Der Voyeur
Er hatte natürlich nicht ernsthaft eine Chance auf sie.
Sie spielte in einer ganz anderen Liga.
Dennoch konnte Rodney Pullman, vierundvierzig sowohl an Jahren als auch an Jeansweite, nicht anders: Er fühlte sich verführt vom Anblick der Bewohnerin in Haus Nummer 10B, seit sie vor einem halben Jahr in seinen Wohnblock in Santa Monica eingezogen war. Ein bisschen träumen darf ein Mann ja wohl noch, oder?
Mit gebündelten Hoffnungen, aber mit diffuser Energie war Pullman vor zwei Jahren von Des Moines nach L. A. gezogen, um Filmproduzent zu werden, und hatte monatelang die Glitzerstadt mit seinem Lebenslauf überschwemmt. Die Ergebnisse waren nicht der Rede wert gewesen, und er hatte schließlich gefolgert, dass Erfolg beim Verkauf von Autos und Klimaanlagen im Mittleren Westen noch keine Türen zu Unternehmen öffneten, zu deren Produkten TomKat, George Clooney und J-Lo gehören.
Doch trotz der Zurückweisung verfiel Pullman in das Lebensgefühl Kaliforniens, wie er seinen Eltern immer schrieb. Sicher, die Leute hier waren ein wenig oberflächlicher als in Iowa, und gelegentlich war ihm, als triebe er ziellos dahin. Aber was für ein Ort, um sich treiben zu lassen! Es war das gelobte Land – breite Highways, seidener Dunst am Strand, Sand zwischen den Zehen, gewaltige Kinopaläste und Januartiefstwerte, die der Durchschnittstemperatur eines typischen Maitags in Des Moines entsprachen.
Pullman ging achselzuckend über sein Scheitern, ein Filmmogul zu werden, hinweg, nahm einen Job als Manager eines Buchkettenladens in Westwood an und machte sich ein angenehmes Leben.
Er war zufrieden.
Na ja, fast. Da war allerdings die Sache mit seinem Liebesleben …
Ach ja.
Pullman war seit zehn Jahren von einer Frau geschieden, die er unmittelbar nach dem College geheiratet hatte. Nach der Trennung hatte er sich zwar mit einigen Frauen getroffen, aber feststellen müssen, dass es nicht leicht war, eine ernsthafte Verbindung zu knüpfen. Keine der Frauen, mit denen er ausging, zumeist Blind Dates, kannte sich groß mit Filmen aus, der wahren Leidenschaft in seinem Leben. (Hach, das gibt’s doch nicht, Rod, ich liebe die Klassiker ebenfalls. Titanic, zum Beispiel, hab ich bestimmt schon hundertmal gesehen... Und jetzt erzähl mal von diesem Orbison Welles, den du vorhin erwähnt hast.) Im Allgemeinen liefen die Gespräche darauf hinaus, dass sie ihn mit Prahlereien über ihre Kinder langweilten oder lang und breit davon schwafelten, wie schlecht ihre Ex-Männer sie behandelt hatten. Seine Bekanntschaften neigten außerdem dazu, sich in wenig glamourösen Läden wie Gap oder L. L. Bean einzukleiden, und waren zumeist – wie sollte er sagen? – von solidem mittelwestlichem Körperbau.
Oh, er war auch ein paar attraktiven Frauen begegnet – wie etwa Sally Vaughn, immerhin Kandidatin um den Titel der Miss Iowa 2002 -, aber diese Beziehung führte nie irgendwohin, und nach ihr hatte er, was Mädchen anging, ein Verlangen nach grüneren Weiden bei sich festgestellt.
Womit Los Angeles zutreffend beschrieben war. Hier tummelten sich die hinreißendsten Geschöpfe der Welt. Aber sie waren nicht nur hübsch. Nein, diese Mädels hatten auch Substanz. Er hörte sie an der Kaffeebar seines Buchladens bei ihren fettarmen Latte Macchiati über Kunst und Politik reden, brillant, geistreich, witzig. Erst gestern hatte er ein paar jungen Frauen in eng sitzenden Gymnastikklamotten zugehört, die über das seltsam klingende Instrument bei dem Soundtrack von Der Dritte Mann stritten. Ein Hackbrett, nein, es war ein Akkordeon, nein, es war …
Eine Zither, hätte Pullman am liebsten gerufen, aber er hatte gespürt, dass eine Einmischung nicht erwünscht gewesen wäre. (Und diejenige, die falschlag, wäre wohl ernsthaft sauer gewesen, was jede Chance darauf, mit einer von ihnen auszugehen, vernichtet hätte.)
Die DVD-Sammlung eines durchschnittlichen Mädchens in L. A. enthielt keine dämlichen Schmachtfetzen. Sie hatten Filme wie Fahrraddiebe, Der Mann, der zu viel wusste, Panzerkreuzer Potemkin, Der Himmel über Berlin, Botschafter der Angst.
Ach, aber wie sollte er eins kennenlernen? Das war das Problem. Wie er es hasste, ins kalte Wasser zu springen, dieses: Hallo, ich bin Rodney, wie heißt du? Dicklich, linkisch, schüchtern, er verkrampfte sich jedes Mal.
