Die Locard’sche Regel
»Es ist politisch heikel.«
»Politik«, brummte Lincoln Rhyme geistesabwesend in Richtung des schweren Mannes mit dem zerzausten Haar, der im Schlafzimmer des Kriminalisten in seinem Stadthaus auf der Upper West Side an einer Kommode lehnte.
»Nein, es ist wichtig.«
»Und heikel«, echote Rhyme. Er war über Besucher im Allgemeinen nicht erfreut, und noch viel weniger über welche, die morgens um halb neun über ihn hereinbrachen.
Detective Lon Sellitto nahm den Kaffee, den ihm Rhymes Assistent Thom anbot. Er trank einen Schluck.
»Nicht schlecht.«
»Danke«, sagte Thom.
»Nein«, belehrte ihn Sellitto. »Ich meine seine Hand. Schauen Sie.«
Rhyme war vom Hals abwärts querschnittsgelähmt, seit er vor ein paar Jahren bei der Untersuchung eines Tatorts verletzt worden war. Durch eine Therapie hatte er jedoch eine leichte Bewegungsfähigkeit der rechten Hand wiedererlangt. Er war enorm stolz auf diese Leistung, aber es lief seinem Wesen zuwider, zu prahlen – jedenfalls über persönliche Leistungen. Er ignorierte Sellitto und fuhr fort, einen weichen Gummiball zu drücken. Ja, er konnte die Hand wieder ein bisschen bewegen, aber sein Tastsinn spielte verrückt. Er spürte Strukturen und Temperaturen, die den Eigenschaften des Schwammgummis nicht entsprachen.
Ein erneutes Brummen. Er schnippte den Ball mit dem Zeigefinger fort. »Ich bin nicht direkt wild auf unangemeldete Besuche, Lon.«
»Wir sitzen in der Klemme, Linc.«
In einer politisch heiklen. »Amelia und ich sind im Moment mit ein paar anderen Fällen beschäftigt«, fuhr Rhyme fort. Er trank den starken Kaffee durch einen Strohhalm. Der Becher war rechts von ihm am Kopfteil des Bettes befestigt. Zu seiner Linken befand sich ein Mikrofon, das mit einem Stimmerkennungssystem verbunden war, welches wiederum an einer Kontrolleinheit hing, dem zentralen Nervensystem seines Schlafzimmers.
»Wie gesagt, in der Klemme.«
»Hm.« Er trank noch etwas Kaffee.
Rhyme betrachtete Sellitto sorgfältig. Er hatte mit dem Detective der Abteilung für Kapitalverbrechen häufig zusammengearbeitet, als er selbst noch Leiter der Spurensicherung beim New York Police Department gewesen war. Der Mann wirkte müde. Egal wie früh er selbst aufgewacht war, überlegte Rhyme, Sellitto hatte der Anruf wegen des Mordfalls wahrscheinlich schon einige Stunden vorher aus dem Bett geholt.
Sellitto erklärte, dass der fünfundfünfzigjährige Unternehmer und Philanthrop Ronald Larkin vor kurzem im Schlafzimmer seines Stadthauses auf der Upper East Side erschossen worden war. Die ersten Beamten, die am Schauplatz eintrafen, fanden eine Leiche, eine verwundete und weinende Ehefrau, sehr wenige Spuren und keinen einzigen Zeugen vor.
Sowohl FBI als auch die höheren Ränge des NYPD wollten, dass Rhyme und seine Partnerin Amelia Sachs die Spurensicherung übernahmen, mit Sellitto als leitendem Detective. Rhyme war oft erste Wahl für große Fälle, denn trotz seines verschlossenen Wesens war er der Öffentlichkeit wohlbekannt, und seine Anwesenheit signalisierte, dass es Bürgermeister und Polizeiführung ernst meinten mit einer Verhaftung.
»Du kennst Larkin?«
»Frisch mein Gedächtnis auf.« Der beratende forensische Wissenschaftler oder »Kriminalist« Rhyme interessierte sich nicht sehr für Belanglosigkeiten, solange sie nicht mit seinem Job zu tun hatten.
»Ronald Larkin, jetzt hör aber auf, Linc. Jeder kennt ihn.«
»Lon, je schneller du mir sagst, wer er ist, desto eher kann ich Nein sagen.«
»In dieser Stimmung ist er schon die ganze Zeit«, sagte Thom zu Sellitto.
»Ja, ich weiß. Schon die letzten zwanzig Jahre.«
»Vorwärts und weiter«, sagte Rhyme mit fröhlicher Ungeduld und trank noch etwas Kaffee durch den Strohhalm.
»Larkin war groß im Energiegeschäft. Pipelines, Elektrizität, Wasser, Erdwärme.«
»Er war ein guter Mensch«, warf Thom ein, der Rhyme mit einem aus Eiern und einem Bagel bestehenden Frühstück fütterte. »Umweltbewusst.«
»Halleluja«, sagte Rhyme säuerlich.
Sellitto nahm sich einen zweiten Bagel und fuhr fort: »Er hat sich letztes Jahr zur Ruhe gesetzt, die Firma jemand anderem übergeben und mit seinem Bruder eine Stiftung gegründet. Tut Gutes in Afrika, Asien und Lateinamerika. Er lebt in L.A., aber er und seine Frau haben eine Wohnung hier. Sie sind letzte Nacht hier eingeflogen. Heute früh lagen sie im Bett, als jemand durch das Fenster schoss und ihn umlegte.«
»Raub?«
»Nein.«
Wirklich? Rhymes Interesse stieg. Er drehte sich rasch von dem ankommenden Bagel fort, wie ein Baby, das einem Löffel Karottenbrei ausweicht.
»Lincoln«, sagte Thom.
»Ich esse später. Die Frau?«
»Sie wurde getroffen, rollte aber auf den Boden, griff sich das Telefon und wählte 911. Der Schütze blieb nicht, um die Sache zu beenden.«
»Was hat sie gesehen?«
»Nicht viel, glaube ich. Sie ist im Krankenhaus. Ich konnte bisher nur ein paar Worte mit ihr wechseln. Sie ist hysterisch. Die beiden haben erst vor einem Monat geheiratet.«
»Aha, eine frische Ehefrau... Auch wenn sie verwundet wurde, ist nicht auszuschließen, dass sie jemanden engagiert hat, der ihren Göttergatten tötet und sie dabei ein bisschen verletzt.«
»Weißt du, Linc, ich mach das auch nicht zum ersten Mal... Ich hab sie schon überprüft. Es gibt kein Motiv. Sie hat ihr eigenes Geld, von Daddy. Und sie hat einen Ehevertrag unterschrieben. Alles, was sie im Fall seines Todes bekommt, sind hunderttausend Dollar, und sie darf den Verlobungsring behalten. Das ist die Giftspritze nicht wert.«
»Das ist das Abkommen, das er mit seiner Frau geschlossen hat? Kein Wunder, dass er reich ist. Du hast etwas von politisch heikel gesagt?«
»Na ja, da wird einer der reichsten Männer des Landes, der stark in der Dritten Welt engagiert ist, in unserem Zuständigkeitsbereich ermordet. Der Bürgermeister ist nicht glücklich, die Polizeiführung ist nicht glücklich.«
»Und das bedeutet, du bist ein armes Schwein.«
»Sie wollen dich und Amelia. Komm schon, Linc, es ist ein interessanter Fall. Du liebst doch Herausforderungen.«
Nach dem Unfall an dem Tatort in der U-Bahn hatte sich Rhymes Leben stark verändert. Damals pflegte er den Spielplatz New York City zu durchstreifen, beobachtete Menschen, wie sie lebten und was sie taten, nahm Proben von Erde, Baumaterial, Pflanzen, Insekten, Müll, Gestein... alles, was ihm helfen konnte, einen Fall zu bearbeiten. Dass er das jetzt nicht mehr tun konnte, frustrierte ihn entsetzlich. Und als ein Mensch, der immer unabhängig gewesen war, verabscheute er es, auf andere angewiesen zu sein.
Doch das Leben Lincoln Rhymes hatte sich immer im Kopf abgespielt. Vor dem Unfall war Langeweile sein ärgster Feind gewesen. Jetzt war es nicht anders. Und Sellitto hatte ihn – natürlich absichtlich – mit zwei Worten gelockt, mit denen man oft seine Aufmerksamkeit gewann.
Interessant... Herausforderung...
»Also, was meinst du, Linc?«
Eine weitere Pause. Er blickte auf den halb gegessenen Bagel. Der Appetit war ihm gänzlich vergangen. »Gehen wir nach unten. Mal sehen, ob wir über Mr. Larkins Hinscheiden noch ein wenig mehr in Erfahrung bringen können.«
»Gut«, sagte Thom und klang erleichtert. Er war derjenige, der häufig Rhymes schlechte Laune ausbaden musste, wenn er mit uninteressanten Fällen zu tun hatte, die keine Herausforderung darstellten, wie es zuletzt der Fall gewesen war.
Der gut aussehende, blonde Assistent, der wesentlich stärker war, als es seine schlanke Gestalt vermuten ließ, kleidete Rhyme in einen Trainingsanzug und verfrachtete ihn von dem motorisierten Hightech-Bett in einen motorisierten Hightech-Rollstuhl, einen sportlichen roten Storm Arrow. Mit Hilfe des einen funktionierenden Fingers der linken Hand, des Ringfingers, manövrierte Rhyme den Rollstuhl in den winzigen Aufzug, der ihn in den ersten Stock seines Stadthauses am Central Park West brachte.
Dort angekommen, steuerte er ins Wohnzimmer, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem viktorianischen Salon aufwies, der es einmal gewesen war. Es war nun ein forensisches Labor, das es mit dem jeder mittelgroßen Stadt in den Vereinigten Staaten aufnehmen konnte. Computer, Mikroskope, Chemikalien, Petrischalen, Bechergläser, Pipetten, Regale voller Bücher und Ausrüstung. Kein Quadratzentimeter war unbesetzt, außer auf den Untersuchungstischen. Wie schlafende Schlangen lagen überall Kabel und Leitungen herum.
Sellitto kam die Treppe heruntergetrampelt und aß ein Bagel auf – entweder seines oder Rhymes.
»Ich mach mich mal lieber auf die Suche nach Amelia«, sagte Rhyme, »und gebe ihr Bescheid, dass wir einen Tatort zu bearbeiten haben.«
»Ach so, das hab ich ganz vergessen zu erwähnen«, sagte Sellitto, während er kaute. »Ich habe sie schon angerufen. Sie dürfte inzwischen am Tatort eingetroffen sein.«
 
