Der Nachahmungstäter
Detective Quentin Altman schaukelte nach hinten, und sein Stuhl quietschte, das verräterische Ächzen in die Jahre gekommener Behördenmöbel. Er beäugte den schmalen, nervösen Mann, der ihm gegenübersaß. »Fahren Sie fort«, sagte der Polizist.
»Ich sehe mir also dieses Buch aus der Bücherei an, nur so, zum Spaß. Das tue ich sonst nie, ein Buch nur so zum Spaß lesen. Ich habe nicht viel Freizeit, wissen Sie?«
Altman hatte es nicht gewusst, aber er hätte es sich ohne Weiteres denken können. Wallace Gordon war der einzige Polizeireporter von Greenvilles Tribune, und der Anzahl der Artikel nach zu urteilen, die täglich unter seinem Namen erschienen, musste er sechzig, siebzig Stunden die Woche Texte herunterschreiben.
»Ich lese so dahin und...«
»Was lesen Sie?«
»Einen Roman – einen Krimi. Dazu komme ich noch … Ich lese also so dahin, und ich bin irritiert«, fuhr der Reporter fort, »denn irgendwer hatte ganze Passagen angestrichen. In einem Buch aus der Bücherei.«
Altman brummte zerstreut. Er war der Leiter des Morddezernats in einem Bezirk, der den Namen einer Kleinstadt trug, aber die Verbrechensstatistik einer Großstadt aufwies. Der etwas über fünfzig Jahre alte Detective war sehr beschäftigt und hatte wenig Zeit für Reporter mit aberwitzigen Theorien. Auf seinem Schreibtisch lagen zweiundzwanzig Mappen mit aktuellen Fällen, und dieser Wallace tischte ihm hier irgendeine unausgegorene Geschichte über verunstaltete Bücher auf.
»Erst achte ich nicht sehr darauf, aber dann blättere ich zurück und lese einen der angestrichenen Absätze noch einmal. Es erinnert mich an etwas. Jedenfalls schaue ich bei den Leichen nach...«
»Bei den Leichen?« Altman runzelte die Stirn und rieb sich das drahtige, rote Haar, das nicht eine graue Strähne aufwies.
»Unsere Leichen, nicht Ihre. Das Archiv. Die ganzen alten Artikel.«
»Verstehe. Wie wär’s, wenn Sie endlich zur Sache kämen?«
»Ich lande bei den Artikeln über den Mord an Kimberly Banning.«
Quentin Altmans Aufmerksamkeit wuchs. Die achtundzwanzigjährige Kimberly war vor acht Monaten erdrosselt worden. Der Mord war zwei Wochen nach einem ähnlichen Tötungsdelikt – an einer jungen Studentin – geschehen. Die beiden Morde schienen das Werk derselben Person zu sein, aber es gab nur wenige Spuren und kein feststellbares Motiv. Der Fall führte zur Bildung einer Sonderkommission, aber irgendwann schieden alle Verdächtigen als Täter aus, und der Fall wurde kalt.
Der große und hagere Reporter Wallace, aus dessen blasser Haut Sehnen und Adern hervortraten, versuchte – zumeist erfolglos – sein furchteinflößendes Aussehen mit braunen Tweedsakkos, Cordhosen und pastellfarbenen Hemden abzumildern. Er fragte den Detective nun: »Erinnern Sie sich, wie die ganze Stadt nach dem Mord an dem ersten Mädchen durchdrehte? Wie alle ihre Türen doppelt abschlossen und keine Fremden ins Haus ließen?«
Altman nickte.
»Nun, sehen Sie sich das an.« Der Reporter zog Latexhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über.
»Wozu die Handschuhe, Wallace?«
Der Mann ignorierte die Frage und holte ein Buch aus seiner abgenutzten Aktentasche. Altman erhaschte einen Blick auf den Titel. Zwei Tode in einer Kleinstadt. Er hatte noch nie davon gehört.
»Dieses Buch wurde sechs Monate vor dem ersten Mord veröffentlicht.« Er öffnete es an einer eingemerkten Stelle und schob es über den Tisch. »Lesen Sie diese Absätze.« Der Detective setzte seine Discounterbrille auf und beugte sich vor.
 
Der Jäger wusste, dass die Stadt nun, da er einmal getötet hatte, wachsamer denn je sein würde. Ihre Seele würde nervöser sein, die kollektiven Nerven angespannt wie die Stahlfedern einer Tierfalle. Frauen würden nicht allein durch die Straßen gehen, und die, die es taten, würden sich pausenlos nach einer möglichen Gefahr umsehen. Nur Narren würden noch einen Fremden in ihr Haus lassen, und der Jäger hatte keine Freude daran, Narren zu töten.
Also wartete er am Dienstagabend, bis es Zeit zum Schlafengehen war – gegen dreiundzwanzig Uhr -, und schlich dann in die Maple Street. Dort tränkte er das Dach eines abgestellten Cabrios mit Benzin und entzündete die beißend riechende, bernsteinfarbene Flüssigkeit. Ein mächtiges Zischen... Er versteckte sich in einem Gebüsch, beobachtete gebannt den Wirbel aus Flammen und schwarzem Rauch, der über dem sterbenden Wagen in den Himmel stieg, und wartete. Nach zehn Minuten donnerten Ungetüme von Feuerwehrautos die Straße entlang, und ihr Sirenengeheul lockte die Menschen aus den Häusern, weil sie sehen wollten, was es Aufregendes gab. Unter den Neugierigen auf dem Gehsteig befand sich auch eine junge, sittsame Blondine mit herzförmigem Gesicht namens Clara Steading. Sie war die Frau, die der Jäger besitzen musste – vollständig besitzen. Sie war die Inkarnation der Liebe, Amore persönlich, sie war Schönheit, sie war Leidenschaft... Und sie war außerdem völlig ahnungslos, was ihre Rolle als das Objekt seiner krankhaften Begierde anging. Clara fröstelte in ihrem Bademantel, während sie inmitten einer Traube aufgeregt schnatternder Nachbarn stand, die alle beobachteten, wie die Feuerwehrleute den Brand löschten und dem bestürzten Besitzer des Wagens, der einige Türen weiter wohnte, Trost zusprachen.
Schließlich begannen sich die Schaulustigen zu langweilen oder wurden von dem bitteren Geruch verbrannten Gummis und Kunststoffs abgeschreckt, und sie kehrten in ihre Betten, zu einem kleinen Mitternachtsimbiss oder ihrem geisttötenden Fernseher zurück. Ihre Wachsamkeit jedoch ließ nicht nach; sobald sie im Haus waren, verriegelten sie alle sorgfältig ihre Fenster und Türen, damit der Würger nicht etwa in ihrem Zuhause ein weiteres Mal zuschlug.
In Clara Steadings Fall hatte die Sorgfalt, mit der sie Riegel und Kette vorlegte, jedoch eine etwas andere Wirkung: Sie schloss den Jäger mit sich ein.
 
»Großer Gott«, murmelte Altman. »Genau so hat es sich im Fall Kimberly Banning abgespielt, genau so ist der Täter ins Haus gekommen. Er hat ein Auto angezündet.«
»Ein Cabrio«, ergänzte Wallace. »Und dann blätterte ich zurück und fand einige angestrichene Passagen. Eine handelte davon, wie sich der Mörder an sein erstes Opfer herangepirscht hatte, indem er so tat, als würde er für die Stadt arbeiten und die Pflanzen in einem Park gegenüber der jungen Frau schneiden.«
Genauso hatte sich der Würger von Greenville an sein erstes Opfer, die hübsche Studentin, herangepirscht.
Wallace wies auf mehrere andere Passagen, die mit Sternchen gekennzeichnet waren. Es gab auch Randnotizen. In einer hieß es: »Überprüfen. Wichtig.« Eine andere Notiz lautete: »Benutzte Ablenkung.« Und »Entsorgung der Leiche. Merken.«
»Der Mörder ist also ein Nachahmungstäter«, murmelte Altman. »Er hat den Roman zur Recherche benutzt.«
Was bedeutete, dass das Buchexemplar möglicherweise Hinweise enthielt, die zum Täter führten: Fingerabdrücke, Tinte, Handschrift. Deshalb die CSI-Handschuhe des Reporters.
Altman betrachtete die melodramatische Umschlagillustration des Romans – die gezeichnete Silhouette eines Mannes, der in das Fenster eines Hauses späht. Der Detective zog selbst Latexhandschuhe an und ließ das Buch in einen Beweismittelumschlag gleiten. Er nickte dem Reporter zu und sagte ein von Herzen kommendes: »Danke. Wir hatten seit mehr als acht Monaten keine Spur mehr in der Sache.«
Dann ging er in das Büro nebenan – das seines Assistenten, eines jungen Detectives mit Bürstenschnitt, der Josh Randall hieß – und wies diesen an, das Buch ins Bezirkslabor zur Analyse zu bringen. Als er zurückkam, saß Wallace immer noch erwartungsvoll auf dem harten Stuhl vor Altmans Schreibtisch.