Er hatte gehofft, über seine Arbeit in dem Buchladen mit glamourösen Bewohnerinnen Hollywoods in Kontakt zu kommen. Dass es zu Situationen käme, in denen er – wie ein Handelsvertreter – einen Grund hatte, sie anzusprechen, oder in denen Frauen auf ihn zukamen und er seinen Charme spielen lassen konnte. Aber sobald er im Laden die Frage einer Kundin beantwortet hatte, hatte sie keine Verwendung mehr für ihn. Und was seine Kolleginnen anging, so waren sie entweder mittelalterliche Verlierer oder Jungspunde, die auf ihre eigene Karriere fixiert waren (und die alle, wer hätte es gedacht, Drehbücher schreiben, in Filmen spielen oder Regie führen wollten).
Aus purer Erschöpfung hatte Pullman die Liebe aufgegeben.
Aber dann war die Neue in 10B eingezogen.
Tammy Hudson – er hatte den Hausverwalter am nächsten Morgen nach ihrem Namen gefragt – war ein wenig älter als die atemberaubenden jungen Dinger, die man bei Ivy oder in der Bar des Beverly Wilshire sah. Pullman schätzte sie auf dreiunddreißig, vierunddreißig, was gut war, ein akzeptabler Altersunterschied. Sie war phantastisch. Langes Haar, schwarz wie Rabengefieder, oft zu einem flotten Pferdeschwanz oder einem koketten Knoten gebunden. Sie war hoch gewachsen, schlank und muskulös, wie man es in ihrem eng anliegenden, gelbschwarzen Jogging-Outfit deutlich sah. Sie lief jeden Tag, und manchmal sah er sie morgens auf dem Weg zum Buchladen im Garten der Wohnanlage stehen und in der kühlen, nebligen Luft irgendwelche Kampfsportübungen machen.
Was ihm noch gefiel: Tammy war voller Lebensfreude. Sie reiste viel und besaß – hatte er jedenfalls gehört – ein Haus in Baja California oder kannte jemanden, der eins besaß; sie verbrachte häufig das Wochenende dort. Sie fuhr einen leuchtend roten Vesparoller, was ihn an Audrey Hepburn in Ein Herz und eine Krone erinnerte. Ihr Auto war ein alter MG, und sie fuhr rasend schnell damit.
Es hatte ihn nicht überrascht, als er feststellte, dass sie ihre Wohnung fast täglich mit ihrer Bewerbungsmappe verließ; natürlich hatte sie etwas mit Film zu tun. Mit ihrem ausdrucksstarken Gesicht hätte sie eine wunderbare Charakterdarstellerin abgegeben. Hatte er sie schon in irgendwas gesehen? Es gab nicht viele Filme, die Rodney Pullman nicht gesehen hatte.
Er ging mit sich zu Rate und kam zu dem Schluss, es sei nicht völlig ausgeschlossen, dass sie beide miteinander ausgehen könnten und sich etwas Ernsthaftes zwischen ihnen entwickeln würde. Er sah eigentlich nicht schlecht aus. Gut, zu viel Bauch, aber das traf auf viele erfolgreiche Geschäftsleute zu; es störte Frauen nicht, wenn man es mit Charme wettmachen konnte. Er hatte dichtes braunes Haar, ohne eine Spur von Grau, und einen kräftigen Kiefer, hinter dem das Doppelkinn größtenteils verschwand. Er rauchte nicht und trank nur Wein, und das in Maßen. Immer zahlte er im Restaurant.
Doch sofort befielen ihn Zweifel wie ein Bienenschwarm, so, wie es jedes Mal war. Wie sollte der schüchterne Mann sie anders kennenlernen, als sie einfach anzusprechen? Und wenn die erste Chance verpfuscht war, das wusste er nur allzu gut, gab es kein Zurück auf Los, nicht bei einer schönen Frau wie Tammy.
Deshalb verehrte er sie monatelang nur aus der Ferne und überlegte angestrengt, wie er es anstellen könnte, das Eis zu brechen, ohne sich zum Narren zu machen.
An einem kühlen Aprilabend dann kam ein Durchbruch.
Gegen sieben stand Pullman an seinem Fenster und schaute in den Hof hinunter, als er in den Büschen auf der anderen Seite des Gehsteigs vor Tammys Schlafzimmerfenster eine Bewegung wahrnahm. Kurz darauf wiederholte es sich, und diesmal sah er einen schwachen Lichtblitz, als spiegelte sich Licht in Glas.
Pullman machte das Licht in der Wohnung aus und zog die Jalousie fast ganz herunter. Dann ging er auf die Knie und spähte durch den Schlitz. Er sah einen Mann in den Büschen kauern, der anscheinend in Tammys Fenster starrte. Er trug eine graue Uniform, wie sie die Männer hatten, die die Anlage in Schuss hielten. Pullman stand auf und wechselte ins Schlafzimmer, wo er einen besseren Blick in den Hof haben würde. Ja, kein Zweifel. Der hagere junge Mann spannte. Er hatte ein Fernglas. Perverses Schwein!