Amelia Sachs kam nie über den Schleier der Trübsal hinweg, der auf dem Schauplatz eines Mordes lag.
Sie glaubte aber, es war gut so. Die Trauer und die Empörung über einen absichtlich herbeigeführten Tod trieben sie dazu an, ihre Arbeit umso besser zu machen.
Als die hoch gewachsene, rothaarige Polizistin nun vor dem dreistöckigen Stadthaus auf der Upper East Side Manhattans stand, nahm sie diesen Schleier wahr, und sie spürte ihn vielleicht ein wenig stärker als sonst, da sie wusste, dass Ron Larkins Tod Auswirkungen auf viele, viele bedürftige Menschen rund um den Globus haben konnte. Was würde aus der Stiftung werden, jetzt, da er tot war?
»Sachs? Wo sind wir?« Rhymes ungeduldige Stimme erklang in ihrem Kopfhörer. Sie stellte leiser.
»Bin gerade eingetroffen«, antwortete sie und zupfte an ihrem Fingernagel. Sie neigte dazu, sich zwanghaft kleine Verletzungen zuzufügen – besonders, wenn sie im Begriff war, einen Tatort abzusuchen, an dem sich eine Tragödie wie diese abgespielt hatte. Sie spürte den Druck, alles richtig zu machen. Dafür zu sorgen, dass der Täter identifiziert und eingesperrt wurde.
Sie war in Arbeitskleidung. Nicht die dunklen Kostüme, die sie als Detective bevorzugte, sondern der weiße Overall mit Kapuze, den die Mitarbeiter der Spurensicherung trugen, um sicherzugehen, dass sie den Tatort nicht mit ihren eigenen Haaren, abgeschabten Hautzellen oder sonstigen tausenderlei winzigen Spuren kontaminierten, die wir alle ständig mit uns herumtragen.
»Ich sehe nichts, Sachs. Wo liegt das Problem?«
»Hier. Wie ist das?« Sie drückte auf einen Schalter an ihrem Headset.
»Ah, wunderbar. Hm... War das einmal eine Geranie?«
Sachs blickte auf einen Pflanzenkübel neben der Haustür, der ein vertrocknetes Gewächs enthielt. »Das fragst du die Falsche, Rhyme. Ich kaufe Pflanzen, setze sie ein, und schon sind sie hin.«
»Ich hab gehört, sie brauchen gelegentlich Wasser.«
Rhyme befand sich in diesem Moment in seinem Stadthaus etwa zweieinhalb Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Central Parks, sah aber genau, was Sachs sah, und zwar dank einer hochauflösenden Videoeinspeisung, die von einer winzigen Kamera an ihrem Headset zu dem Einsatzfahrzeug der Spurensicherung verlief. Von dort setzte sie ihre drahtlose Reise fort, die in einem Flachbildschirm einen halben Meter vor dem Gesicht des Kriminalisten endete. Sie arbeiteten seit Jahren zusammen, Rhyme für gewöhnlich von seinem Labor oder Schlafzimmer aus, und Sachs am Tatort selbst, von wo sie ihm früher per Funk berichtet hatte. Sie hatten es auch schon mit Video versucht, aber das Bild, das sie erhielten, war zu unscharf, um hilfreich zu sein. Rhyme hatte dem NYPD schließlich so lange zugesetzt, bis sie richtig Geld für ein HD-System ausgaben.
Sie hatten es bereits getestet, aber nun würde es zum ersten Mal bei einem Fall zum Einsatz kommen.
Mit der grundlegenden Ausrüstung zur Spurensicherung in der Hand marschierte Sachs los. Sie warf einen Blick auf die Türmatte, die einen Blitz über den Buchstaben LES für Larkin Energy Services zeigte.
»Sein Logo?«
»Vermutlich«, erwiderte sie. »Hast du den Artikel über ihn gelesen, Rhyme?«
»Hab ich übersehen.«
»Er war einer der populärsten Wirtschaftsbosse im Land.«
Rhyme brummte. »Es braucht nichts weiter als einen verstimmten Angestellten. Wo ist der Tatort?«
Sachs setzte ihren Weg in das Haus fort.
Ein uniformierter Beamter stand im Erdgeschoss. Er blickte nach oben und nickte.
»Wo ist seine Frau?«, fragte Sachs. Sie wollte den zeitlichen Ablauf der Ereignisse verstehen.
Aber die Frau war noch im Krankenhaus, erklärte der Beamte, wo sie wegen einer Wunde behandelt wurde. Sie würde wahrscheinlich bald entlassen werden. Zwei Detectives seien bei ihr.
»Ich werde mit ihr reden wollen, Rhyme.«
»Wir lassen sie nach ihrer Entlassung von Lon hierher bringen. Wo ist das Schlafzimmer? Ich sehe es nicht.« Sein Ton verriet, dass er seine Ungeduld nur mühsam beherrschte.
Sachs dachte manchmal, dass sein barscher Tonfall ein Mittel war, sich vor den emotionalen Gefahren der Polizeiarbeit zu schützen. Manchmal glaubte sie, es war einfach seine Natur, barsch zu sein.
»Das Schlafzimmer?«
»Oben, Detective«, sagte der Streifenbeamte und nickte.
Sie ging zwei Absätze der steilen, schmalen Treppe hinauf.
Der Schauplatz des Mordes war ein geräumiges Schlafzimmer, das im französischen Landhausstil eingerichtet war. Möbel und Kunstwerke waren zweifellos teuer, aber es gab so viele Schnörkel und Rüschen und drapierte Stoffe – in schreiendem Gelb, Grün und Gold -, dass der Raum Sachs nervös machte. Das Zimmer eines Designers, nicht eines Hausbesitzers.
Nahe dem Fenster stand das Bett, ironischerweise unter einem alten Gemälde von geschossenem Geflügel auf einem Küchentisch. Das Bettzeug lag auf dem Boden, wahrscheinlich hatte es die Notarztmannschaft, die sich um Ronald Larkin kümmerte, dorthin geworfen. Auf Laken und Kissen war ein großer brauner Blutfleck zu sehen.
Sachs trat näher und fragte sich, ob …
»Ist eine Kugel durchgeschlagen?«, fragte Rhyme.
Sie lächelte. Das war genau ihr Gedanke gewesen. Sie hatte vergessen, dass er exakt dasselbe sah wie sie.
»Sieht nicht so aus.« Sie konnte keine Einschusslöcher auf Larkins Bettseite entdecken. »Wir werden beim Leichenbeschauer nachfragen müssen.«
»Das verrät mir, dass er vielleicht Splitterkugeln benutzt hat.«
Professionelle Killer kauften oder fertigten manchmal Kugeln, die auseinanderbrachen, wenn sie ins Fleisch eindrangen, damit sie mehr Schaden anrichteten und mit höherer Wahrscheinlichkeit tödlich wirkten. Bei einer normalen Kugel, die aus dieser Entfernung – rund zwei Meter – abgefeuert wurde, war zu erwarten, dass sie den Schädel durchschlug und wieder austrat.
»Was ist das?«, fragte Rhyme. »Links von dir.«
»Na also.« Sie blickte auf ein Einschussloch im Seitenteil eines vergoldeten Nachttisches, aus dem Faserreste ragten. Sachs hob das Kissen auf. Die Kugel hatte es durchschlagen. Sie fand ein weiteres Einschussloch in der Wand. Und auf dem Boden einen kleineren Blutfleck, von der Wunde der Ehefrau, nahm sie an. Bruchstücke von mattem Blei lagen auf dem Boden. »Jawohl. Fragmente.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was tust du da, Sachs. Mir wird schwindlig.«
»Oh, entschuldige, Rhyme, ich habe vergessen, dass du mit dranhängst. Ich habe gerade an die Kugeln gedacht. An den Schmerz.«
Splitternde Kugeln neigten dazu, weniger betäubend zu wirken als herkömmliche Munition und mehr Qualen zu verursachen, wenn sich die Bruchstücke im Körper verteilten.
»Ja, nun.« Rhyme sprach nicht weiter.
Sachs würde später Proben nehmen und Fotos machen. Jetzt wollte sie eine Vorstellung davon gewinnen, wie sich das Verbrechen abgespielt hatte. Sie trat auf den kleinen Balkon hinaus – das Zuhause von drei weiteren dürregeplagten Pflanzen. Es war klar, wo der Mörder gestanden und durch das Fenster gezielt hatte. Er hatte möglicherweise die Absicht gehabt, einzubrechen und aus nächster Nähe zu schießen, war aber dadurch abgeschreckt worden, dass Fenster und Balkontür abgesperrt waren. Statt seine Opfer zu wecken, indem er das Schloss aufstemmte, hatte er lieber die Scheibe eingeschlagen und durch das Loch gefeuert.
»Wie ist er dorthin gekommen? Vom Dach her?«, fragte Rhyme. »Ah, nein, ich sehe es. Was zum Teufel ist das an dem Haken?«
Sachs fragte sich dasselbe. Sie blickte auf einen Enterhaken, von dem ein Seil in den Garten hinunterhing. Sie untersuchte den Haken.
»Es ist Stoff, Rhyme. Flanell. Sieht aus, als hätte er ein Hemd zerschnitten.«
»Damit niemand den Haken beim Wurf aufprallen hörte. Schlauer Bursche. Ich nehme an, das Seil ist geknotet?«
»Ja, woher wusstest du das?« Sie blickte über die Balkonbrüstung auf die zehn Meter schwarzen Seils hinunter. Etwa alle sechzig Zentimeter gab es Knoten darin.
»Auch der beste Sportler kann nicht an einem Seil hinaufklettern, das dünner als drei Zentimeter ist. Man kann hinunter klettern, aber nicht nach oben. Schwerkraft, eine der vier Universalkräfte in der Physik, nebenbei bemerkt. Sie ist die schwächste, funktioniert aber immer noch verdammt gut. Schwer zu überwinden. Okay, Sachs, geh das Gitter ab, und sammle ein, was einzusammeln ist, und dann komm wieder nach Hause.«
 
»Ich bespreche mich gerade mit einem meiner Kumpel. Wir sitzen hier gemütlich in BK zusammen. Hey, Mann, lächle, wenn ich über dich rede.«
Fred Dellray war am anderen Ende der Leitung, in Brooklyn offenbar. Rhyme stellte ihn sich mit einem seiner Informanten vor. Der hoch gewachsene, schlanke FBI-Agent mit den durchdringenden Augen, die so dunkel wie seine Haut waren, unterhielt ein Netzwerk von V-Leuten – der schickere Ausdruck für Spitzel. Ein großer Teil von Dellrays Arbeit drehte sich dieser Tage um Terrorabwehr, und er hatte eine Reihe von internationalen Verbindungen aufgebaut.
Mit einem von ihnen besprach er offenbar gerade Gerüchte, die den Mord an Larkin betrafen. (Obwohl V-Leute eigentlich nie etwas mit dem Agenten besprachen. Entweder sie erzählten ihm, was er wissen wollte, oder sie erzählten es ihm nicht, und wenn Letzteres der Fall war, dann viel Glück.)
»Man erzählt sich, dass dieser Schütze ein echter Profi ist, wenn du weißt, was ich meine. Nur für den Fall, dass du nicht von allein draufgekommen bist. Ich meine Geld, Geld, Geld. Ich kann dir keine Summe nennen, aber auf jeden Fall weit über der Walmart-Preisklasse für einen Mord.«
»Irgendwelche Einzelheiten über den Schützen?«
»Nur so viel: US-Bürger, könnte aber auch andere Pässe haben. Verbrachte viel Zeit in Übersee, in Europa ausgebildet, heißt es. Zuletzt Verbindungen nach Afrika und dem Nahen Osten. Aber die haben alle Schurken.«
»Söldner?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Rhyme hatte bei mehreren Fällen geholfen, in denen Söldner eine Rolle spielten, einer war noch gar nicht lange her, es ging um ein Waffenimportgeschäft in Brooklyn. Und er hatte festgestellt, dass unter den vielen Kriminellen, mit denen er im Lauf seiner Karriere zu tun gehabt hatte, die Söldner im Großen und Ganzen die gefährlichsten waren, gefährlicher noch als Bandenkriminelle. Sie fühlten sich oft moralisch berechtigt zu töten, gingen extrem klug vor und verfügten häufig über ein weltweites Netz an Kontakten. Anders als irgendein Stümper in Tony Sopranos Mannschaft wussten sie, wie man lautlos über Grenzen verschwindet, in Zuständigkeitsbereiche, wo sie niemand mehr fand.
»Irgendwelche Vorstellungen, wer ihn angeheuert hat?«
»Nö, was das angeht, gibt es nicht den kleinsten Hinweis.«
»Arbeitet er mit Rückendeckung?«
»Keine Ahnung, aber viele von ihnen tun es.«
»Wieso wurde Larkin erledigt?«
»Tja, das ist wohl die andere unbekannte Geschichte...« Er wandte sich anscheinend ab, um etwas zu seinem Spitzel zu sagen, der schnell und eilfertig antwortete, auch wenn Rhyme nicht verstand, was er sagte. Dellray kam wieder in die Leitung. »Tut mir leid, Lincoln. Mein Freund hier hat nichts von irgendwelchen Gründen gehört. Und ich weiß, er würde es mir sagen, denn das ist die Art Freund, die er gern sein würde. Ich wünschte, ich hätte mehr für dich, Lincoln. Ich werd die Augen weiter offen halten.«
»Das ist nett, Fred.« Sie legten auf.
Rhyme drehte sich zu dem Mann um, der auf einem Hocker neben ihm saß, und nickte zur Begrüßung.
Mel Cooper war eingetroffen, während Rhyme mit Dellray telefoniert hatte. Er war ein schlanker, kahl werdender Mann irgendwo in den Dreißigern, der sich präzise bewegte (er war ein meisterlicher Turniertänzer); er arbeitete als forensischer Labortechniker in der Zentrale der Spurensicherung in Queens. Rhyme, der Cooper vor Jahren für das NYPD angestellt hatte, entführte ihn noch gelegentlich, damit er hier in seinem Stadthaus an einem Fall mit ihm arbeitete. Mel schob nun seine dicke Brille auf die Nase. Sie besprachen den Söldneraspekt, auch wenn Rhyme sah, dass dem anderen die Nachricht nicht viel bedeutete. Cooper zog Informationen, die von Mikroskopen, Dichtegradeinheiten und Computern geliefert wurden, denen vor, die Menschen beitrugen.
Ein Vorurteil, das Rhyme im Wesentlichen teilte.
Einige Minuten später hörte der Kriminalist die Haustür aufgehen und Amelia Sachs’ selbstbewusste Schritte auf dem Marmorboden. Dann Stille, als sie den Teppich erreichte, und schließlich die anders klingenden Schritte auf dem Holzboden.
Sie kam mit zwei Kartons Beweismaterial in den Armen ins Zimmer.
Ein Lächeln zur Begrüßung für Mel, dann küsste sie Rhyme und stellte die Kartons auf einen Untersuchungstisch.
Cooper und Sachs zogen staubfreie Latexhandschuhe an.
Und machten sich an die Arbeit.
»Die Waffe zuerst«, sagte Rhyme.
Sie setzten die Kugeln zusammen und erfuhren, dass sie Kaliber.32 waren, wahrscheinlich aus einer Automatik abgefeuert – Sachs hatte winzige Partikel einer feuerfesten Faser gefunden, die wohl von einem Schalldämpfer stammten, und Schalldämpfer sind bei Revolvern nicht effektiv, nur bei Autoladern oder einschüssigen Waffen. Rhyme fiel wieder die Professionalität des Killers auf, auf die Dellray angespielt hatte, da er sich die Zeit genommen hatte, die verbrauchten Patronenhülsen vom Balkon aufzusammeln; Automatikwaffen werfen diese aus.
Unglücklicherweise waren die Kugeln zu stark zertrümmert, um etwas über die Felder und Rillen – das Ziehen im Waffenlauf – zu verraten, was wiederum hilfreich gewesen wäre, um den vom Täter benutzten Pistolentyp zu identifizieren. Der Gerichtsmediziner könnte eventuell intakte Kugeln bei der Autopsie finden, aber Rhyme bezweifelte es; zerbrechliche Kugeln wie diese wurden von Knochen mühelos zersplittert.
»Fingerabdrücke?«
»Nichts. Spuren von Latexhandschuhen am Fenster. Sieht aus, als hätte er etwas Schmutz abgewischt, um besser zielen zu können.«
Rhyme knurrte frustriert. »Schuhprofile?«
»Keine auf dem Balkon. Und im Garten, am Ende des Seils? Er hat seine Abdrücke verwischt, ehe er verschwunden ist.«
Der Enterhaken stammte von der Firma CMI, die Krallen waren mit Epoxidharz verkleidet. Sie waren mit Streifen aus blauem und grauem Flanell umwickelt, wie Sachs spekuliert hatte, aus einem alten Hemd geschnitten – selbstverständlich gab es kein Etikett, das den Hersteller identifiziert hätte.
Professionell …
Das verknotete Seil war ein Mil-Spec 550 Para Cord, schwarz, mit geflochtener Nylonhülle über sieben inneren Leinen.
Cooper, der sich im Internet über das Seil informiert hatte, blickte vom Computer auf und berichtete: »Wird überall im Land verkauft. Und es ist billig. Er wird bar dafür bezahlt haben.«
Es war natürlich wesentlich besser, teure Beweisstücke zu haben, die mit nachverfolgbaren Kreditkarten bezahlt worden waren.
Sachs gab Cooper einen kleinen Plastikumschlag. »Das habe ich in der Nähe des Enterhakens gefunden.«
»Was ist das?«, fragte er und schaute auf den kleinen Fussel darin.
»Baumwollfaser, glaube ich. Vielleicht aus einer seiner Taschen. Ich denke, er wird seine Waffe gezogen haben, sobald er über die Balkonbrüstung gestiegen ist.«
»Ich verbrenne eine Probe davon«, sagte Cooper, wandte sich einer großen Maschine zu, die in der Ecke des Labors stand, und schaltete sie an.
»Wie sieht es mit Spuren aus?«, fragte Rhyme.
»Nichts im Garten oder an der Mauer, über die er gestiegen ist, um in den Garten zu kommen. Auf dem Balkon haben wir ein paar Dinge gefunden. Erde aus dem Garten. Dann Sand und weitere Erde, die weder aus dem Garten noch aus den Blumentöpfen stammt. Ein wenig Gummi – vielleicht von der Sohle eines Stiefels oder Schuhs. Zwei Haare – schwarz und gelockt. Keine Wurzel dran.«
Das bedeutete, man konnte keine DNA-Analyse durchführen; dazu ist die Haarwurzel nötig. Dennoch stammte es höchstwahrscheinlich vom Täter. Ron Larkin hatte pures graues Haar, und seine Frau war rothaarig.
Mel Cooper blickte vom Computerschirm des Massenspektrometers auf, mit dem er eine Analyse der Baumwollfaser durchgeführt hatte. »Er ist vermutlich Bodybuilder. Dianabol. Ein Anabolikum, das von Sportlern benutzt wird.«
»Welche Art Sport?«, wollte Rhyme wissen.
»Da fragen Sie den Falschen, Lincoln. Ich verwende keine leistungssteigernden Mittel für meine Walzer und Foxtrotts. Aber wenn sich Spuren davon in seinem Taschenfutter finden, kann man wohl getrost davon ausgehen, dass es ihm ernst damit ist.«
»Und dann das hier...« Sachs hielt einen weiteren Plastikbeutel hoch. Auf den ersten Blick schien er leer zu sein. Aber mit dem Vergrößerungsglas fand Cooper eine winzige braune Faser. Er hielt sie hoch, damit Rhyme sie sehen konnte.
»Guter Fund, Sachs«, sagte Rhyme und mühte sich, seinen Kopf näher zu dem Beweisstück zu bewegen. »Nichts entgeht dir. Was ist es?«
Cooper legte die Faser unter ein optisches Doppelmikroskop und beugte sich über die Linsen. Dann wandte er sich einem Computer zu und tippte mit rasend flinken Fingern. »Ich glaube...« Er warf noch einen Blick durch das Mikroskop. »... es ist Coir.«
»Und das ist?«
»Ich finde es gerade heraus.« Cooper las einen Moment und berichtete dann. »Kokosnussfaser. Wird hauptsächlich für Seile benutzt, aber auch für Teppiche, Läufer, Untersätze, Nippes. Die größten Produzenten sind Malaysia, Indonesien und verschiedene afrikanische Länder.«
»Aber es stammt nicht von dem Seil, an dem er hinaufgestiegen ist?«, fragte Rhyme.
»Nein, das ist pures Nylon.«
»Führt uns auch nicht unbedingt direkt zu seiner Tür, oder? Was haben wir noch?«
»Das war’s.«
»Untersucht den Sand und die Erde. Macht einen GC.«
Der Gaschromatographie-Test ergab, dass die Probe signifikante Anteile von Dieseltreibstoff und Salzwasser enthielt.
»Aber eine bestimmte Sorte Treibstoff«, sagte Cooper und las vom Computermonitor ab. »Er enthält Mikrobiozide. Zusammen mit dem Salzwasser deutet das darauf hin, dass es wahrscheinlich Schiffsdiesel ist. Dieseltreibstoff in Schiffen wird häufig von Mikroorganismen kontaminiert. Die Hersteller mischen ihm deshalb einen Zusatz bei, der das verhindern soll.«
»Dann besitzt er also ein Boot«, sagte Sachs. »Oder wohnt in der Nähe einer Anlegestelle.«
»Oder ist per Boot ins Land gekommen«, sagte Rhyme. Wasserfahrzeuge waren immer noch der beste Weg, um an der Ostküste unbemerkt ins Land zu kommen – und eine der besten Möglichkeiten, Straßensperren und Überwachungsmaßnahmen zu entgehen, wenn man rund um New York unterwegs war.
»Fassen wir alles zu einer Liste zusammen. Thom! Wenn Sie...Thom?«
»Ja?« Der Assistent kam in den Raum. Wie Cooper und Sachs trug er Handschuhe, aber seine waren gelb, und der Name Playtex stand darauf.
»Könnten Sie unsere bisherigen Funde aufschreiben?« Rhyme nickte in Richtung der Tafel, und Thom streifte die Handschuhe ab und schrieb, was sein Boss diktierte.
Mordfall Ronald Larkin
Kokosfaser
Erde aus Garten unter Balkon
Schwarze Haare, gelockt. Keine Wurzel
Gummiabrieb, schwarz, möglicherweise von Schuhsohle
Erde und Sand mit Spuren von Schiffsdiesel, Salzwasser
Keine Fingerabdrücke, Trittspuren, Werkzeugspuren
Baumwollfaser mit Spuren von Anabolikum. Sportler?
32er Automatik, Schalldämpfer, Splittermunition
CMI Enterhaken, mit Streifen von altem Flanellhemd umhüllt
Seil Mil-Spec 550 Para Cord, geknotet, schwarz
 
