Die Vernehmung
»Er ist im letzten Raum.«
Der Mann nickte dem Sergeant zu und ging weiter den langen Korridor mit dem Gitterboden entlang. Die Wände waren aus gelbem Löschbeton, aber der Flur erinnerte ihn an ein von Ziegeln und Ruß geprägtes altes englisches Gefängnis.
Als er sich dem Raum näherte, hörte er irgendwo in der Nähe eine Glocke, ein zartes Läuten. Er kam regelmäßig hierher, aber in diesem Teil des Gebäudes war er seit Monaten nicht gewesen. Das Geräusch war ihm nicht vertraut, und trotz des fröhlichen Geklingels fand er es merkwürdig beunruhigend.
Er hatte die halbe Länge des Korridors zurückgelegt, als ihm der Sergeant nachrief. »Captain?«
Er drehte sich um.
»Das war gute Arbeit von euch. Dass Sie ihn geschnappt haben, meine ich.«
Boyle, der einen dicken Aktenordner unter dem Arm trug, nickte und setzte seinen Weg durch den fensterlosen Korridor zu Raum I-7 fort.
Durch das quadratische Fenster sah er einen gutmütig wirkenden Mann von etwa vierzig, nicht groß, nicht klein, dichtes Haar, grau durchsetzt. Die belustigt schauenden Augen hielt er auf die Wand gerichtet, die ebenfalls aus Löschbeton war. Seine Füße steckten in Slippern und waren mit einer Kette gefesselt, die Hände ebenfalls, die silbrigen Glieder waren durch einen Ring um die Hüfte geschlungen.
Boyle sperrte die Tür auf und öffnete sie. Der Mann grinste und musterte den Detective von Kopf bis Fuß.
»Guten Tag, James«, sagte Boyle.
»Sie sind das also.«
Boyle jagte seit neunzehn Jahren Mörder und brachte sie hinter Schloss und Riegel. In James Kit Phelans Gesicht sah er, was er zu diesem Zeitpunkt bei Männern und Frauen wie ihm immer sah: Überheblichkeit, Zorn, Stolz, Angst.
Das schmale Gesicht mit dem ein, zwei Tage alten, grauschwarz gesprenkelten Bartwuchs, die Augen blau wie holländisches Porzellan.
Etwas fehlte jedoch, stellte Boyle fest. Was war es? Ja, richtig: Hinter den Augen der meisten Gefangenen schimmerte Verwirrung durch. Davon war bei James Phelan nichts zu sehen.
Der Polizist legte die Akte auf den Tisch. Blätterte sie rasch durch.
»Sie sind derjenige«, murmelte Phelan.
»Ach, mir steht nicht das ganze Verdienst allein zu, James. Eine Menge Leute haben nach Ihnen gesucht.«
»Aber es heißt, sie hätten nicht weitergemacht, wenn Sie ihnen nicht Dampf gemacht hätten. Gab kein’ Schlaf für Ihre Leute, soviel ich gehört habe.«
Boyle, Captain und Leiter des Morddezernats, hatte die Soko Granville Park Mord geleitet, die aus fünf Vollzeitmitarbeitern und Dutzenden von teilweise mit dem Fall beschäftigten Beamten bestand (wobei alle anscheinend mindestens zehn, zwölf Stunden am Tag geschuftet hatten). Dennoch hatte Boyle nicht vor Gericht ausgesagt, hatte bis heute nicht mit Phelan gesprochen, hatte ihn nie aus der Nähe gesehen. Er hatte einen sehr gewöhnlich aussehenden Mann erwartet. Boyle war nun überrascht, eine andere Eigenschaft in den blauen Augen zu entdecken. Etwas Unbeschreibbares. Auf den Videos von den Verhören war davon nichts zu sehen gewesen. Was war es nur?
Aber James Phelans Blick wurde sofort wieder rätselhaft, als er Boyles Freizeitkleidung betrachtete. Jeans, Nikes, ein purpurfarbenes Polohemd. Phelan trug einen orangefarbenen Overall.
Jedenfalls, kurz und gut, ich hab sie umgebracht.
»Das ist ein Einweg-Spiegel, oder?«
»Ja.«
»Wer ist auf der anderen Seite?« Er blickte auf den matten Spiegel, ohne auch nur einmal, wie Boyle bemerkte, sein eigenes Spiegelbild anzusehen.
»Manchmal bringen wir Zeugen hierher, damit sie sich unsere Verdächtigen anschauen. Aber jetzt ist keiner da drüben. Wir brauchen niemanden, oder?« Phelan lehnte sich auf dem blauen Fiberglasstuhl zurück. Boyle öffnete sein Notizbuch und holte einen Kugelschreiber hervor. Boyle wog zwanzig Kilo mehr als der Gefangene, das meiste davon Muskeln. Dennoch legte er den Kugelschreiber außer Reichweite des Mannes.
Jedenfalls, kurz und gut...
»Ich suche seit fast einem Monat darum nach, Sie sehen zu dürfen«, sagte Boyle freundlich. »Sie haben einem Treffen bis jetzt nicht zugestimmt.«
Die Urteilsverkündung würde am Montag stattfinden, und nachdem der Richter eines der beiden Urteile, über die er in diesem Augenblick nachdachte, ausgesprochen hatte – lebenslänglich oder Hinrichtung mittels Giftspritze -, würde James Kit Phelan auf Dauer aus der Gastfreundschaft des Countys in die des Staates wechseln.
