »Jetzt aber genug von den morbiden Geschichten. Lass uns essen!«
Dankbar folgte ihm Marissa ins Gebäude. Sie sah erleichtert, dass es drinnen sehr komfortabel war, richtig gemütlich. Es war hübsch gestrichen, und an den Wänden hingen teure Gemälde und Wandteppiche. Antonio zündete Kerzen an und öffnete eine Flasche Prosecco. Sie tranken auf ihr erstes gemeinsames Wochenende und begannen, das Abendessen zuzubereiten. Marissa zauberte einen Vorspeisenteller aus eingelegtem Gemüse und Schinken, aber hauptsächlich übernahm Antonio das Kochen. Er machte Linguine mit Butter und den weißen Trüffeln als Zwischengericht und Forelle mit Kräutern als Hauptgang. Sie war beeindruckt und beobachtete, wie er mit sicherer Hand schnitt und mischte und quirlte und anrichtete. Sosehr sie sich an seinem Geschick freute, war sie aber auch ein wenig traurig und bedauerte, dass ihre langen Arbeitszeiten im Geschäft sie nicht so viel Zeit in ihrer eigenen Küche verbringen ließen, wie sie gern gehabt hätte, um ihre Freunde zu bekochen.
Marissa setzte sich an den Tisch, während er in den Weinkeller hinunterging und mit einem 1990er Chianti von einem berühmten Weingut in der Nähe zurückkam. Als Weinliebhaberin zog Marissa anerkennend eine Augenbraue hoch und bemerkte, das sei ein wundervoller Jahrgang, schwer zu finden; selbst die Etikette seien Sammlerstücke. »Du musst einen wunderbaren Weinkeller haben. Kann ich ihn sehen?«
Aber als sie in Richtung Tür ging, zog er sie zu und zuckte leicht zusammen. »Ach, da unten ist es so unordentlich. Es ist mir peinlich. Ich kam noch nicht dazu, aufzuräumen. Später vielleicht.«
»Natürlich«, sagte sie.
Er tischte das Essen auf, und sie genossen ein gemütliches Abendessen bei Kerzenschein; sie sprachen die ganze Zeit. Er erzählte ihr von den verrückten Nachbarn, einem übellaunigen Kater, der sich für den Besitzer des Anwesens hielt, von den Schwierigkeiten, die sein Vater und er gehabt hatten, stilistisch passendes Zubehör bei der Renovierung der Mühle zu finden.
Anschließend trugen sie das Geschirr in die Küche, und Antonio schlug vor, dass sie den Grappa im Wohnzimmer tranken. Er zeigte ihr den Weg. Sie ging in den kleinen, intimen Raum und setzte sich auf die Couch, dann hörte sie die Kellertür quietschen und Antonios Schritte auf der Treppe. Fünf Minuten später kam er mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Sie setzten sich nebeneinander und nippten an dem Schnaps. Er kam ihr bitterer vor als die meisten Grappas, die sie bisher getrunken hatte, aber in Anbetracht von Antonios gutem Geschmack war sie überzeugt, dass es sich um ein teures Destillat handelte.
Ihr war warm, behaglich, schwindlig.
Sie ließ sich an seine starke Schulter sinken, hob den Kopf und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Dann flüsterte er: »Da drin ist ein Geschenk für dich.« Er zeigte auf eine Tür, die zu einem Badezimmer gehörte.
»Ein Geschenk?«
»Geh und schau’s dir an.«
Sie stand auf, ging ins Bad und fand dort ein antikes, seidenes Festkleid an einem Kleiderbügel. Es war golden, mit winzigen Blümchen darauf und Spitzenbesatz am Saum.
»Er ist wunderschön«, rief sie. Sie war mit sich im Widerstreit. Sollte sie es anziehen? Es wäre eine klare Botschaft an ihn... Wollte sie diese senden oder nicht?
Ja, entschied sie. Sie wollte.
Sie streifte ihre Sachen ab, schlüpfte in das Gewand und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück. Er lächelte, nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen. »Du bist so wunderschön. Du siehst aus wie... ein Engel.«
In seinen Worten hallte der Spruch von ihrer ersten Begegnung wider. Aber an seinem Tonfall war etwas merkwürdig, als habe er sagen wollen, dass sie ihn an etwas anderes erinnerte, und sich gerade noch korrigiert.
Dann musste sie über sich selbst lachen. Du bist an deinen Vater gewöhnt – analysierst alles, was er sagt, suchst nach Doppeldeutigkeiten und versteckter Kritik. Entspann dich.
Marissa setzte sich wieder neben Antonio. Sie küssten sich leidenschaftlich. Er zog die Klammer aus ihrem Haar und ließ es über ihre Schultern wallen, dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und sah ihr lange in die Augen. Er küsste sie wieder. Sie war ganz benommen von seiner Berührung und vom Alkohol. Als er flüsterte: »Gehen wir ins Schlafzimmer«, nickte sie.