 
Verdächtiger:
US-Bürger, andere Pässe?
In Europa ausgebildet
Söldner mit Kontakten in Afrika, Nahost
Kein Motiv
Hohes Honorar
Auftraggeber unbekannt
 
 
Rhyme überflog die Liste. Sein Blick blieb auf einem Gegenstand ruhen.
»Das Seil«, sagte er.
»Na, ja...« Sachs schaute zu Cooper. »Ich dachte...«
»Ich weiß, es ist Nylon, und es lässt sich nicht zurückverfolgen. Aber was ist das Interessante daran?«
Sachs schüttelte den Kopf. »Ich muss passen.«
»Die Knoten. Sie waren zusammengezogen, seit er sie geknüpft hat.«
»Ich kapier es immer noch nicht, Lincoln«, sagte Cooper.
Rhyme lächelte. »Betrachtet sie als Wundertüten an Beweismitteln. Ich würde gern wissen, was in den Knoten ist, ihr nicht? Lasst sie uns aufmachen.«
»Sie meinen mich, oder?«, sagte Cooper.
»Ich würde Ihnen ja gern helfen, aber...«
Der Labortechniker nahm das Seil in die behandschuhte Hand und fing an, einen Knoten zu lösen. »Wie Eisen.«
»Umso besser für uns. Was immer da drin ist, es war schön fest eingeschlossen, seit er die Knoten gemacht hat.«
»Falls etwas drin ist«, sagte Cooper. »Das könnte auch eine totale Zeitverschwendung sein.«
»Das gefällt mir, Mel. Darauf läuft die ganze Geschichte mit der Spurensicherung in etwa hinaus, finden Sie nicht?«
 
Als Rhyme noch allein gewohnt hatte, war das vordere Wohnzimmer seines Stadthauses – das gegenüber dem Labor – als Lagerraum genutzt worden. Aber nun, da Sachs zeitweise hier wohnte, hatten sie und Thom umdekoriert und es in ein behagliches Wohnzimmer verwandelt.
Es gab zeitgenössische asiatische Gemälde und Siebdrucke aus Galerien in NoHo und dem East Village, ein großes Portrait von Houdini (ein Geschenk von einer Frau, mit der sie vor Jahren an einem Fall gearbeitet hatten), einen Blue-Dog-Druck, zwei große Blumenarrangements und bequeme Möbel, die sie aus New Jersey importiert hatten.
Auf dem Kaminsims standen Bilder von Sachs’ Eltern und von ihr als Heranwachsende, wie sie unter der Motorhaube eines 68er Dodge Charger hervorspähte, an dem sie und ihr Vater monatelang gearbeitet hatten, bis sie sich schließlich eingestanden, dass der Patient nicht mehr zu retten war.
Und nicht nur ihre Vergangenheit wurde in dem Wohnzimmer präsentiert.
Sie hatte Thom auf einen Streifzug in den Keller des Stadthauses geschickt, wo er alle möglichen Schachteln durchwühlt hatte und mit gerahmten Ehrenzeichen und lobenden Erwähnungen aus Rhymes Zeit beim NYPD zurückgekehrt war. Auch mit privaten Fotos. Mehrere zeigten Rhyme während seiner Kindheit in Illinois, mit seinen Eltern und anderen Verwandten. Ein Bild zeigte den Jungen und seine Familie vor ihrem Haus, neben einer großen blauen Limousine. Die Eltern lächelten in die Kamera. Lincoln lächelte ebenfalls, aber sein Gesichtsausdruck war anders – er verriet Neugier -, und er blickte zur Seite, auf etwas, das nicht im Bild zu sehen war.
Auf einem Schnappschuss sah man einen schlanken, angespannten Lincoln im Teenageralter. Er trug einen Leichtathletikdress seiner Schule.
Thom öffnete nun die Eingangstür und führte drei Leute in den Raum: Lon Sellitto, dazu einen stattlichen Mann in den Sechzigern mit grauem Anzug und Priesterkragen und, an seinem Arm, eine Frau mit blasser Haut und Augen, die so rot waren wie ihre Haare. Sie zeigte keine Reaktion auf den Rollstuhl.
»Mrs. Larkin«, sagte der Kriminalist, »ich bin Lincoln Rhyme. Das ist Amelia Sachs.«
»Bitte nennen Sie mich doch Kitty.« Sie nickte zur Begrüßung.
»John Markel«, stellte sich der Geistliche vor, schüttelte Sachs die Hand und lächelte Rhyme blässlich zu.
Er erklärte, dass seine Diözese auf Manhattans Upper East Side mehrere Wohltätigkeitseinrichtungen im Sudan und in Liberia sowie eine Schule im Kongo unterhielt. »Ron und ich haben seit Jahren zusammengearbeitet. Wir wollten uns heute zum Mittagessen treffen, um über unsere Arbeit da drüben zu sprechen.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Dann habe ich die Nachricht gehört.«
Er war zum Krankenhaus geeilt, um bei Kitty zu sein, und hatte ihr dann angeboten, sie hierher zu begleiten.
»Sie müssen nicht bleiben, John«, sagte die Witwe. »Aber danke, dass Sie gekommen sind.«
»Edith und ich möchten, dass Sie den Abend bei uns verbringen«, sagte der Mann. »Wir wollen nicht, dass Sie allein sind.«
»Ach, vielen Dank, John, aber ich sollte besser bei Rons Bruder und seiner Familie sein. Und bei seinem Sohn.«
»Ich verstehe. Aber wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie bitte an.«
Sie nickte und umarmte ihn.
Ehe der Priester ging, fragte ihn Sachs, ob er eine Vorstellung habe, wer der Mörder sein könnte. Die Frage erwischte ihn kalt. »Wer jemanden wie Ron töten würde? Nein, das ist unerklärlich. Ich habe wirklich keine Ahnung, wer seinen Tod wünschen könnte.«
Thom führte den Geistlichen hinaus, und Kitty nahm auf einem Sofa Platz. Der Assistent kam kurz darauf mit einem Tablett Kaffee zurück. Kitty nahm eine Tasse, trank aber nicht davon. Sie hielt sie zwischen den verschränkten Händen.
Sachs wies mit einem Kopfnicken auf den großen Verband um ihren Unterarm. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie, als wäre Sprechen das Einzige, was ihr Schmerzen bereitete. Sie blickte auf ihren Arm. »Der Arzt sagte, es war ein Teil von einer Kugel. Sie ist auseinandergebrochen.« Sie schaute auf. »Es könnte von der Kugel stammen, die Ron getötet hat. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Rhyme ließ Sachs den Vortritt, die besser mit Menschen umgehen konnte als er, und die Polizistin fragte die Frau nach den Schüssen.
Kitty und ihr Mann waren im Land umhergereist, um sich mit den Spitzen von Unternehmen und verschiedenen Non-Profit-Organisationen zu treffen. Am Vorabend waren sie aus Atlanta gekommen, wo sie sich mit einem ihrer Lieferanten für Babynahrung getroffen hatten. Die Limousine hatte sie vom Flughafen La Guardia abgeholt und gegen Mitternacht in das Stadthaus gebracht.
»Der Wagen hat uns abgesetzt. Wir gingen hinein und sofort zu Bett – es war spät, wir waren erschöpft. Am frühen Morgen dann hörte ich etwas. Es weckte mich auf. Ein Schlurfen von Füßen, ich weiß nicht. Oder ein Kratzen. Ich weiß noch, ich war so müde, dass ich mich einfach nicht bewegte. Ich lag nur mit offenen Augen da.«
Das hatte ihr wahrscheinlich das Leben gerettet, dachte Rhyme. Wenn sie sich umgedreht hätte oder aufgestanden wäre, hätte der Killer sie zuerst erschossen.
Dann sah sie etwas auf dem Balkon, die Umrisse eines Mannes.
»Zuerst dachte ich, es sei ein Fensterputzer. Ich wusste zwar, das konnte nicht sein, aber ich war benommen, und er sah aus, als hielte er einen Wischer in der Hand. Aber es war etwas ganz anderes.«
Die 32er.
Sie hörte Glas splittern und mehrmals einen dumpfen Knall, dann stöhnte ihr Mann auf.
»Ich schrie und rollte mich aus dem Bett. Ich rief 911. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass ich getroffen war, bis ich später irgendwann sah, dass ich blutete.«
Sachs hakte nach und erhielt weitere Informationen. Der Mörder war ein Weißer, mit dunklem, lockigem Haar, dunkel gekleidet. Er hatte breite Schultern.
Anabolika …
Das Licht, sagte Kitty, war zu schwach, als dass sie sein Gesicht hätte sehen können.
Rhyme dachte an die HD-Bilder aus dem Stadthaus und fragte: »Sind Sie zufällig noch einmal auf den Balkon hinausgegangen, als Sie nach Hause kamen? War irgendetwas anders als sonst? Möbel umgestellt?«
»Nein, wir sind sofort ins Bett gegangen.«
»Wie könnte der Mörder erfahren haben, dass Sie letzte Nacht in der Wohnung sein würden?«
»Es stand in der Zeitung. Wir waren wegen verschiedener Wohltätigkeitsveranstaltungen hier und wollten uns mit den Spitzen anderer philantropischer Stiftungen treffen. In der Times gab es, glaub ich, einen Artikel darüber.«
»Können Sie sich einen Grund denken, warum man ihn getötet hat?«, fragte Sellitto.
Sie rang die Hände. Rhyme befürchtete, dass sie zusammenbrechen würde. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Ich weiß, er hatte Feinde. Wenn er sich in Afrika oder in Nahost aufhielt, war immer eine Sicherheitsmannschaft bei ihm. Aber hier... Ich weiß nicht. Es war alles noch so neu für mich... Vielleicht sollten Sie mit seinem Bruder sprechen. Ich habe heute Morgen mit ihm telefoniert. Er fliegt im Augenblick mit seiner Frau aus Kenia zurück. Sie werden heute Abend eintreffen. Oder wenn Sie jetzt sofort mit jemandem reden wollen, könnten Sie Bob Kelsey anrufen. Er war Rons rechte Hand in der Stiftung. Er ist ziemlich erschüttert, aber er wird sicherlich helfen wollen.«
Und damit verweigerte ihre Stimme den Dienst. Sie würgte und begann zu weinen.
Sachs sah Rhyme an, der nickte.
»Das war alles, Kitty«, sagte sie. »Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«
Nach einiger Zeit bekam sie sich wieder in den Griff.
Thom kam herein und gab ihr ein Kleenex. Sie dankte ihm und wischte sich das Gesicht ab.
»So«, sagte Sellitto, »wir werden jemanden abstellen, der ein Auge auf Sie hat.«
Kitty schüttelte den Kopf und lachte leise. »Ich weiß, ich bin ein bisschen durch den Wind, aber es geht schon. Ich … Es ist einfach alles zu viel. Ich bleibe bei Rons Bruder, wenn sie zurück sind. Und ich habe selbst Angehörige hier. Ach ja, und Rons Sohn und seine Frau fliegen von China zurück.« Sie atmete tief durch. »Das war der schwerste Anruf von allen. Sein Sohn.«
»Mrs. Larkin, ich rede von einem Leibwächter.«
»Ein... Leibwächter? Wieso?«
»Sie sind ein unentbehrlicher Zeuge. Er hat Sie zu töten versucht, und er wird es vielleicht wieder versuchen.«
»Aber ich habe im Grunde nichts gesehen.«
»Das weiß er ja nicht«, sagte Rhyme.
»Und ein unentbehrlicher Zeuge ist man nicht nur dann, wenn man den Täter identifizieren kann«, ergänzte der Detective. »Sie können über den Zeitpunkt der Schüsse aussagen, über ihren Klang, wo er stand und wie er stand, wie er die Waffe hielt. Alle diese Dinge können zu seiner Verurteilung beitragen.«
»Nun, wir haben Wachleute in der Firma.«
»Wahrscheinlich halten Sie sich besser an einen Polizeibeamten«, sagte Sellitto.
»Schon möglich, ja... Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, dass sich jemand die Mühe machen sollte, mir etwas zu tun.«
Rhyme sah, wie sich Lon Sellitto bemühte, beruhigend zu wirken. »Na ja«, sagte der zerknitterte Detective, »die Wahrscheinlichkeit ist natürlich minimal. Aber es spricht auch nichts dagegen, auf Nummer Sicher zu gehen, oder?«
 
