Die Locard’sche Regel
»Es ist politisch heikel.«
»Politik«, brummte Lincoln Rhyme geistesabwesend in
Richtung des schweren Mannes mit dem zerzausten Haar, der im
Schlafzimmer des Kriminalisten in seinem Stadthaus auf der Upper
West Side an einer Kommode lehnte.
»Nein, es ist wichtig.«
»Und heikel«, echote Rhyme. Er war über
Besucher im Allgemeinen nicht erfreut, und noch viel weniger über
welche, die morgens um halb neun über ihn hereinbrachen.
Detective Lon Sellitto nahm den Kaffee, den ihm
Rhymes Assistent Thom anbot. Er trank einen Schluck.
»Nicht schlecht.«
»Danke«, sagte Thom.
»Nein«, belehrte ihn Sellitto. »Ich meine seine
Hand. Schauen Sie.«
Rhyme war vom Hals abwärts querschnittsgelähmt,
seit er vor ein paar Jahren bei der Untersuchung eines Tatorts
verletzt worden war. Durch eine Therapie hatte er jedoch eine
leichte Bewegungsfähigkeit der rechten Hand wiedererlangt. Er war
enorm stolz auf diese Leistung, aber es lief seinem Wesen zuwider,
zu prahlen – jedenfalls über persönliche Leistungen. Er ignorierte
Sellitto und fuhr fort, einen weichen Gummiball zu drücken. Ja, er
konnte die Hand wieder ein bisschen bewegen, aber sein Tastsinn
spielte verrückt. Er spürte Strukturen und Temperaturen, die den
Eigenschaften des Schwammgummis nicht entsprachen.
Ein erneutes Brummen. Er schnippte den Ball mit dem
Zeigefinger fort. »Ich bin nicht direkt wild auf unangemeldete
Besuche, Lon.«
»Wir sitzen in der Klemme, Linc.«
In einer politisch heiklen. »Amelia und ich sind im
Moment mit ein paar anderen Fällen beschäftigt«, fuhr Rhyme fort.
Er trank den starken Kaffee durch einen Strohhalm. Der Becher war
rechts von ihm am Kopfteil des Bettes befestigt. Zu seiner Linken
befand sich ein Mikrofon, das mit einem Stimmerkennungssystem
verbunden war, welches wiederum an einer Kontrolleinheit hing, dem
zentralen Nervensystem seines Schlafzimmers.
»Wie gesagt, in der Klemme.«
»Hm.« Er trank noch etwas Kaffee.
Rhyme betrachtete Sellitto sorgfältig. Er hatte mit
dem Detective der Abteilung für Kapitalverbrechen häufig
zusammengearbeitet, als er selbst noch Leiter der Spurensicherung
beim New York Police Department gewesen war. Der Mann wirkte müde.
Egal wie früh er selbst aufgewacht war, überlegte Rhyme, Sellitto
hatte der Anruf wegen des Mordfalls wahrscheinlich schon einige
Stunden vorher aus dem Bett geholt.
Sellitto erklärte, dass der fünfundfünfzigjährige
Unternehmer und Philanthrop Ronald Larkin vor kurzem im
Schlafzimmer seines Stadthauses auf der Upper East Side erschossen
worden war. Die ersten Beamten, die am Schauplatz eintrafen, fanden
eine Leiche, eine verwundete und weinende Ehefrau, sehr wenige
Spuren und keinen einzigen Zeugen vor.
Sowohl FBI als auch die höheren Ränge des NYPD
wollten, dass Rhyme und seine Partnerin Amelia Sachs die
Spurensicherung übernahmen, mit Sellitto als leitendem Detective.
Rhyme war oft erste Wahl für große Fälle, denn trotz seines
verschlossenen Wesens war er der Öffentlichkeit wohlbekannt, und
seine Anwesenheit signalisierte, dass es Bürgermeister und
Polizeiführung ernst meinten mit einer Verhaftung.
»Du kennst Larkin?«
»Frisch mein Gedächtnis auf.« Der beratende
forensische Wissenschaftler oder »Kriminalist« Rhyme interessierte
sich nicht sehr für Belanglosigkeiten, solange sie nicht mit seinem
Job zu tun hatten.
»Ronald Larkin, jetzt hör aber auf, Linc. Jeder
kennt ihn.«
»Lon, je schneller du mir sagst, wer er ist, desto
eher kann ich Nein sagen.«
»In dieser Stimmung ist er schon die ganze Zeit«,
sagte Thom zu Sellitto.
»Ja, ich weiß. Schon die letzten zwanzig
Jahre.«
»Vorwärts und weiter«, sagte Rhyme mit fröhlicher
Ungeduld und trank noch etwas Kaffee durch den Strohhalm.
»Larkin war groß im Energiegeschäft. Pipelines,
Elektrizität, Wasser, Erdwärme.«
»Er war ein guter Mensch«, warf Thom ein, der Rhyme
mit einem aus Eiern und einem Bagel bestehenden Frühstück fütterte.
»Umweltbewusst.«
»Halleluja«, sagte Rhyme säuerlich.
Sellitto nahm sich einen zweiten Bagel und fuhr
fort: »Er hat sich letztes Jahr zur Ruhe gesetzt, die Firma jemand
anderem übergeben und mit seinem Bruder eine Stiftung gegründet.
Tut Gutes in Afrika, Asien und Lateinamerika. Er lebt in L.A., aber
er und seine Frau haben eine Wohnung hier. Sie sind letzte Nacht
hier eingeflogen. Heute früh lagen sie im Bett, als jemand durch
das Fenster schoss und ihn umlegte.«
»Raub?«
»Nein.«
Wirklich? Rhymes Interesse stieg. Er drehte sich
rasch von dem ankommenden Bagel fort, wie ein Baby, das einem
Löffel Karottenbrei ausweicht.
»Lincoln«, sagte Thom.
»Ich esse später. Die Frau?«
»Sie wurde getroffen, rollte aber auf den Boden,
griff sich das Telefon und wählte 911. Der Schütze blieb nicht, um
die Sache zu beenden.«
»Was hat sie gesehen?«
»Nicht viel, glaube ich. Sie ist im Krankenhaus.
Ich konnte bisher nur ein paar Worte mit ihr wechseln. Sie ist
hysterisch. Die beiden haben erst vor einem Monat
geheiratet.«
»Aha, eine frische Ehefrau... Auch wenn sie
verwundet wurde, ist nicht auszuschließen, dass sie jemanden
engagiert hat, der ihren Göttergatten tötet und sie dabei
ein bisschen verletzt.«
»Weißt du, Linc, ich mach das auch nicht zum ersten
Mal... Ich hab sie schon überprüft. Es gibt kein Motiv. Sie hat ihr
eigenes Geld, von Daddy. Und sie hat einen Ehevertrag
unterschrieben. Alles, was sie im Fall seines Todes bekommt, sind
hunderttausend Dollar, und sie darf den Verlobungsring behalten.
Das ist die Giftspritze nicht wert.«
»Das ist das Abkommen, das er mit seiner Frau
geschlossen hat? Kein Wunder, dass er reich ist. Du hast etwas von
politisch heikel gesagt?«
»Na ja, da wird einer der reichsten Männer des
Landes, der stark in der Dritten Welt engagiert ist, in unserem
Zuständigkeitsbereich ermordet. Der Bürgermeister ist nicht
glücklich, die Polizeiführung ist nicht glücklich.«
»Und das bedeutet, du bist ein armes
Schwein.«
»Sie wollen dich und Amelia. Komm schon, Linc, es
ist ein interessanter Fall. Du liebst doch
Herausforderungen.«
Nach dem Unfall an dem Tatort in der U-Bahn hatte
sich Rhymes Leben stark verändert. Damals pflegte er den Spielplatz
New York City zu durchstreifen, beobachtete Menschen, wie sie
lebten und was sie taten, nahm Proben von Erde, Baumaterial,
Pflanzen, Insekten, Müll, Gestein... alles, was ihm helfen konnte,
einen Fall zu bearbeiten. Dass er das jetzt nicht mehr tun konnte,
frustrierte ihn entsetzlich. Und als ein Mensch, der immer
unabhängig gewesen war, verabscheute er es, auf andere angewiesen
zu sein.
Doch das Leben Lincoln Rhymes hatte sich immer im
Kopf abgespielt. Vor dem Unfall war Langeweile sein ärgster Feind
gewesen. Jetzt war es nicht anders. Und Sellitto hatte ihn –
natürlich absichtlich – mit zwei Worten gelockt, mit denen man oft
seine Aufmerksamkeit gewann.
Interessant... Herausforderung...
»Also, was meinst du, Linc?«
Eine weitere Pause. Er blickte auf den halb
gegessenen Bagel. Der Appetit war ihm gänzlich vergangen. »Gehen
wir nach unten. Mal sehen, ob wir über Mr. Larkins Hinscheiden noch
ein wenig mehr in Erfahrung bringen können.«
»Gut«, sagte Thom und klang erleichtert. Er war
derjenige, der häufig Rhymes schlechte Laune ausbaden musste, wenn
er mit uninteressanten Fällen zu tun hatte, die keine
Herausforderung darstellten, wie es zuletzt der Fall gewesen
war.
Der gut aussehende, blonde Assistent, der
wesentlich stärker war, als es seine schlanke Gestalt vermuten
ließ, kleidete Rhyme in einen Trainingsanzug und verfrachtete ihn
von dem motorisierten Hightech-Bett in einen motorisierten
Hightech-Rollstuhl, einen sportlichen roten Storm Arrow. Mit Hilfe
des einen funktionierenden Fingers der linken Hand, des
Ringfingers, manövrierte Rhyme den Rollstuhl in den winzigen
Aufzug, der ihn in den ersten Stock seines Stadthauses am Central
Park West brachte.
Dort angekommen, steuerte er ins Wohnzimmer, das
keine Ähnlichkeit mehr mit dem viktorianischen Salon aufwies, der
es einmal gewesen war. Es war nun ein forensisches Labor, das es
mit dem jeder mittelgroßen Stadt in den Vereinigten Staaten
aufnehmen konnte. Computer, Mikroskope, Chemikalien, Petrischalen,
Bechergläser, Pipetten, Regale voller Bücher und Ausrüstung. Kein
Quadratzentimeter war unbesetzt, außer auf den
Untersuchungstischen. Wie schlafende Schlangen lagen überall Kabel
und Leitungen herum.
Sellitto kam die Treppe heruntergetrampelt und aß
ein Bagel auf – entweder seines oder Rhymes.
»Ich mach mich mal lieber auf die Suche nach
Amelia«, sagte Rhyme, »und gebe ihr Bescheid, dass wir einen Tatort
zu bearbeiten haben.«
»Ach so, das hab ich ganz vergessen zu erwähnen«,
sagte Sellitto, während er kaute. »Ich habe sie schon angerufen.
Sie dürfte inzwischen am Tatort eingetroffen sein.«
Amelia Sachs kam nie über den Schleier der Trübsal
hinweg, der auf dem Schauplatz eines Mordes lag.
Sie glaubte aber, es war gut so. Die Trauer und die
Empörung über einen absichtlich herbeigeführten Tod trieben sie
dazu an, ihre Arbeit umso besser zu machen.
Als die hoch gewachsene, rothaarige Polizistin nun
vor dem dreistöckigen Stadthaus auf der Upper East Side Manhattans
stand, nahm sie diesen Schleier wahr, und sie spürte ihn vielleicht
ein wenig stärker als sonst, da sie wusste, dass Ron Larkins Tod
Auswirkungen auf viele, viele bedürftige Menschen rund um den
Globus haben konnte. Was würde aus der Stiftung werden, jetzt, da
er tot war?
»Sachs? Wo sind wir?« Rhymes ungeduldige Stimme
erklang in ihrem Kopfhörer. Sie stellte leiser.
»Bin gerade eingetroffen«, antwortete sie und
zupfte an ihrem Fingernagel. Sie neigte dazu, sich zwanghaft kleine
Verletzungen zuzufügen – besonders, wenn sie im Begriff war, einen
Tatort abzusuchen, an dem sich eine Tragödie wie diese abgespielt
hatte. Sie spürte den Druck, alles richtig zu machen. Dafür zu
sorgen, dass der Täter identifiziert und eingesperrt wurde.
Sie war in Arbeitskleidung. Nicht die dunklen
Kostüme, die sie als Detective bevorzugte, sondern der weiße
Overall mit Kapuze, den die Mitarbeiter der Spurensicherung trugen,
um sicherzugehen, dass sie den Tatort nicht mit ihren eigenen
Haaren, abgeschabten Hautzellen oder sonstigen tausenderlei
winzigen Spuren kontaminierten, die wir alle ständig mit uns
herumtragen.
»Ich sehe nichts, Sachs. Wo liegt das
Problem?«
»Hier. Wie ist das?« Sie drückte auf einen Schalter
an ihrem Headset.
»Ah, wunderbar. Hm... War das einmal eine
Geranie?«
Sachs blickte auf einen Pflanzenkübel neben der
Haustür, der ein vertrocknetes Gewächs enthielt. »Das fragst du die
Falsche, Rhyme. Ich kaufe Pflanzen, setze sie ein, und schon sind
sie hin.«
»Ich hab gehört, sie brauchen gelegentlich
Wasser.«
Rhyme befand sich in diesem Moment in seinem
Stadthaus etwa zweieinhalb Kilometer entfernt auf der anderen Seite
des Central Parks, sah aber genau, was Sachs sah, und zwar dank
einer hochauflösenden Videoeinspeisung, die von einer winzigen
Kamera an ihrem Headset zu dem Einsatzfahrzeug der Spurensicherung
verlief. Von dort setzte sie ihre drahtlose Reise fort, die in
einem Flachbildschirm einen halben Meter vor dem Gesicht des
Kriminalisten endete. Sie arbeiteten seit Jahren zusammen, Rhyme
für gewöhnlich von seinem Labor oder Schlafzimmer aus, und Sachs am
Tatort selbst, von wo sie ihm früher per Funk berichtet hatte. Sie
hatten es auch schon mit Video versucht, aber das Bild, das sie
erhielten, war zu unscharf, um hilfreich zu sein. Rhyme hatte dem
NYPD schließlich so lange zugesetzt, bis sie richtig Geld für ein
HD-System ausgaben.
Sie hatten es bereits getestet, aber nun würde es
zum ersten Mal bei einem Fall zum Einsatz kommen.
Mit der grundlegenden Ausrüstung zur
Spurensicherung in der Hand marschierte Sachs los. Sie warf einen
Blick auf die Türmatte, die einen Blitz über den Buchstaben LES für
Larkin Energy Services zeigte.
»Sein Logo?«
»Vermutlich«, erwiderte sie. »Hast du den Artikel
über ihn gelesen, Rhyme?«
»Hab ich übersehen.«
»Er war einer der populärsten Wirtschaftsbosse im
Land.«
Rhyme brummte. »Es braucht nichts weiter als einen
verstimmten Angestellten. Wo ist der Tatort?«
Sachs setzte ihren Weg in das Haus fort.