»›Treffen‹«, wiederholte Phelan. Er schien amüsiert. »Trifft es ›Vernehmung‹ nicht eher? Das haben Sie doch im Sinn, oder?«
»Sie haben gestanden, James. Warum sollte ich Sie vernehmen wollen?«
»Keine Ahnung. Wieso haben Sie – wie oft? – mindestens ein Dutzend Mal meinen Anwalt angerufen, weil Sie mich ›treffen‹ wollten?«
»Nur wegen einiger Punkte, die noch nicht ganz abgeschlossen sind bei dem Fall. Nichts Wichtiges.«
Tatsächlich hielt Boyle seine Aufregung sorgsam verborgen. Er hatte sich schon fast verzweifelt gefragt, ob er jemals Gelegenheit erhalten würde, von Angesicht zu Angesicht mit Phelan zu reden. Je länger die Anfragen des Captains unbeantwortet blieben, desto mehr verstimmte es ihn, dass er nie erfahren würde, was er so unbedingt wissen wollte. Heute war Samstag, und er hatte vor einer Stunde gerade Truthahn-Sandwichs für ein Picknick mit der Familie eingepackt, als der Anruf von Phelans Anwalt gekommen war. Er hatte Judith und die Kinder vorausgeschickt und war mit hundertfünfzig Sachen zum Bezirksgefängnis gerast.
Nichts Wichtiges...
»Ich wollte Sie bis jetzt nicht sehen«, sagte Phelan langsam, »weil ich dachte, Sie wollen sich vielleicht nur, na ja, an meinem Anblick weiden.«
Boyle schüttelte gutmütig den Kopf. Aber er räumte ein, dass er durchaus Grund zu hämischer Freude gehabt hätte. Wenn einem Mord keine unmittelbare Verhaftung folgte, wurde der Fall zu einer bitteren Sache und nahm einen persönlichen Charakter an. Morddezernatsleiter Boyle gegen den flüchtigen, unbekannten Täter.
Der Wettstreit zwischen den beiden Gegnern hatte in der Boulevardpresse und in der Polizeidirektion getobt und – was wichtiger war – in Boyles Kopf. Hinter Boyles Schreibtisch klebte immer noch eine Titelseite der Post an der Wand; von der rechten Seite blickte der dunkelhaarige und dunkelhäutige Boyle finster in die Kamera, auf der linken war ein Phantombild des Polizeizeichners von Anna Devereaux’ Mörder zu sehen. Zwischen den Bildern prangte ein fettgedrucktes, schwarzes »vs.«, und das Foto des Detectives war das weitaus furchteinflößendere der beiden.
Boyle dachte an die Pressekonferenz, die er auf den Tag genau sechs Monate nach dem Mord abgehalten hatte, und in der er der Bevölkerung von Granville versprach, auch wenn die Ermittlungen stecken geblieben seien, würden sie die Hoffnung nicht aufgeben, und der Mörder würde gefasst werden. »Dieser Mann wird nicht davonkommen«, hatte Boyle geschlossen. »Es gibt nur ein denkbares Ergebnis in dieser Angelegenheit, und es wird kein Remis sein, sondern ein Schachmatt.« Die Aussage – die einige Monate später zu einer peinlichen Erinnerung an sein Versagen wurde – war endlich doch noch bestätigt geworden. Und in den Schlagzeilen der Artikel über Phelans Verhaftung hieß es natürlich: SCHACHMATT!
Früher einmal hätte Boyle hochmütig über die Vermutung gespottet, er würde sich an einem gefallenen Gegner weiden wollen. Nun aber war er nachdenklich. Phelan hatte ohne erkennbaren Grund eine wehrlose Frau getötet und sich fast ein Jahr lang dem Zugriff der Polizei entzogen. Es war der schwerste Fall, den Boyle je geleitet hatte, und er war viele Male daran verzweifelt, ob er den Täter finden würde. Aber er hatte gewonnen, bei Gott. Deshalb existierte vielleicht wirklich ein Teil von ihm, der hier war, weil er seine Trophäe begutachten wollte.
... Ich habe sie getötet... Und mehr habe ich nicht zu sagen.
»Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen«, sagte Boyle. »In Ordnung?«
»Darüber reden? Von mir aus. Aber es ist irgendwie langweilig. Ist das nicht die Wahrheit über die Vergangenheit? Dass sie langweilt?«
»Manchmal.«
»Das ist keine sehr gute Antwort. Die Vergangenheit ist langweilig. Punkt. Haben Sie mal auf jemanden geschossen?«
Boyle hatte. Zweimal. Und beide Male tödlich. »Wir sind hier, um über Sie zu reden.«
»Ich bin hier, weil ich erwischt wurde. Sie sind hier, um über mich zu reden.«
Phelan lümmelte sich in seinen Sessel. Die Ketten klirrten leise. Es erinnerte Boyle an die Glocke, die er im Korridor gehört hatte.
Er sah auf den Ordner hinab.
»Also, was wollen Sie wissen?«, fragte Phelan.
»Nur eins«, antwortete Boyle und öffnete die abgegriffene Akte. »Warum haben Sie die Frau getötet?«
»Warum?«, wiederholte Phelan langsam. »Tja, alle fragen mich nach dem Motiv. Also ›Motiv‹... das ist ein großes Wort. Ein Zehn-Dollar-Wort würde mein Vater sagen. Aber ›warum?‹, das trifft die Sache schon eher.«
»Und die Antwort lautet?«
»Warum ist das so wichtig?«
Das war es nicht. Juristisch gesehen. Man muss nur dann ein Motiv feststellen, wenn der Fall vor Gericht geht, oder wenn das Geständnis durch die Beweislage nicht erhärtet oder gestützt wird. Aber man hatte Phelans Fingerabdrücke am Tatort gefunden, und der DNA-Test bestätigte, dass es Phelans Hautpartikel waren, die man unter Anna Devereaux’ perfekt rosa lackierten Fingernägeln hervorgekratzt hatte. Der Richter akzeptierte das Geständnis, ohne dass ein Motiv präsentiert wurde, wenngleich selbst er dem Gefangenen nahelegte, er möge freundlicherweise erklären, weshalb er dieses schreckliche Verbrechen begangen habe. Phelan hatte weiter geschwiegen und sich vom Richter den Schuldspruch vorlesen lassen.