Ein untersetzter Mann stand am Fenster der wenig benutzten Küche in seinem Haus in New Jersey. Er hatte der Aussicht – die keine schlechte war: die Skyline Manhattans – den Rücken gekehrt und blickte in einen kleinen Flachbildschirm im Wohnzimmer.
»Ich sehe es gerade, Captain.«
Es war einige Jahre her, seit Carter Soldat gewesen war – er nannte sich jetzt »Sicherheitsberater«, eine Berufsbezeichnung, die so gut war wie jede andere -, aber nach all dem militärischen Training war ihm am wohlsten dabei, wenn er Leute mit ihrem Rang ansprechen konnte. Er selbst war einfach Carter. Für die Leute, die ihn anheuerten, für die Leute, mit denen er arbeitete. Carter.
Auf dem Bildschirm erzählte ein Sprecher, dass Larkins Frau den Anschlag überlebt hatte. Sie wurde als unentbehrliche Zeugin bezeichnet.
»Hm«, brummte Carter.
Wenn Carter für einen Sicherheitsauftrag in Übersee tätig war, stützte er sich oft auf Journalisten, um an Informationen heranzukommen. Er staunte, wie viel sensibles Material sie im Austausch für das verrieten, was sie von ihm bekamen – und das war normalerweise nur ein Haufen Scheiße.
Ein zweiter Sprecher erschien, und es ging nun um all das Gute, das die Larkin-Stiftung getan hatte, um das viele Geld, das sie verteilte.
Carter hatte mit ein paar wirklich reichen Leuten zu tun gehabt. Nur ein paar Scheiche im Mittleren Osten dürften so viel Geld wie Ronald Larkin besessen haben.
Ach ja, und da war noch dieser französische Geschäftsmann...
Aber genau wie Larkin war er nicht mehr reich. Sondern tot.
Larkin war in die Stadt gekommen, um sich mit führenden Persönlichkeiten verschiedener Non-Profit-Gesellschaften zu treffen. Sie wollten über die Zusammenlegung ihrer Organisationen zu einem Mega-Wohltätigkeitsunternehmen beraten, um ihre Anstrengungen in Afrika auszubauen, wo Hunger und Krankheit grassieren. Und jetzt schalten wir zu unserem Korrespondenten in der Region Darfur im Westsudan, wo...
Bla, bla, bla. Carter schaltete das Gerät aus, die Fernbedienung wirkte winzig in seiner riesigen Hand.
Anschließend lauschte Carter aufmerksam dem Captain, der sehr beunruhigt war.
Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich kümmere mich darum, Captain. Ich sorge dafür, dass es richtig gemacht wird.«
Nachdem Carter aufgelegt hatte, ging er in sein Schlafzimmer, durchsuchte den Schrank und holte einen Businessanzug hervor. Er begann die marineblaue Hose anzuziehen, doch dann hielt er inne. Er hängte den Anzug in den Schrank zurück und nahm dafür einen in Größe 48 heraus. Es war viel leichter, unauffällig eine Waffe bei sich zu tragen, wenn der Anzug eine Nummer zu groß war.
Zehn Minuten später saß er in seinem dunkelgrünen Jeep Cherokee und war auf dem Weg nach Manhattan.
 
Robert Kelsey, ein fähiger Kaufmann mit schütterem Haar, war der Geschäftsführer der Larkin-Stiftung, was bedeutete, dass seine Aufgabe darin bestand, drei Milliarden Dollar im Jahr zu verschenken.
»Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört.«
Rhyme gab ihm Recht, nachdem der Mann alles erklärt hatte: Regierungsbestimmungen, Steuergesetze, Washingtoner Politikklüngel, Dritte-Welt-Machenschaften und – was vielleicht am meisten entmutigte – Tausende von Anfragen bedürftiger Menschen und Organisationen, die um Geld für ihre herzzerreißenden Anliegen kamen und die man mit leeren Händen wieder fortschicken musste.
Kelsey saß auf derselben Couch wie Kitty Larkin eine Stunde zuvor.
Auch er hatte dieses geistesabwesende, zerzauste Aussehen eines Menschen, den man frühmorgens mit einer schlechten Nachricht aus dem Bett geholt hat und der noch nicht ganz in Lage ist, sie zu verdauen.
»Wir haben Indizien, ein paar Spuren«, erklärte Lon Sellitto, »aber wir haben noch kein klares Motiv. Können Sie sich denken, wer seinen Tod wünschen könnte? Mrs. Larkin ist dazu nichts eingefallen.«
Lincoln Rhyme war selten an den Motiven eines Verdächtigen interessiert – er betrachtete sie als das schwächste Standbein eines Falles (Beweismittel waren natürlich das stärkste für ihn). Dennoch konnte ein offenkundiges Motiv in die Richtung der guten Beweismittel deuten, die zu einer Verurteilung führten.
»Wer seinen Tod wünschen könnte?«, wiederholte Kelsey und lächelte grimmig. »Sie würden sich wundern, wie viele Feinde er für einen Mann hatte, der Milliarden an hungernde oder kranke Kinder verschenkte. Aber ich will versuchen, Ihnen eine Vorstellung zu vermitteln. Bei unseren großen Kampagnen in den letzten Jahren ging es darum, Lebensmittel und Medikamente gegen Aids nach Afrika zu schaffen und Bildungsprogramme in Asien und Lateinamerika zu finanzieren. Am schwersten ist es in Afrika. Darfur, Ruanda, der Kongo, Somalia... Ron weigerte sich, den Regierungen direkt Geld zu geben. Es würde nur in den Taschen örtlicher Beamter verschwinden. Deshalb kaufen wir die Lebensmittel hier oder in Europa und schaffen sie dorthin, wo sie gebraucht werden. Das Gleiche mit den Arzneien. Nicht dass Korruption damit ausgeschlossen wäre. In der Minute, in der ein Schiff anlegt, wird jemand mit einer Waffe zur Hand sein, der sich bei Reis oder Weizen selbst bedient. Das Milchpulver für Babys wird gestohlen und entweder verkauft oder dazu benutzt, Drogen zu strecken. Und die HIV-Arznei wird in neue Flaschen umgefüllt und außer Landes an Leute verkauft, die genügend Geld haben, um die gängigen Preise zu bezahlen. Die Kranken, für die sie bestimmt war, bekommen verwässerte Versionen. Oder manchmal nur Wasser.«
»So schlimm ist es?«, fragte Sellitto. »Großer Gott.«
»O ja. Wir verlieren fünfzehn bis zwanzig Prozent unserer Afrikaspenden pro Jahr durch Diebstahl oder Raub. Zigmillionen. Und wir haben noch mehr Glück als die meisten Hilfsorganisationen da drüben... Deshalb war Ron so unbeliebt. Er besteht darauf, dass wir die Verteilung der Lebensmittel und Medikamente selbst kontrollieren. Wir schließen Abkommen mit den besten örtlichen Organisationen, die diese Aufgabe erledigen. Manchmal sind diese Gruppen, wie die Liberia-Hilfe, mit der politischen Opposition im Bunde. In solchen Ländern stellt Ron also eine Bedrohung für die Regierung dar.
In anderen Regionen wiederum gibt es eine rechtmäßige Regierung, und er verteilt über sie. Was ihn zu einer Bedrohung für die Opposition macht. Dann sind da noch die Warlords. Und die fundamentalistischen Islamgruppen, die überhaupt keine westliche Hilfe wollen. Und die Armeen und Milizen, die sogar wollen, dass die Leute hungern, weil sie den Hunger instrumentalisieren... ach, es ist ein Albtraum.«
Kelsey lachte bitter. »Dann die antiamerikanischen Länder rund um den Globus: der arabische Block, Iran und Pakistan, Indonesien und Malaysia in Fernost... Die Stiftung ist natürlich privat, aber dort drüben sieht man uns als einen verlängerten Arm Washingtons. Und in gewisser Weise sind wir das auch. So, und das war nur in Übersee. Lassen Sie uns jetzt über Amerika sprechen.«
»Hier hat er auch Feinde?«, fragte Sachs.
»O ja. Sie glauben, im karitativen Bereich tummeln sich nur Heilige? Vergessen Sie’s. Ich komme aus der Betriebswirtschaft, und ich kann Ihnen sagen, die skrupellosesten Firmenplünderer sind nichts gegen die Vorsitzenden von Wohltätigkeitsorganisationen. Ron hat die Lebensmittel von einem halben Dutzend Lieferanten hier und in Europa gekauft. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Tonnen verdorbenen Reis und Mais sie uns verkaufen wollten. Ron hat einige von ihnen bei der Arznei- und Lebensmittelbehörde angezeigt.
Dann scheinen einige Führungskräfte zu glauben, Mildtätigkeit beginnt bei ihnen zu Hause. Von einer Organisation, die mit uns arbeiten wollte, hat Ron herausgefunden, dass der Vorsitzende ein Gehalt von fünfhunderttausend Dollar im Jahr kassierte und in einem Privatjet, der von den Spendengeldern finanziert wurde, im Land umherflog.
Ron hat sie eiskalt fallen gelassen, die Times angerufen und ihnen die Geschichte erzählt. Der Vorstandschef wurde am nächsten Tag gefeuert.«
Kelsey bemerkte, dass er sich in Rage redete. »Tut mir leid. Es ist schwer, heutzutage Gutes zu tun. Und jetzt, da er nicht mehr ist, wird es noch sehr viel schwerer werden.«
»Wie sieht es mit Larkins Privatleben aus?«
»Seine erste Frau starb vor zehn Jahren«, sagte Kelsey. »Er hat einen erwachsenen Sohn, der bei Joint Ventures im Energiebereich in China tätig ist. Sie hatten eine sehr gute Beziehung. Er wird am Boden zerstört sein.«
»Und seine neue Frau?«
»Ach, Kitty? Sie tat ihm gut, und sie hat ihn auch geliebt. Sie hat selbst Geld, verstehen Sie? – ihr Vater war im Textilgeschäft oder so etwas. Ron lernte viele Frauen kennen, die nur auf eines aus waren, wie Sie sich vorstellen können. Es war schwer für ihn. Aber bei ihr war es echt.«
»Sein Bruder?«, fragte Sellitto.
»Peter? Was ist mit...? Ach, Sie meinen, ob er etwas mit Rons Tod zu tun haben könnte?« Er lachte. »Nein, nein, ausgeschlossen. Sie standen sich sehr nahe. Er ist ebenfalls sehr erfolgreich. Besitzt sein eigenes Unternehmen. Er ist nicht so reich wie Ron, aber ich rede hier von dreißig Milliarden statt hundert. Er braucht kein Geld. Abgesehen davon hatten sie dieselben Wertvorstellungen und arbeiteten beide hart für die Stiftung. Für Ron war es ein Vollzeitjob, aber Peter verwandte auch noch zwanzig, dreißig Stunden pro Woche darauf, zusätzlich zu seinem vollen Terminplan als CEO seiner eigenen Firma.«
Sellitto fragte nun nach einer konkreten Liste von Leuten, die einen Groll auf Ron Larkin haben konnten – aus sämtlichen Kategorien, die Kelsey genannt hatte. Er schrieb eine ganze Weile.
Dann gab er Sellitto das Blatt und sagte, er werde überlegen, ob ihm noch jemand einfiel.
Der Mann wirkte benommen, er verabschiedete sich und ging.
Mel Cooper kam aus dem Labor, er beugte und streckte seine Hände.
»Wie kommen Sie voran?«, fragte Rhyme.
»Wissen Sie, wie viele Knoten das waren?«
»Vierundzwanzig«, erwiderte Rhyme. »Und ich habe die Zeitform des Verbs bemerkt. Sie sind fertig.«
»Ich glaube, meine Hand fällt gleich ab. Aber wir waren erfolgreich.«
»Haben Sie seine Visitenkarte gefunden?«
»Vielleicht etwas, das genauso gut ist. Eine Pflanzenhülse, eine sehr kleine.«
»Von was?«
»Reis.«
Rhyme nickte und schürzte die Lippen. Und Sachs sprach aus, was er dachte: »Lebensmittellieferungen, die die Stiftung nach Afrika geschickt hat? Der Schütze könnte also dort rekrutiert worden sein.«
»Oder von jemandem, der eine Farm besitzt. Oder Reis verkauft. Der mit der verdorbenen Lieferung vielleicht?«
»Und das Schiffsdiesel«, sagte Cooper und nickte in Richtung Liste. »Frachtschiffe.«
Sachs ergänzte die Liste.
»Sehen wir uns die Liste an, die Kelsey gemacht hat.«
Sachs klebte die Seite auf eine weiße Tafel.
»Die üblichen Verdächtigen?« Rhyme lachte schnaubend. »In normalen Mordfällen gibt es wie viele Verdächtige? Vier, fünf, höchstens. Und in was für einem Haifischbecken angeln wir hier?« Er nickte in Richtung der Liste. »Der größte Teil der Dritten Welt, halb Nahost und Europa und ein guter Teil der fünfhundert größten Unternehmen Amerikas.«
»Und alles, was er getan hat«, sagte Sachs, »war, Geld an Leute zu verschenken, die es brauchten.«
»Kennen Sie nicht diesen Ausdruck«, murmelte Sellitto, »keine gute Tat bleibt ungesühnt?«
Mordfall Ronald Larkin
Kokosfaser
Erde aus Garten unter Balkon
Schwarze Haare, gelockt. Keine Wurzel
Gummiabrieb, schwarz, möglicherweise von Schuhsohle
Erde und Sand mit Spuren von Schiffsdiesel, Salzwasser
Keine Fingerabdrücke, Trittspuren, Werkzeugspuren
Baumwollfaser mit Spuren von Anabolikum. Sportler?
32er Automatik, Schalldämpfer, Splittermunition
CMI Enterhaken, mit Streifen von altem Flanellhemd umhüllt
Seil Mil-Spec 550 Para Cord, geknotet, schwarz
Reishülse, in Knoten eingeschlossen
 