»Es geht da durch.« Er deutete in Richtung Küche. »Ich glaube, neben dem Bett sind ein paar Kerzen. Du könntest sie schon mal anzünden. Ich sperre inzwischen ab.«
Marissa nahm Streichhölzer und ging in die Küche. Sie bemerkte, dass er die Tür zum Weinkeller offen gelassen hatte. Sie warf einen Blick hinunter und konnte einen großen Teil des Raums einsehen. Er war keineswegs unaufgeräumt, wie er gesagt hatte. Tatsächlich war er makellos sauber und sehr ordentlich. Sie hörte, wie Antonio in einem anderen Teil des Hauses ein Fenster oder eine Tür schloss, und schlich aus Neugier halb die Treppe hinab. Sie hielt inne und blickte stirnrunzelnd auf etwas, das unter einem Tisch hervorlugte. Es war ein Fußball, aus dem die Luft halb entwichen war.
Sie erinnerte sich, dass der Junge, der ertrunken war, mit einem Fußball gespielt hatte. War das seiner gewesen?
Marissa ging ganz nach unten, bückte sich und hob den Ball auf. Es war eine besondere Ausführung, die an einen großen Erfolg das AC Mailand im letzten Jahr erinnerte; das Datum war aufgedruckt. Es konnte also nicht der Ball des toten Jungen sein – Antonio hatte gesagt, dass er ertrunken war, als der Vorbesitzer noch hier wohnte. Doch Antonio gehörte die Mühle seit mindestens fünf Jahren – denn so lange war sein Vater, der ihm beim Renovieren geholfen hatte, schon tot. Es war nur ein merkwürdiger Zufall.
Aber Moment mal... Da sie nun an seinen Bericht über den Vorfall zurückdachte, erinnerte sie sich, dass Antonio gesagt hatte, niemand wisse genau, was passiert sei. Aber wenn das zutraf, woher konnte er dann wissen, dass es eine halbe Stunde gedauert hatte, bis der Junge tot gewesen war?
Furcht begann sich in ihrem Innern auszubreiten. Sie hörte seine knarrenden Schritte irgendwo über ihr, legte den Ball zurück und wandte sich der Treppe zu. Doch dann blieb sie mit stockendem Atem stehen. An einer Steinwand rechts von der Treppe hing ein Foto. Es zeigte Antonio und eine Frau, die Marissa sehr stark ähnelte, das Haar fiel ihr lose über die Schulter. Die beiden trugen Eheringe – obwohl er behauptet hatte, nie verheiratet gewesen zu sein.
Und die Frau trug genau das Kleid, das Marissa jetzt anhatte.
Es konnte nur Lucia sein.
Die letztes Jahr gestorben war.
Mit verblüffender Klarheit begriff Marissa: Antonio hatte seine Frau ermordet. Der Junge mit dem Fußball hatte vielleicht ihre Hilfeschreie gehört oder war Zeuge des Mordes geworden. Antonio war ihm nachgejagt und hatte ihn in den Bach geworfen, wo er in den Abflusskanal gesogen wurde und ertrank, während der wahnsinnige Ehemann zusah, wie er starb.
Mit pochendem Herzen näherte sie sich dem Sideboard unter dem Foto. Dort lag die graue Tüte, die Antonio in Florenz abgeholt hatte, neben der eben geöffneten Grappaflasche. Marissa schaute in die Tüte. Sie enthielt eine halb leere Flasche mit Barbituraten. Auf dem Sideboard sah sie Pulverspuren von derselben Farbe wie die Pillen – ein Gelb wie die Augen der alten Frau, die an Antonios Wagen gekommen war.
Es sah aus, als hätte er ein paar von den Tabletten zermalmt.
Um sie in ihren Grappa zu mischen, begriff Marissa.
Panik durchflutete sie und sammelte sich in ihrem Bauch. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so gefürchtet. Sein Plan hatte also vorgesehen, sie unter Drogen zu setzen – und dann?
Sie durfte keine Zeit mit Spekulationen vergeuden. Sie musste fliehen. Sofort!
Als Marissa die Treppe hinaufschaute, erstarrte sie.
Antonio stand über ihr. In der Hand hielt er ein Schnitzmesser. »Ich sagte doch, ich will nicht, dass du in den Weinkeller gehst, Lucia.«
»Was?«, flüsterte Marissa, kraftlos vor Entsetzen.