»Wir wollen einfach den Bericht abschließen.«
»›Den Bericht abschließen‹. Na, wenn das kein bürokratischer Scheißdreck ist, dann weiß ich auch nicht.«
Tatsächlich wollte Boyle die Antwort aus einem persönlichen Grund wissen, nicht aus einem beruflichen. Damit er nämlich endlich wieder schlafen konnte. Das Rätsel, warum dieser Herumtreiber und Kleinganove die sechsunddreißigjährige Ehefrau und Mutter getötet hatte, war in seinem Kopf wie ein Tumor gewachsen. Er wachte manchmal auf, weil er daran dachte. Allein in der vergangenen Woche, als es so aussah, als würde Boyle ins Hochsicherheitsgefängnis von Katonah gehen, ohne je einem Treffen mit Boyle zugestimmt zu haben, wachte er mehrmals schweißgebadet aus Albträumen über Phelan auf. Die Träume hatten nichts mit dem Mord an Anna Devereaux zu tun; es handelte sich um eine Folge von quälenden Szenen, in denen der Gefangene Boyle etwas zuflüsterte, Worte, die der Detective unbedingt verstehen wollte, was ihm aber nicht gelang.
»Es macht an diesem Punkt weder für Sie noch für uns irgendeinen Unterschied«, sagte Boyle ruhig. »Aber wir wollen es einfach wissen.«
»›Wir‹?«, fragte der Gefangene geziert, und Boyle kam sich vor, als wäre er bei irgendetwas ertappt worden. »Ich nehme an, ihr habt ein paar Theorien.«
»Eigentlich nicht.«
»Nein?«
Phelan schwang die Kette gegen den Tisch und musterte den Captain weiter mit diesem seltsamen Blick. Boyle war nicht wohl in seiner Haut. Gefangene beschimpften ihn ständig. Gelegentlich spuckten sie ihn an, und manche hatten ihn sogar angegriffen. Aber Phelan setzte nur diese merkwürdige Miene auf – was zum Teufel war es? – und erneuerte sein Lächeln. Er fuhr fort, Boyle zu studieren.
»Das ist ein irres Geräusch, oder, Captain? Die Kette. Hey, mögen Sie Horrorfilme?«
»Manche. Nicht die bluttriefenden.«
Drei klirrende Schläge. Phelan lachte. »Wäre ein guter Soundeffekt für einen Stephen-King-Film, finden Sie nicht? Oder Clive Barker. Ketten in der Nacht.«
»Was halten Sie davon, wenn wir die Fakten noch einmal durchgehen? Was passiert ist. Vielleicht hilft es, Ihr Gedächtnis aufzufrischen.«
»Sie meinen, mein Geständnis? Warum nicht? Ich habe es seit der Anhörung noch nicht gesehen.«
»Ich habe das Video nicht dabei. Wie wär’s, wenn ich einfach die Abschrift vorlese?«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Am 13. September waren Sie in der Stadt Granville. Sie fuhren ein gestohlenes Motorrad vom Typ Honda Nighthawk.«
»Das ist richtig.«
Boyle senkte den Kopf und las in seinem schönsten Gerichtsbariton aus der Abschrift vor. »›Ich fuhr einfach so herum und schaute, was es alles gab. Ich hörte, dass da so ein Jahrmarkt oder ein Volksfest oder was stattfand, und ich habe immer die Musik gehört, wenn ich vom Gas ging. Und der bin ich dann zu diesem Park in der Stadtmitte gefolgt.
Es gab Ponyreiten und alle möglichen Imbiss- und Verkaufsstände und so Zeug. Okay, ich habe also das Motorrad geparkt und mir angeschaut, was so los war. Aber es war langweilig, deshalb bin ich an diesem kleinen Fluss entlangspaziert, und nach einem kurzen Stück ging der Weg in den Wald, und ich hab was aufblitzen sehen, weiß oder bunt, ich weiß nicht mehr. Und ich bin näher hin, und da saß diese Frau auf einem Baumstamm und schaute auf den Fluss. Ich erinnerte mich aus der Stadt an sie. Sie hat in einem Wohltätigkeitsladen im Zentrum gearbeitet. Sie wissen schon, wo man Zeug spendet, das sie dann verkaufen, und das Geld geht an ein Krankenhaus oder was. Ich glaube, sie hieß Anne, Annie oder Anna oder so.‹«
Anna Devereaux …
»›Sie rauchte eine Zigarette, es sah aus, als hätte sie sich davongeschlichen, um eine zu rauchen, als hätte sie allen versprochen, es nicht zu tun, aber sie brauchte einfach eine. Das Erste, was sie tat, als sie mich kommen hörte, war, dass sie die Zigarette auf den Boden fallen ließ und sie austrat. Ohne mich erst anzusehen. Dann hat sie mich angesehen und sah ziemlich erschrocken aus. Ich sagte: ›Hey.‹ Sie nickte, sagte etwas, was ich nicht verstand, und schaute auf die Uhr, als müsste sie dringend irgendwohin. Klar. Sie ging los, und als sie an mir vorbeikam, schlug ich ihr hart an den Hals, und sie stürzte zu Boden. Dann setzte ich mich auf sie, packte dieses Halstuch, das sie trug, und zog es richtig fest zu, ich drückte, bis sie sich nicht mehr rührte, und dann hörte ich noch nicht auf. Das Tuch fühlte sich gut an um meine Handgelenke. Ich stieg von ihr, fand die Zigarette, sie brannte noch. Sie hatte sie nicht richtig ausgedrückt. Ich rauchte sie zu Ende und ging zum Jahrmarkt zurück. Ich aß eine Schaumrolle. Mit Kirschgeschmack. Dann stieg ich auf mein Motorrad und fuhr weiter.