Ein uniformierter Beamter stand im Erdgeschoss. Er
blickte nach oben und nickte.
»Wo ist seine Frau?«, fragte Sachs. Sie wollte den
zeitlichen Ablauf der Ereignisse verstehen.
Aber die Frau war noch im Krankenhaus, erklärte der
Beamte, wo sie wegen einer Wunde behandelt wurde. Sie würde
wahrscheinlich bald entlassen werden. Zwei Detectives seien bei
ihr.
»Ich werde mit ihr reden wollen, Rhyme.«
»Wir lassen sie nach ihrer Entlassung von Lon
hierher bringen. Wo ist das Schlafzimmer? Ich sehe es nicht.« Sein
Ton verriet, dass er seine Ungeduld nur mühsam beherrschte.
Sachs dachte manchmal, dass sein barscher Tonfall
ein Mittel war, sich vor den emotionalen Gefahren der Polizeiarbeit
zu schützen. Manchmal glaubte sie, es war einfach seine Natur,
barsch zu sein.
»Das Schlafzimmer?«
»Oben, Detective«, sagte der Streifenbeamte und
nickte.
Sie ging zwei Absätze der steilen, schmalen Treppe
hinauf.
Der Schauplatz des Mordes war ein geräumiges
Schlafzimmer, das im französischen Landhausstil eingerichtet war.
Möbel und Kunstwerke waren zweifellos teuer, aber es gab so viele
Schnörkel und Rüschen und drapierte Stoffe – in schreiendem Gelb,
Grün und Gold -, dass der Raum Sachs nervös machte. Das Zimmer
eines Designers, nicht eines Hausbesitzers.
Nahe dem Fenster stand das Bett, ironischerweise
unter einem alten Gemälde von geschossenem Geflügel auf einem
Küchentisch. Das Bettzeug lag auf dem Boden, wahrscheinlich hatte
es die Notarztmannschaft, die sich um Ronald Larkin kümmerte,
dorthin geworfen. Auf Laken und Kissen war ein großer brauner
Blutfleck zu sehen.
Sachs trat näher und fragte sich, ob …
»Ist eine Kugel durchgeschlagen?«, fragte
Rhyme.
Sie lächelte. Das war genau ihr Gedanke gewesen.
Sie hatte vergessen, dass er exakt dasselbe sah wie sie.
»Sieht nicht so aus.« Sie konnte keine
Einschusslöcher auf Larkins Bettseite entdecken. »Wir werden beim
Leichenbeschauer nachfragen müssen.«
»Das verrät mir, dass er vielleicht Splitterkugeln
benutzt hat.«
Professionelle Killer kauften oder fertigten
manchmal Kugeln, die auseinanderbrachen, wenn sie ins Fleisch
eindrangen, damit sie mehr Schaden anrichteten und mit höherer
Wahrscheinlichkeit tödlich wirkten. Bei einer normalen Kugel, die
aus dieser Entfernung – rund zwei Meter – abgefeuert wurde, war zu
erwarten, dass sie den Schädel durchschlug und wieder
austrat.
»Was ist das?«, fragte Rhyme. »Links von
dir.«
»Na also.« Sie blickte auf ein Einschussloch im
Seitenteil eines vergoldeten Nachttisches, aus dem Faserreste
ragten. Sachs hob das Kissen auf. Die Kugel hatte es durchschlagen.
Sie fand ein weiteres Einschussloch in der Wand. Und auf dem Boden
einen kleineren Blutfleck, von der Wunde der Ehefrau, nahm sie an.
Bruchstücke von mattem Blei lagen auf dem Boden. »Jawohl.
Fragmente.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was tust du da, Sachs. Mir wird schwindlig.«
»Oh, entschuldige, Rhyme, ich habe vergessen, dass
du mit dranhängst. Ich habe gerade an die Kugeln gedacht. An den
Schmerz.«
Splitternde Kugeln neigten dazu, weniger betäubend
zu wirken als herkömmliche Munition und mehr Qualen zu verursachen,
wenn sich die Bruchstücke im Körper verteilten.
»Ja, nun.« Rhyme sprach nicht weiter.
Sachs würde später Proben nehmen und Fotos machen.
Jetzt wollte sie eine Vorstellung davon gewinnen, wie sich das
Verbrechen abgespielt hatte. Sie trat auf den kleinen Balkon hinaus
– das Zuhause von drei weiteren dürregeplagten Pflanzen. Es war
klar, wo der Mörder gestanden und durch das Fenster gezielt hatte.
Er hatte möglicherweise die Absicht gehabt, einzubrechen und aus
nächster Nähe zu schießen, war aber dadurch abgeschreckt worden,
dass Fenster und Balkontür abgesperrt waren. Statt seine Opfer zu
wecken, indem er das Schloss aufstemmte, hatte er lieber die
Scheibe eingeschlagen und durch das Loch gefeuert.
»Wie ist er dorthin gekommen? Vom Dach her?«,
fragte Rhyme. »Ah, nein, ich sehe es. Was zum Teufel ist das an dem
Haken?«
Sachs fragte sich dasselbe. Sie blickte auf einen
Enterhaken, von dem ein Seil in den Garten hinunterhing. Sie
untersuchte den Haken.
»Es ist Stoff, Rhyme. Flanell. Sieht aus, als hätte
er ein Hemd zerschnitten.«
»Damit niemand den Haken beim Wurf aufprallen
hörte. Schlauer Bursche. Ich nehme an, das Seil ist
geknotet?«
»Ja, woher wusstest du das?« Sie blickte über die
Balkonbrüstung auf die zehn Meter schwarzen Seils hinunter. Etwa
alle sechzig Zentimeter gab es Knoten darin.
»Auch der beste Sportler kann nicht an einem Seil
hinaufklettern, das dünner als drei Zentimeter ist. Man kann
hinunter klettern, aber nicht nach oben. Schwerkraft, eine
der vier Universalkräfte in der Physik, nebenbei bemerkt. Sie ist
die schwächste, funktioniert aber immer noch verdammt gut. Schwer
zu überwinden. Okay, Sachs, geh das Gitter ab, und sammle ein, was
einzusammeln ist, und dann komm wieder nach Hause.«
»Ich bespreche mich gerade mit einem meiner
Kumpel. Wir sitzen hier gemütlich in BK zusammen. Hey, Mann,
lächle, wenn ich über dich rede.«
Fred Dellray war am anderen Ende der Leitung, in
Brooklyn offenbar. Rhyme stellte ihn sich mit einem seiner
Informanten vor. Der hoch gewachsene, schlanke FBI-Agent mit den
durchdringenden Augen, die so dunkel wie seine Haut waren,
unterhielt ein Netzwerk von V-Leuten – der schickere Ausdruck für
Spitzel. Ein großer Teil von Dellrays Arbeit drehte sich dieser
Tage um Terrorabwehr, und er hatte eine Reihe von internationalen
Verbindungen aufgebaut.
Mit einem von ihnen besprach er offenbar gerade
Gerüchte, die den Mord an Larkin betrafen. (Obwohl V-Leute
eigentlich nie etwas mit dem Agenten besprachen. Entweder
sie erzählten ihm, was er wissen wollte, oder sie erzählten es ihm
nicht, und wenn Letzteres der Fall war, dann viel Glück.)
»Man erzählt sich, dass dieser Schütze ein echter
Profi ist, wenn du weißt, was ich meine. Nur für den Fall, dass du
nicht von allein draufgekommen bist. Ich meine Geld, Geld, Geld.
Ich kann dir keine Summe nennen, aber auf jeden Fall weit über der
Walmart-Preisklasse für einen Mord.«
»Irgendwelche Einzelheiten über den
Schützen?«
»Nur so viel: US-Bürger, könnte aber auch andere
Pässe haben. Verbrachte viel Zeit in Übersee, in Europa
ausgebildet, heißt es. Zuletzt Verbindungen nach Afrika und dem
Nahen Osten. Aber die haben alle Schurken.«
»Söldner?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Rhyme hatte bei mehreren Fällen geholfen, in denen
Söldner eine Rolle spielten, einer war noch gar nicht lange her, es
ging um ein Waffenimportgeschäft in Brooklyn. Und er hatte
festgestellt, dass unter den vielen Kriminellen, mit denen er im
Lauf seiner Karriere zu tun gehabt hatte, die Söldner im Großen und
Ganzen die gefährlichsten waren, gefährlicher noch als
Bandenkriminelle. Sie fühlten sich oft moralisch berechtigt zu
töten, gingen extrem klug vor und verfügten häufig über ein
weltweites Netz an Kontakten. Anders als irgendein Stümper in Tony
Sopranos Mannschaft wussten sie, wie man lautlos über Grenzen
verschwindet, in Zuständigkeitsbereiche, wo sie niemand mehr
fand.
»Irgendwelche Vorstellungen, wer ihn angeheuert
hat?«
»Nö, was das angeht, gibt es nicht den kleinsten
Hinweis.«
»Arbeitet er mit Rückendeckung?«
»Keine Ahnung, aber viele von ihnen tun es.«
»Wieso wurde Larkin erledigt?«
»Tja, das ist wohl die andere unbekannte
Geschichte...« Er wandte sich anscheinend ab, um etwas zu seinem
Spitzel zu sagen, der schnell und eilfertig antwortete, auch wenn
Rhyme nicht verstand, was er sagte. Dellray kam wieder in die
Leitung. »Tut mir leid, Lincoln. Mein Freund hier hat nichts von
irgendwelchen Gründen gehört. Und ich weiß, er würde es mir
sagen, denn das ist die Art Freund, die er gern sein würde. Ich
wünschte, ich hätte mehr für dich, Lincoln. Ich werd die Augen
weiter offen halten.«
»Das ist nett, Fred.« Sie legten auf.
Rhyme drehte sich zu dem Mann um, der auf einem
Hocker neben ihm saß, und nickte zur Begrüßung.
Mel Cooper war eingetroffen, während Rhyme mit
Dellray telefoniert hatte. Er war ein schlanker, kahl werdender
Mann irgendwo in den Dreißigern, der sich präzise bewegte (er war
ein meisterlicher Turniertänzer); er arbeitete als forensischer
Labortechniker in der Zentrale der Spurensicherung in Queens.
Rhyme, der Cooper vor Jahren für das NYPD angestellt hatte,
entführte ihn noch gelegentlich, damit er hier in seinem Stadthaus
an einem Fall mit ihm arbeitete. Mel schob nun seine dicke Brille
auf die Nase. Sie besprachen den Söldneraspekt, auch wenn Rhyme
sah, dass dem anderen die Nachricht nicht viel bedeutete. Cooper
zog Informationen, die von Mikroskopen, Dichtegradeinheiten und
Computern geliefert wurden, denen vor, die Menschen
beitrugen.
Ein Vorurteil, das Rhyme im Wesentlichen
teilte.
Einige Minuten später hörte der Kriminalist die
Haustür aufgehen und Amelia Sachs’ selbstbewusste Schritte auf dem
Marmorboden. Dann Stille, als sie den Teppich erreichte, und
schließlich die anders klingenden Schritte auf dem Holzboden.
Sie kam mit zwei Kartons Beweismaterial in den
Armen ins Zimmer.
Ein Lächeln zur Begrüßung für Mel, dann küsste sie
Rhyme und stellte die Kartons auf einen Untersuchungstisch.
Cooper und Sachs zogen staubfreie Latexhandschuhe
an.
Und machten sich an die Arbeit.
»Die Waffe zuerst«, sagte Rhyme.
Sie setzten die Kugeln zusammen und erfuhren, dass
sie Kaliber.32 waren, wahrscheinlich aus einer Automatik abgefeuert
– Sachs hatte winzige Partikel einer feuerfesten Faser gefunden,
die wohl von einem Schalldämpfer stammten, und Schalldämpfer sind
bei Revolvern nicht effektiv, nur bei Autoladern oder einschüssigen
Waffen. Rhyme fiel wieder die Professionalität des Killers auf, auf
die Dellray angespielt hatte, da er sich die Zeit genommen hatte,
die verbrauchten Patronenhülsen vom Balkon aufzusammeln;
Automatikwaffen werfen diese aus.
Unglücklicherweise waren die Kugeln zu stark
zertrümmert, um etwas über die Felder und Rillen – das Ziehen im
Waffenlauf – zu verraten, was wiederum hilfreich gewesen wäre, um
den vom Täter benutzten Pistolentyp zu identifizieren. Der
Gerichtsmediziner könnte eventuell intakte Kugeln bei der Autopsie
finden, aber Rhyme bezweifelte es; zerbrechliche Kugeln wie diese
wurden von Knochen mühelos zersplittert.
»Fingerabdrücke?«
»Nichts. Spuren von Latexhandschuhen am Fenster.
Sieht aus, als hätte er etwas Schmutz abgewischt, um besser zielen
zu können.«
Rhyme knurrte frustriert. »Schuhprofile?«
»Keine auf dem Balkon. Und im Garten, am Ende des
Seils? Er hat seine Abdrücke verwischt, ehe er verschwunden
ist.«
Der Enterhaken stammte von der Firma CMI, die
Krallen waren mit Epoxidharz verkleidet. Sie waren mit Streifen aus
blauem und grauem Flanell umwickelt, wie Sachs spekuliert hatte,
aus einem alten Hemd geschnitten – selbstverständlich gab es kein
Etikett, das den Hersteller identifiziert hätte.
Professionell …
Das verknotete Seil war ein Mil-Spec 550 Para Cord,
schwarz, mit geflochtener Nylonhülle über sieben inneren
Leinen.
Cooper, der sich im Internet über das Seil
informiert hatte, blickte vom Computer auf und berichtete: »Wird
überall im Land verkauft. Und es ist billig. Er wird bar dafür
bezahlt haben.«
Es war natürlich wesentlich besser, teure
Beweisstücke zu haben, die mit nachverfolgbaren Kreditkarten
bezahlt worden waren.
Sachs gab Cooper einen kleinen Plastikumschlag.
»Das habe ich in der Nähe des Enterhakens gefunden.«
»Was ist das?«, fragte er und schaute auf den
kleinen Fussel darin.
»Baumwollfaser, glaube ich. Vielleicht aus einer
seiner Taschen. Ich denke, er wird seine Waffe gezogen haben,
sobald er über die Balkonbrüstung gestiegen ist.«
»Ich verbrenne eine Probe davon«, sagte Cooper,
wandte sich einer großen Maschine zu, die in der Ecke des Labors
stand, und schaltete sie an.
»Wie sieht es mit Spuren aus?«, fragte Rhyme.
»Nichts im Garten oder an der Mauer, über die er
gestiegen ist, um in den Garten zu kommen. Auf dem Balkon haben wir
ein paar Dinge gefunden. Erde aus dem Garten. Dann Sand und weitere
Erde, die weder aus dem Garten noch aus den Blumentöpfen stammt.
Ein wenig Gummi – vielleicht von der Sohle eines Stiefels oder
Schuhs. Zwei Haare – schwarz und gelockt. Keine Wurzel dran.«
Das bedeutete, man konnte keine DNA-Analyse
durchführen; dazu ist die Haarwurzel nötig. Dennoch stammte es
höchstwahrscheinlich vom Täter. Ron Larkin hatte pures graues Haar,
und seine Frau war rothaarig.