Altman war nicht überrascht, dass er nicht gegangen war. »Und die Gegenleistung?«, fragte er. »Für Ihre gute Tat?«
»Ich will exklusiv berichten. Was sonst?«
»Dacht ich mir schon.«
Altman hatte theoretisch nichts dagegen. Kalte Fälle waren schlecht für das Image der Polizei, und einen zu lösen war gut für die Karriere eines Polizisten. Ganz davon zu schweigen, dass irgendwo immer noch ein Mörder frei herumlief. Er hatte Wallace jedoch nie gemocht, der auf eine unheimliche Weise ein bisschen wie außer Kontrolle wirkte und so aufreizend war, wie es Kreuzritter meist sind.
»Okay, Sie bekommen die Exklusivrechte. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Altman stand auf, hielt inne. Wartete, dass Wallace ging.
»Oh, ich gehe nirgendwohin, mein Freund.«
»Das ist eine offizielle Ermittlung...«
»Und es wäre keine ohne mich. Ich will diese Geschichte aus der Insidersicht schreiben. Meinen Lesern schildern, wie eine Mordermittlung aus Ihrer Sicht abläuft.«
Quentin Altman argumentierte noch ein wenig, aber letzten Endes gab er nach, weil er merkte, dass er keine Chance hatte. »Also gut. Aber stehen Sie mir nicht im Weg. Wenn Sie das tun, sind Sie raus.«
»Würde mir nicht einfallen.« Wallace runzelte ein unheimliches Aussehen in sein langes, langzahniges Gesicht. »Vielleicht erweise ich mich sogar als nützlich.« Falls es ein Witz gewesen war, hatte er ihn ohne Spur von Humor geäußert. Dann sah er zu dem Detective hinauf. »Und was machen wir nun als Nächstes?«
»Na ja, Sie fassen sich erst mal in Geduld. Ich werde die Akte des Falles noch einmal durchgehen.«
»Aber...«
»Immer mit der Ruhe, Wallace. So eine Ermittlung braucht seine Zeit. Lehnen Sie sich zurück, ziehen Sie Ihr Jackett aus. Genießen Sie unseren fantastischen Kaffee.«
Wallace blickte zu dem Schrank, der als Teeküche des Polizeireviers diente. Er verdrehte die Augen, und statt des unheilvollen Tons von vorhin ließ er nun ein Lachen hören. »Das ist ja lustig. Ich wusste gar nicht, dass man noch löslichen Kaffee kaufen kann.«
Der Detective blinzelte und wankte auf seinen schmerzenden Beinen den Flur entlang.
 
Quentin Altman hatte den Fall des Greenville-Würgers nicht bearbeitet. Er hatte ein wenig daran mitgewirkt – die ganze Polizeibehörde hatte irgendwie damit zu tun gehabt -, aber der leitende Beamte war Bob Fletcher gewesen, ein Sergeant, der seit einer Ewigkeit bei der Truppe war. Fletcher, der nicht wieder geheiratet hatte, seit seine Frau ihn vor einigen Jahren verließ, und kinderlos war, hatte nach der Scheidung sein ganzes Leben der Arbeit gewidmet und schien es sehr schwer zu nehmen, dass es ihm nicht gelungen war, den Fall zu lösen; der freundliche Mann hatte sogar eine hochrangige Position im Morddezernat aufgegeben und war ins Raubdezernat gewechselt. Altman freute sich nun für den Sergeant, dass es eine Chance gab, den Mörder festzunageln, den er nicht zu fassen bekommen hatte.
Altman spazierte mit der Nachricht über den Roman zum Raubdezernat und wollte sehen, ob Fletcher etwas darüber wusste. Der Sergeant war jedoch gerade im Außeneinsatz, deshalb hinterließ Altman eine Nachricht und tauchte dann in das vollgestopfte und bedrückend heiße Archiv ein. Er fand die Akten des Würger-Falls mühelos; die Ordner trugen rote Streifen, eine herbe Erinnerung daran, dass der Fall zwar kalt, aber immer noch offen war.
Nach der Rückkehr in sein Büro lehnte er sich zurück, trank den, ja doch, scheußlichen löslichen Kaffee und las die Akte; Wallace kritzelte unterdessen pausenlos in seinen Stenoblock, und Altman bemühte sich, das nervtötende Kratzgeräusch zu überhören. Die Umstände des Mordes waren gut dokumentiert. Der Täter war in die Wohnungen zweier Frauen eingedrungen und hatte sie erwürgt. Es hatte keine Vergewaltigung, sexuelle Belästigung oder Verstümmelung nach dem Tod gegeben. Keine der Frauen war je von früheren Freunden verfolgt oder bedroht worden, und obwohl Kimberly kurz vor ihrem Tod Kondome gekauft hatte, wusste keiner ihrer Freunde etwas von einer Beziehung. Das andere Opfer, Becky Windham, war nach Aussage ihrer Familie seit über einem Jahr mit niemandem mehr zusammen gewesen.
Sergeant Fletcher hatte eine vorschriftsmäßige Untersuchung durchgeführt, aber die meisten Morde dieser Art, bei denen es weder Zeugen noch ein Motiv oder bedeutende Spuren am Tatort gibt, lassen sich nur mit Hilfe eines Informanten lösen – häufig ein Freund oder Bekannter des Täters. Doch trotz ausführlicher Berichterstattung in der Presse und Fernsehaufrufen des Bürgermeisters und Fletchers hatte sich niemand mit Informationen über mögliche Verdächtige gemeldet.
Eine Stunde später klappte Altman die nutzlose Akte gerade zu, als sein Telefon läutete. Das Labor hatte Vergrößerungen der Handschrift angefertigt und konnte diese jederzeit mit anderswo gefundenen Schriftproben vergleichen; ehe es solche gab, konnten die Beamten jedoch nichts unternehmen.
Die Techniker hatten auch überprüft, ob es Abdrücke gab – um festzustellen, ob der Täter zum Beispiel auf einer Seite etwas auf einen Notizzettel geschrieben hatte -, aber sie waren nicht fündig geworden.
Eine Ninhydrin-Analyse hatte insgesamt fast zweihundert latente Fingerabdrücke auf den drei Seiten mit Kennzeichnungen erbracht und weitere achtzig auf dem Schutzumschlag. Leider waren viele davon alt und unvollständig. Man hatte einige ausfindig gemacht, die ausgeprägt genug waren, um sie identifizieren zu können, und sie durch das zentrale Fingerabdruckarchiv des FBI in West Virginia laufen lassen, aber die Ergebnisse waren jeweils negativ gewesen.
Altman dankte dem Techniker frustriert und legte auf.
»Worum ging es gerade?«, fragte Wallace und blickte neugierig auf das Blatt, das vor Altman lag und sowohl Notizen zu dem eben geführten Gespräch enthielt wie auch eine Reihe zwanghafter Kritzeleien.
Der Detective klärte den Reporter über die forensischen Ergebnisse auf.
»Keine Spuren also«, fasste Wallace zusammen und machte eine Notiz, während der Polizist sich gereizt fragte, ob der Reporter es tatsächlich für nötig hielt, diese Beobachtung aufzuschreiben.
Als er den Zeitungsmann ansah, kam Altman eine Idee, und er stand abrupt auf. »Fahren wir.«
»Wohin?«
»Zu Ihrem Tatort.«
»Zu meinem?«, fragte Wallace und eilte dem Detective hinterher, der bereits aus der Tür war.
 
Die Bücherei nicht weit von Wallace’ Wohnung, in der er sich den Roman Zwei Tode in einer Kleinstadt angesehen hatte, war die Filiale von Greenvilles Stadtteil Three Pines, so benannt, weil der Legende zufolge drei Kiefern in einem Park dort wundersamerweise den Brand von 1829 überlebt hatten, der die Stadt ansonsten restlos vernichtet hatte. Es war eine hübsche Gegend, hauptsächlich von Geschäftsleuten, Geistesarbeitern und Lehrern bewohnt; das College lag nicht weit entfernt (ebenjenes, an dem das erste Opfer studiert hatte).
Altman folgte Wallace ins Gebäude, der Reporter suchte die Filialleiterin und stellte sie dem Detective vor. Mrs. McGiver war eine schlanke Frau, die in modisches Grau gekleidet war; sie sah eher wie die leitende Angestellte eines Hightech-Unternehmens aus als wie eine Bibliothekarin.
Der Detective erklärte ihr den Verdacht, das Buch könnte von einem Nachahmungstäter als Vorlage für die Morde benutzt worden sein. Im Gesicht der Frau spiegelte sich Entsetzen, als ihr klar wurde, dass der Würger in ihrer Bücherei gewesen war. Vielleicht war es sogar jemand, den sie kannte.
»Ich hätte gern eine Liste aller Leute, die das Buch ausgeliehen haben.« Altman hatte auch die Möglichkeit bedacht, dass der Mörder es nicht ausgeliehen, sondern nur hier im Lesesaal durchgesehen hatte. Aber dann hätte er die Passagen in der Öffentlichkeit kennzeichnen müssen und wäre Gefahr gelaufen, dass Büchereiangestellte oder Besucher auf ihn aufmerksam wurden. Er war zu dem Schluss gekommen, der Würger konnte seine Hausaufgaben nur zu Hause gefahrlos gemacht haben.