»Wieso bist du zurückgekommen?«, flüsterte er. Dann lachte er, dass es ihr kalt über den Rücken lief. »Ach, Lucia, Lucia... Du bist von den Toten auferstanden. Warum? Du hast es verdient zu sterben. Du hast mich in dich verliebt gemacht, du hast mein Herz und meine Seele gestohlen, und dann wolltest du einfach fortgehen und mich allein lassen.«
»Antonio«, sagte Marissa mit brüchiger Stimme, »ich bin nicht...«
»Du dachtest, ich sei nur eine deiner Puppen, oder? Etwas, das du erschaffen und dann verkaufen und im Stich lassen kannst.«
Er schloss die Tür hinter sich und kam die Treppe herunter.
»Nein, Antonio, hör mir zu...«
»Wie hast du es fertiggebracht, zurückzukommen?«
»Ich bin nicht Lucia!«, schrie sie.
Sie dachte an ihre erste Begegnung zurück. Es war kein Engel gewesen, an den sie ihn damals erinnert hatte, sondern die Ehefrau, die er ermordet hatte.
»Lucia«, stöhnte er.
Er hob die Hand und schaltete das Licht aus. Es wurde stockdunkel.
»O Gott, nein. Bitte!« Sie wich zurück, ihre nackten Füße schmerzten auf dem kalten Boden.
Sie hörte, wie er zu ihr nach unten stieg – das Knarren der Holztreppe verriet ihn. Aber dann trat er auf den Steinboden, und sie konnte ihn nicht mehr orten.
Nein... In ihren Augen standen Tränen.
»Bist du zurückgekommen, um mich ebenfalls in eine von deinen Puppen zu verwandeln?«
Marissa wich zurück. Wo war er? Sie konnte ihn nicht hören.
Wo?
War er...?
Heißer Atem strich über ihre linke Wange. Er war unmittelbar neben ihr.
»Lucia!«
Sie schrie und fiel auf die Knie. Sie konnte sich nicht in die Richtung bewegen, in der sie die Treppe vermutete – weil er im Weg stand -, aber sie erinnerte sich, eine kleine Tür an der gegenüberliegenden Wand gesehen zu haben. Vielleicht führte sie ins Freie. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie die Tür gefunden hatte; sie riss die Tür auf, kroch hinein und schlug sie hinter sich wieder zu.
Schluchzend entzündete sie ein Streichholz.
Nein!
Sie fand sich in einer winzigen Zelle wieder, vielleicht ein Meter zwanzig hoch und kaum vier Quadratmeter groß. Keine Fenster, keine weitere Tür.
Durch ihre Tränen hindurch sah sie einen Gegenstand auf dem Boden vor sich. Zitternd und mit klopfendem Herzen beugte sie sich vor und sah, dass es eine Porzellanpuppe war. Ihre schwarzen Augen starrten an die Decke.
Und an der Wand waren dunkelbraune Streifen – Blut, wie sie begriff – von der letzten Insassin dieser Zelle, von Lucia, die ihre letzten Tage hier in blanker Angst verbracht und vergeblich versucht hatte, sich mit bloßen Händen durch das Gemäuer zu graben.
Das Streichholz ging aus, und Dunkelheit umgab sie.
Marissa brach schluchzend, in panischem Entsetzen, auf dem Boden zusammen. Was war ich nur für eine Närrin, dachte sie.
Ich werde hier sterben, ich werde hier sterben …
Doch dann hörte sie von außerhalb der Zelle Antonios Stimme, die plötzlich wieder völlig normal klang.
»Alles in Ordnung, Marissa«, rief er. »Mach dir keine Sorgen. Hinter einem losen Stein links neben der Tür gibt es einen Lichtschalter. Schalt das Licht an. Lies die Nachricht, die in der Puppe versteckt ist.«
Was ging hier vor sich? Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, fand den Schalter, betätigte ihn. Blinzelnd im hellen Licht bückte sie sich und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der hohlen Puppe. Sie las:
 
Marissa, die Wand links von dir ist falsch. Sie ist aus Plastik. Zieh sie ab, und du wirst eine Tür und ein Fenster sehen. Die Tür ist nicht verschlossen. Wenn du bereit bist zu gehen, stoße sie nach außen auf. Aber sieh zuerst aus dem Fenster.
 
Sie riss den Kunststoff ab. Da war tatsächlich ein Fenster. Sie schaute hinaus und sah die Fußgängerbrücke. Anders als zuvor war das Grundstück nun gut mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Sie sah Antonio, der mit seinem Koffer über die Brücke ging. Er hielt inne, er musste das Licht im Fenster der Zelle gesehen haben und wusste, dass sie ihn beobachtete. Er winkte. Dann verschwand er in Richtung Parkplatz. Einen Augenblick später hörte sie, wie er seinen Wagen startete und wegfuhr.
Was zum Teufel war hier los?
Sie stieß die Tür auf und trat ins Freie.