Jedenfalls, kurz und gut, ich habe sie getötet. Ich habe dieses hübsche blaue Halstuch genommen und sie damit erwürgt. Und mehr habe ich nicht zu sagen.‹«
Boyle hatte ähnliche Worte schon hundertmal gehört. Doch nun spürte er etwas, was er seit Jahren nicht gespürt hatte. Es lief ihm eiskalt über den Rücken.
»War es ungefähr so, James?«
»Ja. Stimmt alles. Jedes Wort.«
»Ich bin das Geständnis mit der Lupe durchgegangen, ich bin Ihre Aussage gegenüber den Detectives durchgegangen, ich habe mir dieses Interview angesehen, Sie wissen schon, das Sie mit dieser Fernsehreporterin gemacht haben...«
»Die war ein Fuchs.«
»Aber Sie haben nie ein Wort über das Motiv gesagt.«
Das Klirren wieder. Die Kette um die Hüfte, die wie ein Pendel gegen das metallene Tischbein schlug.
»Warum haben Sie sie getötet, James?«, flüsterte Boyle.
Phelan schüttelte den Kopf. »Ich... Es ist alles so verschwommen.«
»Sie müssen sich ein paar Gedanken darüber gemacht haben.«
Phelan lachte. »Mann, ich habe mir jede Menge Gedanken darüber gemacht. Ich habe tagelang mit diesem Freund von mir darüber gesprochen.«
»Mit wem? Diesem Motorradkumpel?«
Phelan zuckte die Achseln. »Kann schon sein.«
»Wie hieß er gleich noch?«
Phelan lächelte.
Es war bekannt, dass Phelan zwar generell ein Einzelgänger war, aber einige Freunde in einer wilden Bande hatte. Er war nach Zeugenaussagen vor allem in Gesellschaft eines Motorradrockers gesehen worden, der ihn nach dem Mord an Devereaux auch versteckt hatte. Die Identität des Mannes war nie ans Licht gekommen. Boyle hätte ihn gern wegen Beihilfe dranbekommen, war aber zu sehr mit der Ergreifung von Phelan selbst beschäftigt gewesen, als dass er noch Zeit für einen Mitschuldigen gehabt hätte.
»Jedenfalls, kurz und gut«, fuhr Phelan fort, »wir beide ließen eine Flasche hin- und hergehen und haben tagelang darüber geredet. Er ist ein harter Hund, versteh’n Sie, er hat zu seiner Zeit einige Leute vermöbelt. Aber es war immer, weil sie ihm in die Quere kamen. Oder wegen Geld. Oder irgendwas in der Art. Er konnte sich nicht erklären, wieso ich einfach hergehe und die Frau umbringe.«
»Und?«
»Wir sind auf keine Antwort gekommen. Ich will damit nur sagen, es ist nicht so, als hätte ich nicht darüber nachgedacht.«
»Sie trinken also ziemlich viel, oder?«
»Ja, aber an dem Tag, an dem ich sie umgebracht habe, hatte ich außer Limonade nichts getrunken.«
»Wie gut kannten Sie sie? Anna Devereaux?«
»Wie gut ich sie kannte? Ich kannte sie gar nicht.«
»Ich dachte, Sie sagten, Sie hätten sie gekannt.« Boyle schaute auf das Geständnis hinunter.
»Ich sagte, ich hatte sie schon gesehen. So wie ich den Papst mal im Fernsehen gesehen habe. Oder Julia Roberts im Kino. Und ich hab so viel von Sheri Starr, der Porno-Queen, gesehen, wie man sehen kann. Aber das heißt nicht, dass ich die alle kenne.«
»Sie hatte einen Mann und ein Kind.«
»Hab ich gehört.«
Das Klingeln wieder. Es war nicht die Kette. Das Geräusch kam von draußen. Die Glocke, die er gehört hatte, als er in den Korridor mit den Vernehmungsräumen kam. Boyle runzelte die Stirn. Als er Phelan wieder ansah, betrachtete ihn dieser amüsiert. »Das ist der Wagen für die Kaffeepause, Captain. Kommt jeden Vormittag und Nachmittag.«
»Der ist neu.«
»Sie haben ungefähr vor einem Monat damit angefangen. Als sie die Cafeteria dichtgemacht haben.«
Boyle nickte und schaute in sein leeres Notizbuch. »Sie haben davon gesprochen, sich scheiden zu lassen«, sagte er. »Anna und ihr Mann.«
»Wie heißt er?«, fragte Phelan. »Ihr Mann? War das der grauhaarige Typ ganz hinten im Gerichtssaal?«
»Er ist grauhaarig, ja. Er heißt Bob.«
Der Ehemann des Opfers wurde allgemein Robert genannt. Boyle hoffte, dass Phelan irgendwie über die Namensabweichung stolperte und etwas verriet.
»Und Sie glauben also, er hat mich angeheuert, damit ich sie umbringe?«
»Hat er?«
Phelan stöhnte. »Nein.«
Das Tuch fühlte sich gut an um meine Handgelenke...
Robert Devereaux war den ermittelnden Detectives als ein trauernder Ehemann wie aus dem Bilderbuch erschienen. Er hatte einen freiwilligen Lügendetektortest absolviert, und es war unwahrscheinlich, dass er seine Frau wegen einer Versicherungspolice über fünfzigtausend Dollar hätte umbringen lassen. Das gab als Motiv nicht viel her, aber Boyle war entschlossen gewesen, jeder Möglichkeit nachzugehen.