Pullmans erster Impuls war, die Polizei zu rufen, und er griff nach dem Telefon.
Doch er tippte nur die erste Ziffer, dann dachte er, warte mal... Vielleicht ließ sich das irgendwie ausnutzen. Er legte das Telefon beiseite.
Tammys Vorhang ging zu. Er konzentrierte sich auf den Voyeur, und es fröstelte ihn, als der Mann enttäuscht die Schultern hängen ließ – als hätte er gehofft, einen Blick darauf zu erhaschen, wie sie sich auszog, um zu duschen. Dennoch blieb er, wo er war, und wartete auf eine Gelegenheit, erneut in ihr Fenster zu spähen. Doch dann ging Tammys Tür auf, und sie kam heraus. Sie trug ihr rosa Top und die enge Hose mit dem Blumenmuster. An ihrer Schulter baumelte die blaue Lederhandtasche, und die Sonnenbrille hatte sie hoch ins Haar geschoben, das sie heute offen trug.
Der Voyeur kauerte sich tiefer ins Gebüsch, um nicht gesehen zu werden.
Tammy schloss ihre Tür ab und spazierte den Gehsteig entlang in Richtung Parkplatz. Wo war der Wartungsmann, fragte sich Pullman beunruhigt. Kroch er näher zu ihr? Doch gerade, als er sich das Telefon geangelt hatte und die Notrufnummer wählen wollte, sah er den Stalker aufstehen. Er hatte nicht vorgehabt, sie anzufallen, er hatte nur seine Gerätschaften zusammengepackt. Mit seinen Werkzeugen in der Hand drehte er sich um und entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung von Tammy, auf die Rückseite des Gebäudes zu.
Tammy verschwand auf dem Parkplatz, und einen Augenblick später hörte man den Motor ihres MG knattern, als sie in dem kleinen grünen Flitzer in die Nacht davonbrauste.
An diesem Abend entfernte sich Pullman nicht weit von zu Hause, bestellte sich eine Pizza und behielt den Hof aufmerksam im Blick. Stunden vergingen ohne eine Spur von Tammy oder ihrem Verfolger. Er wäre beinahe eingeschlafen, machte sich aber Kaffee, den er heiß und schwarz hinunterschüttete, und zwang sich, wach zu bleiben, um alles im Auge zu behalten. Mit einem Schauder der Begeisterung dachte er, dass es genau wie in dem Hitchcock-Thriller Fenster zum Hof war, wo Jimmy Stewart, in seinem Rollstuhl ans Haus gefesselt, die Zeit damit verbringt, in die Fenster seiner Nachbarn zu spähen. Es war Pullmans Lieblingsfilm; er fragte sich, ob Tammy ihn gesehen hatte. Sein Gefühl sagte ihm, sie hatte.
Als um neun Uhr abends noch nichts von Tammy oder dem dürren Voyeur zu sehen war, ging Pullman nach unten und zur Rückseite des Gebäudes, wo er den Hausmeister antraf. »Wer ist dieser junge Wartungstyp?«, fragte er. »Der Blonde?«
»Der Blonde?«, fragte der schwergewichtige Hausmeister und strich sich eine Strähne seines fettigen Haars aus der Stirn. Er roch nach Bier.
»Ja, der Kleine.«
»Sie sagten, der ›Blonde‹.«
»Ja, der mit den blonden Haaren.« Pullman legte frustriert die Stirn in Falten. »Wissen Sie, wen ich meine?« Der Hausmeister war kein Latino oder so, es gab keine Sprachbarriere. Vielleicht war er einfach nur dumm.
»Ich dachte, Sie sagten ›der Blonde‹, so wie man ›die Blondine‹ sagt. Aber niemand nennt einen Mann so, man sagt nicht, ›der Blonde.‹«
»Ja? Wie Sie meinen. Er war jedenfalls blond. Und klein. Er hat heute die Hecken geschnitten und Laub gerecht. Sie wissen, wen ich meine?«
»Ja, ja, der.«
»Wie heißt er?«
»Keine Ahnung. Ich hab ihn nicht eingestellt. Ich habe mit den Gartenanlagen nichts zu tun. Der Verwaltungsausschuss hat ihn engagiert.«
»Was hat es auf sich mit ihm?«
»Auf sich? Er fegt, harkt, mäht Gras. Das ist alles. Wieso?«
»Arbeitet er für ein Serviceunternehmen?«
»Ja, ich denke schon.«
»Gibt es mit der Firma einen Vertrag?«, fragte Pullman.
»Für die er arbeitet?«
»Ja.«
»Denk schon. Wie gesagt, der Verwaltungsausschuss...«
»... hat ihn eingestellt, ich weiß. Sie wissen also nichts über ihn?«
»Wieso fragen Sie?«
»War nur neugierig.«
Der Hausmeister watschelte in seine Wohnung zurück, mit einem Stirnrunzeln, als wäre er fälschlich eines Vergehens bezichtigt worden, und Pullman eilte wieder nach oben.