Da standen ihr Koffer und ihre Handtasche. Sie riss sich das Kleid vom Leib, zog sich mit zitternden Händen rasch um und holte das Handy aus der Handtasche. Sie hielt es in einer Weise fest, wie sich verängstigte Kinder an ein Stofftier klammern. Dann fuhr sie fort, den Brief zu lesen.
 
Du bist in Sicherheit. Du warst nie in Gefahr.
Ich bin auf dem Rückweg nach Florenz und nicht irgendwo in der Nähe der Mühle. Aber glaub mir, dass ich kein psychopathischer Mörder bin. Es gibt keine Lucia. Die alte Frau, die dir von ihr erzählt hat, bekam hundert Euro für ihre Vorstellung. Es gab keinen kleinen Jungen, der ertrunken ist; ich habe die Blumen und das Kreuz selbst dort hingelegt, ehe ich dich heute am Bahnhof abgeholt habe. Der Fußball ist nur ein Requisit. Das Blut an der Zellenwand ist Farbe. Die Tabletten waren Bonbons (der Grappa allerdings war echt – und äußerst rar, wie ich hinzufügen darf). Das Foto von mir und meiner »Frau« wurde am Computer hergestellt.
Wahr ist hingegen: Ich heiße Antonio, ich war nie verheiratet, ich habe ein Vermögen mit Computern verdient, und dies ist mein Ferienhaus.
Was, so wirst du dich fragen, soll das alles?
Ich muss es erklären: Als Kind verbrachte ich viel Zeit einsam und gelangweilt. Ich tauchte in die Welt der großen Autoren von Horrorgeschichten ein. Sie machten mir Angst, sicher, aber sie belebten mich auch. Wenn ich ein Publikum bei einem Horrorfilm betrachtete, dachte ich: Sie fürchten sich, aber sie leben.
Diese Erfahrungen ließen mich zu einem Künstler werden. Wie bei jedem wahrhaft großen Musiker oder Maler besteht mein Ziel nicht einfach nur darin, Schönheit zu erschaffen, sondern ich möchte den Menschen die Augen öffnen und ihre Sichtweise und Wahrnehmung verändern. Der einzige Unterschied ist, dass mein Medium nicht Töne oder Farben sind, sondern Furcht. Wenn ich Menschen wie dich sehe, die, wie Dante schreibt, vom wahren Pfad im Leben abgekommen sind, betrachte ich es als meine Mission, ihnen dabei zu helfen, zu ihm zurückzufinden. An dem Abend in Florenz, an dem wir uns kennenlernten, habe ich dich ausgewählt, weil ich sah, dass deine Augen tot waren. Und ich erfuhr bald, wieso – die Unzufriedenheit mit deiner Arbeit, dein autoritärer Vater, dein bedürftiger Ex-Mann. Aber ich wusste, ich kann dir helfen.
Oh, in diesem Augenblick hasst du mich natürlich; du bist wütend. Wer wäre das nicht?
Aber stell dir folgende Frage, Marissa, und schau tief in dein Herz dabei: Hast du dich nicht wunderbar lebendig gefühlt, weil du solche Angst hattest?
Unten stehen drei Telefonnummern.
Eine ist für einen Mietwagenservice, der dich zum Bahnhof in Florenz zurückbringt.
Die zweite ist das hiesige Polizeirevier.
Die dritte ist meine Handynummer.
Es bleibt dir überlassen, welche du wählst. Ich hoffe aufrichtig, du wählst die letzte, aber wenn du es nicht tun willst – weder heute noch später einmal -, werde ich es verstehen. Es gehört schließlich zum Wesen der Kunst, dass der Künstler seine Schöpfung manchmal in die Welt hinausschicken muss, ohne sie jemals wiederzusehen. Dein Antonio
 
Wütend, in Tränen aufgelöst und zitternd ging Marissa zu einer Steinbank am Bachufer. Sie setzte sich und holte tief Luft, die Nachricht in der einen Hand, das Handy in der anderen. Sie hob den Blick zu den Sternen. Plötzlich blinzelte sie erschrocken. Eine große Fledermaus, eine dunkle Gestalt vor dem dunkleren Himmel, flog in einem komplizierten, aber eleganten Zickzackmuster über sie hinweg. Marissa sah ihr gebannt zu, bis das Geschöpf jenseits der Bäume verschwand.
Sie richtete den Blick wieder auf den Bach, hörte das drängende Murmeln des vorbeifließenden Wassers. Im Licht eines an der Außenwand der Mühle angebrachten Scheinwerfers las sie eine der Nummern ab, die ihr Antonio aufgeschrieben hatte, und hämmerte sie in ihr Handy.
Doch dann hielt sie inne, lauschte erneut dem Wasser, atmete die kühle Luft mit ihrem Duft nach Lehm, Heu und Lavendel ein. Marissa löschte die Ziffern, die der Schirm ihres Handys anzeigte. Und sie wählte eine andere Nummer.