Mel Cooper blickte vom Computerschirm des
Massenspektrometers auf, mit dem er eine Analyse der Baumwollfaser
durchgeführt hatte. »Er ist vermutlich Bodybuilder. Dianabol. Ein
Anabolikum, das von Sportlern benutzt wird.«
»Welche Art Sport?«, wollte Rhyme wissen.
»Da fragen Sie den Falschen, Lincoln. Ich verwende
keine leistungssteigernden Mittel für meine Walzer und Foxtrotts.
Aber wenn sich Spuren davon in seinem Taschenfutter finden, kann
man wohl getrost davon ausgehen, dass es ihm ernst damit
ist.«
»Und dann das hier...« Sachs hielt einen weiteren
Plastikbeutel hoch. Auf den ersten Blick schien er leer zu sein.
Aber mit dem Vergrößerungsglas fand Cooper eine winzige braune
Faser. Er hielt sie hoch, damit Rhyme sie sehen konnte.
»Guter Fund, Sachs«, sagte Rhyme und mühte sich,
seinen Kopf näher zu dem Beweisstück zu bewegen. »Nichts entgeht
dir. Was ist es?«
Cooper legte die Faser unter ein optisches
Doppelmikroskop und beugte sich über die Linsen. Dann wandte er
sich einem Computer zu und tippte mit rasend flinken Fingern. »Ich
glaube...« Er warf noch einen Blick durch das Mikroskop. »... es
ist Coir.«
»Und das ist?«
»Ich finde es gerade heraus.« Cooper las einen
Moment und berichtete dann. »Kokosnussfaser. Wird hauptsächlich für
Seile benutzt, aber auch für Teppiche, Läufer, Untersätze, Nippes.
Die größten Produzenten sind Malaysia, Indonesien und verschiedene
afrikanische Länder.«
»Aber es stammt nicht von dem Seil, an dem er
hinaufgestiegen ist?«, fragte Rhyme.
»Nein, das ist pures Nylon.«
»Führt uns auch nicht unbedingt direkt zu seiner
Tür, oder? Was haben wir noch?«
»Das war’s.«
»Untersucht den Sand und die Erde. Macht einen
GC.«
Der Gaschromatographie-Test ergab, dass die Probe
signifikante Anteile von Dieseltreibstoff und Salzwasser
enthielt.
»Aber eine bestimmte Sorte Treibstoff«, sagte
Cooper und las vom Computermonitor ab. »Er enthält Mikrobiozide.
Zusammen mit dem Salzwasser deutet das darauf hin, dass es
wahrscheinlich Schiffsdiesel ist. Dieseltreibstoff in Schiffen wird
häufig von Mikroorganismen kontaminiert. Die Hersteller mischen ihm
deshalb einen Zusatz bei, der das verhindern soll.«
»Dann besitzt er also ein Boot«, sagte Sachs. »Oder
wohnt in der Nähe einer Anlegestelle.«
»Oder ist per Boot ins Land gekommen«, sagte Rhyme.
Wasserfahrzeuge waren immer noch der beste Weg, um an der Ostküste
unbemerkt ins Land zu kommen – und eine der besten Möglichkeiten,
Straßensperren und Überwachungsmaßnahmen zu entgehen, wenn man rund
um New York unterwegs war.
»Fassen wir alles zu einer Liste zusammen. Thom!
Wenn Sie...Thom?«
»Ja?« Der Assistent kam in den Raum. Wie Cooper und
Sachs trug er Handschuhe, aber seine waren gelb, und der Name
Playtex stand darauf.
»Könnten Sie unsere bisherigen Funde aufschreiben?«
Rhyme nickte in Richtung der Tafel, und Thom streifte die
Handschuhe ab und schrieb, was sein Boss diktierte.
Mordfall Ronald Larkin
Kokosfaser
Erde aus Garten unter Balkon
Schwarze Haare, gelockt. Keine Wurzel
Gummiabrieb, schwarz, möglicherweise von Schuhsohle
Erde und Sand mit Spuren von Schiffsdiesel, Salzwasser
Keine Fingerabdrücke, Trittspuren, Werkzeugspuren
Baumwollfaser mit Spuren von Anabolikum. Sportler?
32er Automatik, Schalldämpfer, Splittermunition
CMI Enterhaken, mit Streifen von altem Flanellhemd umhüllt
Seil Mil-Spec 550 Para Cord, geknotet, schwarz
Erde aus Garten unter Balkon
Schwarze Haare, gelockt. Keine Wurzel
Gummiabrieb, schwarz, möglicherweise von Schuhsohle
Erde und Sand mit Spuren von Schiffsdiesel, Salzwasser
Keine Fingerabdrücke, Trittspuren, Werkzeugspuren
Baumwollfaser mit Spuren von Anabolikum. Sportler?
32er Automatik, Schalldämpfer, Splittermunition
CMI Enterhaken, mit Streifen von altem Flanellhemd umhüllt
Seil Mil-Spec 550 Para Cord, geknotet, schwarz
Verdächtiger:
US-Bürger, andere Pässe?
In Europa ausgebildet
Söldner mit Kontakten in Afrika, Nahost
Kein Motiv
Hohes Honorar
Auftraggeber unbekannt
US-Bürger, andere Pässe?
In Europa ausgebildet
Söldner mit Kontakten in Afrika, Nahost
Kein Motiv
Hohes Honorar
Auftraggeber unbekannt
Rhyme überflog die Liste. Sein Blick blieb auf
einem Gegenstand ruhen.
»Das Seil«, sagte er.
»Na, ja...« Sachs schaute zu Cooper. »Ich
dachte...«
»Ich weiß, es ist Nylon, und es lässt sich
nicht zurückverfolgen. Aber was ist das Interessante
daran?«
Sachs schüttelte den Kopf. »Ich muss passen.«
»Die Knoten. Sie waren zusammengezogen, seit er sie
geknüpft hat.«
»Ich kapier es immer noch nicht, Lincoln«, sagte
Cooper.
Rhyme lächelte. »Betrachtet sie als Wundertüten an
Beweismitteln. Ich würde gern wissen, was in den Knoten ist, ihr
nicht? Lasst sie uns aufmachen.«
»Sie meinen mich, oder?«, sagte Cooper.
»Ich würde Ihnen ja gern helfen, aber...«
Der Labortechniker nahm das Seil in die
behandschuhte Hand und fing an, einen Knoten zu lösen. »Wie
Eisen.«
»Umso besser für uns. Was immer da drin ist, es war
schön fest eingeschlossen, seit er die Knoten gemacht hat.«
»Falls etwas drin ist«, sagte Cooper. »Das
könnte auch eine totale Zeitverschwendung sein.«
»Das gefällt mir, Mel. Darauf läuft die ganze
Geschichte mit der Spurensicherung in etwa hinaus, finden Sie
nicht?«
Als Rhyme noch allein gewohnt hatte, war das
vordere Wohnzimmer seines Stadthauses – das gegenüber dem Labor –
als Lagerraum genutzt worden. Aber nun, da Sachs zeitweise hier
wohnte, hatten sie und Thom umdekoriert und es in ein behagliches
Wohnzimmer verwandelt.
Es gab zeitgenössische asiatische Gemälde und
Siebdrucke aus Galerien in NoHo und dem East Village, ein großes
Portrait von Houdini (ein Geschenk von einer Frau, mit der sie vor
Jahren an einem Fall gearbeitet hatten), einen Blue-Dog-Druck, zwei
große Blumenarrangements und bequeme Möbel, die sie aus New Jersey
importiert hatten.
Auf dem Kaminsims standen Bilder von Sachs’ Eltern
und von ihr als Heranwachsende, wie sie unter der Motorhaube eines
68er Dodge Charger hervorspähte, an dem sie und ihr Vater
monatelang gearbeitet hatten, bis sie sich schließlich
eingestanden, dass der Patient nicht mehr zu retten war.
Und nicht nur ihre Vergangenheit wurde in dem
Wohnzimmer präsentiert.
Sie hatte Thom auf einen Streifzug in den Keller
des Stadthauses geschickt, wo er alle möglichen Schachteln
durchwühlt hatte und mit gerahmten Ehrenzeichen und lobenden
Erwähnungen aus Rhymes Zeit beim NYPD zurückgekehrt war. Auch mit
privaten Fotos. Mehrere zeigten Rhyme während seiner Kindheit in
Illinois, mit seinen Eltern und anderen Verwandten. Ein Bild zeigte
den Jungen und seine Familie vor ihrem Haus, neben einer großen
blauen Limousine. Die Eltern lächelten in die Kamera. Lincoln
lächelte ebenfalls, aber sein Gesichtsausdruck war anders – er
verriet Neugier -, und er blickte zur Seite, auf etwas, das nicht
im Bild zu sehen war.
Auf einem Schnappschuss sah man einen schlanken,
angespannten Lincoln im Teenageralter. Er trug einen
Leichtathletikdress seiner Schule.
Thom öffnete nun die Eingangstür und führte drei
Leute in den Raum: Lon Sellitto, dazu einen stattlichen Mann in den
Sechzigern mit grauem Anzug und Priesterkragen und, an seinem Arm,
eine Frau mit blasser Haut und Augen, die so rot waren wie ihre
Haare. Sie zeigte keine Reaktion auf den Rollstuhl.
»Mrs. Larkin«, sagte der Kriminalist, »ich bin
Lincoln Rhyme. Das ist Amelia Sachs.«
»Bitte nennen Sie mich doch Kitty.« Sie nickte zur
Begrüßung.
»John Markel«, stellte sich der Geistliche vor,
schüttelte Sachs die Hand und lächelte Rhyme blässlich zu.
Er erklärte, dass seine Diözese auf Manhattans
Upper East Side mehrere Wohltätigkeitseinrichtungen im Sudan und in
Liberia sowie eine Schule im Kongo unterhielt. »Ron und ich haben
seit Jahren zusammengearbeitet. Wir wollten uns heute zum
Mittagessen treffen, um über unsere Arbeit da drüben zu sprechen.«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Dann habe ich die Nachricht
gehört.«
Er war zum Krankenhaus geeilt, um bei Kitty zu
sein, und hatte ihr dann angeboten, sie hierher zu begleiten.
»Sie müssen nicht bleiben, John«, sagte die Witwe.
»Aber danke, dass Sie gekommen sind.«
»Edith und ich möchten, dass Sie den Abend bei uns
verbringen«, sagte der Mann. »Wir wollen nicht, dass Sie allein
sind.«
»Ach, vielen Dank, John, aber ich sollte besser bei
Rons Bruder und seiner Familie sein. Und bei seinem Sohn.«
»Ich verstehe. Aber wenn Sie etwas brauchen, rufen
Sie bitte an.«
Sie nickte und umarmte ihn.
Ehe der Priester ging, fragte ihn Sachs, ob er eine
Vorstellung habe, wer der Mörder sein könnte. Die Frage erwischte
ihn kalt. »Wer jemanden wie Ron töten würde? Nein, das ist
unerklärlich. Ich habe wirklich keine Ahnung, wer seinen Tod
wünschen könnte.«
Thom führte den Geistlichen hinaus, und Kitty nahm
auf einem Sofa Platz. Der Assistent kam kurz darauf mit einem
Tablett Kaffee zurück. Kitty nahm eine Tasse, trank aber nicht
davon. Sie hielt sie zwischen den verschränkten Händen.
Sachs wies mit einem Kopfnicken auf den großen
Verband um ihren Unterarm. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie, als wäre Sprechen das Einzige, was
ihr Schmerzen bereitete. Sie blickte auf ihren Arm. »Der Arzt
sagte, es war ein Teil von einer Kugel. Sie ist
auseinandergebrochen.« Sie schaute auf. »Es könnte von der Kugel
stammen, die Ron getötet hat. Ich weiß nicht, was ich davon halten
soll.«
Rhyme ließ Sachs den Vortritt, die besser mit
Menschen umgehen konnte als er, und die Polizistin fragte die Frau
nach den Schüssen.
Kitty und ihr Mann waren im Land umhergereist, um
sich mit den Spitzen von Unternehmen und verschiedenen
Non-Profit-Organisationen zu treffen. Am Vorabend waren sie aus
Atlanta gekommen, wo sie sich mit einem ihrer Lieferanten für
Babynahrung getroffen hatten. Die Limousine hatte sie vom Flughafen
La Guardia abgeholt und gegen Mitternacht in das Stadthaus
gebracht.
»Der Wagen hat uns abgesetzt. Wir gingen hinein und
sofort zu Bett – es war spät, wir waren erschöpft. Am frühen Morgen
dann hörte ich etwas. Es weckte mich auf. Ein Schlurfen von Füßen,
ich weiß nicht. Oder ein Kratzen. Ich weiß noch, ich war so müde,
dass ich mich einfach nicht bewegte. Ich lag nur mit offenen Augen
da.«
Das hatte ihr wahrscheinlich das Leben gerettet,
dachte Rhyme. Wenn sie sich umgedreht hätte oder aufgestanden wäre,
hätte der Killer sie zuerst erschossen.
Dann sah sie etwas auf dem Balkon, die Umrisse
eines Mannes.
»Zuerst dachte ich, es sei ein Fensterputzer. Ich
wusste zwar, das konnte nicht sein, aber ich war benommen, und er
sah aus, als hielte er einen Wischer in der Hand. Aber es war etwas
ganz anderes.«
Die 32er.
Sie hörte Glas splittern und mehrmals einen dumpfen
Knall, dann stöhnte ihr Mann auf.
»Ich schrie und rollte mich aus dem Bett. Ich rief
911. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass ich getroffen war, bis ich
später irgendwann sah, dass ich blutete.«
Sachs hakte nach und erhielt weitere Informationen.
Der Mörder war ein Weißer, mit dunklem, lockigem Haar, dunkel
gekleidet. Er hatte breite Schultern.
Anabolika …
Das Licht, sagte Kitty, war zu schwach, als dass
sie sein Gesicht hätte sehen können.
Rhyme dachte an die HD-Bilder aus dem Stadthaus und
fragte: »Sind Sie zufällig noch einmal auf den Balkon
hinausgegangen, als Sie nach Hause kamen? War irgendetwas anders
als sonst? Möbel umgestellt?«
»Nein, wir sind sofort ins Bett gegangen.«
»Wie könnte der Mörder erfahren haben, dass Sie
letzte Nacht in der Wohnung sein würden?«
»Es stand in der Zeitung. Wir waren wegen
verschiedener Wohltätigkeitsveranstaltungen hier und wollten uns
mit den Spitzen anderer philantropischer Stiftungen treffen. In der
Times gab es, glaub ich, einen Artikel darüber.«
»Können Sie sich einen Grund denken, warum man ihn
getötet hat?«, fragte Sellitto.