Um ein Uhr nachts kam Tammy zurück. Sie sah so frisch und sexy aus wie bei ihrem Aufbruch, als sie zu ihrer Tür ging und aufsperrte. Nach einem Blick über die Schulter ging sie hinein und schlug die Tür hinter sich zu.
Sie hatte ein bisschen nervös gewirkt beim Betreten der Wohnung, fand Pullman, als hätte sie einen Eindringling gehört oder gesehen. Er griff deshalb nach einem Fernglas und suchte das Gebüsch ab. Es sah zwar nicht danach aus, als wäre der Spanner wieder zurückgekommen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er trat auf den Flur hinaus und schlich die Treppe hinunter. Dann stand er im Dunkeln, nicht weit von der Stelle im Gebüsch, wo der Voyeur vorhin gehockt hatte, um sein perverses Spiel zu treiben.
Fliegen summten, Lichter flackerten durch die Sträucher, und von ferne, aus den Hügeln auf dem Weg nach Malibu, hörte Pullman Kojoten heulen. Ansonsten war jedoch alles friedlich und still.
Keine Spur von dem Gartenpfleger.
Nachdem bei Tammy das Licht ausgegangen war, wartete Pullman noch eine halbe Stunde und kehrte, da er nur den Kater, der zum Haus gehörte, vorbeischleichen sah, in seine Wohnung zurück. Ihm war vage bewusst, dass die Situation eine Goldmine in Hinblick auf sein Liebesleben sein konnte, aber er wusste nicht genau, wie er sie am besten ausbeuten sollte.
Nun, das Erste, was es zu bedenken galt, war: Stellte der Mann eine ernste Gefahr dar? Pullman hatte gehört, Voyeure waren wie Fußfetischisten oder Exhibitionisten. Sie waren im Allgemeinen ungefährlich. Sie ersetzen eine normale sexuelle Beziehung durch den emotional distanzierten – und für sie sichereren – Akt des Beobachtens und Phantasierens von der beobachteten Person, auch wenn sie selbst glauben, Ersteres zu wollen.
Natürlich traf es zu, dass Vergewaltiger ihre Opfer manchmal ausspionierten, um ihre Gewohnheiten und Abläufe kennenzulernen, ehe sie zuschlugen, aber der überwältigenden Mehrheit der Voyeure würde es nicht einmal einfallen, ihre Opfer anzusprechen, geschweige denn anzugreifen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war der Gartenpfleger also harmlos. Abgesehen davon war er ein so schwächlich aussehendes Bürschchen, dass Tammy mit ihrem Karatetraining ihn vermutlich mit einem einzigen Schlag zu Boden strecken konnte. Nein, entschied Pullman, es bestand kaum eine Gefahr für die Frau, wenn er noch nicht sofort wegen des Spanners Alarm schlug.
Er fiel ins Bett und schloss die Augen, konnte jedoch nicht einschlafen; sein überhitztes Hirn rang weiter mit dem Problem, wie er aus der Tatsache, dass Tammy verfolgt wurde, Kapital schlagen und die Gelegenheit dazu nutzen könnte, sich mit ihr zu verabreden. Er warf sich unruhig hin und her und schlief gerade mal eine halbe Stunde vor dem Weckerläuten ein. Als der Wecker um sieben losplärrte, wankte er aus dem Bett und sah zum Fenster hinaus. In Tammys Wohnung brannte Licht. Er stellte sich vor, wie sie ihre Morgengymnastik machte oder ein Frühstück aus Joghurt, Beeren und Kräutertee genoss, zufrieden und nichts von dem Spanner ahnend.
Und von dem sah Pullman nichts.
Das beunruhigte ihn. War diese Wohnanlage nur ein Eintagesjob für den Kerl gewesen? Was, wenn er nicht wiederkam? Das würde alle seine Pläne zunichtemachen.
Er blieb so lange wie möglich am Fenster und hoffte, dass der Gartenpfleger auftauchte. Um acht Uhr konnte er jedoch nicht länger warten. Er musste in einer Viertelstunde in der Arbeit sein.
Pullman duschte rasch und taumelte auf den Parkplatz hinaus. Der Kopf tat ihm weh vom Schlafmangel, und seine Augen brannten im grellen Sonnenlicht. Er wollte gerade in seinen verbeulten Saturn steigen, als ein Pick-up von Pacific Landscaping Services auf den Parkplatz fuhr.
Pullman hielt den Atem an.
Ja, es war der Spanner! Er stieg aus, packte seine Geräte und eine Kühltasche für Getränke zusammen und marschierte in Richtung Hof. Pullman ging hinter seinem Wagen in Deckung. Der Voyeur schlüpfte in dieselben Büsche, in denen er gestern gestanden hatte, und begann eine Hecke zu schneiden, die bereits perfekt gestutzt war. Seine hungrigen Augen verschwendeten keinen Blick auf die Schere, sondern waren auf Tammys Schlafzimmerfenster gerichtet.