Anna Devereaux. Sechsunddreißig. Beliebt in der Stadt.
Ehefrau und Mutter.
Eine Frau, die es nicht schaffte, mit dem Rauchen aufzuhören .
Ich habe dieses hübsche blaue Halstuch genommen und sie damit erwürgt. Und mehr habe ich nicht zu sagen.
Eine alte Narbe an ihrem Hals – von einem Schnitt, als sie siebzehn gewesen war; sie trug häufig Halstücher, um sie zu verbergen. An dem Tag, an dem sie getötet worden war, im letzten September, war es ein Seidentuch von Christian Dior gewesen, und der Blauton war im Polizeibericht als Aquamarin beschrieben worden.
»Sie war eine gut aussehende Frau, nicht wahr?«, sagte Boyle.
»Ich erinnere mich nicht.«
Die jüngsten Fotos, die beide Männer von Anna Devereaux gesehen hatten, waren beim Prozess vorgelegt worden. Ihre Augen hatten offen gestanden, glasig vom Tod, und ihre Hand mit den langen Nägeln war um Gnade flehend ausgestreckt. Selbst auf diesen Bildern sah man, wie schön sie gewesen war.
»Ich habe nicht mit ihr herumgemacht, falls Sie darauf hinauswollen. Oder es auch nur gewollt.«
Das Profiling hatte keinen Hinweis auf Lustmord ergeben. Phelan zeigte normale heterosexuelle Reaktionen auf Rorschach- und freie Assoziationstests.
»Ich denke nur laut nach, James. Sie gingen also durch den Wald?«
»An dem Tag, an dem ich sie getötet habe? Ich langweilte mich auf dem Jahrmarkt und fing einfach an zu gehen. Schließlich landete ich im Wald.«
»Und da war sie, sie saß da und rauchte.«
»Mhm«, erwiderte Phelan geduldig.
»Was hat sie zu Ihnen gesagt?«
»Ich sagte: ›Hey‹, und sie sagte etwas, das ich nicht verstand.«
»Was ist sonst noch passiert?«
»Nichts. Das war alles.«
»Vielleicht waren Sie wütend, weil Ihnen nicht gefiel, dass sie nur etwas gemurmelt hat.«
»Das war mir egal. Warum sollte mir das etwas ausmachen?«
»Ich habe Sie ein paar Mal sagen hören, was Sie am meisten hassen, ist, wenn man Sie langweilt.«
Phelan blickte auf den Beton. Er schien zu zählen. »Ja. Ich mag es nicht, gelangweilt zu werden.«
»Wie sehr«, fragte Boyle, »hassen Sie es?« Er lachte. »Auf einer Skala von eins bis...«
»Aber man tötet nicht aus Hass. Oh, man denkt daran, Leute zu töten, die man hasst, man redet davon. Aber in Wirklichkeit tötet man nur zwei Arten von Leuten – solche, die man fürchtet, und solche, auf die man wütend ist. Was genau hassen Sie, Detective? Denken Sie einen Moment darüber nach. Bestimmt eine Menge Dinge. Aber Sie würden niemanden deshalb töten, oder?«
»Sie trug Schmuck.«
»Ist das eine Frage?«
»Haben Sie sie beraubt? Und sie getötet, als sie Ihnen ihren Ehe- und Verlobungsring nicht geben wollte?«
»Wenn sie kurz vor der Scheidung stand, warum sollte sie mir ihre Ringe nicht geben?«
Phelan meinte das rein rhetorisch. Um auf den Fehler in Boyles Logik hinzuweisen.
Die Ermittler hatten Raub als Tatmotiv sofort ausgeschlossen. Anna Devereaux’ Geldbörse, die zwei Meter von ihrer Leiche entfernt lag, hatte elf Kreditkarten und hundertachtzig Dollar Bargeld enthalten.
Boyle nahm den Ordner zur Hand, las noch ein wenig darin und warf ihn auf den Tisch.
Warum?...
Es schien angemessen, dass das maßgebliche Wort, wenn es um James Kit Phelans Leben ging, eine Frage war. Warum hatte er Anna Devereaux getötet? Warum hatte er die anderen Verbrechen begangen, für die er verhaftet worden war? Viele von ihnen grundlos. Niemals Mord, aber Dutzende von Körperverletzungen. Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung. Eine Entführung, die zu schwerer Körperverletzung abgeschwächt wurde. Und wer genau war James Kit Phelan eigentlich? Er hatte nie viel über seine Vergangenheit gesprochen. Selbst der Beitrag in Current Affair hatte lediglich zwei frühere Zellengenossen von Phelan für ein Interview vor der Kamera ausfindig machen können. Keine Verwandten, keine Freunde, keine Ex-Frauen, keine Lehrer oder Chefs.
»Was ich Sie sagen höre, James«, konstatierte Boyle, »ist, dass Sie selbst nicht die leiseste Ahnung haben, warum Sie die Frau getötet haben.«
Phelan presste die Handgelenke zusammen und schwang die Kette so, dass sie wieder gegen den Tisch klirrte. »Vielleicht ist es irgendwas in meinem Kopf«, sagte er nach einigem Nachdenken.
Sie hatten die üblichen Tests mit ihm durchgeführt und nichts sonderlich Erhellendes gefunden. Die Polizeipsychologen schlossen, dass »der Gefangene eine ziemlich starke Tendenz dazu zeigt, klassische asoziale Neigungen auszuleben« – eine Diagnose, auf die Boyle mit der Bemerkung reagiert hatte: »Danke, Doc, sein Strafregister sagt dasselbe. Nur nicht auf Fachchinesisch.«
»Wissen Sie«, fuhr Phelan langsam fort, »manchmal habe ich das Gefühl, irgendetwas in mir gerät außer Kontrolle.« Seine blassen Lider schlossen sich über den blauen Augen, und Boyle stellte sich einen Moment lang vor, der Halbmond aus Haut sei durchsichtig und die Augen würden weiter in den kleinen Raum spähen.