»Ich will sehen, was ich finde.«
Altman hatte gedacht, es würde Tage dauern, diese Information zu beschaffen, aber Mrs. McGiver war nach zehn Minuten zurück. Der Detective spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Magen, als er die Blätter in ihrer Hand sah, es war der Nervenkitzel der Jagd und die Vorfreude auf eine fruchtbare Spur.
Doch als er die Seiten durchblätterte, zog er die Stirn kraus. Sämtliche der rund dreißig Personen, die Zwei Tode in einer Kleinstadt ausgeliehen hatten, hatten es im letzten halben Jahr getan. Was sie jedoch brauchten, waren die Namen der Leute, die es vor den Morden vor acht Monaten ausgeliehen hatten. Er erklärte es der Bibliothekarin.
»Ach so, aber wir haben keine Aufzeichnungen, die so weit zurückreichen. Normalerweise hätten wir sie natürlich, aber vor etwa sechs Monaten wurde unser Computer mutwillig zerstört.«
»Mutwillig zerstört?«
Sie nickte und runzelte die Stirn. »Jemand hat Batteriesäure oder etwas Ähnliches in die Festplatten geschüttet. Damit waren sie ruiniert und alle unsere Aufzeichnungen vernichtet. Die Sicherungskopien ebenfalls. Ein Kollege von Ihnen hat den Fall bearbeitet, ich weiß nicht mehr, wer.«
»Von der Sache habe ich nichts mitbekommen«, sagte Wallace.
»Man hat nie herausgefunden, wer es war. Es war sehr ärgerlich, aber letzten Endes doch nur eine Unannehmlichkeit. Stellen Sie sich vor, er hätte die Bücher selbst zerstört.«
Altman fing Wallace’ Blick auf. »Sackgasse«, sagte der Polizist verärgert. Dann wandte er sich wieder an die Bibliothekarin. »Wie sieht es mit den Namen aller Leute aus, die zu jenem Zeitpunkt einen Bibliotheksausweis hatten? Waren die ebenfalls im Computer gespeichert?«
Sie nickte. »Alle, die älter als sechs Monate sind, sind ebenfalls weg. Es tut mir leid.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, dankte der Bibliothekarin und machte sich auf den Weg zur Tür. Doch plötzlich blieb er so abrupt stehen, dass Wallace beinahe auf ihn aufgelaufen wäre.
»Was ist?«, fragte der Reporter.
Altman beachtete ihn nicht und eilte zum Zentralschalter zurück. »Mrs. McGiver!«, rief er. »Einen Moment! Sie müssen etwas für mich herausfinden.«
Er erntete finstere Blicke und das eine oder andere harsche Psst von Lesern.
Andrew M. Carter, der Autor von Zwei Tode in einer Kleinstadt, wohnte in Hampton Station in der Nähe von Albany, etwa zwei Autostunden von Greenville entfernt.
Mrs. McGivers Who’s Who der zeitgenössischen Krimiautoren verriet weder genaue Anschrift noch Telefonnummer, aber Altman hatte die Kfz-Zulassungsstelle angerufen, und diese hatte die entsprechenden Angaben besorgt.
Die Idee, die Altman beim Verlassen der Bücherei gekommen war, war die, dass der Mörder einen Fanbrief an Carter geschrieben haben könnte. Vielleicht hatte er geschrieben, um Bewunderung auszudrücken, vielleicht hatte er um weitere Informationen gebeten oder wollte wissen, wie der Autor seine Recherche betrieben hatte. Falls es so einen Brief gab, konnte der Handschriftenexperte bei der Spurensicherung mühelos die Verbindung zu den Anmerkungen im Buch herstellen, und wenn sie Glück hatten, dann hatte der Fan den Brief sogar mit seinem richtigen Namen unterschrieben und seine Adresse angegeben.
Altman drückte im Geiste die Daumen und rief bei dem Autor an. Eine Frau meldete sich. »Ja, bitte?«
»Hier ist Detective Altman von der Polizei Greenville«, sagte er. »Ich würde gern Andrew Carter sprechen.«
»Ich bin seine Frau«, antwortete die Stimme. »Er ist im Augenblick nicht zu sprechen.« Ihr nüchterner Tonfall ließ vermuten, dass das ihre automatische Antwort auf jede solche Anfrage war.
»Und wann wird er zu sprechen sein?«
»Es geht um die Morde, oder?«
»Das stimmt.«
Ein Zögern. »Die Sache ist die...« Sie senkte die Stimme, und Altman hatte den Verdacht, dass ihr nicht zu sprechender Ehemann im Zimmer nebenan war. »Es geht ihm in letzter Zeit nicht gut.«
»Das tut mir leid«, sagte Altman. »Ist es ernst?«
»Na, sicher ist es ernst«, erwiderte die Frau verärgert. »Als sich herumsprach, dass Andys Buch, nun ja, irgendwen dazu inspiriert hat, diese Mädchen zu töten, wurde er echt depressiv. Er hat sich völlig abgekapselt. Er hat aufgehört zu schreiben.« Sie zögerte. »Er hat mit allem aufgehört. Er hat einfach aufgegeben.«
»Das muss schwer gewesen sein, Mrs. Carter«, sagte Altman teilnahmsvoll und dachte, dass der Reporter Wallace wohl nicht der Erste gewesen war, der sich fragte, ob das Buch einen Nachahmungstäter angeregt hatte.
»Sie können sich das gar nicht vorstellen. Ich sagte zu ihm, es sei reiner Zufall, dass diese Frauen so getötet wurden, wie er es in dem Buch beschrieben hat. Nichts als ein verrückter Zufall. Aber diese Reporter und, na, einfach alle, Freunde, Nachbarn... Sie erzählten in einem fort, dass Andy schuld sei.«
Sie würde sicher nicht gern hören, dachte Altman, dass das Buch ihres Mannes wahrscheinlich wirklich das Vorbild für die Morde gewesen war.
»In letzter Zeit ging es ihm wieder besser«, fuhr die Frau fort, »aber alles, was mit dem Fall zu tun hat, könnte ihn erneut zurückwerfen.«
»Das verstehe ich sehr gut, Madam, aber Sie müssen auch meine Lage sehen. Wir haben die Möglichkeit, den Mörder zu fassen, und Ihr Mann könnte eine echte Hilfe sein...«
Altman hörte, wie die Frau die Hand auf den Hörer legte und gedämpft mit jemandem sprach.
Er war nicht überrascht, als sie verkündete: »Mein Mann ist eben zurückgekommen. Ich gebe Sie weiter.«
»Hallo?«, meldete sich eine leise, ängstliche Stimme. »Hier ist Andy Carter.«
Altman identifizierte sich.
»Sind Sie der Polizist, mit dem ich vor einiger Zeit schon gesprochen habe?«
»Ich? Nein. Das wird wohl der Detective gewesen sein, der den Fall damals bearbeitet hat. Sergeant Bob Fletcher.«
»Richtig. So hieß er.«
Fletcher hatte also doch mit dem Autor gesprochen. Er erinnerte sich an keinen entsprechenden Vermerk in der Akte. Er musste ihn übersehen haben. Er wiederholte, was er der Frau des Autors bereits gesagt hatte, und der Mann entgegnete sofort: »Ich kann Ihnen nicht helfen. Und offen gestanden, will ich es nicht … Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.«
»Das verstehe ich, Sir. Aber dieser Mörder läuft noch frei herum und...«
»Aber ich weiß doch gar nichts. Ich meine, was könnte ich Ihnen erzählen, das...«
»Wir besitzen möglicherweise eine Probe von der Handschrift des Mörders – wir haben in einer Ausgabe Ihres Buches Notizen gefunden, die von ihm stammen könnten. Und wir würden sie gern mit Fanbriefen vergleichen, die Sie eventuell bekommen haben.«
Es gab eine lange Pause. »Dann hat er mein Buch also tatsächlich als Vorlage benutzt«, flüsterte der Autor schließlich.
»Es sieht so aus, Mr. Carter«, antwortete Altman mit freundlicher Stimme. »Die angestrichenen Passagen betreffen die Vorgehensweise bei den beiden Morden. Und ich fürchte, sie sind identisch.«
Altman hörte lange Zeit nichts. »Alles in Ordnung, Sir?«, fragte er schließlich.
Der Autor räusperte sich. »Es tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich... es wäre einfach zu viel für mich.«
Quentin Altman erklärte jungen Beamten, die für ihn arbeiteten, häufig, Hartnäckigkeit sei die wichtigste Eigenschaft eines Detectives. Er sagte nun in ruhigem Ton: »Sie sind der Einzige, der uns helfen kann, dieses Buch zum Mörder zurückzuverfolgen. Er hat den Computer der Bibliothek zerstört, deshalb haben wir die Namen der Leute nicht, die es ausgeliehen haben. Es gibt auch keine Fingerabdrücke, die uns weiterhelfen... Ich will diesen Mann unbedingt fassen, Mr. Carter. Und ich vermute, Sie wollen es ebenfalls. Oder etwa nicht?«
Keine Antwort. Schließlich meldete sich die kraftlose Stimme wieder. »Wissen Sie, dass mir wildfremde Leute Zeitungsausschnitte über die Morde geschickt haben? Hunderte. Sie gaben mir die Schuld. Sie nannten mein Buch eine ›Blaupause für Mord‹. Ich musste anschließend einen Monat ins Krankenhaus, weil ich so deprimiert war... Ich soll diese Morde herbeigeführt haben! Verstehen Sie das nicht?«
Altman blickte zu Wallace und schüttelte den Kopf.