Pullman eilte zurück in seine Wohnung, auf dem Fußweg hinten um das Gebäude herum, damit ihn der Spanner nicht sah. Er sollte eigentlich den Buchladen aufmachen, aber er würde sich diese Chance nicht entgehen lassen. Er holte sein Handy hervor und rief die Personalchefin der Ladenkette an. Mit vorgetäuscht heiserer Stimme erzählte er ihr, er sei krank und könne nicht kommen.
»Oh«, sagte sie unsicher. Pullman fiel ein, dass sein Stellvertreter heute in Urlaub ging, was bedeutete, dass die Frau enorme Schwierigkeiten haben würde, jemanden zu finden, der den Laden aufsperren konnte. Pullman hustete heftig, aber die Personalchefin äußerte kein Mitgefühl. »Sagen Sie Bescheid, ob Sie morgen wiederkommen«, sagte sie kühl. »Und melden Sie sich das nächste Mal ein bisschen früher.«
»Ich...«
Klick.
Pullman zuckte die Achseln. Er hatte sich um wichtigere Dinge zu kümmern. Auf dem Weg zu seiner Wohnung ging er ein paar von den Ideen durch, die ihm letzte Nacht eingefallen waren, als er wach im Bett lag.
»Hallo, Sie kennen mich nicht, aber ich wohne gegenüber. Ich dachte, Sie sollten wissen...«
Oder: »Hallo, ich bin Ihr Nachbar. Ich glaub, wir sind uns noch nie begegnet. Ich will Sie nicht beunruhigen, aber im Gebüsch dort sitzt ein Mann, der Sie seit zwei Tagen beobachtet.«
Nein, zwei Tage durfte er nicht sagen. Sie würde sich fragen, wieso er nicht früher etwas gesagt hatte.
»Hören Sie, Miss, Sie kennen mich nicht, aber schauen Sie sich nicht um. In den Büschen dort drüben auf der anderen Seite des Wegs ist ein Mann. Er schaut mit einem Fernglas in Ihre Wohnung. Ich glaube, er ist ein Stalker oder so etwas.«
Doch nach einigem inneren Ringen entschied er sich gegen alle diese Vorgehensweisen. Es könnte sein, dass sie einfach sagte: »Oh, danke«, ihm die Tür vor der Nase zuschlug und die Polizei rief.
Ende der Geschichte.
Nein, er musste etwas Dramatisches tun – etwas, das eine Frau beeindrucken würde, die so gewandt, lässig und, nun ja, schwer zu beeindrucken war wie Tammy Hudson.
Pullman blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Hof und sah, dass der Voyeur näher an ihre Wohnung gerückt war, den Blick immer noch wie besessen auf ihr Fenster gerichtet. Das Sonnenlicht wurde von den Schneiden der Schere reflektiert, die ein unheilvolles schnipp, schnipp von sich gab. Das Werkzeug war lang und schien gut geschliffen zu sein. Er fragte sich, ob seine frühere Einschätzung falsch gewesen war. Vielleicht war der Kerl doch gefährlich.
Und das brachte ihn endlich auf eine Idee, wie er am besten eine Begegnung mit der schönen Bewohnerin von 10B inszenierte.
Pullman stand auf, ging zu seinem Schrank und fand nach einigem Wühlen seinen alten Baseballschläger. Er hatte sich nie viel aus Sport gemacht, aber er hatte einen Schläger und einen Handschuh gekauft, als er im Buchladen anfing und hörte, dass sie dort ein Team hatten. Er hielt es für eine gute Möglichkeit, ein paar von den weiblichen Angestellten kennenzulernen. Wie sich herausstellte, spielten aber nur Männer, und er war bald wieder aus dem Team ausgestiegen.
Ein Blick nach draußen – keine Spur von Tammy, aber der Voyeur war noch da und schnippelte eifrig mit seiner Schere.
Schnipp, schnipp...
Pullman packte den Schläger, schlich die Treppe hinunter zum Gehweg und rückte leise in den Schatten der Bäume hinter dem Stalker vor.
Sein Plan sah vor, dass er wartete, bis Tammy das Haus verließ, um wie üblich irgendwo vorzusprechen. Sobald sie an dem Voyeur vorbeiging, würde Pullman auf den Mann zulaufen, den Schläger schwingen und ihr zurufen, sie solle die Polizei verständigen, dieser Mann verfolge sie.
Er würde den Kerl zwingen, sich auf den Bauch zu legen, bis die Polizei eintraf; er und Tammy würden gut zehn Minuten Zeit haben, sich zu unterhalten.
Nein, nein, das war doch nicht der Rede wert... Ich heiße übrigens Rodney Pullman. Und Sie sind?... Freut mich, Sie kennenzulernen, Tammy... Nein, wirklich, ich habe nur getan, was ein guter Bürger tut... Na gut, wissen Sie was, wenn Sie mich wirklich belohnen wollen, dann erlauben Sie mir, dass ich Sie zum Essen ausführe.
Er wischte sich die schwitzende Hand an der Hose ab und fasste den Griff des Schlägers fester.
Sicher, Samstag würde mir passen. Vielleicht...