»Wie meinen Sie das, James?« Der Captain fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Und fragte sich: Sind wir tatsächlich dabei, dem Verbrechen des Jahrzehnts im County auf den Grund zu kommen?
»Zum Teil könnte es mit meiner Familie zu tun haben. In meiner Kindheit ist ein Haufen Scheiße passiert.«
»Wie schlimm war es?«
»Sehr schlimm. Mein Vater war im Knast. Diebstahl, häusliche Gewalt, Trunkenheit und Ruhestörung. Solche Dinge. Er hat mich viel geschlagen. Er und meine Mutter waren zunächst angeblich ein ganz tolles Paar. Sehr verliebt. So hab ich es gehört, aber so sah es für mich nicht aus. Sind Sie verheiratet, Captain?« Phelan blickte auf seine linke Hand. Dort war kein Ring. Boyle trug nie einen; er hatte es sich zur Regel gemacht, sein Privatleben von der Arbeit zu trennen. »Ja.«
»Seit wann?«
»Zwanzig Jahre.«
»Mann.« Phelan lachte. »’ne lange Zeit.«
»Ich habe Judith kennen gelernt, als ich auf der Polizeiakademie war.«
»Sie waren Ihr ganzes Leben lang Polizist. Ich habe dieses Porträt von Ihnen gelesen.« Er lachte. »In dieser Zeitungsausgabe mit der Schlagzeile, nachdem Sie mich erwischt hatten. ›Schachmatt‹. Das war lustig.« Dann verblasste sein Lächeln. »Wissen Sie, nachdem meine Mutter nicht mehr war, gab es über ein Jahr lang niemanden im Leben meines Vaters. Zum Teil lag es daran, dass er keinen Job lange behielt. Wir sind ständig umgezogen. Wir wohnten in mindestens zwanzig Staaten, locker. In dem Artikel stand, dass Sie den größten Teil Ihres Lebens hier in der Gegend verbracht haben.«
Er öffnet sich, dachte Boyle aufgeregt. Halt ihn bei Laune.
»Ich wohne drei Meilen von hier, in Marymount, seit einundzwanzig Jahren.«
»Da bin ich durchgekommen. Hübscher Ort. Ich habe in vielen Kleinstädten gewohnt. Es war hart. Am schlimmsten war die Schule. Der Neue in der Klasse. Ich wurde immer nach Strich und Faden verprügelt. Hey, das wäre ein Vorteil, wenn man einen Cop als Vater hat. Keiner legt sich mit dir an.«
»Mag sein, aber dafür gibt es ein anderes Problem«, sagte Boyle. »Ich habe den einen oder anderen Feind, wie Sie sich vorstellen können. Deshalb schicken wir die Kinder von einer Schule zur nächsten und versuchen, sie von öffentlichen Schulen ganz fernzuhalten.«
»Sie schicken sie auf Privatschulen?«
»Wir sind katholisch. Sie gehen auf eine kirchliche Privatschule.«
»Die in Granville? Sie sieht wie ein Universitätscampus aus. Muss eine Menge Geld verschlingen. Mann.«
»Nein, sie sind oben in Edgemont. Die ist kleiner, kostet aber immer noch ein hübsches Sümmchen. Hatten Sie je Kinder?«
Phelans Gesicht wurde hart. Sie waren nahe an etwas dran, Boyle spürte es.
»In gewisser Weise.«
Ermutige ihn. Ganz sanft.
»Wie das?«
»Meine Mama starb, als ich zehn war.«
»Das tut mir leid, James.«
»Ich hatte zwei kleine Schwestern. Zwillinge. Sie waren vier Jahre jünger als ich. Ich musste mich ziemlich viel um sie kümmern. Mein Vater, der war, wie gesagt, dauernd unterwegs. Bis ich zwölf war, lernte ich in gewisser Weise, wie es war, Vater zu sein.«
Boyle nickte. Er war sechsunddreißig gewesen, als Jon zur Welt kam. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er wusste, was es hieß, Vater zu sein. Als er Phelan das erzählte, lachte der Gefangene. »Wie alt sind Ihre Kinder?«
»Jonathan ist zehn, Alice neun.« Boyle widerstand dem lächerlichen Drang, die Fotos in seiner Brieftasche zu zeigen.
Phelan wurde plötzlich düster. Die Ketten klirrten.
»Sehen Sie, die Zwillinge wollten immer irgendwas von mir. Spielzeug, meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, dass ich ihnen beim Lesen helfe – ›was heißt das hier?‹... Großer Gott.«
Boyle bemerkte den Zorn in Phelans Miene. Sprich weiter, drängte er lautlos. Er machte sich keine Notizen, aus Angst, das könnte den Gedankenfluss unterbrechen. Der vielleicht zu dem magischen Warum führte.
»Mann, ich bin halb durchgedreht. Und ich musste alles allein machen. Mein Vater hatte ständig eine Verabredung – jedenfalls nannte er es so – oder schlief seinen Rausch aus.« Er blickte rasch auf. »Himmel, Sie wissen nicht, wovon ich rede, oder?«
Boyle war betroffen über die plötzliche Kälte in der Stimme des Gefangenen.