Der Reporter bedeutete ihm, er solle ihm den Hörer geben. Wieso nicht?, dachte Altman.
»Mr. Carter, hier ist jemand, mit dem ich Sie gerne sprechen lassen würde. Ich gebe Sie jetzt weiter.«
»Wer?«
Der Polizist reichte Wallace den Hörer, lehnte sich zurück und lauschte der einseitigen Unterhaltung.
»Guten Tag, Mr. Carter.« Das hagere Gesicht des Reporters hing tief über dem Apparat, und er hielt den Hörer mit erstaunlich langen, kräftigen Fingern. »Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Wallace Gordon. Ich bin ein Fan Ihres Buches – es hat mir sehr gut gefallen. Ich bin Reporter bei der Tribune hier in Greenville... Ich weiß. Ich verstehe, wie Sie sich fühlen. Meine Kollegen überschreiten so manche Grenze. Aber so arbeite ich nicht. Und ich weiß, dass es Ihnen widerstrebt, sich in die Geschichte hineinziehen zu lassen. Sie haben sicherlich eine schwere Zeit durchgemacht, aber lassen Sie mich nur eines sagen: Ich bin kein so talentierter Romanautor wie Sie – ich bin nur ein mittelmäßiger Journalist -, aber ich habe das Schreiben zu meinem Beruf gemacht, und wenn es eine wichtige Überzeugung in meinem Leben gibt, dann die, dass wir die Freiheit haben, zu schreiben, was uns bewegt. Nun... Nein, lassen Sie mich bitte zu Ende reden, Mr. Carter. Ich höre, Sie haben nach den Morden aufgehört zu schreiben... Nun, dann waren Sie und Ihr Talent ebenso das Opfer dieser Verbrechen, wie es diese Frauen waren. Sie haben Ihr gottgegebenes Recht ausgeübt, sich auszudrücken, und es kam zu einem schrecklichen Vorfall. So würde ich diesen Verrückten betrachten: eine Tat Gottes. Sie können diesen Frauen nicht mehr helfen. Aber Sie können sich und Ihrer Familie helfen, weiterzumachen... Und es gibt noch etwas zu bedenken: Sie haben es in der Hand, dafür zu sorgen, dass dieser Kerl niemandem mehr Schaden zufügt.«
Altman zog beeindruckt ob der Überredungskünste des Reporters eine Augenbraue hoch. Wallace lauschte eine Weile ins Telefon, nickte dann und sah Altman an. »Er will noch einmal mit Ihnen sprechen.«
Der Detective nahm den Hörer. »Ja?«
»Was genau sollte ich denn tun?«, kam die zögerliche Stimme durch die Leitung.
»Ich müsste nur die Fanpost durchgehen, die Sie wegen des Buchs bekommen haben.«
Ein bitteres Lachen. »Die Briefe, in denen ich beschimpft werde, meinen Sie. Solche habe ich nämlich hauptsächlich bekommen.«
»Was immer Sie bekommen haben. Wir sind vor allem an handschriftlichen Briefen interessiert, damit wir die Handschrift vergleichen können. Aber wir würden auch alle E-Mails gern sehen, die Sie erhalten haben.«
Eine Pause. Würde er doch noch zurückschrecken? »Ich werde ein, zwei Tage brauchen«, hörte ihn der Detective endlich sagen. »Ich habe gewissermaßen aufgehört... Sagen wir einfach, in meinem Arbeitszimmer herrschte zuletzt nicht die allergrößte Ordnung.«
»Kein Problem.« Altman erklärte dem Autor, wie er zum Polizeirevier fand, und bat ihn, Küchenhandschuhe zu tragen und die handgeschriebenen Briefe nur an den Ecken anzufassen, damit er keine Fingerabdrücke verwischte.
»In Ordnung«, sagte Carter bedrückt.
Altman fragte sich, ob er wirklich kommen würde. Er setzte dazu an, dem Schriftsteller zu sagen, wie sehr er seine Hilfe zu schätzen wisse, aber nach einem Moment merkte er, dass der Mann bereits aufgelegt hatte und er ins Leere redete.
 
Andy Carter fuhr tatsächlich nach Greenville.
Wie sich herausstellte, ähnelte er weder einem finsteren Künstler noch einer schillernden Berühmtheit, sondern sah aus wie jeder andere der weißen Männer mittleren Alters, die diese Region im Nordosten bevölkerten. Dichtes, ergrauendes Haar, ordentlich geschnitten. Leichter Bauchansatz (viel leichter als Altmans eigener, dank der Vorliebe des Polizisten für die Braten seiner Frau). Er trug kein Sakko mit Lederflicken am Ellenbogen oder sonstige Schriftstellerkleidung, sondern eine Windjacke von L. L. Bean, ein Polohemd und eine Cordhose.
Es war zwei Tage her, seit Altman mit Carter gesprochen hatte. Jetzt stand der Mann nervös im Büro des Polizisten, nahm den Kaffee, den ihm der junge Detective Josh Randall anbot, und nickte den Beamten und Gordon Wallace zu. Er zog seine Windjacke aus und warf sie auf einen freien Stuhl. Als sein Blick auf Altmans Schreibtisch fiel, blinzelte er, da er die Akte mit der Aufschrift Banning, Kimberly – Mordfall # Nummer 13-04 sah. Ein gequälter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Quentin Altman war froh, dass er die Fotos von der Leiche des Opfers ganz unten in die Mappe gelegt hatte.
Sie machten ein, zwei Minuten Small Talk, dann wies Altman mit einem Kopfnicken auf ein großes, weißes Kuvert in der Hand des Autors. »Sie haben Briefe gefunden, von denen Sie glauben, sie könnten hilfreich sein?«
»Hilfreich?«, fragte Carter und rieb sich die roten Augen. »Ich weiß nicht. Das müssen Sie entscheiden.« Er händigte dem Detective das Kuvert aus.
Altman öffnete das Kuvert, streifte Latexhandschuhe über und zog den Inhalt heraus. Es mussten an die zweihundert Blätter sein.
Der Detective führte die Männer in den Konferenzraum und breitete die Briefe auf dem Tisch aus. Randall gesellte sich zu ihnen.
Manche Briefe waren getippt oder am Computer geschrieben und ausgedruckt – aber sie waren unterschrieben und boten so eine kleine Handschriftenprobe des Absenders. Manche waren kursiv geschrieben, andere in Blockschrift. Sie standen auf vielen verschiedenen Sorten und Größen Papier, waren in vielerlei Tinten- und Kugelschreiberfarben verfasst. Auch mit Malkreiden.
Eine Stunde lang brüteten die Männer, alle mit Gummihandschuhen angetan, über den Briefen. Altman konnte die Bestürzung des Autors verstehen. Viele Briefe waren wirklich bösartig. Zuletzt unterteilte er sie in mehrere Stapel. Zuerst die E-Mails, von denen keine von einem potentiellen Mörder zu stammen schien. Zweitens die handgeschriebenen Briefe, die so wirkten, als seien sie die üblichen harmlosen Lesermeinungen. In keinen von diesen wurde nach Einzelheiten darüber gefragt, wie er für den Roman recherchiert habe, und sie wirkten auch sonst nicht belastend, wenngleich manche wütend und andere verstörend persönlich waren. (»Besuchen Sie uns doch mal in Sioux City, wenn Sie in der Stadt sind, dann verwönen meine Frau und ich Sie hinter dem Wohnwagen mit unserer Spezial-Ganzkörpermasasche.«)
»Igitt«, sagte der junge Randall.
Der letzte Stapel schließlich umfasste, wie Altman erklärte, »Briefe, die vernünftig, ruhig und vorsichtig waren... genau wie der Würger. Er ist ein sehr kontrollierter Täter, verstehen Sie. Er würde nie etwas verraten, indem er herumschwadroniert. Falls er Fragen hat, würde er sie höflich und vorsichtig stellen – er wird Einzelheiten wissen wollen, aber nicht zu viele; das würde Verdacht erregen.« Altman raffte diesen Stapel zusammen – es waren rund zehn Briefe – legte sie in einen Beweismittelumschlag und gab sie dem jungen Detective. »Sofort ins Bezirkslabor damit.«
Ein Mann streckte den Kopf zur Tür herein – Detective Bob Fletcher. Der ruhige, ausgeglichene Sergeant stellte sich Carter vor. »Wir haben uns nie persönlich getroffen, aber ich habe Sie wegen des Falls angerufen«, sagte er.
»Ich erinnere mich.« Sie schüttelten einander die Hände.