 
Verdächtiger:
US-Bürger, andere Pässe?
In Europa ausgebildet
Söldner mit Kontakten in Afrika, Nahost
Kein Motiv
Hohes Honorar
Auftraggeber unbekannt
 
 
Dem jungen Beamten war nicht wohl in seiner Haut.
Er war ein frisch ernannter Detective, dem man die undankbare Aufgabe anvertraut hatte, die arme Witwe zu ihrem Stadthaus zu begleiten, damit sie ein wenig Kleidung einpacken konnte, und sie dann einem Leibwächter zu übergeben.
Nicht dass sie ihm das Leben schwer gemacht hätte oder etwas dergleichen. Nein, ganz im Gegenteil. Sie wirkte so entrückt, durcheinander und verweint, dass er einfach nicht wusste, was er zu ihr sagen, wie er sich benehmen sollte. Er wünschte, seine Frau wäre dabei. Sie würde sie schnell beruhigen. Aber der Detective selbst? Nein, das war nicht seine Stärke. Er war mitfühlend, sicher, er wusste nur nicht, wie er es ausdrücken sollte. Er war erst seit fünf Jahren bei der Polizei, hauptsächlich im Streifendienst, und hatte sehr wenige Gelegenheiten gehabt, trauernde Angehörige kennenzulernen. Einmal war ein Mülllaster in die Seite eines parkenden Geländewagens gerast und hatte die Fahrerin getötet. Er hatte dem Ehemann erzählen müssen, was passiert war, und er hatte Wochen gebraucht, bis er über das Entsetzen und das Leid im Gesicht des Mannes hinweggekommen war.
Nun arbeitete er als Detective im Drogendezernat. Gelegentlich eine Leiche, gelegentlich eine Witwe. Keine von ihnen trauerte wie diese hier. Vielen schien es egal zu sein, dass ihr Mann tot war.
Er beobachtete Kitty Larkin, die wie gelähmt vor der Eingangstür ihres Stadthauses stand.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er, dann gab er sich im Geiste einen Tritt.
Du Vollidiot...
Er meinte natürlich, ob am Haus irgendetwas anders sei als sonst, etwas, das er überprüfen, weswegen er Lieutenant Sellitto hätte anrufen sollen. Seine Hand ging zur Glock, die er ein halbes Dutzend Mal in seiner Berufslaufbahn gezogen, aber noch nie abgefeuert hatte.
Kitty schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie und schien jetzt erst zu bemerken, dass sie stehen geblieben war. »Tut mir leid.« Sie setzte ihren Weg ins Haus fort. »Es dauert nicht lange. Ich packe nur rasch eine Tasche.«
Der Detective drehte gerade eine Runde ums Haus, als er eine schwarze Limousine halten sah.
Eine afroamerikanische Frau in einem dunklen Kostüm stieg aus und ging zu ihm. Sie zückte einen Ausweis.
US-Außenministerium.
»Ich übernehme die Bewachung von Mrs. Larkin«, sagte sie mit einem leichten Akzent, den der Detective nicht einordnen konnte.
»Sie sind...«
»Die Bewachung von Mrs. Larkin«, wiederholte die Frau langsam.
Gut, dachte der Beamte, erleichtert, dass er nicht würde herumsitzen und der Frau beim Weinen zusehen müssen. Aber dann dachte er: Moment mal.
»Eine Sekunde.«
»Was ist?«
Der Polizist zog sein Handy hervor und rief Lieutenant Sellitto an.
»Ja«, meldete sich die barsche Stimme.
»Detective, ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass die Leibwächterin für Mrs. Larkin jetzt da ist. Sie ist allerdings vom Außenministerium, nicht von uns.«
»Vom was?«
»Außenministerium.«
»Tatsächlich? Wie heißt sie?«
Der Detective bat noch einmal um den Ausweis der Frau, und sie zeigte ihn ihm. »Norma Sedgwick.«
»Warten Sie einen Moment.«
»Ich muss es nur kurz überprüfen«, sagte er zu Norma.
Sie schien nicht böse zu sein, aber ihre Miene drückte etwas wie »Mach, was du willst« aus. Als blickte sie auf den Neuling herunter. Okay, du Regierungstussi, dachte der junge Detective, bist du schon mal von einem Achtzehnjährigen im Drogenwahn beschossen worden, der mit einer SIG-SAUER und einem Messer bewaffnet war? Genau das war ihm nämlich letzten Montagabend passiert.
Er lächelte sie nur an.
Am anderen Ende hatte Sellitto die Hand auf den Hörer gelegt und sprach mit jemandem. Der Detective fragte sich, ob es der legendäre Lincoln Rhyme war. Er wusste, dass Sellitto von Zeit zu Zeit mit ihm arbeitete. Er hatte Rhyme nie getroffen. Es gab Gerüchte, dass er in Wirklichkeit gar nicht existierte.
Ein paar Minuten später – es erschien ihm wie eine Ewigkeit – war Sellitto wieder da.
»Ja, ist in Ordnung.«
Danke, dachte der Detective. Er konnte Mrs. Larkin und ihre Trauer zurücklassen und dorthin zurückfliehen, wo er sich sehr viel wohler fühlte: die Drogenwelt von East New York und South Bronx.
 
»Wohin fahren wir, Norma?«, fragte Kitty vom Rücksitz die kräftige, attraktive Agentin des State Department am Steuer des Lincoln Town Car.
»Zu einem Hotel in der Nähe unserer Dienststelle in Midtown. Eines der oberen Geschosse gehört uns im Wesentlichen, deshalb werden dort ohne unsere Zustimmung keine Gäste untergebracht. Im Augenblick ist es leer. Sie werden die einzige Person dort sein. Ich bleibe im Zimmer gegenüber, und eine weitere Agentin wird über Nacht da sein. Es ist nicht das beste Hotel der Welt, wahrscheinlich nicht das, was Sie gewöhnt sind, aber es ist auch nicht ganz übel. Jedenfalls ist es sicherer, als wenn Sie in Ihrem Stadthaus blieben.«
»Vielleicht«, sagte die Witwe leise. »Aber ich gehe zurück, sobald ich kann.« Sie blickte auf und sah, wie die Agentin sie im Rückspiegel betrachtete. »Hoffen wir, dass alles bald gelöst ist.«
Sie fuhren einige Minuten schweigend. »Was macht Ihr Arm?«, fragte Norma schließlich.
»Nicht der Rede wert.« Die Witwe berührte den Verband. Die Wunde schmerzte noch immer heftig, aber sie hatte aufgehört, die Schmerzmittel zu nehmen, die der Arzt ihr verschrieben hatte.
»Wieso ist das Außenministerium an mir interessiert? Das verstehe ich nicht ganz.«
»Nun, wegen der Arbeit Ihres Mannes in Übersee.«
»Wie meinen Sie das?«
»Heikle Themen, Sie verstehen schon.« Mehr sagte sie nicht.
Und Kitty dachte: Das ist lächerlich. Ein Leibwächter war das Letzte auf der Welt, was sie haben wollte. Sie würde versuchen, die Frau in ihre Dienststelle zurückschicken zu lassen, sobald Peter Larkin und seine Frau eingetroffen wären.
Kitty dachte gerade an Peter und seine Familie, als sie merkte, dass Norma Sedgwick angespannt war und immer wieder in den Rückspiegel schaute.
»Mrs. Larkin, ich glaube, ein Fahrzeug folgt uns.«
»Was?« Kitty drehte sich um. »Das kann doch nicht sein.«
»Doch, ich bin mir ziemlich sicher. Ich habe ein paar Ausweichmanöver unternommen, aber er ist die ganze Zeit hinter mir geblieben.«
»Dieser grüne Jeep?«
»Ja, genau der.«
»Wer sitzt am Steuer?«
»Ein Mann, glaub ich. Weißer. Scheint allein zu sein.«
Kitty schaute, konnte aber nicht in den Wagen sehen. Die Scheiben waren getönt.
Norma griff nach ihrem Handy und begann zu wählen.
Das ist verrückt, dachte Kitty. Es ergab keinen Sinn, dass …
»Vorsicht!«, schrie Norma.
Mit einem plötzlichen Spurt beschleunigte der Cherokee dicht an sie heran und drängte sie über den Randstein in den Park.
»Was tut er?«, bellte Norma.
»Ich weiß es nicht!«
»Hier ist Sedgwick«, sagte die Agentin in ihr Telefon. »Wir werden attackiert! Madison und 23. Straße. Beim Park. Er...«
Der Jeep fuhr einen Bogen und beschleunigte direkt auf sie zu.
Kitty schrie, zog den Kopf ein und wartete auf den Aufprall.
Aber Norma gab Gas und steuerte den Wagen weiter auf die Rasenfläche des Parks, ehe sie knapp vor einem Maschendrahtzaun, der eine Baustelle absicherte, zum Stehen kam. Der Jeep holperte über den Randstein und hielt in der Nähe.
»Steigen Sie aus, schnell!«, rief Norma. »Bewegen Sie sich!« Sie sprang mit der Waffe in der Hand vom Fahrersitz und riss die hintere Tür auf.
Kitty hielt ihre Handtasche umklammert und krabbelte aus dem Wagen. Norma packte sie am Arm und schleifte sie praktisch in ein Gebüsch, während Fußgänger und die Leute auf den Parkbänken die Flucht ergriffen. Die Tür des Jeeps ging auf, und Kitty glaubte, den Fahrer aus dem Wagen schlüpfen zu sehen.
»Alles in Ordnung?« Norma musterte sie sorgfältig, die Waffe in der erhobenen Hand.
»Ja, ja!«, rief Kitty. »Mir geht es gut. Passen Sie auf ihn auf! Ich glaube, er ist ausgestiegen.«
Der Angreifer, ein kräftiger Weißer in einem dunklen Anzug mit weißem Hemd, bewegte sich rasch zwischen den Sträuchern auf sie zu, dann verschwand er hinter einem Stapel Baumaterial.
»Wo ist er? Wo
Kitty blickte auf die Waffe in der Hand der Frau. Sie hielt sie ruhig und schien zu wissen, was sie tat. Aber sie hatte sie in eine Sackgasse geführt. Sie konnten nirgendwo hin. Kitty blickte zum Wagen zurück. Nichts.
Bewegung über ihnen.
Norma schrie, und als Kitty aufschaute, sah sie eine Gestalt über den Zaun hängen, mit einer Waffe in der Hand.
Aber es war nicht der Angreifer. Der Mann trug die Uniform eines Polizisten des NYPD. Er sah den Ausweis um Normas Hals baumeln, aber er ging kein Risiko ein. Seine Waffe war direkt auf die Agentin gerichtet.
»Waffe runter! Weisen Sie sich aus!«
»Ich bin vom Außenministerium. Sicherheitsdienst.«
»Senken Sie die Waffe, und zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
»Sie bewacht mich, Herrgott noch mal«, brauste Kitty auf. »Ein Mann ist hinter uns her.«
Norma richtete die Waffe auf den Boden und hielt dem Beamten mit der anderen Hand ihren Ausweis hin. Er las ihn und nickte. »Sie hätten es telefonisch melden sollen.«
»Es ist gerade passiert. Schauen Sie, dort drüben. Zwei Uhr aus Ihrer Position. Ein Mann, Weißer, kräftiger Kerl. Hat uns von der Straße abgedrängt. Wahrscheinlich bewaffnet.«
»Hinter was ist er her?«
»Sie ist eine Zeugin in einem Mordfall.«
Der Beamte runzelte die Stirn. »Ist er das?« Er blickte zu Normas Wagen. Kitty sah einen Mann dahinter kauern.
»Ja«, sagte Norma. Dann zu Kitty: »Runter!« Und stieß sie auf den Asphalt, auf dem sie kauerten. Kitty war außer sich. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass sie in dem Stadthaus blieben.
»Hey, Sie, halt!«, rief der Polizist und lief los. »Polizei. Keine Bewegung!«
Doch inzwischen hatte der Angreifer erkannt, dass er in der Unterzahl war. Er rannte zurück zu seinem Jeep, setzte den Wagen rückwärts über den Randstein und raste die Madison Avenue hinauf, eine blaue Auspufffahne hinter sich ausstoßend.
 