»Sicher weiß ich das«, sagte der Captain aufrichtig. »Judith arbeitet. Oft muss ich mich dann um die Kinder kümmern. Ich liebe sie und alles – so wie Sie bestimmt Ihre Schwestern liebten – aber, Mann, es ist ganz schön anstrengend.«
Phelan war einen Moment lang in Gedanken woanders. Augen, so glasig wie die von Anna Devereaux. »Ihre Frau arbeitet also? Meine Mama wollte auch immer arbeiten. Aber Vater ließ sie nicht.«
Er nennt seine Mutter »Mama«, aber bei seinem Vater benutzt er den formaleren Ausdruck. Was sagt mir das?
»Sie stritten die ganze Zeit deshalb. Einmal brach er ihr den Unterkiefer, als er sie dabei erwischte, wie sie die Stellenanzeigen durchsah.«
Und als sie an mir vorbeikam, schlug ich ihr hart an den Hals, und sie stürzte zu Boden.
»Was arbeitet Ihre Frau?«, fragte Phelan.
»Sie ist Krankenschwester. Im St. Mary’s.«
»Das ist ein guter Job«, sagte Phelan. »Meine Mutter mochte Menschen und half ihnen gern. Sie wäre eine gute Krankenschwester gewesen.« Seine Miene verdüsterte sich wieder. »Wenn ich dran denke, wie oft Vater sie geschlagen hat... Deshalb fing sie an, Tabletten zu nehmen und so Zeug. Und sie hörte nie mehr auf damit. Bis sie starb.« Er beugte sich vor und flüsterte: »Aber wissen Sie, was das Furchtbare dabei ist?« Er wich Boyles Blick aus.
»Was, James? Sagen Sie es mir.«
»Manchmal habe ich das Gefühl... Also, ich geb irgendwie meiner Mutter die Schuld an allem. Wenn sie nicht so wegen einem Job rumgejammert hätte, wenn sie einfach damit zufrieden gewesen wäre, daheim zu bleiben... bei mir und den Mädchen geblieben wäre, dann hätte Dad sie nicht schlagen müssen.«
Dann setzte ich mich auf sie, packte dieses Halstuch, das sie trug, und zog es richtig fest zu, ich drückte, bis sie sich nicht mehr rührte, und dann hörte ich noch nicht auf.
»Und sie hätte nicht angefangen, zu trinken und diese Tabletten zu nehmen, und sie wäre immer noch da.« Er schluckte. »Ich fühle mich manchmal gut, wenn ich daran denke, wie er sie schlug.«
Das Tuch fühlte sich gut an um meine Handgelenke.
Er stieß die Luft aus den Lungen. »Ist nicht schön, so was zu sagen, oder?«
»Das Leben ist nicht immer schön, James.«
Phelan sah zur Decke und schien die Akustikfliesen zu zählen. »Himmel, ich weiß gar nicht, wieso ich das alles erzähle. Es war... einfach irgendwie da. Was mir so durch den Kopf ging.« Er wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber dann, und Boyle wagte es nicht, seine Gedankenkette zu unterbrechen. Als der Gefangene wieder sprach, klang er fröhlicher. »Unternehmen Sie manchmal was mit Ihrer Familie, Captain? Das war, glaub ich, das Schlimmste von allem. Wir haben verdammt noch mal nie irgendwas zusammen gemacht. Nicht einmal in Urlaub gefahren, nicht einmal zu einem Footballspiel oder so gegangen.«
»Wenn ich jetzt nicht hier mit Ihnen reden würde, wären wir alle zusammen bei einem Picknick.«
»Ja?«
Boyle fürchtete einen Moment lang, Phelan könnte eifersüchtig auf Boyles Familienleben sein. Aber die Augen des Gefangenen leuchteten. »Das ist schön, Captain. So habe ich mir unsere Familie immer vorgestellt – meine Mama, Vater, wenn er nicht trank, und die Zwillinge. Wie wir einen Ausflug machen, so wie Sie es gerade erzählt haben. Ein Picknick irgendwo in einem Stadtpark, vor dem Orchesterpavillon, Sie wissen schon.«
Und ich habe immer die Musik gehört, wenn ich vom Gas ging. Und ich folgte ihr zu diesem Park in der Stadtmitte.
»Hatten Sie das vor mit Ihrer Familie?«
»Na ja, wir sind mehr von der ungeselligen Sorte«, sagte Boyle lachend. »Wir meiden Menschenmengen. Meine Eltern haben ein kleines Haus nördlich von hier.«
»Ein Einfamilienhaus?«, fragte Phelan bedächtig und stellte es sich vielleicht vor.
»Am Taconic Lake. Da fahren wir normalerweise hin.«
Der Gefangene verstummte für eine Weile. »Wissen Sie, Captain, ich habe so eine verrückte Vorstellung«, sagte er schließlich, und seine Augen zählten die Betonblöcke. »Wir haben alle dieses ganze Wissen in unserem Kopf. Alles, was die Menschen je wussten. Oder in der Zukunft wissen werden. Zum Beispiel, wie man ein Mastodon tötet, ein atomgetriebenes Raumschiff baut oder in einer anderen Sprache spricht. Es ist alles da, im Kopf von allen Menschen. Sie müssen es nur finden.«
Was will er damit sagen?, fragte sich Boyle. Dass ich weiß, warum er es getan hat?
»Und man findet dieses ganze Zeug, indem man sehr still sitzt, und dann kommt der Gedanke. Peng, und er ist einfach da. Passiert Ihnen das manchmal?«
Boyle wusste nicht, was er sagen sollte. Aber Phelan schien gar keine Antwort zu erwarten.
Draußen im Korridor näherten sich Schritte und entfernten sich wieder.
Jedenfalls, kurz und gut, ich hab sie getötet. Ich nahm dieses hübsche blaue Halstuch...