Sie rang die Hände. Rhyme befürchtete, dass sie
zusammenbrechen würde. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Ich
weiß, er hatte Feinde. Wenn er sich in Afrika oder in Nahost
aufhielt, war immer eine Sicherheitsmannschaft bei ihm. Aber
hier... Ich weiß nicht. Es war alles noch so neu für mich...
Vielleicht sollten Sie mit seinem Bruder sprechen. Ich habe heute
Morgen mit ihm telefoniert. Er fliegt im Augenblick mit seiner Frau
aus Kenia zurück. Sie werden heute Abend eintreffen. Oder wenn Sie
jetzt sofort mit jemandem reden wollen, könnten Sie Bob Kelsey
anrufen. Er war Rons rechte Hand in der Stiftung. Er ist ziemlich
erschüttert, aber er wird sicherlich helfen wollen.«
Und damit verweigerte ihre Stimme den Dienst. Sie
würgte und begann zu weinen.
Sachs sah Rhyme an, der nickte.
»Das war alles, Kitty«, sagte sie. »Wir wollen Sie
nicht länger aufhalten.«
Nach einiger Zeit bekam sie sich wieder in den
Griff.
Thom kam herein und gab ihr ein Kleenex. Sie dankte
ihm und wischte sich das Gesicht ab.
»So«, sagte Sellitto, »wir werden jemanden
abstellen, der ein Auge auf Sie hat.«
Kitty schüttelte den Kopf und lachte leise. »Ich
weiß, ich bin ein bisschen durch den Wind, aber es geht schon. Ich
… Es ist einfach alles zu viel. Ich bleibe bei Rons Bruder, wenn
sie zurück sind. Und ich habe selbst Angehörige hier. Ach ja, und
Rons Sohn und seine Frau fliegen von China zurück.« Sie atmete tief
durch. »Das war der schwerste Anruf von allen. Sein Sohn.«
»Mrs. Larkin, ich rede von einem
Leibwächter.«
»Ein... Leibwächter? Wieso?«
»Sie sind ein unentbehrlicher Zeuge. Er hat Sie zu
töten versucht, und er wird es vielleicht wieder versuchen.«
»Aber ich habe im Grunde nichts gesehen.«
»Das weiß er ja nicht«, sagte Rhyme.
»Und ein unentbehrlicher Zeuge ist man nicht nur
dann, wenn man den Täter identifizieren kann«, ergänzte der
Detective. »Sie können über den Zeitpunkt der Schüsse aussagen,
über ihren Klang, wo er stand und wie er stand, wie er die Waffe
hielt. Alle diese Dinge können zu seiner Verurteilung
beitragen.«
»Nun, wir haben Wachleute in der Firma.«
»Wahrscheinlich halten Sie sich besser an einen
Polizeibeamten«, sagte Sellitto.
»Schon möglich, ja... Ich kann mir nur einfach
nicht vorstellen, dass sich jemand die Mühe machen sollte, mir
etwas zu tun.«
Rhyme sah, wie sich Lon Sellitto bemühte,
beruhigend zu wirken. »Na ja«, sagte der zerknitterte Detective,
»die Wahrscheinlichkeit ist natürlich minimal. Aber es spricht auch
nichts dagegen, auf Nummer Sicher zu gehen, oder?«
Ein untersetzter Mann stand am Fenster der wenig
benutzten Küche in seinem Haus in New Jersey. Er hatte der Aussicht
– die keine schlechte war: die Skyline Manhattans – den Rücken
gekehrt und blickte in einen kleinen Flachbildschirm im
Wohnzimmer.
»Ich sehe es gerade, Captain.«
Es war einige Jahre her, seit Carter Soldat gewesen
war – er nannte sich jetzt »Sicherheitsberater«, eine
Berufsbezeichnung, die so gut war wie jede andere -, aber nach all
dem militärischen Training war ihm am wohlsten dabei, wenn er Leute
mit ihrem Rang ansprechen konnte. Er selbst war einfach Carter. Für
die Leute, die ihn anheuerten, für die Leute, mit denen er
arbeitete. Carter.
Auf dem Bildschirm erzählte ein Sprecher, dass
Larkins Frau den Anschlag überlebt hatte. Sie wurde als
unentbehrliche Zeugin bezeichnet.
»Hm«, brummte Carter.
Wenn Carter für einen Sicherheitsauftrag in Übersee
tätig war, stützte er sich oft auf Journalisten, um an
Informationen heranzukommen. Er staunte, wie viel sensibles
Material sie im Austausch für das verrieten, was sie von ihm
bekamen – und das war normalerweise nur ein Haufen Scheiße.
Ein zweiter Sprecher erschien, und es ging nun um
all das Gute, das die Larkin-Stiftung getan hatte, um das viele
Geld, das sie verteilte.
Carter hatte mit ein paar wirklich reichen Leuten
zu tun gehabt. Nur ein paar Scheiche im Mittleren Osten dürften so
viel Geld wie Ronald Larkin besessen haben.
Ach ja, und da war noch dieser französische
Geschäftsmann...
Aber genau wie Larkin war er nicht mehr reich.
Sondern tot.
Larkin war in die Stadt gekommen, um sich mit
führenden Persönlichkeiten verschiedener Non-Profit-Gesellschaften
zu treffen. Sie wollten über die Zusammenlegung ihrer
Organisationen zu einem Mega-Wohltätigkeitsunternehmen beraten, um
ihre Anstrengungen in Afrika auszubauen, wo Hunger und Krankheit
grassieren. Und jetzt schalten wir zu unserem Korrespondenten in
der Region Darfur im Westsudan, wo...
Bla, bla, bla. Carter schaltete das Gerät aus, die
Fernbedienung wirkte winzig in seiner riesigen Hand.
Anschließend lauschte Carter aufmerksam dem
Captain, der sehr beunruhigt war.
Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich kümmere mich
darum, Captain. Ich sorge dafür, dass es richtig gemacht
wird.«
Nachdem Carter aufgelegt hatte, ging er in sein
Schlafzimmer, durchsuchte den Schrank und holte einen Businessanzug
hervor. Er begann die marineblaue Hose anzuziehen, doch dann hielt
er inne. Er hängte den Anzug in den Schrank zurück und nahm dafür
einen in Größe 48 heraus. Es war viel leichter, unauffällig eine
Waffe bei sich zu tragen, wenn der Anzug eine Nummer zu groß
war.
Zehn Minuten später saß er in seinem dunkelgrünen
Jeep Cherokee und war auf dem Weg nach Manhattan.
Robert Kelsey, ein fähiger Kaufmann mit schütterem
Haar, war der Geschäftsführer der Larkin-Stiftung, was bedeutete,
dass seine Aufgabe darin bestand, drei Milliarden Dollar im Jahr zu
verschenken.
»Das ist nicht so einfach, wie es sich
anhört.«
Rhyme gab ihm Recht, nachdem der Mann alles erklärt
hatte: Regierungsbestimmungen, Steuergesetze, Washingtoner
Politikklüngel, Dritte-Welt-Machenschaften und – was vielleicht am
meisten entmutigte – Tausende von Anfragen bedürftiger Menschen und
Organisationen, die um Geld für ihre herzzerreißenden Anliegen
kamen und die man mit leeren Händen wieder fortschicken
musste.
Kelsey saß auf derselben Couch wie Kitty Larkin
eine Stunde zuvor.
Auch er hatte dieses geistesabwesende, zerzauste
Aussehen eines Menschen, den man frühmorgens mit einer schlechten
Nachricht aus dem Bett geholt hat und der noch nicht ganz in Lage
ist, sie zu verdauen.
»Wir haben Indizien, ein paar Spuren«, erklärte Lon
Sellitto, »aber wir haben noch kein klares Motiv. Können Sie sich
denken, wer seinen Tod wünschen könnte? Mrs. Larkin ist dazu nichts
eingefallen.«
Lincoln Rhyme war selten an den Motiven eines
Verdächtigen interessiert – er betrachtete sie als das schwächste
Standbein eines Falles (Beweismittel waren natürlich das stärkste
für ihn). Dennoch konnte ein offenkundiges Motiv in die Richtung
der guten Beweismittel deuten, die zu einer Verurteilung
führten.
»Wer seinen Tod wünschen könnte?«, wiederholte
Kelsey und lächelte grimmig. »Sie würden sich wundern, wie viele
Feinde er für einen Mann hatte, der Milliarden an hungernde oder
kranke Kinder verschenkte. Aber ich will versuchen, Ihnen eine
Vorstellung zu vermitteln. Bei unseren großen Kampagnen in den
letzten Jahren ging es darum, Lebensmittel und Medikamente gegen
Aids nach Afrika zu schaffen und Bildungsprogramme in Asien und
Lateinamerika zu finanzieren. Am schwersten ist es in Afrika.
Darfur, Ruanda, der Kongo, Somalia... Ron weigerte sich, den
Regierungen direkt Geld zu geben. Es würde nur in den Taschen
örtlicher Beamter verschwinden. Deshalb kaufen wir die Lebensmittel
hier oder in Europa und schaffen sie dorthin, wo sie gebraucht
werden. Das Gleiche mit den Arzneien. Nicht dass Korruption damit
ausgeschlossen wäre. In der Minute, in der ein Schiff anlegt, wird
jemand mit einer Waffe zur Hand sein, der sich bei Reis oder Weizen
selbst bedient. Das Milchpulver für Babys wird gestohlen und
entweder verkauft oder dazu benutzt, Drogen zu strecken. Und die
HIV-Arznei wird in neue Flaschen umgefüllt und außer Landes an
Leute verkauft, die genügend Geld haben, um die gängigen Preise zu
bezahlen. Die Kranken, für die sie bestimmt war, bekommen
verwässerte Versionen. Oder manchmal nur Wasser.«
»So schlimm ist es?«, fragte Sellitto. »Großer
Gott.«
»O ja. Wir verlieren fünfzehn bis zwanzig Prozent
unserer Afrikaspenden pro Jahr durch Diebstahl oder Raub.
Zigmillionen. Und wir haben noch mehr Glück als die meisten
Hilfsorganisationen da drüben... Deshalb war Ron so unbeliebt. Er
besteht darauf, dass wir die Verteilung der Lebensmittel und
Medikamente selbst kontrollieren. Wir schließen Abkommen mit den
besten örtlichen Organisationen, die diese Aufgabe erledigen.
Manchmal sind diese Gruppen, wie die Liberia-Hilfe, mit der
politischen Opposition im Bunde. In solchen Ländern stellt Ron also
eine Bedrohung für die Regierung dar.
In anderen Regionen wiederum gibt es eine
rechtmäßige Regierung, und er verteilt über sie. Was ihn zu einer
Bedrohung für die Opposition macht. Dann sind da noch die
Warlords. Und die fundamentalistischen Islamgruppen, die überhaupt
keine westliche Hilfe wollen. Und die Armeen und Milizen, die sogar
wollen, dass die Leute hungern, weil sie den Hunger
instrumentalisieren... ach, es ist ein Albtraum.«
Kelsey lachte bitter. »Dann die antiamerikanischen
Länder rund um den Globus: der arabische Block, Iran und Pakistan,
Indonesien und Malaysia in Fernost... Die Stiftung ist natürlich
privat, aber dort drüben sieht man uns als einen verlängerten Arm
Washingtons. Und in gewisser Weise sind wir das auch. So, und das
war nur in Übersee. Lassen Sie uns jetzt über Amerika
sprechen.«
»Hier hat er auch Feinde?«, fragte Sachs.
»O ja. Sie glauben, im karitativen Bereich tummeln
sich nur Heilige? Vergessen Sie’s. Ich komme aus der
Betriebswirtschaft, und ich kann Ihnen sagen, die skrupellosesten
Firmenplünderer sind nichts gegen die Vorsitzenden von
Wohltätigkeitsorganisationen. Ron hat die Lebensmittel von einem
halben Dutzend Lieferanten hier und in Europa gekauft. Ich kann
Ihnen nicht sagen, wie viele Tonnen verdorbenen Reis und Mais sie
uns verkaufen wollten. Ron hat einige von ihnen bei der Arznei- und
Lebensmittelbehörde angezeigt.
Dann scheinen einige Führungskräfte zu glauben,
Mildtätigkeit beginnt bei ihnen zu Hause. Von einer Organisation,
die mit uns arbeiten wollte, hat Ron herausgefunden, dass der
Vorsitzende ein Gehalt von fünfhunderttausend Dollar im Jahr
kassierte und in einem Privatjet, der von den Spendengeldern
finanziert wurde, im Land umherflog.
Ron hat sie eiskalt fallen gelassen, die
Times angerufen und ihnen die Geschichte erzählt. Der
Vorstandschef wurde am nächsten Tag gefeuert.«
Kelsey bemerkte, dass er sich in Rage redete. »Tut
mir leid. Es ist schwer, heutzutage Gutes zu tun. Und jetzt, da er
nicht mehr ist, wird es noch sehr viel schwerer werden.«
»Wie sieht es mit Larkins Privatleben aus?«
»Seine erste Frau starb vor zehn Jahren«, sagte
Kelsey. »Er hat einen erwachsenen Sohn, der bei Joint Ventures im
Energiebereich in China tätig ist. Sie hatten eine sehr gute
Beziehung. Er wird am Boden zerstört sein.«
»Und seine neue Frau?«
»Ach, Kitty? Sie tat ihm gut, und sie hat ihn auch
geliebt. Sie hat selbst Geld, verstehen Sie? – ihr Vater war im
Textilgeschäft oder so etwas. Ron lernte viele Frauen kennen, die
nur auf eines aus waren, wie Sie sich vorstellen können. Es war
schwer für ihn. Aber bei ihr war es echt.«
»Sein Bruder?«, fragte Sellitto.
»Peter? Was ist mit...? Ach, Sie meinen, ob
er etwas mit Rons Tod zu tun haben könnte?« Er lachte.
»Nein, nein, ausgeschlossen. Sie standen sich sehr nahe. Er ist
ebenfalls sehr erfolgreich. Besitzt sein eigenes Unternehmen. Er
ist nicht so reich wie Ron, aber ich rede hier von dreißig
Milliarden statt hundert. Er braucht kein Geld. Abgesehen davon
hatten sie dieselben Wertvorstellungen und arbeiteten beide hart
für die Stiftung. Für Ron war es ein Vollzeitjob, aber Peter
verwandte auch noch zwanzig, dreißig Stunden pro Woche darauf,
zusätzlich zu seinem vollen Terminplan als CEO seiner eigenen
Firma.«
Sellitto fragte nun nach einer konkreten Liste von
Leuten, die einen Groll auf Ron Larkin haben konnten – aus
sämtlichen Kategorien, die Kelsey genannt hatte. Er schrieb eine
ganze Weile.
Dann gab er Sellitto das Blatt und sagte, er werde
überlegen, ob ihm noch jemand einfiel.
Der Mann wirkte benommen, er verabschiedete sich
und ging.
Mel Cooper kam aus dem Labor, er beugte und
streckte seine Hände.
»Wie kommen Sie voran?«, fragte Rhyme.