Fletcher nickte wehmütig in Richtung Altman. »Er ist ein besserer Polizist als ich. Ich bin nie auf die Idee gekommen, der Mörder könnte Ihnen geschrieben haben.«
Der Sergeant, so stellte sich heraus, hatte nicht wegen Fanpost mit Carter Kontakt aufgenommen, sondern um zu fragen, ob seine Geschichte auf früheren echten Verbrechen basierte, weil er dachte, es könnte zwischen diesen und den Morden des Würgers einen Zusammenhang geben. Es war eine gute Idee gewesen, aber Carter hatte erklärt, die Handlung von Zwei Tode sei ein Produkt seiner Phantasie.
Der Blick des Sergeants fiel auf die Stapel von Briefen. »Hatten Sie Glück?«, fragte er.
»Wir müssen sehen, was das Labor herausfindet.« Altman nickte dann in Richtung des Autors. »Aber Mr. Carter war uns auf jeden Fall eine große Hilfe. Ohne ihn würde es jetzt sicher nicht weitergehen.«
Fletcher musterte Carter vorsichtig und sagte: »Ich muss zugeben, dass ich nie dazu kam, Ihr Buch zu lesen, aber ich wollte Sie immer gern kennenlernen. Ein richtig berühmter Schriftsteller. Ich glaube nicht, dass ich schon mal einem die Hand geschüttelt habe.«
Carter lachte verlegen. »Wenn ich mir meine Verkaufszahlen ansehe, kann es mit der Berühmtheit nicht sehr weit her sein.«
»Tja, ich weiß nur, meine Freundin hat Ihr Buch gelesen, und sie sagte, es sei der beste Thriller seit Jahren gewesen.«
»Das freut mich«, sagte Carter. »Ist sie in der Stadt? Ich könnte ihr Exemplar signieren.«
»Ach so«, erwiderte Fletcher zögernd. »Wir sind nicht mehr zusammen. Sie ist weggezogen. Aber danke für das Angebot.« Er ging zurück zum Raubdezernat.
Sie konnten im Augenblick nichts weiter tun, als auf die Laborergebnisse zu warten, deshalb schlug Wallace vor, dass sie auf einen Kaffee zu Starbucks gingen. Die Männer spazierten die Straße hinunter, bestellten und setzten sich mit ihren Getränken an einen Tisch. Wallace löcherte Carter, auf welche Weise er zum Romanautor geworden war, und Altman genoss einfach das Gefühl der warmen Sonne auf seinem Gesicht.
Die Pause der Männer endete jedoch eine Viertelstunde später abrupt, als Altmans Handy läutete.
»Detective«, meldete sich die begeisterte Stimme seines jugendlichen Assistenten Josh Randall, »wir haben eine Übereinstimmung! Die Handschrift in einem von Mr. Carters Fanbriefen stimmt mit den Anmerkungen an den Seitenrändern des Buchs überein. Die Tinte ist ebenfalls die gleiche.«
»Jetzt sagen Sie bloß noch, auf dem Brief stehen Name und Adresse.«
»Und ob sie draufstehen. Er heißt Howard Desmond. Und er wohnt drüben in Warwick.« Ein kleiner Ort, zwanzig Minuten von Greenville entfernt.
Der Detective wies seinen Assistenten an, möglichst viele Informationen über diesen Desmond zusammenzutragen. Dann klappte er sein Handy zu und verkündete grinsend: »Wir haben ihn gefunden. Wir haben unseren Nachahmungstäter.«
 
Doch wie sich herausstellte, hatten sie ihn keineswegs.
Jedenfalls nicht in Fleisch und Blut.
Der zweiundvierzigjährige Single Howard Desmond, der als Tierpfleger arbeitete, hatte die Stadt vor einem halben Jahr in großer Eile verlassen. Eines Tages hatte er seinen Vermieter angerufen und erklärt, er ziehe aus. Er war praktisch über Nacht gegangen und hatte alles außer seinen Wertsachen zurückgelassen. Es gab keine Nachsendeadresse. Altman hoffte erst, seine Hinterlassenschaft durchsehen zu können, aber der Vermieter erklärte, er habe alles verkauft, als Entschädigung für die entgangene Miete. Was sich nicht verkaufen ließ, hatte er weggeworfen. Der Detective rief die Behörden des Bundesstaats an, um zu sehen, ob sie Informationen über ihn hatten.
Altman sprach außerdem mit dem Tierarzt, in dessen Klinik Desmond gearbeitet hatte, und der Bericht des Doktors ähnelte dem des Vermieters. Desmond hatte im April angerufen und seinen Job mit sofortiger Wirkung gekündigt; er hatte angegeben, nach Oregon zu ziehen, um sich um seine betagte Großmutter zu kümmern. Er hatte nicht, wie angekündigt, noch einmal wegen einer Nachsendeadresse für seinen letzten Gehaltsscheck angerufen.
Der Tierarzt beschrieb Desmond als ruhig und liebevoll zu den Tieren, aber mit wenig Geduld für Menschen.
Altman nahm mit den Behörden in Oregon Kontakt auf und fand keine Howard Desmonds in den Akten der Zulassungsstellen oder in den Steuerlisten. Weitere Nachforschungen ergaben, dass alle Großeltern Desmonds – und seine Eltern ebenfalls – schon seit Jahren tot waren; die Geschichte von dem Umzug nach Oregon war offensichtlich vollkommen erlogen.
Die wenigen Verwandten, die der Detective ausfindig machte, bestätigten, dass er einfach verschwunden war und dass sie nicht wüssten, wo er stecken könnte. Ihre Einschätzung spiegelte die von Desmonds Chef wider: Sie beschrieben den Mann als intelligent, aber verschlossen, jemand, der erkennbar gerne las und sich häufig in Romanen verlor – angemessen für einen Mörder, der seine mörderische Inspiration aus einem Buch bezog.
»Was stand in seinem Brief an Carter?«, fragte Wallace.
Nachdem Altman durch Nicken sein Einverständnis signalisiert hatte, händigte Randall dem Reporter dem Brief aus, der ihn dann laut zusammenfasste. »Er fragt, wie Mr. Carter für sein Buch recherchiert hat. Welche Quellen hat er benutzt? Woher weiß er, wie ein Mörder am wirkungsvollsten tötet? Und er ist neugierig auf das geistige Rüstzeug eines Mörders. Wieso fällt es manchen Leuten leicht, zu töten, während andere unter keinen Umständen jemandem etwas antun könnten?«
Altman schüttelte den Kopf. »Kein Hinweis darauf, wo er stecken könnte. Wir geben seinen Namen in das National Crime Information Center und das Gewalttäterprogramm des FBI ein, aber er kann verdammt noch mal überall sein. Südamerika, Europa, Singapur...«
Da Bob Fletchers Abteilung wahrscheinlich die mutwillige Zerstörung in der Bücherei von Three Pines bearbeitet hatte, für die, wie sie nun sicher waren, Desmonds verantwortlich gewesen war, schickte Altman seinen Assistenten zu dem Sergeant, damit er sich nach Hinweisen erkundigte, die für ihre Ermittlung nützlich sein konnten.
Die anderen Männer starrten unterdessen schweigend auf Desmonds Leserbrief, als sei er eine Leiche und sie die Totenwache.
Altmans Handy läutete. Es war jemand vom Katasteramt des Bezirks, der erklärte, dass Desmonds ein kleines Ferienhaus etwa sechzig Meilen von Greenville entfernt besaß, am Lake Muskegon, in einer abgelegenen, bewaldeten Wildnis.
»Glauben Sie, er versteckt sich dort?«, fragte Wallace.
»Ich schlage vor, wir finden es heraus. Selbst wenn er inzwischen aus dem Bundesstaat verduftet ist, finden wir eventuell Hinweise darauf, wo er sein könnte. Flugtickets oder irgendwas vielleicht, Notizen, Nachrichten auf einem Anrufbeantworter.«
Wallace griff nach seinem Jackett und seinem Reporterblock. »Auf geht’s.«
»Nein, nein, nein«, sagte Altman mit Bestimmtheit. »Sie haben die Exklusivrechte. Aber Sie nehmen nicht an einem gefährlichen Einsatz teil.«
»Nett, dass Sie sich um mich sorgen«, sagte Wallace in säuerlichem Ton.
»Vor allem will ich nicht von Ihrer Zeitung verklagt werden, falls Desmond beschließt, Sie als Zielscheibe zu benutzen.«
Der Reporter schaute böse und ließ sich in einen Bürostuhl sinken.
Josh Randall kam zurück und berichtete, dass Sergeant Bob Fletcher keine Informationen hinsichtlich der Zerstörung in der Bibliothek hatte, die ihnen helfen konnten.
Doch Altman antwortete: »Macht nichts. Wir haben eine bessere Spur. Ziehen Sie sich an, Josh.«
»Wohin fahren wir?«
»Aufs Land. Was sonst an einem so schönen Herbsttag wie heute?«
 
Der Lake Muskegon ist ein ausgedehntes, aber flaches Gewässer, gesäumt von Weiden, hohem Gras und hässlichen Kiefern. Altman kannte ihn nicht sehr gut. Er war mit seiner Familie im Lauf der Jahre ein paar Mal zu einem Picknick hier gewesen, und er und Bob Fletcher hatten einmal einen halbherzigen Angelausflug an den See unternommen, an den er sich nur noch vage erinnerte: graues, regengesprenkeltes Wasser und ein nahezu leerer Fischkorb am Ende des Tages.