Seine Phantasien wurden unterbrochen, als Tammys Haustür aufging.
Sie trat ins Freie und zog sich die teure Sonnenbrille über die Augen. Ihr schwarzes Haar zierte heute ein leuchtend rotes Band, das zu ihrem Finger- und Zehennagellack passte. Sie hatte die blaue Handtasche über der Schulter und ihre Mappe unter dem Arm. Sie bog auf den Gehweg ein.
Der Voyeur nahm eine gespannte Haltung an. Das Schnippeln hörte auf.
Pullman packte den Schläger fester. Er holte tief Luft, sagte sich seinen Text noch einmal vor.
Auf die Plätze, fertig …
Aber dann machte der Voyeur einen Schritt zurück. Er legte die Heckenschere nieder und begann an der Vorderseite seines Overalls herumzufummeln.
Was...?
Du lieber Himmel, er öffnete den Reißverschluss und langte hinein.
Er will sie tatsächlich vergewaltigen!
»Nein!«, rief Pullman und rannte, den Baseballschläger über dem Kopf schwingend, los.
»Hey!« Der Vergewaltiger blinzelte erschrocken, taumelte rückwärts und fiel über einen niedrigen Lattenzaun, der um ein Mulchbeet gezogen worden war. Er schlug hart auf, schrie vor Schmerz und keuchte, weil ihm die Luft wegblieb.
Tammy blieb stehen, drehte sich zu dem Radau um, runzelte die Stirn.
»Rufen Sie die Polizei!«, rief ihr Pullman zu. »Dieser Kerl hier hat Sie beobachtet. Er ist ein Vergewaltiger!« Er wandte sich wieder dem blonden Mann zu und schwang den Schläger. »Keine Bewegung, sonst...«
Was er noch sagen wollte, ging im ohrenbetäubenden Knallen von Schüssen unter, die direkt hinter ihm abgegeben wurden.
Pullman heulte vor Schreck und fiel auf die Knie, während die Kugeln in Kopf und Hals des Spanners drangen und einen blutigen Dunst um ihn erzeugten. Ein kurzes Beben durchlief den Mann, dann sank er tot zu Boden.
»Großer Gott!«, flüsterte Pullman entsetzt und stand langsam auf. Er drehte sich zu Tammy um und sah sie voller Staunen eine große schwarze Pistole in der Hand halten, die sie aus ihrer Lederhandtasche gezogen hatte. Sie ging in die Hocke und blickte um sich wie ein Soldat in einem Hinterhalt.
Sie lernte also nicht nur Karate, um sich zu verteidigen, sie war auch berechtigt, eine Waffe zu tragen. Nun, viele Frauen in L. A. besaßen eine, hatte er gehört. Andererseits war sich Pullman nicht sicher, ob man einfach einen Mann erschießen durfte, der, ohne Schaden anrichten zu können, auf dem Boden lag, wenn er einen im Grunde nicht angegriffen hatte.
»Hey, du«, sagte Tammy und trat näher.
Pullman drehte sich um. Er erhaschte einen guten Blick auf die wunderbaren blauen Augen der Frau und auf ihre Diamantohrringe, die in der Sonne funkelten, und er roch ein blumiges Parfum, vermischt mit dem scharfen Feuerwerksgeruch des Pulverdampfs von der Waffe.
»Ich?«, fragte er.
»Ja, hier.« Sie gab ihm ihre Bewerbungsmappe.
»Die ist für mich?«
Aber sie antwortete nicht. Sie drehte sich um und spurtete in die Gasse hinter der Wohnanlage, ein Blitz lebhafter Farben, der einen Augenblick später verschwunden war.
Während Pullman verwirrt auf ihre Mappe blickte, hörte er hinter sich Füße trampeln, und im nächsten Moment wurde er von einem Dutzend kräftiger Hände gepackt. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, knallte er mit dem Gesicht voran in ein Stück extrem gut gepflegten Rasens.
 
Tammy Hudson war, wie Rodney Pullman von seinem Anwalt erfuhr, einer der erfolgreichsten und am schwersten zu fassenden Drogenhändler Südkaliforniens.
Wie es aussah, war sie im letzten Jahr für die Einfuhr Tausender Pfund hochwertigen Kokains aus Mexiko verantwortlich gewesen. (Daher ihre häufigen Reisen über die Grenze.) Da sie einen zerbeulten alten Sportwagen fuhr und in einer armseligen Wohnanlage wie den Pacific Arms Apartments wohnte, war sie lange nicht auf den Radarschirmen von Drogenfahndern und Polizei aufgetaucht, denen es leichter fiel, die auf großem Fuß lebenden Bosse in Beverley Hills und Palm Springs aufzuspüren.
Der Anwalt saß Pullman nun im Untersuchungsgefängnis gegenüber und überbrachte ihm die schlechte Nachricht, dass der Bezirksstaatsanwalt nicht beabsichtigte, auch nur einen der Vorwürfe gegen ihn fallen zu lassen.
»Aber ich habe nichts getan«, jammerte Pullman.