»Wissen Sie, wie viele Knoten das waren?«
»Vierundzwanzig«, erwiderte Rhyme. »Und ich habe
die Zeitform des Verbs bemerkt. Sie sind fertig.«
»Ich glaube, meine Hand fällt gleich ab. Aber wir
waren erfolgreich.«
»Haben Sie seine Visitenkarte gefunden?«
»Vielleicht etwas, das genauso gut ist. Eine
Pflanzenhülse, eine sehr kleine.«
»Von was?«
»Reis.«
Rhyme nickte und schürzte die Lippen. Und Sachs
sprach aus, was er dachte: »Lebensmittellieferungen, die die
Stiftung nach Afrika geschickt hat? Der Schütze könnte also dort
rekrutiert worden sein.«
»Oder von jemandem, der eine Farm besitzt. Oder
Reis verkauft. Der mit der verdorbenen Lieferung vielleicht?«
»Und das Schiffsdiesel«, sagte Cooper und nickte in
Richtung Liste. »Frachtschiffe.«
Sachs ergänzte die Liste.
»Sehen wir uns die Liste an, die Kelsey gemacht
hat.«
Sachs klebte die Seite auf eine weiße Tafel.
»Die üblichen Verdächtigen?« Rhyme lachte
schnaubend. »In normalen Mordfällen gibt es wie viele Verdächtige?
Vier, fünf, höchstens. Und in was für einem Haifischbecken angeln
wir hier?« Er nickte in Richtung der Liste. »Der größte Teil der
Dritten Welt, halb Nahost und Europa und ein guter Teil der
fünfhundert größten Unternehmen Amerikas.«
»Und alles, was er getan hat«, sagte Sachs, »war,
Geld an Leute zu verschenken, die es brauchten.«
»Kennen Sie nicht diesen Ausdruck«, murmelte
Sellitto, »keine gute Tat bleibt ungesühnt?«
Mordfall Ronald Larkin
Kokosfaser
Erde aus Garten unter Balkon
Schwarze Haare, gelockt. Keine Wurzel
Gummiabrieb, schwarz, möglicherweise von Schuhsohle
Erde und Sand mit Spuren von Schiffsdiesel, Salzwasser
Keine Fingerabdrücke, Trittspuren, Werkzeugspuren
Baumwollfaser mit Spuren von Anabolikum. Sportler?
32er Automatik, Schalldämpfer, Splittermunition
CMI Enterhaken, mit Streifen von altem Flanellhemd umhüllt
Seil Mil-Spec 550 Para Cord, geknotet, schwarz
Reishülse, in Knoten eingeschlossen
Erde aus Garten unter Balkon
Schwarze Haare, gelockt. Keine Wurzel
Gummiabrieb, schwarz, möglicherweise von Schuhsohle
Erde und Sand mit Spuren von Schiffsdiesel, Salzwasser
Keine Fingerabdrücke, Trittspuren, Werkzeugspuren
Baumwollfaser mit Spuren von Anabolikum. Sportler?
32er Automatik, Schalldämpfer, Splittermunition
CMI Enterhaken, mit Streifen von altem Flanellhemd umhüllt
Seil Mil-Spec 550 Para Cord, geknotet, schwarz
Reishülse, in Knoten eingeschlossen
Verdächtiger:
US-Bürger, andere Pässe?
In Europa ausgebildet
Söldner mit Kontakten in Afrika, Nahost
Kein Motiv
Hohes Honorar
Auftraggeber unbekannt
US-Bürger, andere Pässe?
In Europa ausgebildet
Söldner mit Kontakten in Afrika, Nahost
Kein Motiv
Hohes Honorar
Auftraggeber unbekannt
Dem jungen Beamten war nicht wohl in seiner
Haut.
Er war ein frisch ernannter Detective, dem man die
undankbare Aufgabe anvertraut hatte, die arme Witwe zu ihrem
Stadthaus zu begleiten, damit sie ein wenig Kleidung einpacken
konnte, und sie dann einem Leibwächter zu übergeben.
Nicht dass sie ihm das Leben schwer gemacht hätte
oder etwas dergleichen. Nein, ganz im Gegenteil. Sie wirkte so
entrückt, durcheinander und verweint, dass er einfach nicht wusste,
was er zu ihr sagen, wie er sich benehmen sollte. Er wünschte,
seine Frau wäre dabei. Sie würde sie schnell beruhigen. Aber der
Detective selbst? Nein, das war nicht seine Stärke. Er war
mitfühlend, sicher, er wusste nur nicht, wie er es ausdrücken
sollte. Er war erst seit fünf Jahren bei der Polizei, hauptsächlich
im Streifendienst, und hatte sehr wenige Gelegenheiten gehabt,
trauernde Angehörige kennenzulernen. Einmal war ein Mülllaster in
die Seite eines parkenden Geländewagens gerast und hatte die
Fahrerin getötet. Er hatte dem Ehemann erzählen müssen, was
passiert war, und er hatte Wochen gebraucht, bis er über das
Entsetzen und das Leid im Gesicht des Mannes hinweggekommen
war.
Nun arbeitete er als Detective im Drogendezernat.
Gelegentlich eine Leiche, gelegentlich eine Witwe. Keine von ihnen
trauerte wie diese hier. Vielen schien es egal zu sein, dass ihr
Mann tot war.
Er beobachtete Kitty Larkin, die wie gelähmt vor
der Eingangstür ihres Stadthauses stand.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er, dann gab er sich
im Geiste einen Tritt.
Du Vollidiot...
Er meinte natürlich, ob am Haus irgendetwas anders
sei als sonst, etwas, das er überprüfen, weswegen er Lieutenant
Sellitto hätte anrufen sollen. Seine Hand ging zur Glock, die er
ein halbes Dutzend Mal in seiner Berufslaufbahn gezogen, aber noch
nie abgefeuert hatte.
Kitty schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie
und schien jetzt erst zu bemerken, dass sie stehen geblieben war.
»Tut mir leid.« Sie setzte ihren Weg ins Haus fort. »Es dauert
nicht lange. Ich packe nur rasch eine Tasche.«
Der Detective drehte gerade eine Runde ums Haus,
als er eine schwarze Limousine halten sah.
Eine afroamerikanische Frau in einem dunklen Kostüm
stieg aus und ging zu ihm. Sie zückte einen Ausweis.
US-Außenministerium.
»Ich übernehme die Bewachung von Mrs. Larkin«,
sagte sie mit einem leichten Akzent, den der Detective nicht
einordnen konnte.
»Sie sind...«
»Die Bewachung von Mrs. Larkin«, wiederholte die
Frau langsam.
Gut, dachte der Beamte, erleichtert, dass er nicht
würde herumsitzen und der Frau beim Weinen zusehen müssen. Aber
dann dachte er: Moment mal.
»Eine Sekunde.«
»Was ist?«
Der Polizist zog sein Handy hervor und rief
Lieutenant Sellitto an.
»Ja«, meldete sich die barsche Stimme.
»Detective, ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen,
dass die Leibwächterin für Mrs. Larkin jetzt da ist. Sie ist
allerdings vom Außenministerium, nicht von uns.«
»Vom was?«
»Außenministerium.«
»Tatsächlich? Wie heißt sie?«
Der Detective bat noch einmal um den Ausweis der
Frau, und sie zeigte ihn ihm. »Norma Sedgwick.«
»Warten Sie einen Moment.«
»Ich muss es nur kurz überprüfen«, sagte er zu
Norma.
Sie schien nicht böse zu sein, aber ihre Miene
drückte etwas wie »Mach, was du willst« aus. Als blickte sie auf
den Neuling herunter. Okay, du Regierungstussi, dachte der junge
Detective, bist du schon mal von einem Achtzehnjährigen im
Drogenwahn beschossen worden, der mit einer SIG-SAUER und einem
Messer bewaffnet war? Genau das war ihm nämlich letzten Montagabend
passiert.
Er lächelte sie nur an.
Am anderen Ende hatte Sellitto die Hand auf den
Hörer gelegt und sprach mit jemandem. Der Detective fragte sich, ob
es der legendäre Lincoln Rhyme war. Er wusste, dass Sellitto von
Zeit zu Zeit mit ihm arbeitete. Er hatte Rhyme nie getroffen. Es
gab Gerüchte, dass er in Wirklichkeit gar nicht existierte.
Ein paar Minuten später – es erschien ihm wie eine
Ewigkeit – war Sellitto wieder da.
»Ja, ist in Ordnung.«
Danke, dachte der Detective. Er konnte Mrs. Larkin
und ihre Trauer zurücklassen und dorthin zurückfliehen, wo er sich
sehr viel wohler fühlte: die Drogenwelt von East New York und South
Bronx.
»Wohin fahren wir, Norma?«, fragte Kitty vom
Rücksitz die kräftige, attraktive Agentin des State Department am
Steuer des Lincoln Town Car.
»Zu einem Hotel in der Nähe unserer Dienststelle in
Midtown. Eines der oberen Geschosse gehört uns im Wesentlichen,
deshalb werden dort ohne unsere Zustimmung keine Gäste
untergebracht. Im Augenblick ist es leer. Sie werden die einzige
Person dort sein. Ich bleibe im Zimmer gegenüber, und eine weitere
Agentin wird über Nacht da sein. Es ist nicht das beste Hotel der
Welt, wahrscheinlich nicht das, was Sie gewöhnt sind, aber es ist
auch nicht ganz übel. Jedenfalls ist es sicherer, als wenn Sie in
Ihrem Stadthaus blieben.«
»Vielleicht«, sagte die Witwe leise. »Aber ich gehe
zurück, sobald ich kann.« Sie blickte auf und sah, wie die Agentin
sie im Rückspiegel betrachtete. »Hoffen wir, dass alles bald gelöst
ist.«
Sie fuhren einige Minuten schweigend. »Was macht
Ihr Arm?«, fragte Norma schließlich.
»Nicht der Rede wert.« Die Witwe berührte den
Verband. Die Wunde schmerzte noch immer heftig, aber sie hatte
aufgehört, die Schmerzmittel zu nehmen, die der Arzt ihr
verschrieben hatte.
»Wieso ist das Außenministerium an mir
interessiert? Das verstehe ich nicht ganz.«
»Nun, wegen der Arbeit Ihres Mannes in
Übersee.«
»Wie meinen Sie das?«
»Heikle Themen, Sie verstehen schon.« Mehr sagte
sie nicht.
Und Kitty dachte: Das ist lächerlich. Ein
Leibwächter war das Letzte auf der Welt, was sie haben wollte. Sie
würde versuchen, die Frau in ihre Dienststelle zurückschicken zu
lassen, sobald Peter Larkin und seine Frau eingetroffen
wären.
Kitty dachte gerade an Peter und seine Familie, als
sie merkte, dass Norma Sedgwick angespannt war und immer wieder in
den Rückspiegel schaute.
»Mrs. Larkin, ich glaube, ein Fahrzeug folgt
uns.«
»Was?« Kitty drehte sich um. »Das kann doch nicht
sein.«
»Doch, ich bin mir ziemlich sicher. Ich habe ein
paar Ausweichmanöver unternommen, aber er ist die ganze Zeit hinter
mir geblieben.«
»Dieser grüne Jeep?«
»Ja, genau der.«
»Wer sitzt am Steuer?«
»Ein Mann, glaub ich. Weißer. Scheint allein zu
sein.«
Kitty schaute, konnte aber nicht in den Wagen
sehen. Die Scheiben waren getönt.
Norma griff nach ihrem Handy und begann zu
wählen.
Das ist verrückt, dachte Kitty. Es ergab keinen
Sinn, dass …
»Vorsicht!«, schrie Norma.
Mit einem plötzlichen Spurt beschleunigte der
Cherokee dicht an sie heran und drängte sie über den Randstein in
den Park.
»Was tut er?«, bellte Norma.
»Ich weiß es nicht!«
»Hier ist Sedgwick«, sagte die Agentin in ihr
Telefon. »Wir werden attackiert! Madison und 23. Straße. Beim Park.
Er...«
Der Jeep fuhr einen Bogen und beschleunigte direkt
auf sie zu.
Kitty schrie, zog den Kopf ein und wartete auf den
Aufprall.
Aber Norma gab Gas und steuerte den Wagen weiter
auf die Rasenfläche des Parks, ehe sie knapp vor einem
Maschendrahtzaun, der eine Baustelle absicherte, zum Stehen kam.
Der Jeep holperte über den Randstein und hielt in der Nähe.
»Steigen Sie aus, schnell!«, rief Norma. »Bewegen
Sie sich!« Sie sprang mit der Waffe in der Hand vom Fahrersitz und
riss die hintere Tür auf.
Kitty hielt ihre Handtasche umklammert und
krabbelte aus dem Wagen. Norma packte sie am Arm und schleifte sie
praktisch in ein Gebüsch, während Fußgänger und die Leute auf den
Parkbänken die Flucht ergriffen. Die Tür des Jeeps ging auf, und
Kitty glaubte, den Fahrer aus dem Wagen schlüpfen zu sehen.
»Alles in Ordnung?« Norma musterte sie sorgfältig,
die Waffe in der erhobenen Hand.
»Ja, ja!«, rief Kitty. »Mir geht es gut. Passen Sie
auf ihn auf! Ich glaube, er ist ausgestiegen.«
Der Angreifer, ein kräftiger Weißer in einem
dunklen Anzug mit weißem Hemd, bewegte sich rasch zwischen den
Sträuchern auf sie zu, dann verschwand er hinter einem Stapel
Baumaterial.
»Wo ist er? Wo?«
Kitty blickte auf die Waffe in der Hand der Frau.
Sie hielt sie ruhig und schien zu wissen, was sie tat. Aber sie
hatte sie in eine Sackgasse geführt. Sie konnten nirgendwo hin.
Kitty blickte zum Wagen zurück. Nichts.
Bewegung über ihnen.
Norma schrie, und als Kitty aufschaute, sah sie
eine Gestalt über den Zaun hängen, mit einer Waffe in der
Hand.
Aber es war nicht der Angreifer. Der Mann trug die
Uniform eines Polizisten des NYPD. Er sah den Ausweis um Normas
Hals baumeln, aber er ging kein Risiko ein. Seine Waffe war direkt
auf die Agentin gerichtet.
»Waffe runter! Weisen Sie sich aus!«
»Ich bin vom Außenministerium.
Sicherheitsdienst.«
»Senken Sie die Waffe, und zeigen Sie mir Ihren
Ausweis.«
»Sie bewacht mich, Herrgott noch mal«, brauste
Kitty auf. »Ein Mann ist hinter uns her.«
Norma richtete die Waffe auf den Boden und hielt
dem Beamten mit der anderen Hand ihren Ausweis hin. Er las ihn und
nickte. »Sie hätten es telefonisch melden sollen.«
»Es ist gerade passiert. Schauen Sie, dort drüben.
Zwei Uhr aus Ihrer Position. Ein Mann, Weißer, kräftiger Kerl. Hat
uns von der Straße abgedrängt. Wahrscheinlich bewaffnet.«
»Hinter was ist er her?«
»Sie ist eine Zeugin in einem Mordfall.«
Der Beamte runzelte die Stirn. »Ist er das?« Er
blickte zu Normas Wagen. Kitty sah einen Mann dahinter
kauern.