Während er mit Randall durch die zunehmend menschenleere Landschaft nach Norden fuhr, gab er dem jungen Mann Instruktionen. »Also, ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Desmond nicht dort ist. Aber was wir als Erstes tun werden, ist, in jedem Schrank nachsehen, ob er sich wirklich nirgendwo versteckt, und dann möchte ich, dass Sie draußen Wache stehen, während ich nach Hinweisen suche. Okay?«
»Klar, Boss.«
Sie fuhren an Desmonds überwucherter Einfahrt vorbei, verließen dann die Straße und stellten den Wagen in einer Gruppe breiter Forsythien ab.
Gemeinsam gingen die Männer die von Unkraut überwucherte Zufahrt zu dem »Ferienhaus« entlang, ein hochtrabender Name für das winzige, heruntergekommene Häuschen, das in einem meterhohen Meer aus Gras und Gestrüpp stand. Ein Pfad war durch das Blätterwerk geschlagen worden – irgendwer war kürzlich hier gewesen, aber es musste nicht Desmond gewesen sein. Altman war selbst einmal ein Teenager gewesen und wusste, dass nichts Jugendliche so anzieht wie leer stehende Häuser.
Sie zogen ihre Waffen, Altman hämmerte an die Tür und rief: »Aufmachen, Polizei.«
Schweigen.
Er zögerte einen Moment, fasste seine Waffe fester und trat die Tür ein.
Das offenbar menschenleere Häuschen war vollgestellt mit billigen, staubbedeckten Möbeln, und es wimmelte von erstarrten Herbstfliegen. Sie sahen sorgfältig in den vier winzigen Räumen nach, ohne eine Spur von Desmond zu entdecken. Draußen schauten sie in die Garage und sahen, dass sie leer war. Dann schickte Altman Randall zur Abzweigung der Zufahrt, wo er sich in den Büschen verstecken und melden sollte, wenn jemand käme.
Er selbst ging ins Haus zurück und begann nach Hinweisen zu suchen, wobei er sich fragte, ob sie ihre vielversprechende Spur schon wieder verloren hatten.
 
Zweihundert Meter von der Einfahrt zu Howard Desmonds Häuschen entfernt fuhr ein verbeulter, zehn Jahre alter Toyota auf das Bankett der Route 207 und kroch dann langsam in den Wald, sodass er von der Straße aus nicht mehr zu sehen war.
Ein Mann stieg aus, überzeugte sich, dass der Wagen gut versteckt war, und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Wald, um sich zu orientieren. Er bemerkte die Wasserlinie des braunen Sees links von sich und rechnete sich aus, dass das Ferienhaus in der Zehn-Uhr-Position vor ihm liegen musste. Er schätzte, dass er durch das dichte Unterholz eine Viertelstunde brauchen würde, um hinzugelangen.
Damit blieb ihm nicht viel Zeit. Er würde sich beeilen müssen, ohne dabei zu viel Lärm zu machen.
Der Mann ging los, aber dann blieb er plötzlich stehen und klopfte sich auf die Tasche. Er war in solcher Hast aufgebrochen, dass er schon nicht mehr wusste, ob er einen bestimmten Gegenstand aus dem Handschuhfach geholt hatte. Ja, er war da.
Vornübergebeugt und sorgsam darauf bedacht, keine Zweige geräuschvoll zu knicken, setzte Gordon Wallace seinen Weg zu der Hütte fort, wo Detective Altman hoffentlich so in seine Polizeiarbeit vertieft sein würde, dass er nicht bemerkte, wie Wallace sich heranschlich.
 
Die Durchsuchung des Hauses förderte praktisch keinen Hinweis darauf zutage, dass Desmond in letzter Zeit hier gewesen wäre – oder wo er jetzt sein könnte. Quentin Altman fand ein paar Rechnungen und Belege über eingereichte Schecks. Aber die Adresse darauf war Desmonds Wohnung in Warwick.
Er beschloss, in der Garage nachzusehen, in der Hoffnung, etwas zu finden, das der Mörder aus dem Wagen geworfen und vergessen hatte – eine Wegbeschreibung vielleicht, eine Karte oder eine Quittung.
Altman entdeckte jedoch etwas weitaus Interessanteres; er fand Howard Desmond selbst.
Das heißt, seine Leiche.
Im selben Augenblick, in dem Altman die altmodischen Doppeltüren der Garage öffnete, nahm er den Geruch verwesenden Fleisches wahr. Er wusste, woher er stammen musste: von einer großen Kohlenkiste an der Rückwand. Er wappnete sich und klappte den Deckel auf.
In der Kiste befanden sich die größtenteils skelettierten Reste eines etwa ein Meter achtzig großen Mannes, der vollständig bekleidet auf dem Rücken lag. Er war seit etwa einem halben Jahr tot – etwa seit der Zeit von Desmonds Verschwinden.
Die DNA-Probe würde endgültig bestätigen, ob es sich um den Tierpfleger handelte, aber Altman entdeckte die Brieftasche des Mannes in dessen Hosentasche, und darin befand sich tatsächlich Desmonds Führerschein.
Der Schädel des Mannes war eingeschlagen worden; die Todesursache war wahrscheinlich eine Kopfverletzung, verursacht durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand. In der Kiste selbst fand sich keine Waffe, aber bei einer Durchsuchung der Garage entdeckte Altman einen schweren Hammer, der in einen Lumpen gewickelt war und am Boden eines Ölfasses voller Müll versteckt lag. An dem Hammer klebten ein paar Haare, die wie Desmonds aussahen. Altman legte ihn auf eine Werkbank und fragte sich, was zum Teufel hier vor sich ging,
Jemand hatte den Würger ermordet. Wer? Und warum? Rache?
Aber dann tat Altman etwas, das er besonders gut konnte – er ließ seiner Phantasie freien Lauf. Zu viele Detectives setzten sich eine Idee in den Kopf und brachten es nicht mehr fertig, über ihre ursprünglichen Schlussfolgerungen hinaus zu denken. Altman dagegen kämpfte immer gegen diese Neigung an, und er fragte sich nun: Was, wenn Desmond nicht der Würger war?
Sie wussten mit Sicherheit, dass er derjenige war, der die Passagen in der Büchereiausgabe von Zwei Tode in einer Kleinstadt angestrichen hatte. Aber was, wenn er es nach den Morden getan hatte? Der Brief, den Desmond an Carter geschrieben hatte, war nicht datiert. Vielleicht hatte er – genau wie der Reporter Gordon Wallace – das Buch nach den Morden gelesen und war über die Ähnlichkeit verblüfft gewesen. Er hatte begonnen, auf eigene Faust zu ermitteln, der Würger hatte es bemerkt und ihn umgebracht.
Aber wer war dann der Mörder?
Genau wie Gordon Wallace es getan hatte...
In Altmans frei schweifenden Gedanken begann ein leises Klopfen, während Bruchstücke von Tatsachen auftauchten – Tatsachen, die alle mit dem Reporter zu tun hatten. Zum Beispiel war Wallace körperlich beeindruckend, schroff, aufbrausend. Zuweilen konnte er regelrecht bedrohlich wirken. Er war von Verbrechen besessen und kannte die Polizei und die forensischen Verfahrensweisen besser als die meisten Polizisten, was auch bedeutete, dass er wusste, wie man den Ermittlern einen Schritt voraus blieb (er hat sich neulich auch ganz schön mitten in den wieder eröffneten Fall gedrängt, dachte Altman). Wallace besaß ein Empfangsgerät, mit dem er den Polizeifunk abhören konnte, und wäre in der Lage gewesen, Gespräche über die Opfer zu belauschen. Seine Wohnung lag ein paar Straßen von dem College entfernt, in dem das erste Opfer getötet worden war.
Angenommen, überlegte der Detective, Desmond hatte die Passagen gelesen, war misstrauisch geworden und hatte sie angestrichen. Dann hatte er vielleicht ein paar Leute angerufen, um mehr über den Fall in Erfahrung zu bringen. Er könnte Wallace angerufen haben, der als Polizeireporter der Tribune eine naheliegende Quelle für weitere Informationen gewesen wäre.
Desmond hatte sich mit dem Reporter getroffen, der ihn dann getötet und die Leiche hier versteckt hatte.
Unmöglich... Wieso, zum Beispiel, hätte Wallace dann die Polizei auf das Buch aufmerksam gemacht?
Vielleicht, um einem Verdacht vorzubeugen?
Altman kehrte zu der widerlichen, improvisierten Gruft zurück, um sie weiter zu untersuchen und vielleicht auf Antworten zu stoßen.
 
Gordon Wallace erspähte Altman in der Garage.