Über das Videosystem verfolgte Lincoln Rhyme in seinem Labor, wie Kitty Larkin in dem schwarzen Town Car mit Sellitto und Sachs sprach. Die Witwe berichtete mit zittriger Stimme, was passiert war.
Dieses System ist eine tolle Erfindung, dachte Rhyme. Es war, als wären die Leute direkt vor ihm.
»Ich könnte gar nicht sagen, was vorgefallen ist«, sagte Kitty. »Es ging alles so schnell. Ich habe ihn nicht einmal richtig gesehen.«
Norma Sedgwick lieferte einen ähnlichen Bericht des Vorfalls. Sie unterschieden sich in der Grüntönung des Jeeps, in der Körpergröße des Angreifers, in der Farbe seines Hemds.
Zeugen... Rhyme hatte nicht viel Vertrauen in sie. Selbst die ehrlichen bringen Dinge durcheinander. Sie übersehen etwas. Sie interpretieren falsch, was sie gesehen haben.
Er war ungeduldig. »Sachs?«
Er sah den Schirm ein bisschen wackeln, als sie seine Stimme hörte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Kitty und Sellitto. Die Szene verwackelte, als Sachs aus dem Wagen stieg und sich ein paar Schritte entfernte.
»Was ist, Rhyme?«
»Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, was sie gesehen haben und was nicht. Ich will, dass der Schauplatz durchsucht wird. Jeder Quadratzentimeter.«
»Okay, Rhyme. Ich mach mich an die Arbeit.«
Sachs ging mit der gewohnten Sorgfalt das Gitter ab – so Rhymes Bezeichnung für die umfassendste, manche würden sagen zwanghafteste Methode, einen Tatort zu untersuchen. Ein Labortechniker aus Queens bearbeitete das gefundene Material im mobilen Labor der Spurensicherung. Aber das Einzige, was einen Bezug zum Mordfall Larkin aufwies, waren zwei weitere Kokosfasern wie die auf dem Balkon. Eine war in einen kleinen schwarzen Schnipsel gepresst, der aus einem alten, in Leder gebundenen Buch stammen konnte; Rhyme erinnerte sich an ähnliches Beweismaterial aus einem ein paar Jahre zurückliegenden Fall.
»Sonst nichts?«, fragte er verärgert.
»Nein.«
Rhyme seufzte.
Es gibt ein wohlbekanntes Prinzip in der forensischen Wissenschaft, das die Locard’sche Regel genannt wird. Sie wurde von dem Franzosen Edmond Locard, einem der Väter der Forensik, aufgestellt und besagt, dass es zwischen dem Täter und entweder dem Tatort oder dem Opfer einen unvermeidlichen Austausch von Spuren (er sprach von »Staub«) gebe.
Rhyme glaubte an die Locard’sche Regel. Es war das, was ihn dazu brachte, alle, die für ihn arbeiteten, und sich selbst so rücksichtslos anzutreiben. Wenn diese Verbindung, wie zart sie auch sein mochte, hergestellt werden konnte, ließen sich der Täter finden, das Verbrechen aufklären und zukünftige Tragödien verhindern.
Um diese Verbindung jedoch herstellen zu können, muss der Ermittler dieses Spurenmaterial finden, identifizieren und die Folgerungen daraus einordnen können. Im Fall Larkin war sich Rhyme dessen nicht sicher. Umstände mochten eine Rolle spielen – die Umgebung, Dritte, Schicksal. Oder der Mörder war einfach zu klug und gewissenhaft. Zu professionell, wie Fred Dellray bemerkt hatte.
Sachs nahm jeden Rückschlag persönlich. »Tut mir leid, Rhyme. Ich weiß, es ist wichtig.«
Er sagte etwas Beschwichtigendes. Keine Angst, wir sehen uns alles hier im Labor noch mal an, vielleicht ergibt sich bei der Autopsie etwas Brauchbares …
Aber er vermutete, dass seine Zuversicht in ihren Ohren unaufrichtig klang.
In seinen tat sie es jedenfalls.
 
»Alles in Ordnung?«, fragte Norma.
»Das Knie schmerzt. Als ich zu Boden ging.«
»Tut mir leid«, sagte die Agentin und musterte Kitty im Rückspiegel. Norma hatte hohe Wangenknochen und exotische, ägyptische Augen.
»Unsinn. Sie haben mir das Leben gerettet.« Allerdings war Kitty immer noch wütend. Sie verfiel in Schweigen.
Sie fuhren weitere zwanzig Minuten. Kitty bemerkte, dass sie viel im Kreis fuhren oder denselben Weg zurück. Sie wandte einmal den Kopf und sah, dass sie tatsächlich verfolgt wurden – nur war es dieses Mal ein ziviler Wagen der Polizei, der von der hoch gewachsenen Beamtin gesteuert wurde, deren Haar so rot war wie ihr eigenes, Amelia Sachs.
Normas Handy läutete. Sie griff danach, sprach und trennte die Verbindung.
»Das war die Polizistin hinter uns. Keine Spur von dem Jeep.«
Kitty nickte. »Und niemand hat das Nummernschild gesehen?«
»Nein. Aber es ist wahrscheinlich sowieso gestohlen.«
Sie fuhren weiter in ihrem zufälligen Muster. Sachs verschwand gelegentlich aus dem Blickfeld, fuhr eine Straße hinauf und eine andere hinunter, offensichtlich auf der Suche nach dem Jeep.
»Ich schätze...«, begann die Agentin.
Ihr Handy läutete. »Agent Sedgwick... Was?«
Kitty blickte beunruhigt in den Spiegel. Was war jetzt wieder? Sie hatte langsam genug von dem Nervenkitzel.
»Es ist Amelia«, meldete Norma. »Sie sagt, sie hat den Jeep gesehen! Er ist in der Nähe.«
»Wo?«
»Einen Block entfernt. Er fuhr parallel zu uns. Wie ist das möglich? Er kann uns unmöglich gefolgt sein!«
Sie horchte wieder ins Telefon. Dann berichtete sie Kitty: »Sie verfolgt ihn. Sie hat Verstärkung angefordert. Er fährt in Richtung Roosevelt Drive.« Ins Telefon hinein fragte sie: »Wie hat er uns gefunden?... Glauben Sie? Moment.«
»Er hat sich im Madison Square Park hinter unserem Wagen versteckt, oder?«, fragte Norma Kitty.
»Ja.«
Sie meldete es an die Polizistin weiter. Es gab eine Pause. »Okay, kann sein. Wir sehen nach.«
Norma legte auf. »Sie hält es für möglich, dass er uns dort im Park gar nichts tun wollte, sondern uns nur aus dem Wagen scheuchte, damit er ein Ortungsgerät anbringen konnte.«
»Ein Ortungsgerät?«
»Ja, so etwas wie GPS, ein Gerät, das unsere Position verrät.« Sie parkte, stieg aus und sagte: »Überprüfen Sie den Rücksitz. Und sehen Sie in Ihren Koffern nach. Er könnte es dort hineingeschmuggelt haben. Es müsste ein kleines Kästchen aus Metall oder Plastik sein.«
Himmel, was für ein Albtraum, dachte Kitty, zorniger denn je. Wer zum Teufel war der Kerl? Wer hatte ihn engagiert?
Kitty riss ihre zwei Koffer auf, leerte den Inhalt auf den Sitz und schaute alles sorgfältig durch.
Nichts.
Doch dann hörte sie Normas Stimme: »Hier, schauen Sie.«
Kitty blickte aus dem Fenster und sah die Agentin einen kleinen weißen Zylinder von etwa sieben Zentimeter Durchmesser in einem Papiertaschentuch halten, wohl, damit sie keine Fingerabdrücke verwischte, dachte Kitty. »Mit einem Magnet unter dem Kotflügel befestigt. Es ist ein großes Ding, hat wahrscheinlich eine Reichweite von fünf Meilen. Er hätte uns überall in der Gegend gefunden. Mann, das war knapp.« Sie legte das Gerät auf die Straße, kauerte sich nieder und machte sich daran zu schaffen; offenbar machte sie es unbrauchbar.
Kurz darauf läutete Normas Handy erneut. Sie lauschte und berichtete dann mit grimmiger Miene: »Er ist entwischt. Irgendwo auf der Lower East Side verschwunden.«
Kitty rieb sich angewidert das Gesicht.
Norma erzählte Amelia Sachs von dem Gerät und fügte hinzu, sie würden nun ins Hotel fahren.
»Warten Sie«, sagte Kitty, während sie ihre Koffer wieder packte. »Wieso glauben Sie, er hat nur ein Ortungsgerät hinterlassen?«
Die Agentin blinzelte. Dann nickte sie und sagte in ihr Handy: »Detective Sachs, könnten Sie uns mitnehmen?«
 
Fünfzehn Minuten später traf Amelia Sachs ein. Norma gab ihr das Ortungsgerät, und sie legte es in eine Plastiktasche.
Dann verfrachtete sie Kitty Larkin eilig in den Wagen der Polizistin, und die drei Frauen fuhren zusammen ins Hotel. Von unterwegs arrangierte die Agentin des State Department, dass andere Sicherheitsbeamte die Limousine abholten und einer genauen Inspektion unterzogen. Sie spekulierten sogar, ob der Täter zusätzlich eine Sprengvorrichtung angebracht haben könnte, deshalb würden sich die Sprengstoffexperten des NYPD das Fahrzeug ebenfalls ansehen.
Sachs setzte die beiden Frauen vor dem Hotel ab und erklärte, sie würde das Ortungsgerät zum Stadthaus dieses Beamten oder Beraters Lincoln Rhyme bringen. Dann brauste sie los.
Norma führte Kitty ins Hotel. Es war ziemlich heruntergekommen, dachte die Frau. Sie hätte erwartet, dass man wichtige Zeugen und gefährdete Diplomaten etwas besser unterbrachte.
Die Agentin sprach mit einem Angestellten am Empfang, übergab ihm ein Kuvert und kehrte zu Kitty zurück.
»Muss ich mich anmelden?«
»Nein, alles erledigt.«
Sie stiegen im vierzehnten Stock aus. Norma führte die Witwe zu einem Zimmer, sah sich zuerst darin um und gab ihr dann den Schlüssel. »Sie können den Zimmerservice anrufen, wenn Sie etwas brauchen.«
»Ich will nur meine Familie und Peter anrufen und mich dann ein wenig hinlegen.«
»Natürlich, nur zu. Ich bin im Zimmer gegenüber, falls Sie mich brauchen.«
Kitty hängte das »Nicht stören«-Schild an den Türknauf und sah sich im Zimmer um. Es war genauso schäbig, wie die Hotelhalle vermuten ließ, und roch modrig. Sie setzte sich schwerfällig aufs Bett und seufzte. Sie bemerkte, dass die Jalousie offen war, was sie für ziemlich dumm hielt, wenn in dem Hotel Zeugen untergebracht wurden. Sie stand auf, zog die Vorhänge zu und schaltete das Licht ein.
Dann rief sie das Büro von Peter Larkin an und sagte, wer sie war. Sie ließ den Schwall an Beileidsbekundungen seiner Sekretärin über sich ergehen und fragte dann, wann Peter und seine Frau eintreffen würden. Es würde gegen neun Uhr abends sein. Sie hinterließ ihm eine Nachricht, dass er sie anrufen sollte, sobald sie ankamen.
Dann streifte sie ihre Schuhe ab, legte sich aufs Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.
 
Rhyme drückte den Kopf in die Kopfstütze seines Rollstuhls. Er spürte, wie sich Sachs’ Hand um seinen Nacken schloss und ihn massierte. Er konnte ihre Hand in einem Moment noch fühlen, und obwohl er wusste, dass sie die Massage fortsetzte, verschwand die Empfindung im nächsten, als ihre Finger weiter abwärtsglitten, unterhalb des vierten Halswirbels, der Stelle seiner irreparablen Verletzung.
Zu anderen Zeiten hätte dies vielleicht Überlegungen aufkommen lassen – entweder über seinen Zustand oder über seine Beziehung zu Amelia Sachs. Im Augenblick jedoch fühlte er nur den Drang, den Mörder Ron Larkins zu fassen, des Mannes, der Milliarden verschenkte.
»Wie geht es voran, Mel?«
»Geben Sie mir noch eine Minute.«
»Sie haben jede Menge Zeit. Was ist los?«
Das Massagegefühl hatte aufgehört, aber nicht, weil Sachs’ Hand weitergewandert war, sondern weil sie zu Cooper gegangen war und ihm half, einen Objektträger für die Untersuchung unter dem Mikroskop vorzubereiten.
Rhyme studierte inzwischen zum hundertsten Mal die auf den neuesten Stand gebrachte Liste der Beweismittel.
Die Antwort war da. Sie musste da sein. Es gab keine andere Chance. Keine Zeugen, kein erkennbares Motiv, keine prägnante Liste von Verdächtigen.
Das Beweismaterial, die winzigen Spuren waren der Schlüssel.
Die Locard’sche Regel...
Rhyme sah auf die Uhr.
»Mel?«
Ohne vom Mikroskop aufzublicken, wiederholte der Labortechniker ungeduldig. »Noch eine Minute.«
Aber jede Minute, die verging, bedeutete, dass der Mörder sechzig Sekunden näher daran war, zu entkommen.
Oder, wie Rhyme befürchtete, sechzig Sekunden näher an einem weiteren Mord.
 
Carter saß in seinem grünen Jeep und blickte von einer Stelle nahe des South Street Seaport auf Brooklyn hinüber.
Er schlürfte einen Kaffee und genoss den Blick. Die Segelschiffe mit den hohen Masten, die Brücken, den Bootsverkehr.
Carter hatte keinen Boss außer den Leuten, die ihn anheuerten, und er teilte sich seine Arbeitszeit selbst ein. Manchmal stand er früh auf – um vier Uhr -, und als der Fischmarkt in der Fulton Street noch existiert hatte, war er hierher gefahren. Er war an den Ständen vorbeigeschlendert, hatte sich Thunfische, Tintenfische, Flundern und Krabben angesehen. Es erinnerte ihn an die Hafenstädte in Übersee.
Er bedauerte es, dass der Fischmarkt jetzt geschlossen war. Finanzielle Probleme, vermutlich. Oder Ärger mit den Gewerkschaften.
Carter hatte zu seiner Zeit eine Menge Probleme mit den Gewerkschaften gelöst.
Sein Handy läutete. Er schaute auf das Display.
»Captain«, sagte er mit Respekt in der Stimme.
Er hörte sorgfältig zu, dann sagte er: »Sicher, kann ich machen.« Er legte auf und tätigte einen Anruf nach Übersee.
Carter war froh, dass er eine Weile nirgendwohin musste. Ein kleines Frachtschiff dampfte den East River hinauf, und er beobachtete, wie es übers Wasser zog.
»Oui?«, meldete sich eine Stimme vom anderen Ende der Welt.
Carter begann ein Gespräch, ohne auch nur zu merken, dass er ins Französische verfallen war.
 