»Ja«, sagte Norma. Dann zu Kitty: »Runter!« Und
stieß sie auf den Asphalt, auf dem sie kauerten. Kitty war außer
sich. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass sie in dem Stadthaus
blieben.
»Hey, Sie, halt!«, rief der Polizist und lief los.
»Polizei. Keine Bewegung!«
Doch inzwischen hatte der Angreifer erkannt, dass
er in der Unterzahl war. Er rannte zurück zu seinem Jeep, setzte
den Wagen rückwärts über den Randstein und raste die Madison Avenue
hinauf, eine blaue Auspufffahne hinter sich ausstoßend.
Über das Videosystem verfolgte Lincoln Rhyme in
seinem Labor, wie Kitty Larkin in dem schwarzen Town Car mit
Sellitto und Sachs sprach. Die Witwe berichtete mit zittriger
Stimme, was passiert war.
Dieses System ist eine tolle Erfindung, dachte
Rhyme. Es war, als wären die Leute direkt vor ihm.
»Ich könnte gar nicht sagen, was vorgefallen ist«,
sagte Kitty. »Es ging alles so schnell. Ich habe ihn nicht einmal
richtig gesehen.«
Norma Sedgwick lieferte einen ähnlichen Bericht des
Vorfalls. Sie unterschieden sich in der Grüntönung des Jeeps, in
der Körpergröße des Angreifers, in der Farbe seines Hemds.
Zeugen... Rhyme hatte nicht viel Vertrauen in sie.
Selbst die ehrlichen bringen Dinge durcheinander. Sie übersehen
etwas. Sie interpretieren falsch, was sie gesehen haben.
Er war ungeduldig. »Sachs?«
Er sah den Schirm ein bisschen wackeln, als sie
seine Stimme hörte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Kitty und
Sellitto. Die Szene verwackelte, als Sachs aus dem Wagen stieg und
sich ein paar Schritte entfernte.
»Was ist, Rhyme?«
»Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, was sie
gesehen haben und was nicht. Ich will, dass der Schauplatz
durchsucht wird. Jeder Quadratzentimeter.«
»Okay, Rhyme. Ich mach mich an die Arbeit.«
Sachs ging mit der gewohnten Sorgfalt das Gitter ab
– so Rhymes Bezeichnung für die umfassendste, manche würden sagen
zwanghafteste Methode, einen Tatort zu untersuchen. Ein
Labortechniker aus Queens bearbeitete das gefundene Material im
mobilen Labor der Spurensicherung. Aber das Einzige, was einen
Bezug zum Mordfall Larkin aufwies, waren zwei weitere Kokosfasern
wie die auf dem Balkon. Eine war in einen kleinen schwarzen
Schnipsel gepresst, der aus einem alten, in Leder gebundenen Buch
stammen konnte; Rhyme erinnerte sich an ähnliches Beweismaterial
aus einem ein paar Jahre zurückliegenden Fall.
»Sonst nichts?«, fragte er verärgert.
»Nein.«
Rhyme seufzte.
Es gibt ein wohlbekanntes Prinzip in der
forensischen Wissenschaft, das die Locard’sche Regel genannt wird.
Sie wurde von dem Franzosen Edmond Locard, einem der Väter der
Forensik, aufgestellt und besagt, dass es zwischen dem Täter und
entweder dem Tatort oder dem Opfer einen unvermeidlichen Austausch
von Spuren (er sprach von »Staub«) gebe.
Rhyme glaubte an die Locard’sche Regel. Es war das,
was ihn dazu brachte, alle, die für ihn arbeiteten, und sich selbst
so rücksichtslos anzutreiben. Wenn diese Verbindung, wie zart sie
auch sein mochte, hergestellt werden konnte, ließen sich der Täter
finden, das Verbrechen aufklären und zukünftige Tragödien
verhindern.
Um diese Verbindung jedoch herstellen zu können,
muss der Ermittler dieses Spurenmaterial finden, identifizieren und
die Folgerungen daraus einordnen können. Im Fall Larkin war sich
Rhyme dessen nicht sicher. Umstände mochten eine Rolle spielen –
die Umgebung, Dritte, Schicksal. Oder der Mörder war einfach zu
klug und gewissenhaft. Zu professionell, wie Fred Dellray bemerkt
hatte.
Sachs nahm jeden Rückschlag persönlich. »Tut mir
leid, Rhyme. Ich weiß, es ist wichtig.«
Er sagte etwas Beschwichtigendes. Keine Angst, wir
sehen uns alles hier im Labor noch mal an, vielleicht ergibt sich
bei der Autopsie etwas Brauchbares …
Aber er vermutete, dass seine Zuversicht in ihren
Ohren unaufrichtig klang.
In seinen tat sie es jedenfalls.
»Alles in Ordnung?«, fragte Norma.
»Das Knie schmerzt. Als ich zu Boden ging.«
»Tut mir leid«, sagte die Agentin und musterte
Kitty im Rückspiegel. Norma hatte hohe Wangenknochen und exotische,
ägyptische Augen.
»Unsinn. Sie haben mir das Leben gerettet.«
Allerdings war Kitty immer noch wütend. Sie verfiel in
Schweigen.
Sie fuhren weitere zwanzig Minuten. Kitty bemerkte,
dass sie viel im Kreis fuhren oder denselben Weg zurück. Sie wandte
einmal den Kopf und sah, dass sie tatsächlich verfolgt wurden – nur
war es dieses Mal ein ziviler Wagen der Polizei, der von der hoch
gewachsenen Beamtin gesteuert wurde, deren Haar so rot war wie ihr
eigenes, Amelia Sachs.
Normas Handy läutete. Sie griff danach, sprach und
trennte die Verbindung.
»Das war die Polizistin hinter uns. Keine Spur von
dem Jeep.«
Kitty nickte. »Und niemand hat das Nummernschild
gesehen?«
»Nein. Aber es ist wahrscheinlich sowieso
gestohlen.«
Sie fuhren weiter in ihrem zufälligen Muster. Sachs
verschwand gelegentlich aus dem Blickfeld, fuhr eine Straße hinauf
und eine andere hinunter, offensichtlich auf der Suche nach dem
Jeep.
»Ich schätze...«, begann die Agentin.
Ihr Handy läutete. »Agent Sedgwick... Was?«
Kitty blickte beunruhigt in den Spiegel. Was war
jetzt wieder? Sie hatte langsam genug von dem Nervenkitzel.
»Es ist Amelia«, meldete Norma. »Sie sagt, sie hat
den Jeep gesehen! Er ist in der Nähe.«
»Wo?«
»Einen Block entfernt. Er fuhr parallel zu uns. Wie
ist das möglich? Er kann uns unmöglich gefolgt sein!«
Sie horchte wieder ins Telefon. Dann berichtete sie
Kitty: »Sie verfolgt ihn. Sie hat Verstärkung angefordert. Er fährt
in Richtung Roosevelt Drive.« Ins Telefon hinein fragte sie: »Wie
hat er uns gefunden?... Glauben Sie? Moment.«
»Er hat sich im Madison Square Park hinter unserem
Wagen versteckt, oder?«, fragte Norma Kitty.
»Ja.«
Sie meldete es an die Polizistin weiter. Es gab
eine Pause. »Okay, kann sein. Wir sehen nach.«
Norma legte auf. »Sie hält es für möglich, dass er
uns dort im Park gar nichts tun wollte, sondern uns nur aus dem
Wagen scheuchte, damit er ein Ortungsgerät anbringen konnte.«
»Ein Ortungsgerät?«
»Ja, so etwas wie GPS, ein Gerät, das unsere
Position verrät.« Sie parkte, stieg aus und sagte: »Überprüfen Sie
den Rücksitz. Und sehen Sie in Ihren Koffern nach. Er könnte es
dort hineingeschmuggelt haben. Es müsste ein kleines Kästchen aus
Metall oder Plastik sein.«
Himmel, was für ein Albtraum, dachte Kitty,
zorniger denn je. Wer zum Teufel war der Kerl? Wer hatte ihn
engagiert?
Kitty riss ihre zwei Koffer auf, leerte den Inhalt
auf den Sitz und schaute alles sorgfältig durch.
Nichts.
Doch dann hörte sie Normas Stimme: »Hier, schauen
Sie.«
Kitty blickte aus dem Fenster und sah die Agentin
einen kleinen weißen Zylinder von etwa sieben Zentimeter
Durchmesser in einem Papiertaschentuch halten, wohl, damit sie
keine Fingerabdrücke verwischte, dachte Kitty. »Mit einem Magnet
unter dem Kotflügel befestigt. Es ist ein großes Ding, hat
wahrscheinlich eine Reichweite von fünf Meilen. Er hätte uns
überall in der Gegend gefunden. Mann, das war knapp.« Sie legte das
Gerät auf die Straße, kauerte sich nieder und machte sich daran zu
schaffen; offenbar machte sie es unbrauchbar.
Kurz darauf läutete Normas Handy erneut. Sie
lauschte und berichtete dann mit grimmiger Miene: »Er ist
entwischt. Irgendwo auf der Lower East Side verschwunden.«
Kitty rieb sich angewidert das Gesicht.
Norma erzählte Amelia Sachs von dem Gerät und fügte
hinzu, sie würden nun ins Hotel fahren.
»Warten Sie«, sagte Kitty, während sie ihre Koffer
wieder packte. »Wieso glauben Sie, er hat nur ein
Ortungsgerät hinterlassen?«
Die Agentin blinzelte. Dann nickte sie und sagte in
ihr Handy: »Detective Sachs, könnten Sie uns mitnehmen?«
Fünfzehn Minuten später traf Amelia Sachs ein.
Norma gab ihr das Ortungsgerät, und sie legte es in eine
Plastiktasche.
Dann verfrachtete sie Kitty Larkin eilig in den
Wagen der Polizistin, und die drei Frauen fuhren zusammen ins
Hotel. Von unterwegs arrangierte die Agentin des State Department,
dass andere Sicherheitsbeamte die Limousine abholten und einer
genauen Inspektion unterzogen. Sie spekulierten sogar, ob der Täter
zusätzlich eine Sprengvorrichtung angebracht haben könnte, deshalb
würden sich die Sprengstoffexperten des NYPD das Fahrzeug ebenfalls
ansehen.
Sachs setzte die beiden Frauen vor dem Hotel ab und
erklärte, sie würde das Ortungsgerät zum Stadthaus dieses Beamten
oder Beraters Lincoln Rhyme bringen. Dann brauste sie los.
Norma führte Kitty ins Hotel. Es war ziemlich
heruntergekommen, dachte die Frau. Sie hätte erwartet, dass man
wichtige Zeugen und gefährdete Diplomaten etwas besser
unterbrachte.
Die Agentin sprach mit einem Angestellten am
Empfang, übergab ihm ein Kuvert und kehrte zu Kitty zurück.
»Muss ich mich anmelden?«
»Nein, alles erledigt.«
Sie stiegen im vierzehnten Stock aus. Norma führte
die Witwe zu einem Zimmer, sah sich zuerst darin um und gab ihr
dann den Schlüssel. »Sie können den Zimmerservice anrufen, wenn Sie
etwas brauchen.«
»Ich will nur meine Familie und Peter anrufen und
mich dann ein wenig hinlegen.«
»Natürlich, nur zu. Ich bin im Zimmer gegenüber,
falls Sie mich brauchen.«
Kitty hängte das »Nicht stören«-Schild an den
Türknauf und sah sich im Zimmer um. Es war genauso schäbig, wie die
Hotelhalle vermuten ließ, und roch modrig. Sie setzte sich
schwerfällig aufs Bett und seufzte. Sie bemerkte, dass die Jalousie
offen war, was sie für ziemlich dumm hielt, wenn in dem Hotel
Zeugen untergebracht wurden. Sie stand auf, zog die Vorhänge zu und
schaltete das Licht ein.
Dann rief sie das Büro von Peter Larkin an und
sagte, wer sie war. Sie ließ den Schwall an Beileidsbekundungen
seiner Sekretärin über sich ergehen und fragte dann, wann Peter und
seine Frau eintreffen würden. Es würde gegen neun Uhr abends sein.
Sie hinterließ ihm eine Nachricht, dass er sie anrufen sollte,
sobald sie ankamen.
Dann streifte sie ihre Schuhe ab, legte sich aufs
Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Rhyme drückte den Kopf in die Kopfstütze seines
Rollstuhls. Er spürte, wie sich Sachs’ Hand um seinen Nacken
schloss und ihn massierte. Er konnte ihre Hand in einem Moment noch
fühlen, und obwohl er wusste, dass sie die Massage fortsetzte,
verschwand die Empfindung im nächsten, als ihre Finger weiter
abwärtsglitten, unterhalb des vierten Halswirbels, der Stelle
seiner irreparablen Verletzung.
Zu anderen Zeiten hätte dies vielleicht
Überlegungen aufkommen lassen – entweder über seinen Zustand oder
über seine Beziehung zu Amelia Sachs. Im Augenblick jedoch fühlte
er nur den Drang, den Mörder Ron Larkins zu fassen, des Mannes, der
Milliarden verschenkte.
»Wie geht es voran, Mel?«
»Geben Sie mir noch eine Minute.«
»Sie haben jede Menge Zeit. Was ist los?«
Das Massagegefühl hatte aufgehört, aber nicht, weil
Sachs’ Hand weitergewandert war, sondern weil sie zu Cooper
gegangen war und ihm half, einen Objektträger für die Untersuchung
unter dem Mikroskop vorzubereiten.
Rhyme studierte inzwischen zum hundertsten Mal die
auf den neuesten Stand gebrachte Liste der Beweismittel.
Die Antwort war da. Sie musste da sein. Es
gab keine andere Chance. Keine Zeugen, kein erkennbares Motiv,
keine prägnante Liste von Verdächtigen.
Das Beweismaterial, die winzigen Spuren waren der
Schlüssel.
Die Locard’sche Regel...
Rhyme sah auf die Uhr.
»Mel?«
Ohne vom Mikroskop aufzublicken, wiederholte der
Labortechniker ungeduldig. »Noch eine Minute.«
Aber jede Minute, die verging, bedeutete, dass der
Mörder sechzig Sekunden näher daran war, zu entkommen.
Oder, wie Rhyme befürchtete, sechzig Sekunden näher
an einem weiteren Mord.
Carter saß in seinem grünen Jeep und blickte von
einer Stelle nahe des South Street Seaport auf Brooklyn
hinüber.
Er schlürfte einen Kaffee und genoss den Blick. Die
Segelschiffe mit den hohen Masten, die Brücken, den
Bootsverkehr.
Carter hatte keinen Boss außer den Leuten, die ihn
anheuerten, und er teilte sich seine Arbeitszeit selbst ein.
Manchmal stand er früh auf – um vier Uhr -, und als der Fischmarkt
in der Fulton Street noch existiert hatte, war er hierher gefahren.