Der Reporter war bis auf gut zehn Meter herangeschlichen und versteckte sich hinter einem Busch. Der Detective machte sich keine Gedanken darüber, ob jemand draußen war; er verließ sich offenbar auf Josh Randall, der mindestens dreißig Meter entfernt am Ende der Auffahrt stand und der Garage den Rücken zukehrte.
Schwer atmend in der herbstlichen Wärme, huschte der Reporter geduckt durch das Gras. Er hielt neben dem Gebäude und spähte zum Fenster an der Seite hinein. Altman stand vor einer Kohlenkiste an der Rückwand und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf einen Gegenstand in seiner Hand.
Perfekt, dachte Wallace, griff in seine Tasche und schlich zu dem offenen Tor, von wo er absolut freie Schussbahn hatte.
 
Der Detective hatte etwas in Desmonds Brieftasche gefunden – eine Visitenkarte – und blickte darauf, als er hinter sich einen Zweig knacken hörte und sich erschrocken umdrehte.
Eine Gestalt stand im Eingang. Sie schien die Hände auf Brusthöhe zu halten.
Geblendet vom Gegenlicht, keuchte Altman: »Wer...?«
Ein greller Blitz erfüllte den Raum.
Der Detective taumelte rückwärts und griff nach seiner Pistole.
»Verdammt«, hörte er eine Stimme, die er kannte.
Altman kniff die Augen zusammen. »Wallace, Sie gottverdammter Hurensohn! Was zum Teufel tun Sie hier?«
Der Reporter schaute finster und hielt seine Kamera in die Höhe. »Ich wollte einen Schnappschuss von Ihnen bei der Arbeit machen. Aber Sie haben sich umgedreht. Sie haben alles ruiniert.«
»Ich habe es ruiniert? Ich habe Ihnen verboten, hierherzukommen. Sie können nicht...«
»Ich habe das verfassungsmäßige Recht, hier zu sein«, brauste Wallace auf. »Pressefreiheit.«
»Und ich habe das Recht, Ihren Arsch ins Gefängnis zu verfrachten. Das hier ist ein Tatort.«
»Deshalb will ich die Bilder ja haben«, antwortete der Reporter gereizt. Dann runzelte er die Stirn. »Was ist das für ein Geruch?« Er ließ die Kamera sinken und begann flacher zu atmen. Er sah aus, als sei ihm übel.
»Das ist Desmond. Er wurde ermordet. Er liegt in der Kohlenkiste.«
»Er wurde ermordet? Dann ist er also nicht der Mörder?«
Altman setzte sein Funkgerät an den Mund. »Wir haben Besucher hier hinten«, bellte er hinein.
»Was?«, kam Randalls Antwort.
»Wir sind in der Garage.«
Der junge Beamte kam einen Moment später angetrabt und sah Wallace verächtlich an. »Wo zum Teufel kommen Sie her?«
»Wie konnte er an Ihnen vorbeikommen?«, fuhr Altman seinen jungen Kollegen an.
»Er kann nichts dafür«, sagte der Reporter und schauderte von dem Geruch. »Ich habe ein Stück entfernt geparkt. Wie wär’s, wenn wir ein bisschen an die frische Luft gingen?«
In seiner Verärgerung empfand Altman eine perverse Freude an dem Unbehagen des Zeitungsmanns. »Ich sollte Sie ins Gefängnis werfen.«
Wallace hielt die Luft an und ging mit erhobener Kamera auf die Kohlenkiste zu.
»Denken Sie nicht mal dran«, knurrte Altman und zog ihn zurück.
»Wer war es?«, fragte Randall und wies mit einem Kopfnicken auf die Leiche.
Altman sagte nicht, dass er noch vor einem Augenblick tatsächlich Wallace selbst in Verdacht gehabt hatte. Unmittelbar vor dem Zwischenfall mit dem Fotoversuch hatte er jedoch einen verblüffenden Hinweis auf den wahrscheinlichen Mörder Desmonds – und der beiden Frauen – gefunden. Er hielt eine Visitenkarte in die Höhe. »Die habe ich bei seiner Leiche gefunden.«
Auf der Karte stand: »Detective Sergeant Robert Fletcher, Greenville Police Department.«
»Bob?«, flüsterte Randall schockiert.
»Ich will es nicht glauben«, murmelte Altman langsam, »aber vorhin im Büro sagte er nichts davon, dass er Desmond auch nur kannte, geschweige denn, dass er ihn einmal getroffen hat.«
»Stimmt.«
»Und Bob macht doch immer diese Metallarbeiten«, fuhr er fort und wies auf den Hammer. »Es ist sein Hobby. Der könnte ihm gehören.«
Randall betrachtete die Mordwaffe voller Unbehagen.
Altmans Herz hämmerte wütend ob des Verrats. Er spekulierte, was passiert sein könnte. Fletcher hatte den Fall absichtlich verpatzt – weil er selbst der Täter war. Wahrscheinlich hatte er alle Hinweise vernichtet, die zu ihm führten. Ein Einzelgänger, mit mehreren kurzen, problematischen Beziehungen, besessen von Gewalt, Militärgeschichte, Artefakten und Jagd... Er hatte sie angelogen, dass er Zwei Tode nicht gelesen habe, sondern es als Vorlage für die Morde an den beiden Frauen benutzt. Dann – nach den Morden – hatte Desmond zufällig ebenfalls das Buch gelesen, die Passagen angestrichen und, als guter Bürger, Kontakt mit dem zuständigen Ermittler aufgenommen, der niemand anderer war als der Mörder selbst. Der Sergeant hatte ihn getötet, die Leiche hier abgeladen und dann den Büchereicomputer zerstört. Natürlich hatte er nie den ernsthaften Versuch gemacht, die mutwillige Zerstörung zu untersuchen.
Plötzlich kam Altman ein beunruhigender Gedanke. Er wandte sich an den Reporter: »Wo war Fletcher, als Sie das Büro verließen? Haben Sie ihn im Revier gesehen?« Die Hand des Detectives ging zu seiner Pistole, er ließ den Blick über das hohe Gras schweifen und fragte sich, ob der Sergeant ihm hierher gefolgt war und sie ebenfalls töten wollte. Fletcher war ein meisterhafter Gewehrschütze.
Wallace antwortete jedoch: »Er war mit Andy Carter im Besprechungszimmer.«
O nein! Altman begriff, dass nicht sie allein in Gefahr waren – auch der Autor war ein Zeuge und damit ein potenzielles Opfer Fletchers. Altman griff nach seinem Handy und rief die Telefonzentrale im Revier an. Er fragte nach Carter.
»Er ist nicht hier«, antwortete die Dienst habende Beamtin.
»Was?«
»Es wurde spät, und er beschloss, sich für die Nacht ein Hotelzimmer zu nehmen.«
»In welchem Hotel?«
»Ich glaube, es war das Sutton Inn.«
»Haben Sie die Nummer?«
»Ja, natürlich. Aber dort ist er im Moment nicht.«
»Wo ist er dann?«
»Er ist essen gegangen. Ich weiß nicht, wohin, aber wenn Sie ihn sprechen müssen, rufen Sie einfach Bob Fletcher auf seinem Handy an. Die beiden sind zusammen gegangen.«
 
Noch zwanzig Minuten bis zur Stadt, wenn sie doppelt so schnell fuhren wie erlaubt.
Altman versuchte erneut, Fletcher auf seinem Handy zu erreichen, aber der Sergeant ging nicht ran. Viel konnte Altman ohnehin nicht tun, höchstens dem Sergeant gut zureden, dass er aufgeben solle, ihn anflehen, Carter nicht zu töten. Er betete, dass es nicht bereits zu spät war.
Noch ein Versuch. Wieder keine Antwort.
Er schoss über die Kreuzung mit der Route 202 und hätte fast einen der in diesem Landstrich allgegenwärtigen Milchtanker gestreift.
»Oh, das war knapp!«, flüsterte Randall und nahm die schweißnassen Hände vom Armaturenbrett, während der Lkw hinter ihnen wütend hupte.
Altman wollte gerade erneut Fletchers Nummer wählen, als eine Stimme aus dem Sprechfunk des Wagens schepperte. »An alle Einheiten. Berichte von Schüssen an der Route Eins-zwanzig-acht, westlich von Ralphs Lebensmittelladen. Ich wiederhole, es gab Schüsse. Alle Einheiten bitte Folge leisten.«
»Glauben Sie, das sind sie?«
»Wir sind drei Minuten entfernt. Wir werden es gleich wissen.« Altman gab ihre Position bekannt und trat das Gaspedal durch. Der Wagen beschleunigte auf hundertsiebzig.
Nach einer kurzen, nervenaufreibenden Fahrt schoss der Wagen über eine Hügelkuppe. »Schauen Sie!«, rief Randall atemlos.
Altman sah Bob Fletchers Dienstfahrzeug halb auf, halb neben der Straße stehen. Er hielt mit blockierenden Reifen in der Nähe, und die beiden Beamten sprangen aus dem Wagen. Wallace, der illegalerweise mit gleicher Geschwindigkeit im Schlepptau von Blaulicht und Sirene hinter ihnen hergerast war, hielt ein Stück hinter ihnen. Der Reporter überhörte Altmans Rufe, er solle im Wagen bleiben, und sprang ebenfalls auf die Straße.