Kitty erwachte vom Läuten des Telefons.
Sie hob es auf. »Hallo?«
»Kitty«, sagte Peter Larkins Stimme. »Wie geht es dir?«
Sie hatte jede Menge Bilder von ihm gesehen, ihn aber nur einmal getroffen, bei der Hochzeit. Sie erinnerte sich deutlich an ihn: hoch gewachsen, schlank, mit schütterem Haar. Er ähnelte seinem Bruder nur in der Gesichtsform.
»Ach, Peter, es ist so schrecklich.«
»Kommst du klar?«
»Ich denke schon.« Sie räusperte sich. »Ich habe gerade geschlafen und von ihm geträumt. Als ich aufgewacht bin, war einen Moment lang alles in Ordnung. Dann fiel mir wieder ein, was passiert ist. Es ist so furchtbar. Wie geht es dir denn?«
»Ich darf gar nicht daran denken. Wir haben den ganzen Flug nicht geschlafen.«
Sie bemitleideten sich noch eine Weile, dann erklärte Peter, dass sie am Flughafen seien und ihr Gepäck eben eingetroffen sei. Er und seine Frau würden in ein, zwei Stunden im Stadthaus sein. Seine Tochter, die in Yale studierte, sei bereits dort.
Kitty schaute auf die Armbanduhr, die ihr Ron geschenkt hatte. Sie war schlicht und elegant und wahrscheinlich zehntausend Dollar wert.
»Am besten, ihr ruht euch heute Nacht aus, und ich komme in der Früh vorbei.«
»Natürlich. Du hast die Adresse?«
»Ich muss sie irgendwo haben. Ich... ich kann überhaupt nicht klar denken.«
Er gab sie ihr noch einmal.
»Es wird guttun, dich zu sehen, Kitty.«
»In solchen Zeiten muss eine Familie zusammen sein.«
 
Kitty ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, um die letzte Benommenheit nach dem Aufwachen zu vertreiben.
Sie kehrte ins Zimmer zurück, betrachtete sich im Wandspiegel und dachte, wie sehr sich ihr Aussehen doch von dem der Frau unterschied, die sie in Wirklichkeit war. Keineswegs Kitty Larkin, sondern eine Person namens Priscilla Endicott, ein Name, der hinter einer endlosen Kette von Decknamen fast verloren gegangen war.
Aber als professionelle Killerin konnte man es sich natürlich nicht leisten, man selbst zu sein.
Als Linksradikale, die politische Gewalt befürwortete – und gelegentlich praktizierte -, war Priscilla nach dem College nach Übersee gegangen, wo sie zwischen diversen Untergrundbewegungen hin und her gependelt war, bis sie schließlich politischen Terroristen in Irland und Italien half. Mit dreißig jedoch merkte sie, dass mit Politik kein Geld zu verdienen war, zumindest nicht mit einfältiger kommunistischer und sozialistischer Politik, und sie beschloss, ihre Talente jenen anzubieten, die zahlen würden: den Sicherheitsberatern in Osteuropa, dem Nahen Osten und Afrika. Als selbst das nicht genügend einbrachte, wechselte sie erneut die Branche und legte sich die völlig neue Berufsbezeichnung einer »Problemlöserin« zu.
Während sie vor vier Monaten an einem Pool in den Vereinigten Arabischen Emiraten in der Sonne lag, erhielt sie einen Anruf von einer vertrauenswürdigen Kontaktperson. Nach einigen Verhandlungen nahm sie für fünf Millionen US-Dollar den Auftrag an, Ron Larkin, seinen Bruder und dessen Frau zu ermorden, die drei Personen, in deren Händen die Leitung der Larkin-Stiftung lag.
Priscilla hatte ihr Aussehen verändert: Gewichtszunahme, gefärbte Haare, farbige Kontaktlinsen, gezielte Collagen-Spritzen. Sie wurde zu Catherine »Kitty« Biddel Simpson, erfand einen glaubwürdigen Lebenslauf und brachte es fertig, über einige Wohltätigkeitsveranstaltungen in Los Angeles Ron Larkin nahe zu kommen. Sie hatte viel Zeit in Afrika verbracht und konnte sich intelligent über die Region unterhalten. Sie wusste sogar eine Menge über die Not der Kinder dort, nachdem sie eine Reihe von ihnen zu Waisen gemacht hatte.
Kitty ließ ihren Charme spielen (und ein paar andere Fertigkeiten natürlich), sie begannen sich zu treffen, und Kitty suchte nach einer Gelegenheit, ihren Auftrag zu erfüllen. Aber es war nicht einfach. Sicher, sie hätte ihn jederzeit töten können, aber einen so in der Öffentlichkeit stehenden und populären Mann wie Ron Larkin zu ermorden und seinen Bruder und seine Schwägerin obendrein und natürlich ungestraft davonzukommen, war wesentlich schwerer, als sie gedacht hatte.
Doch dann sorgte Larkin selbst für eine Lösung. Zu ihrer grenzenlosen Erheiterung machte er ihr einen Heiratsantrag.
Als seine Ehefrau hätte sie unbeschränkten Zugang zu ihm, ohne seine Personenschützer, und sein Bruder und dessen Frau würden ihr automatisch vertrauen.
Das Erste, was sie sagte, war: »Ja, Liebling, aber ich will keinen Cent von deinem Geld.«
»Nun ja...«
»Nein, ich habe das Treuhandvermögen meines Vaters«, hatte sie erklärt. »Abgesehen davon, Schatz, sind es nicht die Dollarzeichen, die ich an dir mag, sondern das, was du für andere Menschen tust. Okay, und du hast einen ganz passablen Körper für so einen alten Knaben«, hatte sie scherzend hinzugefügt.
Wer hätte unter diesen Umständen Verdacht schöpfen sollen?
Nach einer Runde ehelichen Glücks (gelegentlicher Sex, viele reichhaltige Dinner, zahllose fade Geschäftsfreunde) war es dann Zeit gewesen zu handeln.
Sie waren am Dienstagabend auf dem Flughafen La Guardia gelandet (da sie mit einer Privatmaschine flogen, konnte sie ihre Waffen und ihr sonstiges Handwerkszeug mitnehmen), zum Stadthaus gefahren und zu Bett gegangen. Um halb fünf kleidete sie sich an, streifte Latexhandschuhe über und schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf ihrer Lieblings-32er. Dann ging sie auf den Balkon hinaus, in die kühle, elektrisch riechende New Yorker Morgenluft. Sie verteilte das vorbereitete Spurenmaterial, um die Polizei in die Irre zu führen, hängte den Enterhaken in die Brüstung und warf das Seil hinunter. Anschließend kehrte sie zum Fenster zurück, schlug die Scheibe ein und schoss – sie traf Ron dreimal und feuerte die vierte und fünfte Kugel in ihr eigenes Kissen.
Danach rief sie die Notrufnummer und meldete hysterisch den Überfall. Nachdem sie aufgelegt hatte, schraubte sie die Rückwand des Fernsehgeräts ab, legte Pistole, Schalldämpfer, Munition und Handschuhe hinein und ritzte sich mit der Nagelschere den Arm auf, um das Bruchstück einer Kugel in die Wunde zu rammen. Dann taumelte sie die Treppe hinab, um auf die Polizei zu warten. Rons Bruder und Schwägerin würden natürlich möglichst schnell kommen, und sie würde sie ebenfalls töten und es so aussehen lassen, als steckte derselbe Täter hinter den Morden.
Alles perfekt geplant …
Aber während ein Plan perfekt sein kann, ist es seine Ausführung natürlich nie.
Ein echter Auftragskiller – der Kerl im Jeep – war aufgetaucht und hatte versucht, sie umzulegen. Du meine Güte.
Sie konnte sich nur denken, dass einer ihrer Feinde – und davon waren im Lauf der Jahre einige zusammengekommen – sie in den Nachrichten erkannt hatte, trotz ihres veränderten Aussehens und obwohl sie es zu vermeiden suchte, in der Öffentlichkeit fotografiert zu werden.
Oder das Ganze hatte gar nichts mit Priscilla Endicott zu tun; vielleicht verfolgte der Mann das Ziel, Mrs. Kitty Larkin zu töten. Vielleicht von einer früheren Geliebten Larkins angeheuert? Oder einer sitzen gelassenen Freundin?
Sie lachte bitter über die Ironie. Nun beschützten Polizei und Außenministerium sie vor einem Killer – nur vor einem anderen, als sie glaubten.
Priscilla wählte eine Nummer auf ihrem Handy (einem Hoteltelefon würde sie niemals trauen).
»Ja?«, antwortete ein Mann.
»Ich bin’s.«
»Großer Gott, was ist da los? In den Nachrichten heißt es, jemand ist hinter Ihnen her?«
»Nur die Ruhe.«
»Wer zum Teufel ist er?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe letztes Jahr im Kongo einen Auftrag erledigt, und eine der Zielpersonen ist davongekommen. Vielleicht ist er es.«
»Dann hat er also nichts mit uns zu tun?«
»Nein.«
»Aber was unternehmen wir dagegen?«
»Sie klingen, als hätten Sie Panik«, sagte Priscilla.
»Natürlich hab ich die. Was...«
»Holen Sie tief Luft.«
»Was unternehmen wir?«, wiederholte er und klang noch panischer als zuvor.
»Ich würde sagen, wir lachen herzhaft darüber.«
Schweigen. Vielleicht hielt er sie für hysterisch. »Wie meinen Sie das?«, fragte er schließlich.
»Unser größtes Problem bestand immer darin, der Polizei einen weiteren Verdächtigen zu liefern, jemand anderen als Sie und mich.«
»Richtig.«
»Tja, den haben wir jetzt. Peter und seine Frau werden in etwa einer Stunde in ihrem Stadthaus sein. Ich schleiche mich von da, wo ich jetzt bin, fort, töte sie und komme zurück, bevor mich jemand vermisst. Sie werden glauben, der Kerl in dem Jeep war es. Er ist nicht dumm. Wenn er hört, dass sie ihn wegen des Mordes suchen, macht er wahrscheinlich die Fliege. Mir passiert nichts, Ihnen passiert nichts.«
Der Mann blieb eine Weile still. Dann lachte er kurz. »Könnte funktionieren«, sagte er.
»Es wird funktionieren. Wie sieht es mit der zweiten Tranche aus?«
»Ist auf Ihrem Konto.«
»Gut. Ich werde nicht wieder anrufen. Verfolgen Sie einfach die Nachrichten. Ach ja, eins noch. Ich weiß nicht, ob es Sie stört... Anscheinend ist Peters Tochter gerade angekommen. Sie wird bei ihnen sein, wenn ich zu ihnen gehe.«
Der Mann zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort. »Und wo ist das Problem?«
»Das bedeutet dann wohl, dass es keins gibt«, sagte Priscilla.
 
Zwei Stunden später schlüpfte die Frau, unbemerkt vom Angestellten am Empfang, aus dem Hotel. Sie nahm ein Taxi zu einer Straßenecke zwei Blocks von Peter und Sandra Larkins Stadthaus entfernt und ging die restliche Strecke zu Fuß.
Der Reichtum dieser besonderen Zielpersonen mit ihren Privathäusern in Manhattan war sehr hilfreich. Ungesehen in ein Gebäude mit Portier zu kommen konnte scheußlich vertrackt sein.
Sie hielt vor dem Stadthaus und schaute in ihre Handtasche, um die Waffe zu überprüfen, die sie aus dem Fernseher in Ron Larkins Schlafzimmer geholt hatte, als sie vorhin zum Packen dort gewesen war.
Nun stieg sie die Eingangstreppe hinauf und schaute die Straße hinauf und hinunter. Niemand zu sehen. Sie streifte Latexhandschuhe über und drückte auf den Klingelknopf.
»Hallo?«, meldete sich Rons Bruder einen Moment später.
»Peter, hier ist Kitty. Ich muss dich sehen.«
»Ah, Kitty«, sagte der Bruder. »Wir haben dich erst morgen erwartet. Aber wir freuen uns, dass du hier bist. Komm nach oben. Wir sind alle im Wohnzimmer. Zweiter Stock. Die Tür ist offen. Komm rein.«
Das Summen des Türöffners hallte durch die neblige Nacht.
Priscilla stieß die Tür auf.
Sie ging den Ablauf im Kopf durch. Wenn sie alle zusammen waren, galt es, das gefährlichste Ziel zuerst und möglichst schnell auszuschalten: Das wären etwaige Leibwächter. Und der Freund der Tochter, falls es einen gab. Dann Peter Larkin. Er war ein kräftiger Mann und konnte eine Gefahr darstellen. Ein Kopfschuss für ihn. Dann die Tochter, die jünger und vermutlich sportlicher war. Zuletzt die Frau.
Dann würde sie weitere falsche Spuren hinterlassen, um diesen Mord mit dem an Ron in Verbindung zu bringen: Das Anabolikum, die dunklen, gelockten Haare (die sie aus dem Mülleimer eines Friseurs gestohlen hatte), noch ein wenig Gummiabrieb von dem Turnschuh, den sie später wegwerfen würde, und etwas von dem Sand und der Erde, die sie in einem Yachthafen in Los Angeles zusammengekratzt hatte.
Priscilla fasste zusammen: Ziel suchen, nach Wachen Ausschau halten, überprüfen, ob es Sicherheitssysteme, spezielle Kameras gab. Zielen, abdrücken, Kugeln zählen.
Als sie die Treppe hinaufstieg, nahm sie den modrigen Geruch eines nicht viel benutzten Hauses wahr, aber das Gebäude war dennoch elegant. Sowohl Peters als auch Rons Vermögen waren obszön groß. Milliarden. Der Gedanke, dass so viel Geld von nur zwei Individuen kontrolliert wurde, entfachte ihre latenten politischen Ansichten über die ungleiche Verteilung des Reichtums in der Welt neu, trotz der karitativen Bemühungen der beiden. Dennoch konnte Priscilla Endicott schwerlich länger auf ihrem hohen moralischen Ross sitzen, denn sie war nun selbst eine reiche Frau – und es waren ihre Fertigkeiten im Töten, die sie dazu gemacht hatten.
Sie griff in die Handtasche, holte die Waffe hervor, löste die Sicherung.
Dann trat sie rasch ins Wohnzimmer, die Pistole hinter dem Rücken.
»Hallo?«
Sie blieb abrupt stehen und starrte auf den leeren Raum.
War sie im falschen Zimmer?
Der Fernseher lief. Die Stereoanlage ebenfalls. Aber keine Menschenseele war hier.
O nein...
Sie wandte sich zur Flucht.
Das war der Moment, in dem die fünf Männer des Sondereinsatzkommandos aus den beiden Seitentüren stürmten, ihre Waffen auf sie richteten, schrien, zupackten. In weniger als einer Sekunde war sie entwaffnet, und dann lag sie mit Handschellen gefesselt auf dem Boden.
 