Phelan seufzte. »Es ist nicht so, als hätte ich euch allen etwas verschweigen wollen. Ich kann euch nur wirklich die Antworten nicht geben, die ihr hören wollt.«
Boyle schloss das Notizbuch. »Ist schon in Ordnung, James. Sie haben mir eine Menge erzählt. Ich weiß es zu schätzen.«
Ich habe dieses hübsche blaue Halstuch genommen und sie damit erwürgt. Und mehr habe ich nicht zu sagen.
 
»Ich hab’s«, verkündete Boyle am Münztelefon. Er stand in dem schlecht beleuchteten Flur vor der Cafeteria des Gerichtsgebäudes, wo er mit einigen der anderen Beamten aus dem Phelan-Team gerade einen Lunch zur Feier des Tages eingenommen hatte.
»Jawohl!«, drang die begeisterte Stimme des Bezirksstaatsanwalts aus dem Telefon. Die meisten leitenden Strafverfolger hatten gewusst, dass Boyle die letzte Vernehmung von James Phelan vornehmen würde, und gespannt auf die Beantwortung der Frage gewartet, warum er Anna Devereaux getötet hatte. Es war zu der Frage schlechthin in der Dienststelle der Bezirksstaatsanwaltschaft geworden. Boyle hatte sogar das Gerücht gehört, einige Leute würden eine makabre Wette organisieren und hohe Summen auf die richtige Antwort setzen.
»Es ist kompliziert«, fuhr Boyle fort. »Ich glaube, es war so, dass wir ihn einfach nicht ausreichend psychologisch getestet haben. Es hat mit dem Tod seiner Mutter zu tun.«
»Phelans Mutter?«
»Ja. Er hat einen Tick, was Familie angeht. Er ist wütend, weil ihn seine Mutter verließ, indem sie starb, als er zehn war, und er musste seine Schwestern großziehen.«
»Wie bitte?«
»Ich weiß, es klingt nach Psychogeschwätz. Aber es passt alles. Rufen Sie Dr. Hirschhorn an. Lassen Sie ihn...«
»Boyle, Phelans Eltern leben noch. Beide.«
Schweigen.
»Boyle? Sind Sie noch da?«
Nach einem Moment: »Fahren Sie fort.«
»Und er war ein Einzelkind. Er hatte keine Schwestern.«
Boyle drückte geistesabwesend den Daumen auf die Chromtastatur des Fernsprechers und hinterließ ein Muster breiter Fingerabdrücke auf dem kalten Metall.
»Und seine Eltern... Sie haben sich schwer verschuldet, um Ärzte und Anwälte zu bezahlen, die ihm helfen sollten. Das sind Heilige... Captain? Sind Sie noch da?«
Warum log Phelan? War das alles nur ein großer Witz? Er ging die Ereignisse im Geist noch einmal durch. Ich ersuche ein Dutzend Mal um ein Treffen. Er lehnt bis unmittelbar vor der Urteilsverkündung ab. Dann stimmt er zu. Aber wieso?
Warum?...
Boyle schoss plötzlich in die Höhe, seine kräftige Schulter rammte die Wand der Telefonbox.
Verzweifelt legte er die linke Hand an die Wange und schloss die Augen, als ihm klar wurde, dass er Phelan gerade die Namen sämtlicher Mitglieder seiner Familie verraten hatte. Wo Judith arbeitete, wo die Kinder zur Schule gingen.
Großer Gott, er hat ihm gesagt, wo sie im Augenblick waren! Allein am Taconic Lake.
Der Captain starrte sein verzerrtes Spiegelbild im Chromgehäuse des Telefons an und begriff die Ungeheuerlichkeit dessen, was er getan hatte. Phelan musste das Ganze seit Monaten geplant haben. Deshalb hatte er nichts über das Motiv herausgerückt: Um Boyle mit hineinzuziehen, um den Captain selbst begierig auf ein Gespräch zu machen, damit er ihm Informationen entlocken und die Botschaft übermitteln konnte, dass seine Familie in Gefahr war.
Halt, beruhige dich. Er ist eingesperrt. Er kann niemandem etwas tun. Er kommt nicht raus …
O nein...
Boyles Eingeweide wurden zu Eis.
Phelans Freund, der Motorradrocker! Angenommen, er wohnte nicht weit von hier, dann konnte er in dreißig Minuten am Taconic Lake sein.
»Was zum Teufel wird da gespielt, Boyle?«
Die Antwort auf die Frage nach Phelans Motiv für den Mord an Anna Devereaux war bedeutungslos. Die Frage selbst war die letzte Waffe des Mörders – und er setzte sie gegen den Polizisten ein, der ihn wie besessen gejagt hatte.
Warum, warum, warum...
Boyle ließ den Hörer fallen und rannte den Flur entlang zum Gefangenentrakt. »Wo ist Phelan?«, schrie er.
Der Wärter sah den aufgelösten Captain verwundert an. »Da, in der Arrestzelle, Captain. Sie können ihn sehen.«
Boyle schaute durch das Doppelglas auf den Gefangenen, der ruhig auf einer Bank saß.
»Was hat er getan, seit ich weggegangen bin?«
»Gelesen, sonst nichts. Ach ja, und er hat ein paar Mal telefoniert.«
Boyle warf sich über den Schreibtisch und griff nach dem Telefon des Wärters.
»He!«
Er hämmerte die Nummer des Hauses am See in die Tasten. Es begann zu läuten. Dreimal, viermal …
Und genau in diesem Augenblick sah Phelan Boyle an und lächelte. Er formte ein Wort mit den Lippen. Natürlich konnte es der Captain durch das Panzerglas nicht hören, aber er wusste mit absoluter Sicherheit, was der Mann gerade gesagt hatte: »Schachmatt.«
Boyle ließ den Kopf auf den Hörer sinken und flüsterte wie ein Gebet: »Geh ran, bitte, geh ran.« Das Telefon läutete und läutete.