Der Anwalt, ein braungebrannter Vierzigjähriger mit einer Lockenmähne, stieß ein Lachen aus, als hätte er diesen Spruch schon tausendmal gehört. Er erklärte, dass der Staatsanwalt Blut sehen wollte. Zum einen war ein Polizist getötet worden; der blonde Mann, der scheinbare Voyeur, war in Wirklichkeit ein verdeckt arbeitender Beamter der Polizei von Los Angeles gewesen, der sich als Angestellter einer Gartenpflegefirma getarnt hatte. Seine Aufgabe war es gewesen, zu melden, wann Tammy die Wohnung verließ. Andere Beamte oder Agenten der Drogenbehörde übernahmen dann die Überwachung und folgten ihr in zivilen Autos oder Vans. (Als Pullman dachte, er würde in Vorbereitung einer Vergewaltigung in seine Hose greifen, hatte er in Wahrheit nur sein Funkgerät aus einer Innentasche gefischt, um dem zweiten Überwachungsteam zu berichten, dass sie wegging.)
»Aber...«
»Lassen Sie mich ausreden.« Der Anwalt erklärte, die Polizei sei auch deshalb außer sich, weil Tammy dank Pullman hatte entkommen können. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, und FBI und DEA nahmen an, dass sie inzwischen außer Landes sein würde.
»Aber sie können doch nicht glauben, dass ich mit ihr zusammengearbeitet habe. Oder glauben die das etwa?«
»Kurz gesagt, ja.« Pullmans Erklärung für die Ereignisse der letzten Tage habe zweifelnde Blicke ausgelöst, fuhr er fort. »Gelinde gesagt.« Zum Beispiel wüsste die Polizei gern, wieso er die Frau nicht am Tag zuvor informiert habe, wenn er den angeblichen Voyeur da schon bemerkt hatte. Wenn seine Sorge einer unschuldigen Frau gegolten habe, wie er behauptete, warum habe er ihr nicht sofort gesagt, dass sie in Gefahr sei, als er es entdeckte?
Pullmans mit roten Ohren vorgetragene Erklärung, er habe den Voyeur als Vorwand benutzen wollen, um sich bei Tammy vorzustellen, quittierte der Anwalt mit einem Blick, der sich entweder als Skepsis deuten ließ oder dahingehend, dass ihm dieser mitleiderregende Klient peinlich war. Er notierte die Erklärung in ein paar dürren Worten.
Und warum habe er seinem Arbeitgeber vorgelogen, er sei krank? Für die Polizei ergab das nur einen Sinn, falls er als Tammys Aufpasser fungierte. An diesem Tag sollte ein großer Drogentransfer über die Bühne gehen, und man ging davon aus, dass Pullman zu Hause geblieben war, um sicherzustellen, dass Tammy gefahrlos mit der Ware aufbrechen konnte. Die Polizei nahm an, er habe den Gartenpfleger als Polizisten ausgemacht und ihn angegriffen, um Tammy die Chance zur Flucht zu ermöglichen.
Es gebe auch Beweise: Sowohl seine wie Tammys Fingerabdrücke befänden sich auf der Mappe, die zufällig keine Bewerbungsfotos oder Videos enthalten habe, sondern ein Kilo sehr reines Kokain. »Sie hat mir die Mappe gegeben«, sagte Pullman matt. »Zur Ablenkung wahrscheinlich. Damit sie fliehen konnte.«
Der Anwalt machte sich nicht einmal die Mühe, diese Erklärung aufzuschreiben.
Am meisten belastete ihn aber seine Behauptung, sie gar nicht gekannt zu haben. »Verstehen Sie«, sagte sein Anwalt. »Falls Sie sie wirklich nicht gekannt oder keinerlei Verbindung zu ihr gehabt hätten, dann könnten wir eine Jury dazu bringen, auch alles andere zu glauben, was Sie behaupten.«
»Aber ich kenne sie wirklich nicht. Ich schwöre es.«
Der Anwalt stöhnte leise. »Da gibt es aber ein Problem, Rodney.«
»›Rod‹ wäre mir lieber. Wie ich schon sagte.«
»Ein Problem.«
»Nämlich?« Pullman kratzte sich am Kopf. Die Handschellen klirrten wie dumpfe Glocken.
»Sie haben Ihre Wohnung durchsucht.«
»Oh. Wirklich? Dürfen die das?«
Der Anwalt lachte. »Sie wurden wegen Beihilfe zum Mord, Körperverletzung und verschiedener Drogendelikte verhaftet. Ja, Rod, das dürfen die.«
»Oh.«
»Und Sie wissen, was sie gefunden haben, oder?«
Er wusste sehr wohl, was sie gefunden hatten. Er lehnte sich zurück, starrte auf den Boden und spielte geistesabwesend mit den Handschellen, während der Anwalt von einem Blatt Papier ablas.