Er war an den Ständen vorbeigeschlendert, hatte sich Thunfische,
Tintenfische, Flundern und Krabben angesehen. Es erinnerte ihn an
die Hafenstädte in Übersee.
Er bedauerte es, dass der Fischmarkt jetzt
geschlossen war. Finanzielle Probleme, vermutlich. Oder Ärger mit
den Gewerkschaften.
Carter hatte zu seiner Zeit eine Menge Probleme mit
den Gewerkschaften gelöst.
Sein Handy läutete. Er schaute auf das
Display.
»Captain«, sagte er mit Respekt in der
Stimme.
Er hörte sorgfältig zu, dann sagte er: »Sicher,
kann ich machen.« Er legte auf und tätigte einen Anruf nach
Übersee.
Carter war froh, dass er eine Weile nirgendwohin
musste. Ein kleines Frachtschiff dampfte den East River hinauf, und
er beobachtete, wie es übers Wasser zog.
»Oui?«, meldete sich eine Stimme vom anderen
Ende der Welt.
Carter begann ein Gespräch, ohne auch nur zu
merken, dass er ins Französische verfallen war.
Kitty erwachte vom Läuten des Telefons.
Sie hob es auf. »Hallo?«
»Kitty«, sagte Peter Larkins Stimme. »Wie geht es
dir?«
Sie hatte jede Menge Bilder von ihm gesehen, ihn
aber nur einmal getroffen, bei der Hochzeit. Sie erinnerte sich
deutlich an ihn: hoch gewachsen, schlank, mit schütterem Haar. Er
ähnelte seinem Bruder nur in der Gesichtsform.
»Ach, Peter, es ist so schrecklich.«
»Kommst du klar?«
»Ich denke schon.« Sie räusperte sich. »Ich habe
gerade geschlafen und von ihm geträumt. Als ich aufgewacht bin, war
einen Moment lang alles in Ordnung. Dann fiel mir wieder ein, was
passiert ist. Es ist so furchtbar. Wie geht es dir denn?«
»Ich darf gar nicht daran denken. Wir haben den
ganzen Flug nicht geschlafen.«
Sie bemitleideten sich noch eine Weile, dann
erklärte Peter, dass sie am Flughafen seien und ihr Gepäck eben
eingetroffen sei. Er und seine Frau würden in ein, zwei Stunden im
Stadthaus sein. Seine Tochter, die in Yale studierte, sei bereits
dort.
Kitty schaute auf die Armbanduhr, die ihr Ron
geschenkt hatte. Sie war schlicht und elegant und wahrscheinlich
zehntausend Dollar wert.
»Am besten, ihr ruht euch heute Nacht aus, und ich
komme in der Früh vorbei.«
»Natürlich. Du hast die Adresse?«
»Ich muss sie irgendwo haben. Ich... ich kann
überhaupt nicht klar denken.«
Er gab sie ihr noch einmal.
»Es wird guttun, dich zu sehen, Kitty.«
»In solchen Zeiten muss eine Familie zusammen
sein.«
Kitty ging ins Badezimmer und wusch sich das
Gesicht mit eiskaltem Wasser, um die letzte Benommenheit nach dem
Aufwachen zu vertreiben.
Sie kehrte ins Zimmer zurück, betrachtete sich im
Wandspiegel und dachte, wie sehr sich ihr Aussehen doch von dem der
Frau unterschied, die sie in Wirklichkeit war. Keineswegs Kitty
Larkin, sondern eine Person namens Priscilla Endicott, ein Name,
der hinter einer endlosen Kette von Decknamen fast verloren
gegangen war.
Aber als professionelle Killerin konnte man es sich
natürlich nicht leisten, man selbst zu sein.
Als Linksradikale, die politische Gewalt
befürwortete – und gelegentlich praktizierte -, war Priscilla nach
dem College nach Übersee gegangen, wo sie zwischen diversen
Untergrundbewegungen hin und her gependelt war, bis sie schließlich
politischen Terroristen in Irland und Italien half. Mit dreißig
jedoch merkte sie, dass mit Politik kein Geld zu verdienen war,
zumindest nicht mit einfältiger kommunistischer und sozialistischer
Politik, und sie beschloss, ihre Talente jenen anzubieten, die
zahlen würden: den Sicherheitsberatern in Osteuropa, dem Nahen
Osten und Afrika. Als selbst das nicht genügend einbrachte,
wechselte sie erneut die Branche und legte sich die völlig neue
Berufsbezeichnung einer »Problemlöserin« zu.
Während sie vor vier Monaten an einem Pool in den
Vereinigten Arabischen Emiraten in der Sonne lag, erhielt sie einen
Anruf von einer vertrauenswürdigen Kontaktperson. Nach einigen
Verhandlungen nahm sie für fünf Millionen US-Dollar den Auftrag an,
Ron Larkin, seinen Bruder und dessen Frau zu ermorden, die drei
Personen, in deren Händen die Leitung der Larkin-Stiftung
lag.
Priscilla hatte ihr Aussehen verändert:
Gewichtszunahme, gefärbte Haare, farbige Kontaktlinsen, gezielte
Collagen-Spritzen. Sie wurde zu Catherine »Kitty« Biddel Simpson,
erfand einen glaubwürdigen Lebenslauf und brachte es fertig, über
einige Wohltätigkeitsveranstaltungen in Los Angeles Ron Larkin nahe
zu kommen. Sie hatte viel Zeit in Afrika verbracht und konnte sich
intelligent über die Region unterhalten. Sie wusste sogar eine
Menge über die Not der Kinder dort, nachdem sie eine Reihe von
ihnen zu Waisen gemacht hatte.
Kitty ließ ihren Charme spielen (und ein paar
andere Fertigkeiten natürlich), sie begannen sich zu treffen, und
Kitty suchte nach einer Gelegenheit, ihren Auftrag zu erfüllen.
Aber es war nicht einfach. Sicher, sie hätte ihn jederzeit töten
können, aber einen so in der Öffentlichkeit stehenden und populären
Mann wie Ron Larkin zu ermorden und seinen Bruder und seine
Schwägerin obendrein und natürlich ungestraft davonzukommen,
war wesentlich schwerer, als sie gedacht hatte.
Doch dann sorgte Larkin selbst für eine Lösung. Zu
ihrer grenzenlosen Erheiterung machte er ihr einen
Heiratsantrag.
Als seine Ehefrau hätte sie unbeschränkten Zugang
zu ihm, ohne seine Personenschützer, und sein Bruder und dessen
Frau würden ihr automatisch vertrauen.
Das Erste, was sie sagte, war: »Ja, Liebling, aber
ich will keinen Cent von deinem Geld.«
»Nun ja...«
»Nein, ich habe das Treuhandvermögen meines
Vaters«, hatte sie erklärt. »Abgesehen davon, Schatz, sind es nicht
die Dollarzeichen, die ich an dir mag, sondern das, was du für
andere Menschen tust. Okay, und du hast einen ganz passablen Körper
für so einen alten Knaben«, hatte sie scherzend hinzugefügt.
Wer hätte unter diesen Umständen Verdacht schöpfen
sollen?
Nach einer Runde ehelichen Glücks (gelegentlicher
Sex, viele reichhaltige Dinner, zahllose fade Geschäftsfreunde) war
es dann Zeit gewesen zu handeln.
Sie waren am Dienstagabend auf dem Flughafen La
Guardia gelandet (da sie mit einer Privatmaschine flogen, konnte
sie ihre Waffen und ihr sonstiges Handwerkszeug mitnehmen), zum
Stadthaus gefahren und zu Bett gegangen. Um halb fünf kleidete sie
sich an, streifte Latexhandschuhe über und schraubte den
Schalldämpfer auf den Lauf ihrer Lieblings-32er. Dann ging sie auf
den Balkon hinaus, in die kühle, elektrisch riechende New Yorker
Morgenluft. Sie verteilte das vorbereitete Spurenmaterial, um die
Polizei in die Irre zu führen, hängte den Enterhaken in die
Brüstung und warf das Seil hinunter. Anschließend kehrte sie zum
Fenster zurück, schlug die Scheibe ein und schoss – sie traf Ron
dreimal und feuerte die vierte und fünfte Kugel in ihr eigenes
Kissen.
Danach rief sie die Notrufnummer und meldete
hysterisch den Überfall. Nachdem sie aufgelegt hatte, schraubte sie
die Rückwand des Fernsehgeräts ab, legte Pistole, Schalldämpfer,
Munition und Handschuhe hinein und ritzte sich mit der Nagelschere
den Arm auf, um das Bruchstück einer Kugel in die Wunde zu rammen.
Dann taumelte sie die Treppe hinab, um auf die Polizei zu warten.
Rons Bruder und Schwägerin würden natürlich möglichst schnell
kommen, und sie würde sie ebenfalls töten und es so aussehen
lassen, als steckte derselbe Täter hinter den Morden.
Alles perfekt geplant …
Aber während ein Plan perfekt sein kann, ist es
seine Ausführung natürlich nie.
Ein echter Auftragskiller – der Kerl im Jeep
– war aufgetaucht und hatte versucht, sie umzulegen. Du meine
Güte.
Sie konnte sich nur denken, dass einer ihrer Feinde
– und davon waren im Lauf der Jahre einige zusammengekommen – sie
in den Nachrichten erkannt hatte, trotz ihres veränderten Aussehens
und obwohl sie es zu vermeiden suchte, in der Öffentlichkeit
fotografiert zu werden.
Oder das Ganze hatte gar nichts mit Priscilla
Endicott zu tun; vielleicht verfolgte der Mann das Ziel, Mrs. Kitty
Larkin zu töten. Vielleicht von einer früheren Geliebten Larkins
angeheuert? Oder einer sitzen gelassenen Freundin?
Sie lachte bitter über die Ironie. Nun beschützten
Polizei und Außenministerium sie vor einem Killer – nur vor einem
anderen, als sie glaubten.
Priscilla wählte eine Nummer auf ihrem Handy (einem
Hoteltelefon würde sie niemals trauen).
»Ja?«, antwortete ein Mann.
»Ich bin’s.«
»Großer Gott, was ist da los? In den Nachrichten
heißt es, jemand ist hinter Ihnen her?«
»Nur die Ruhe.«
»Wer zum Teufel ist er?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe letztes Jahr im
Kongo einen Auftrag erledigt, und eine der Zielpersonen ist
davongekommen. Vielleicht ist er es.«
»Dann hat er also nichts mit uns zu tun?«
»Nein.«
»Aber was unternehmen wir dagegen?«
»Sie klingen, als hätten Sie Panik«, sagte
Priscilla.
»Natürlich hab ich die. Was...«
»Holen Sie tief Luft.«
»Was unternehmen wir?«, wiederholte er und klang
noch panischer als zuvor.
»Ich würde sagen, wir lachen herzhaft
darüber.«
Schweigen. Vielleicht hielt er sie für hysterisch.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er schließlich.
»Unser größtes Problem bestand immer darin, der
Polizei einen weiteren Verdächtigen zu liefern, jemand anderen als
Sie und mich.«
»Richtig.«
»Tja, den haben wir jetzt. Peter und seine
Frau werden in etwa einer Stunde in ihrem Stadthaus sein. Ich
schleiche mich von da, wo ich jetzt bin, fort, töte sie und komme
zurück, bevor mich jemand vermisst. Sie werden glauben, der Kerl in
dem Jeep war es. Er ist nicht dumm. Wenn er hört, dass sie
ihn wegen des Mordes suchen, macht er wahrscheinlich die
Fliege. Mir passiert nichts, Ihnen passiert nichts.«
Der Mann blieb eine Weile still. Dann lachte er
kurz. »Könnte funktionieren«, sagte er.
»Es wird funktionieren. Wie sieht es mit der
zweiten Tranche aus?«
»Ist auf Ihrem Konto.«
»Gut. Ich werde nicht wieder anrufen. Verfolgen Sie
einfach die Nachrichten. Ach ja, eins noch. Ich weiß nicht, ob es
Sie stört... Anscheinend ist Peters Tochter gerade angekommen. Sie
wird bei ihnen sein, wenn ich zu ihnen gehe.«
Der Mann zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort.
»Und wo ist das Problem?«
»Das bedeutet dann wohl, dass es keins gibt«, sagte
Priscilla.
Zwei Stunden später schlüpfte die Frau, unbemerkt
vom Angestellten am Empfang, aus dem Hotel. Sie nahm ein Taxi zu
einer Straßenecke zwei Blocks von Peter und Sandra Larkins
Stadthaus entfernt und ging die restliche Strecke zu Fuß.
Der Reichtum dieser besonderen Zielpersonen mit
ihren Privathäusern in Manhattan war sehr hilfreich. Ungesehen in
ein Gebäude mit Portier zu kommen konnte scheußlich vertrackt
sein.
Sie hielt vor dem Stadthaus und schaute in ihre
Handtasche, um die Waffe zu überprüfen, die sie aus dem Fernseher
in Ron Larkins Schlafzimmer geholt hatte, als sie vorhin zum Packen
dort gewesen war.
Nun stieg sie die Eingangstreppe hinauf und schaute
die Straße hinauf und hinunter. Niemand zu sehen. Sie streifte
Latexhandschuhe über und drückte auf den Klingelknopf.
»Hallo?«, meldete sich Rons Bruder einen Moment
später.
»Peter, hier ist Kitty. Ich muss dich sehen.«
»Ah, Kitty«, sagte der Bruder. »Wir haben dich erst
morgen erwartet. Aber wir freuen uns, dass du hier bist. Komm nach
oben. Wir sind alle im Wohnzimmer. Zweiter Stock. Die Tür ist
offen. Komm rein.«
Das Summen des Türöffners hallte durch die neblige
Nacht.
Priscilla stieß die Tür auf.
Sie ging den Ablauf im Kopf durch. Wenn sie alle
zusammen waren, galt es, das gefährlichste Ziel zuerst und
möglichst schnell auszuschalten: Das wären etwaige Leibwächter. Und
der Freund der Tochter, falls es einen gab. Dann Peter Larkin. Er
war ein kräftiger Mann und konnte eine Gefahr darstellen. Ein
Kopfschuss für ihn. Dann die Tochter, die jünger und vermutlich
sportlicher war. Zuletzt die Frau.
Dann würde sie weitere falsche Spuren hinterlassen,
um diesen Mord mit dem an Ron in Verbindung zu bringen: Das
Anabolikum, die dunklen, gelockten Haare (die sie aus dem Mülleimer
eines Friseurs gestohlen hatte), noch ein wenig Gummiabrieb von dem
Turnschuh, den sie später wegwerfen würde, und etwas von dem Sand
und der Erde, die sie in einem Yachthafen in Los Angeles
zusammengekratzt hatte.
Priscilla fasste zusammen: Ziel suchen, nach Wachen
Ausschau halten, überprüfen, ob es Sicherheitssysteme, spezielle
Kameras gab. Zielen, abdrücken, Kugeln zählen.