Lincoln Rhyme musterte das Stadthaus vom Gehsteig aus.
»Ganz nette Bude«, sagte Amelia Sachs.
»Nicht schlecht, ja.« Architektur bedeutete ihm, genau wie Dekor, nicht viel.
Sellitto sah ebenfalls an dem hohen Gebäude hinauf. »Himmel. Ich wusste ja, dass sie reich sind, aber... also wirklich.« Er stand bei dem Lieutenant des Einsatzkommandos, der die Festnahme geleitet hatte.
Einen Augenblick später ging die Tür auf, und die Frau, die engagiert worden war, um Ron Larkin sowie dessen Bruder und Schwägerin zu ermorden, wurde in Handschellen aus dem Gebäude geführt. Angesichts ihrer Skrupellosigkeit und ihres Einfallsreichtums hatten Rhyme und Sellitto angeordnet, dass man ihr zusätzlich Fußfesseln anlegte.
Die Beamten, die sie abführten, blieben stehen, und der Kriminalist musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Hat sie ihre Rechte vorgelesen bekommen?«, fragte er einen Angehörigen des Sondereinsatzkommandos.
Der Mann nickte.
Aber die Killerin schien keinen Wert darauf zu legen, dass ihr Anwalt zugegen war, wenn sie sprach. Sie beugte sich zu Rhyme hinab und flüsterte heiser. »Wie? Wie zum Teufel haben Sie das angestellt?«
Die Locard’sche Regel, dachte der Kriminalist. Doch seine Antwort lautete: »Die Faser. Die Kokosfaser hat mich von Anfang an misstrauisch gemacht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Amelia fand sie auf dem Balkon«, erklärte Rhyme. »Ich erinnerte mich, das Logo von Larkin Energy auf der Fußmatte vor dem Stadthaus gesehen zu haben, als Amelia zur Durchsuchung des Tatorts dorthin fuhr. Und mir fiel ein, dass Kokosfasern zur Herstellung von Teppichen und Matten verwendet werden. Amelia überprüfte es später und stellte fest, dass die Faser tatsächlich von derselben Matte stammte.
Wie kam nun diese Faser von der Fußmatte auf den Balkon? Es hätte passiert sein können, als Sie und Ron letzte Nacht im Haus eingetroffen sind. Sie sagten jedoch, Sie seien nicht draußen gewesen. Und offenbar waren Sie lange Zeit überhaupt nicht in dem Haus gewesen – niemand hatte die Pflanzen gegossen. Dasselbe galt für etwaige Hausmeister. Der geheimnisvolle Mörder? Hätte er sich in einer belebten Straße die Füße auf der Matte abgetreten, um anschließend auf die Rückseite des Hauses zu gehen und mit Hilfe des Seils auf den Balkon zu steigen? Ergab keinen Sinn. Wie also«, wiederholte er dramatisch, »kam die Faser dort hin?
Ich sage es Ihnen, Kitty: Sie selbst haben sie mit dem Schuh aufgenommen, als Sie vom Flughafen kamen. Und Sie haben sie auf dem Balkon zurückgelassen, als Sie heute früh hinausgingen, um Ron zu töten.«
Sie blinzelte und schüttelte den Kopf, aber Rhyme sah ihrem gequälten Gesichtsausdruck an, dass seine Worte ziemlich ins Schwarze getroffen hatten. Sie hatte an beinahe alles gedacht. Aber wie Locard vielleicht gesagt hätte, beinahe alles ist nicht gut genug, wenn es um Beweismaterial geht.
»Dann die anderen Hinweise auf dem Balkon. Das Anabolikum, der Gummiabrieb, die Baumwollfaser, Sand und Erde mit den Dieselspuren, die Haare. Ich vermutete, Sie selbst hatten sie deponiert, um die Geschichte von dem muskelbepackten Auftragskiller zu stützen. Aber bewiesen hat all das etwas anderes. Deshalb...«
In diesem Augenblick erstarrte Kitty oder wie immer sie heißen mochte. »Gott, nein. Da ist er! Er wird...«
Rhyme schwenkte in seinem Rollstuhl herum und sah einen grünen Jeep Cherokee auf sie zukommen und in zweiter Reihe nicht weit entfernt parken. Ein kräftig gebauter Mann mit Bürstenschnitt und konservativem Anzug stieg aus. Er klappte ein Handy zu und näherte sich der Gruppe.
»Nein!«, schrie Kitty.
»Captain«, sagte der Mann und nickte Rhyme zu. Der Kriminalist fand es amüsant, dass Jed Carter darauf bestand, ihn mit seinem Rang aus seiner Zeit beim NYPD anzusprechen.
Carter war freiberuflich als Sicherheitsberater für Firmen tätig, die in Afrika und dem Nahen Osten Geschäfte machten. Rhyme hatte ihn bei diesem Waffenschieberfall in Brooklyn vor ein paar Monaten kennengelernt, als der frühere Söldner dem FBI und der New Yorker Polizei dabei geholfen hatte, den Kopf der Waffenschmuggler zu verhaften. Carter war ein humorloser und steifer Mensch – mit einer Vergangenheit, über die Rhyme lieber nicht zu viel wissen wollte -, aber sein Beitrag zur Festnahme des Täters war unschätzbar gewesen. (Er schien auch unbedingt für einige seiner eigenen früheren Missionen in der Dritten Welt Wiedergutmachung leisten zu wollen.)
Carter schüttelte Sellitto die Hand, dann dem Leiter des Einsatzkommandos. Er nickte Amelia Sachs respektvoll zu.
»Was ist hier los?«, stieß Kitty atemlos hervor.
»Wie Lincoln sagte«, antwortete Sachs, »wir hatten Sie im Verdacht, aber Ihre Fingerabdrücke waren nirgendwo gespeichert.«
»Was sich allerdings bald ändern wird«, bemerkte Sellitto fröhlich.
»Wir hatten also nicht genügend Beweise, um einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen.«
»Eine Faser allein reichte dafür nicht aus. Deshalb sicherte ich mir die Hilfe von Mr. Carter hier – und von Agent Norma Sedgwick.«
Norma, vom Sicherheitsdienst des State Department, arbeitete regelmäßig mit Fred Dellray zusammen. Er hatte mit ihr Kontakt aufgenommen und erklärt, sie bräuchten jemanden, der Bodyguard spielte und ihnen half, einen scheinbaren Angriff zu inszenieren. Sie war einverstanden. Sie ließen die vorgetäuschte Attacke am Madison Square Park mit Hilfe eines Streifenbeamten über die Bühne gehen. Ihre Hoffnung war es, weitere Spuren wie die mutmaßlich auf dem Balkon gelegten zu finden. In diesem Fall mussten sie von Kitty stammen und würden beweisen, dass sie auf dem Balkon gewesen war, womit ein Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen gewesen wäre.
Aber Rhymes Idee hatte nicht funktioniert. Sachs suchte die Stelle im Madison Square Park ab, wo Kitty gelegen hatte, ebenso den Lincoln innen und außen, aber sie fand weder etwas von dem deponierten Beweismaterial noch eine Spur, die sie mit der Tatwaffe in Verbindung brachte.
Also hatten sie es noch einmal versucht. Rhyme war zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Koffer durchsuchen mussten. Sachs rief Norma wegen eines Ortungsgeräts an, das der vermeintliche Killer angebracht hatte. Während Norma so tat, als hätte sie unter dem Wagen eines gefunden – es war eine Dose mit Hautcreme -, hatte Kitty den Inhalt ihres Koffers auf den Rücksitz geleert, um nach dem Gerät zu suchen.
Nachdem Sachs die beiden vor dem Hotel abgesetzt hatte, kehrte sie unverzüglich zu dem Wagen zurück und suchte fieberhaft. Sie fand Spuren eines Anabolikums, noch etwas dieselgetränkten Sand und Erde und ein weiteres Reiskorn. Wie sich ironischerweise herausstellte, stammten weder die Reishülse im Seil noch das Reiskorn im Wagen von einer Lebensmittellieferung nach Afrika. Ihre Quelle war ein Teelöffel getrockneter Reis in einer Zierkugel mit Silberband gewesen, ein Souvenir von Kittys und Rons Hochzeit. Die Frau hatte vergessen, sie aus ihrem Koffer zu nehmen.
»Detective Sellitto ging daraufhin zum Gericht«, fuhr Rhyme fort, »und ließ sich eine Durchsuchung und eine Abhöraktion genehmigen.«
»Eine Abhöraktion?«, flüsterte Kitty.
»Ja. Von Ihrem Handy.«
»Scheiße.« Kitty schloss die Augen und verzog verbittert das Gesicht.
»O ja«, murmelte Sellitto. »Wir haben das Arschloch, das Sie angeheuert hat.«
Es war kein Warlord und kein rachsüchtiger Angestellter, kein Dritte-Welt-Diktator und kein korrupter Vorstandschef, der Ron und seinen Bruder hatte beseitigen wollen. Und es war auch nicht der Reverend John Markel, der wegen des Lederschnipsels, das von einer Bibel hätte stammen können, kurzzeitig zu den Verdächtigen gezählt hatte.
Nein, Robert Kelsey, der Betriebsleiter der Stiftung, war der Mann, den Kitty vor einer Stunde angerufen hatte. Als ihm zu Ohren gekommen war, dass Ron Larkin überlegte, mit mehreren anderen Stiftungen zu fusionieren, war ihm klar gewesen, dass es eine vollständige Revision des Betriebs geben würde, und dabei würde herauskommen, dass er Geld von Warlords und korrupten Regierungsbeamten in Afrika angenommen hatte. Im Austausch dafür hatte er ihnen Informationen zukommen lassen, wo und wann die Schiffe mit den Lebensmittellieferungen anlegten.
O ja. Wir verlieren zehn bis fünfzehn Prozent unserer Spenden für Afrika durch Diebstahl und Raub. Zigmillionen...
Er musste sie töten, überlegte er, um eine Fusion zu verhindern.
Kelsey hatte gestanden, nachdem ihm zugesichert worden war, dass die Anklage im Prozess nicht auf die Todesstrafe plädieren würde. Aber er schwor, Kittys wahre Identität nicht zu kennen. Sachs und Sellitto glaubten ihm. Kitty war nicht dumm und würde sicherlich mit einer Reihe falscher Identitäten operieren.
Das war der Grund, warum Rhyme Carter vor kurzem angerufen hatte; er wollte sehen, ob der frühere Söldner mehr über sie in Erfahrung bringen konnte. Der Mann berichtete nun: »Ich habe mit einigen meiner Geschäftspartner in Marseille, Bahrain und Kapstadt gesprochen, Captain. Sie hören sich mittlerweile um wegen ihr. Sie glauben, es kann nicht lange dauern, bis sie identifiziert ist. Ich meine, sie ist nicht gerade der typische Söldner.«
Amen, dachte Lincoln Rhyme.
»Sie machen einen Fehler«, knurrte Kitty ihn an. Was entweder heißen konnte, er hatte die Falsche, oder dass es dumm und gefährlich war, ihr in die Quere zu kommen.
Was immer sie ihm sagen wollte, Rhyme interessierte ihre Meinung nicht.
Lon Sellitto eskortierte sie zu einem Streifenwagen und stieg in seinen eigenen Crown Victoria. Das ganze Gefolge fuhr in das Polizeigefängnis im Süden Manhattans.
Kurz darauf waren auch alle Angehörigen des Sondereinsatzkommandos verschwunden. Jed Carter versprach anzurufen, sobald er Neuigkeiten über Kittys wahre Identität hätte. »Auf Wiedersehen, Captain. Madam.« Er schlenderte zu seinem grünen Jeep.
Rhyme und Sachs waren allein auf der Straße. »Okay«, sagte er und meinte damit: Fahren wir nach Hause. Er hatte Lust auf den Glenmorangie Whiskey, den ihm Thom im Vorfeld der Aktion hier verweigert hatte. (»Es ist ja nicht so, als müsste ich Mann gegen Mann kämpfen.« Trotzdem hatte der Assistent, wie so häufig, gewonnen.)
Er bat Sachs jetzt, Thom anzurufen, der ein Stück entfernt in Rhymes speziell angefertigtem Van wartete.
Sachs runzelte jedoch die Stirn. »Wir können leider noch nicht fahren.«
»Wieso nicht?«
»Es gibt da ein paar Leute, die dich treffen wollen. Ron Larkins Bruder und seine Familie.« Man hatte sie bei Kittys Eintreffen von bewaffneten Wachen nach oben in ein anderes Zimmer bringen lassen. Sachs blickte zu dem Fenster im dritten Stock hinauf und winkte dem Paar mittleren Alters zu, das gerade zu ihr und Rhyme herunterschaute.
»Muss das sein?«
»Du hast ihnen das Leben gerettet, Rhyme.«
»Und reicht das nicht? Muss ich jetzt außerdem noch Small Talk machen?«
Sie lachte. »Nur fünf Minuten. Den Leuten wird es sehr viel bedeuten.«
»Na gut, ich würde es ja gern tun«, sagte er und lächelte ziemlich unaufrichtig. »Aber das ist nicht gerade ein rollstuhlgerechter Zugang hier.« Er nickte in Richtung Treppe.
»Ach, mach dir darüber keine Sorgen«, erwiderte Sachs und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin überzeugt, sie kommen gern zu uns runter.«