»Einige alte Joghurtbecher mit Tammys Fingerabdrücken darauf, dito zwei Flaschen Wein, eine Schachtel Früchtetee und leere Erdbeerschalen. Zeitschriften mit ihrem Adressaufkleber. Ein Kartenzahlungsbeleg auf ihren Namen aus einem Laden im Beverley Center. Ein Starbucks-Becher mit ihrem Lippenstift und ihrer DNA am Rand.«
»DNA? Das haben die überprüft?«
»So etwas tut die Polizei, ja.«
»Ich schwöre, sie war nie in meiner Wohnung. Dieses ganze Zeug... Ich... na ja, ich habe es... aus ihrem Müll.«
»Aus ihrem Müll?«
»Ich habe ein paar Sachen draußen hinter ihrer Wohnung gesehen. Ich fand nichts dabei.«
»Auf Ihrer Kommode lagen zwei Dutzend Fotos von ihr.«
»Ich hab nur ein paar Schnappschüsse gemacht, weiter nichts. Sie schaut nicht in die Kamera – das können Sie der Polizei sagen. Wenn ich sie gekannt hätte, würde sie in die Kamera schauen, oder?«
»Rod.«
»Nein, hören Sie zu! Wenn wir zusammen gewesen wären, würde sie mich ansehen, in die Kamera schauen.« Pullmans Stimme überschlug sich vor Verzweiflung. »Wie bei ›Sag mal cheese‹, verstehen Sie? Aber sie schaut nicht in die Kamera. Das bedeutet, wir waren nicht zusammen. Es ist nur logisch. Klingt das nicht einleuchtend?« Er verstummte. Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Ich wollte sie nur kennenlernen. Aber ich kannte sie nicht.«
»Sie haben auch ein Fernglas gefunden. Sie denken, Sie haben es benutzt, um ein Auge auf ihre Tür zu haben und sie zu warnen, falls man ihre Wohnung stürmen wollte.«
»Das war nur, damit ich sie... damit ich sie ansehen konnte. Sie ist wirklich hübsch.« Pullman zuckte die Achseln. Er richtete den Blick wieder zu Boden.
»Ich glaube, wir können nichts anderes tun, als mit dem Staatsanwalt über einen Handel zu reden, wenn Sie sich schuldig bekennen. Wir wollen es nicht zu einem Prozess kommen lasen, glauben Sie mir. Vielleicht kann ich fünfzehn, zwanzig Jahre für Sie herausschlagen...«
»Zwanzig Jahre?«
»Ich rede mit der Staatsanwaltschaft. Mal sehen, was sie sagen.«
Der Anwalt ging zur Tür des Vernehmungszimmers und klopfte, um einen Wärter zu rufen. Einen Moment später ging die Tür auf.
»Eins noch«, sagte Pullman.
Sein Anwalt drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch.
»Sally Vaughn.«
»Wer?«
»Kandidatin um den Titel der Miss Iowa. Vor ein paar Jahren.«
»Was ist mit ihr?«
»Ich hab ihr einen Wagen verkauft, und wir sind einmal zusammen ausgegangen, aber sie war nicht mehr daran interessiert, mich zu treffen. Bei ihr ist gewissermaßen das Gleiche passiert.«
»Das Gleiche?«
»Wie bei Tammy. Ich hab sie gewissermaßen mehr beobachtet, als ich sollte.«
»Sie haben gespannt?«
Er setzte zu einem Einwand gegen das Wort an, aber dann nickte er nur. »Ich wurde verhaftet. Deshalb bin ich hierher gezogen. Ich wollte neu anfangen. Jemanden in Wirklichkeit kennenlernen.«
»Wie hoch war Ihre Strafe in Iowa?«
»Sechs Monate auf Bewährung, ein Jahr Therapie.«
»Hat nicht geholfen, die Therapie?«
»Nein, hat nicht geholfen.«
»Ich besorge mir die Unterlagen. Vielleicht kauft es uns der Staatsanwalt ab. Aber Ihretwegen ist ihm ein großer Fisch durch die Lappen gegangen, deshalb wird er was haben wollen. Wahrscheinlich klagt er Sie wegen Stalking und Verletzung der Privatsphäre an. Sie müssten wohl ein bis eineinhalb Jahre sitzen.«
»Besser als zwanzig.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Der Anwalt ging durch die Tür.
»Darf ich Sie noch was fragen?« Pullman blickte auf.
»Was?«
»Wird die Polizei alles, was sie gefunden hat, benutzen? Als Beweismittel, meine ich?«
»Aus Ihrer Wohnung?«
»Ja.«
»Wahrscheinlich nicht. Meistens picken sie sich die besten Stücke heraus.«
»Glauben Sie, ich könnte mir dann ein paar von Tammys Bildern hier an die Wand hängen? Es gibt kein Fenster. Nichts, was man ansehen könnte.«
Der Anwalt zögerte, als überlegte er, ob Pullman einen Witz gemacht hatte. Als er zu dem Schluss kam, dass das offenbar nicht der Fall war, sagte er: »Wissen Sie, Rodney, das ist wahrscheinlich keine so gute Idee.«
»War nur so ein Gedanke.«
Der Anwalt ging, und ein großer, kräftiger Wärter betrat den Raum. Er fasste Rodney Pullman am Arm und führte ihn zurück in seine Zelle.