Als sie die Treppe hinaufstieg, nahm sie den
modrigen Geruch eines nicht viel benutzten Hauses wahr, aber das
Gebäude war dennoch elegant. Sowohl Peters als auch Rons Vermögen
waren obszön groß. Milliarden. Der Gedanke, dass so viel Geld von
nur zwei Individuen kontrolliert wurde, entfachte ihre latenten
politischen Ansichten über die ungleiche Verteilung des Reichtums
in der Welt neu, trotz der karitativen Bemühungen der beiden.
Dennoch konnte Priscilla Endicott schwerlich länger auf ihrem hohen
moralischen Ross sitzen, denn sie war nun selbst eine reiche Frau –
und es waren ihre Fertigkeiten im Töten, die sie dazu gemacht
hatten.
Sie griff in die Handtasche, holte die Waffe
hervor, löste die Sicherung.
Dann trat sie rasch ins Wohnzimmer, die Pistole
hinter dem Rücken.
»Hallo?«
Sie blieb abrupt stehen und starrte auf den leeren
Raum.
War sie im falschen Zimmer?
Der Fernseher lief. Die Stereoanlage ebenfalls.
Aber keine Menschenseele war hier.
O nein...
Sie wandte sich zur Flucht.
Das war der Moment, in dem die fünf Männer des
Sondereinsatzkommandos aus den beiden Seitentüren stürmten, ihre
Waffen auf sie richteten, schrien, zupackten. In weniger als einer
Sekunde war sie entwaffnet, und dann lag sie mit Handschellen
gefesselt auf dem Boden.
Lincoln Rhyme musterte das Stadthaus vom Gehsteig
aus.
»Ganz nette Bude«, sagte Amelia Sachs.
»Nicht schlecht, ja.« Architektur bedeutete ihm,
genau wie Dekor, nicht viel.
Sellitto sah ebenfalls an dem hohen Gebäude hinauf.
»Himmel. Ich wusste ja, dass sie reich sind, aber... also
wirklich.« Er stand bei dem Lieutenant des Einsatzkommandos, der
die Festnahme geleitet hatte.
Einen Augenblick später ging die Tür auf, und die
Frau, die engagiert worden war, um Ron Larkin sowie dessen Bruder
und Schwägerin zu ermorden, wurde in Handschellen aus dem Gebäude
geführt. Angesichts ihrer Skrupellosigkeit und ihres
Einfallsreichtums hatten Rhyme und Sellitto angeordnet, dass man
ihr zusätzlich Fußfesseln anlegte.
Die Beamten, die sie abführten, blieben stehen, und
der Kriminalist musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Hat sie ihre Rechte vorgelesen bekommen?«, fragte
er einen Angehörigen des Sondereinsatzkommandos.
Der Mann nickte.
Aber die Killerin schien keinen Wert darauf zu
legen, dass ihr Anwalt zugegen war, wenn sie sprach. Sie beugte
sich zu Rhyme hinab und flüsterte heiser. »Wie? Wie zum Teufel
haben Sie das angestellt?«
Die Locard’sche Regel, dachte der Kriminalist. Doch
seine Antwort lautete: »Die Faser. Die Kokosfaser hat mich von
Anfang an misstrauisch gemacht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Amelia fand sie auf dem Balkon«, erklärte Rhyme.
»Ich erinnerte mich, das Logo von Larkin Energy auf der Fußmatte
vor dem Stadthaus gesehen zu haben, als Amelia zur Durchsuchung des
Tatorts dorthin fuhr. Und mir fiel ein, dass Kokosfasern zur
Herstellung von Teppichen und Matten verwendet werden. Amelia
überprüfte es später und stellte fest, dass die Faser tatsächlich
von derselben Matte stammte.
Wie kam nun diese Faser von der Fußmatte auf den
Balkon? Es hätte passiert sein können, als Sie und Ron letzte Nacht
im Haus eingetroffen sind. Sie sagten jedoch, Sie seien nicht
draußen gewesen. Und offenbar waren Sie lange Zeit überhaupt nicht
in dem Haus gewesen – niemand hatte die Pflanzen gegossen. Dasselbe
galt für etwaige Hausmeister. Der geheimnisvolle Mörder? Hätte er
sich in einer belebten Straße die Füße auf der Matte abgetreten, um
anschließend auf die Rückseite des Hauses zu gehen und mit Hilfe
des Seils auf den Balkon zu steigen? Ergab keinen Sinn. Wie also«,
wiederholte er dramatisch, »kam die Faser dort hin?
Ich sage es Ihnen, Kitty: Sie selbst haben sie mit
dem Schuh aufgenommen, als Sie vom Flughafen kamen. Und Sie
haben sie auf dem Balkon zurückgelassen, als Sie heute früh
hinausgingen, um Ron zu töten.«
Sie blinzelte und schüttelte den Kopf, aber Rhyme
sah ihrem gequälten Gesichtsausdruck an, dass seine Worte ziemlich
ins Schwarze getroffen hatten. Sie hatte an beinahe alles gedacht.
Aber wie Locard vielleicht gesagt hätte, beinahe alles ist nicht
gut genug, wenn es um Beweismaterial geht.
»Dann die anderen Hinweise auf dem Balkon. Das
Anabolikum, der Gummiabrieb, die Baumwollfaser, Sand und Erde mit
den Dieselspuren, die Haare. Ich vermutete, Sie selbst hatten sie
deponiert, um die Geschichte von dem muskelbepackten Auftragskiller
zu stützen. Aber bewiesen hat all das etwas anderes.
Deshalb...«
In diesem Augenblick erstarrte Kitty oder wie immer
sie heißen mochte. »Gott, nein. Da ist er! Er wird...«
Rhyme schwenkte in seinem Rollstuhl herum und sah
einen grünen Jeep Cherokee auf sie zukommen und in zweiter Reihe
nicht weit entfernt parken. Ein kräftig gebauter Mann mit
Bürstenschnitt und konservativem Anzug stieg aus. Er klappte ein
Handy zu und näherte sich der Gruppe.
»Nein!«, schrie Kitty.
»Captain«, sagte der Mann und nickte Rhyme zu. Der
Kriminalist fand es amüsant, dass Jed Carter darauf bestand, ihn
mit seinem Rang aus seiner Zeit beim NYPD anzusprechen.
Carter war freiberuflich als Sicherheitsberater für
Firmen tätig, die in Afrika und dem Nahen Osten Geschäfte machten.
Rhyme hatte ihn bei diesem Waffenschieberfall in Brooklyn vor ein
paar Monaten kennengelernt, als der frühere Söldner dem FBI und der
New Yorker Polizei dabei geholfen hatte, den Kopf der
Waffenschmuggler zu verhaften. Carter war ein humorloser und
steifer Mensch – mit einer Vergangenheit, über die Rhyme lieber
nicht zu viel wissen wollte -, aber sein Beitrag zur Festnahme des
Täters war unschätzbar gewesen. (Er schien auch unbedingt für
einige seiner eigenen früheren Missionen in der Dritten Welt
Wiedergutmachung leisten zu wollen.)
Carter schüttelte Sellitto die Hand, dann dem
Leiter des Einsatzkommandos. Er nickte Amelia Sachs respektvoll
zu.
»Was ist hier los?«, stieß Kitty atemlos
hervor.
»Wie Lincoln sagte«, antwortete Sachs, »wir hatten
Sie im Verdacht, aber Ihre Fingerabdrücke waren nirgendwo
gespeichert.«
»Was sich allerdings bald ändern wird«, bemerkte
Sellitto fröhlich.
»Wir hatten also nicht genügend Beweise, um einen
Durchsuchungsbefehl zu bekommen.«
»Eine Faser allein reichte dafür nicht aus. Deshalb
sicherte ich mir die Hilfe von Mr. Carter hier – und von Agent
Norma Sedgwick.«
Norma, vom Sicherheitsdienst des State Department,
arbeitete regelmäßig mit Fred Dellray zusammen. Er hatte mit ihr
Kontakt aufgenommen und erklärt, sie bräuchten jemanden, der
Bodyguard spielte und ihnen half, einen scheinbaren Angriff zu
inszenieren. Sie war einverstanden. Sie ließen die vorgetäuschte
Attacke am Madison Square Park mit Hilfe eines Streifenbeamten über
die Bühne gehen. Ihre Hoffnung war es, weitere Spuren wie die
mutmaßlich auf dem Balkon gelegten zu finden. In diesem Fall
mussten sie von Kitty stammen und würden beweisen, dass sie auf dem
Balkon gewesen war, womit ein Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen
gewesen wäre.
Aber Rhymes Idee hatte nicht funktioniert. Sachs
suchte die Stelle im Madison Square Park ab, wo Kitty gelegen
hatte, ebenso den Lincoln innen und außen, aber sie fand weder
etwas von dem deponierten Beweismaterial noch eine Spur, die sie
mit der Tatwaffe in Verbindung brachte.
Also hatten sie es noch einmal versucht. Rhyme war
zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Koffer durchsuchen mussten.
Sachs rief Norma wegen eines Ortungsgeräts an, das der
vermeintliche Killer angebracht hatte. Während Norma so tat, als
hätte sie unter dem Wagen eines gefunden – es war eine Dose mit
Hautcreme -, hatte Kitty den Inhalt ihres Koffers auf den Rücksitz
geleert, um nach dem Gerät zu suchen.
Nachdem Sachs die beiden vor dem Hotel abgesetzt
hatte, kehrte sie unverzüglich zu dem Wagen zurück und suchte
fieberhaft. Sie fand Spuren eines Anabolikums, noch etwas
dieselgetränkten Sand und Erde und ein weiteres Reiskorn. Wie sich
ironischerweise herausstellte, stammten weder die Reishülse im Seil
noch das Reiskorn im Wagen von einer Lebensmittellieferung nach
Afrika. Ihre Quelle war ein Teelöffel getrockneter Reis in einer
Zierkugel mit Silberband gewesen, ein Souvenir von Kittys und Rons
Hochzeit. Die Frau hatte vergessen, sie aus ihrem Koffer zu
nehmen.
»Detective Sellitto ging daraufhin zum Gericht«,
fuhr Rhyme fort, »und ließ sich eine Durchsuchung und eine
Abhöraktion genehmigen.«
»Eine Abhöraktion?«, flüsterte Kitty.
»Ja. Von Ihrem Handy.«
»Scheiße.« Kitty schloss die Augen und verzog
verbittert das Gesicht.
»O ja«, murmelte Sellitto. »Wir haben das
Arschloch, das Sie angeheuert hat.«
Es war kein Warlord und kein rachsüchtiger
Angestellter, kein Dritte-Welt-Diktator und kein korrupter
Vorstandschef, der Ron und seinen Bruder hatte beseitigen wollen.
Und es war auch nicht der Reverend John Markel, der wegen des
Lederschnipsels, das von einer Bibel hätte stammen können,
kurzzeitig zu den Verdächtigen gezählt hatte.
Nein, Robert Kelsey, der Betriebsleiter der
Stiftung, war der Mann, den Kitty vor einer Stunde angerufen hatte.
Als ihm zu Ohren gekommen war, dass Ron Larkin überlegte, mit
mehreren anderen Stiftungen zu fusionieren, war ihm klar gewesen,
dass es eine vollständige Revision des Betriebs geben würde, und
dabei würde herauskommen, dass er Geld von Warlords und korrupten
Regierungsbeamten in Afrika angenommen hatte. Im Austausch dafür
hatte er ihnen Informationen zukommen lassen, wo und wann die
Schiffe mit den Lebensmittellieferungen anlegten.
O ja. Wir verlieren zehn bis fünfzehn Prozent
unserer Spenden für Afrika durch Diebstahl und Raub.
Zigmillionen...
Er musste sie töten, überlegte er, um eine Fusion
zu verhindern.
Kelsey hatte gestanden, nachdem ihm zugesichert
worden war, dass die Anklage im Prozess nicht auf die Todesstrafe
plädieren würde. Aber er schwor, Kittys wahre Identität nicht zu
kennen. Sachs und Sellitto glaubten ihm. Kitty war nicht dumm und
würde sicherlich mit einer Reihe falscher Identitäten
operieren.
Das war der Grund, warum Rhyme Carter vor kurzem
angerufen hatte; er wollte sehen, ob der frühere Söldner mehr über
sie in Erfahrung bringen konnte. Der Mann berichtete nun: »Ich habe
mit einigen meiner Geschäftspartner in Marseille, Bahrain und
Kapstadt gesprochen, Captain. Sie hören sich mittlerweile um wegen
ihr. Sie glauben, es kann nicht lange dauern, bis sie identifiziert
ist. Ich meine, sie ist nicht gerade der typische Söldner.«
Amen, dachte Lincoln Rhyme.
»Sie machen einen Fehler«, knurrte Kitty ihn an.
Was entweder heißen konnte, er hatte die Falsche, oder dass es dumm
und gefährlich war, ihr in die Quere zu kommen.
Was immer sie ihm sagen wollte, Rhyme interessierte
ihre Meinung nicht.
Lon Sellitto eskortierte sie zu einem Streifenwagen
und stieg in seinen eigenen Crown Victoria. Das ganze Gefolge fuhr
in das Polizeigefängnis im Süden Manhattans.
Kurz darauf waren auch alle Angehörigen des
Sondereinsatzkommandos verschwunden. Jed Carter versprach
anzurufen, sobald er Neuigkeiten über Kittys wahre Identität hätte.
»Auf Wiedersehen, Captain. Madam.« Er schlenderte zu seinem grünen
Jeep.
Rhyme und Sachs waren allein auf der Straße.
»Okay«, sagte er und meinte damit: Fahren wir nach Hause. Er hatte
Lust auf den Glenmorangie Whiskey, den ihm Thom im Vorfeld der
Aktion hier verweigert hatte. (»Es ist ja nicht so, als müsste ich
Mann gegen Mann kämpfen.« Trotzdem hatte der Assistent, wie so
häufig, gewonnen.)
Er bat Sachs jetzt, Thom anzurufen, der ein Stück
entfernt in Rhymes speziell angefertigtem Van wartete.
Sachs runzelte jedoch die Stirn. »Wir können leider
noch nicht fahren.«
»Wieso nicht?«
»Es gibt da ein paar Leute, die dich treffen
wollen. Ron Larkins Bruder und seine Familie.« Man hatte sie bei
Kittys Eintreffen von bewaffneten Wachen nach oben in ein anderes
Zimmer bringen lassen. Sachs blickte zu dem Fenster im dritten
Stock hinauf und winkte dem Paar mittleren Alters zu, das gerade zu
ihr und Rhyme herunterschaute.
»Muss das sein?«
»Du hast ihnen das Leben gerettet, Rhyme.«
»Und reicht das nicht? Muss ich jetzt außerdem noch
Small Talk machen?«
Sie lachte. »Nur fünf Minuten. Den Leuten wird es
sehr viel bedeuten.«
»Na gut, ich würde es ja gern tun«, sagte er und
lächelte ziemlich unaufrichtig. »Aber das ist nicht gerade ein
rollstuhlgerechter Zugang hier.« Er nickte in Richtung
Treppe.
»Ach, mach dir darüber keine Sorgen«, erwiderte
Sachs und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin überzeugt,
sie kommen gern zu uns runter.«