Altman spürte, wie ihn Randall am Arm packte. Der junge Beamte zeigte auf etwas, das rund fünfzehn Meter entfernt auf dem Bankett lag. Im schwindenden Licht konnten sie mit Mühe Andrew Carter mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache liegen sehen.
Verdammt! Sie waren zu spät gekommen. Fletcher hatte den Schriftsteller der Liste seiner Opfer hinzugefügt.
Altman ging neben dem Wagen in die Hocke und flüsterte Randall zu: »Gehen Sie in diese Richtung die Straße entlang, und halten Sie nach Fletcher Ausschau. Er muss irgendwo in der Nähe sein.«
Dann lief er gebückt in Richtung des leblosen Autors, wobei er das Gebüsch zu seiner Linken mit den Augen überflog. Plötzlich hielt er erschrocken den Atem an. Da saß Fletcher auf dem Boden, mit einer Flinte in der Hand.
»Vorsicht!«, schrie er Randall zu und warf sich flach auf die Erde. Doch als er seine Waffe in Richtung Fletcher schwang, bemerkte er, dass sich der Sergeant nicht bewegte. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf ihn. Fletchers Augen waren glasig, auf seiner Brust leuchtete ein Blutfleck.
Wallace hatte sich unterdessen über Carter gebeugt. »Er lebt!«, rief der Reporter.
Der Detective stand auf, zog die Schrotflinte aus Fletchers leblosen Händen und trabte zu dem Schriftsteller. Fletcher hatte ihn angeschossen, er war bewusstlos.
»Bleiben Sie bei uns, Andy!«, rief Altman und presste die Hand auf die blutende Bauchwunde des Mannes. Auf der Kuppe war Blaulicht zu sehen, der Klang der Sirenen kam stetig näher. »Halten Sie durch«, flüsterte er Carter ins Ohr, »halten Sie durch, alles wird gut...«
 
Sein Buch hatte ihm das Leben gerettet, erklärte der Autor mit einem Lachen, das sich in ein Zusammenzucken verwandelte.
Es war der nächste Morgen; Quentin Altman und Carters Frau, eine hübsche Blondine mittleren Alters, standen an seinem Bett im Krankenhaus von Greenville. Fletchers Kugel hatte kein lebenswichtiges Organ getroffen, aber eine Rippe gebrochen, und der Autor hatte trotz der Medikamente starke Schmerzen.
Carter erzählte ihnen, was am Abend zuvor passiert war. »Fletcher schlug vor, dass wir zusammen essen gingen, er würde ein Lokal auf dem Land kennen, wo es ein gutes Barbecue gäbe. Wir fuhren diese verlassene Straße entlang, und ich redete von Zwei Tode und sagte, das sei genau die Art Straße, die ich bei der Szene vor Augen hatte, als der Jäger sein erstes Opfer verfolgt, nachdem er es bei McDonald’s gesehen hatte. Darauf erwiderte Fletcher, er habe sich vorgestellt, dass die Straße durch Maisfelder führt, nicht durch Wald.«
»Aber er hatte zuvor behauptet, er habe das Buch nicht gelesen«, bemerkte Altman.
»Genau... Er merkte, dass er sich verplappert hatte, und wurde sehr still. Ich dachte, da stimmt etwas nicht, und war schon fast im Begriff, aus dem Wagen zu springen. Aber dann zieht er seine Pistole, und ich greife danach, aber er schießt mich trotzdem an. Ich strecke meinen Fuß aus und trete auf die Bremse. Wir kommen von der Straße ab, und er schlägt mit dem Kopf gegen das Fenster oder was. Ich entreiße ihm die Pistole und lasse mich aus dem Wagen fallen. Ich krieche in Richtung Gebüsch, um mich zu verstecken, aber ich sehe, wie er die Schrotflinte aus dem Kofferraum holt. Er kommt auf mich zu, und ich erschieße ihn.« Er schüttelte den Kopf. »Mann, wenn er das mit dem Buch nicht gesagt hätte, ich hätte nicht gewusst, was er vorhatte.«
Da Altman in den Zwischenfall verwickelt gewesen war, übernahm ein anderer Detective die Untersuchung der Schießerei, und dieser berichtete, die forensischen Befunde würden Carters Geschichte bestätigen. Schmauchspuren an Fletchers Hand bewiesen, dass er die Pistole abgefeuert hatte, und eine Kugel mit Carters Blut daran steckte in der Beifahrertür des Wagens. Die Indizien überführten Fletcher auch tatsächlich als den Würger von Greenville. Die Fingerabdrücke des Sergeants befanden sich auf dem Hammer aus Desmonds Garage, und eine Durchsuchung seines Hauses förderte mehrere Stücke Wäsche und Strümpfe zutage, die den Opfern gehört hatten. Die Ermordung Desmonds und der versuchte Mord an Carter sollten dazu dienen, seine ursprünglichen Verbrechen zu vertuschen. Aus welchem Motiv aber hatte der Sergeant die beiden Frauen in Greenville getötet? Vielleicht war die Wut darüber, dass ihn seine Frau verlassen hatte, übergekocht. Vielleicht hatte er eine heimliche Affäre mit einem der Opfer gehabt, die in die Brüche gegangen war, und er hatte beschlossen, ihren Tod als zufällige Gewalttat zu inszenieren. Vielleicht würden eines Tages die Hintergründe der Taten ans Licht kommen.
Oder aber, überlegte Altman, sie würden anders als in Kriminalromanen nie erfahren, was den Mann dazu getrieben hatte, die Grenze zu der dunklen Welt der Mörder zu überschreiten, die er früher einmal gejagt hatte.
Just in diesem Moment betrat Gordon Wallace mit federnden Schritten das Krankenzimmer. »Frisch aus der Presse«, sagte er und überreichte Carter eine Ausgabe der Tribune. Wallace’ Artikel über die Lösung des Würger-Falles zierte die Titelseite.
»Behalten Sie die«, sagte er. »Als Souvenir.«
Carters Frau dankte ihm, faltete die Zeitung zusammen und legte sie mit einer Geste beiseite, als sei sie nicht unbedingt an Erinnerungsstücken an diese schwierige Episode in ihrem Leben interessiert.
Quentin Altman ging zur Tür, und als er schon halb aus dem Zimmer war, drehte er sich noch einmal um. »Ach ja, eines noch, Andy – wie geht Ihr Buch eigentlich aus? Findet die Polizei den Jäger?«
Carter setzte zu einer Antwort an, hielt jedoch inne und grinste. »Wissen Sie was, Detective – wenn Sie das herausfinden wollen, müssen Sie sich schon ein Exemplar kaufen.«
 
Mehrere Tage später schlüpfte Andrew Carter aus seinem Bett, wo er seit drei Stunden hellwach gelegen hatte. Es war zwei Uhr nachts.
Er warf einen Blick auf seine friedlich schlafende Ehefrau und humpelte mit Hilfe seines Stocks zum Schrank, wo er eine alte ausgewaschene Jeans, Turnschuhe und ein Sweatshirt mit dem Aufdruck Boston University anzog – die Kluft, die ihm beim Schreiben immer Glück brachte, und die er seit mehr als einem Jahr nicht mehr angelegt hatte.
Die Schusswunde schmerzte immer noch, als er langsam zu seinem Arbeitszimmer ging. Er machte Licht und setzte sich an seinen Schreibtisch, dann schaltete er den Computer ein und starrte lange auf den Schirm.
Plötzlich begann er zu schreiben. Am Anfang war er unbeholfen beim Tippen, erwischte zwei Tasten auf einmal oder verfehlte die beabsichtigte Taste völlig. Im Lauf der Stunden kehrte seine Geschicklichkeit jedoch wieder, und bald flossen die Worte schnell und fehlerfrei aus seinen Gedanken auf den Schirm.
Als der Himmel in rosagrauem Licht zu leuchten begann und das Handytrillern eines Morgenvogels aus dem frischen Stechpalmenbusch vor seinem Fenster ertönte, hatte er die Geschichte vollständig beendet – neununddreißig Seiten mit doppeltem Zeilenabstand.
Er ging mit dem Cursor zum Beginn des Dokuments zurück, dachte über einen geeigneten Titel nach und tippte: Der Nachahmungstäter.
Dann lehnte sich Andy Carter in seinem bequemen Sessel zurück und las sein Werk sorgfältig von Anfang bis Ende durch.
Die Geschichte begann damit, dass ein Reporter in einem Kriminalroman einige gekennzeichnete Passagen entdeckt, die verblüffende Ähnlichkeit mit zwei tatsächlich geschehenen Morden aufweisen. Der Reporter bringt das Buch zu einem Detective, der folgert, dass der Mann, der die Absätze angestrichen hat, der Mörder sein muss, ein Nachahmungstäter, durch das Buch zum Töten angeregt.
Bei der Wiederaufnahme des Falles sichert sich der Detective die Hilfe des Romanautors, der sich widerwillig dazu bereit erklärt und der Polizei einige Leserbriefe bringt, von denen einer zum mutmaßlichen Täter führt.
Doch als die Polizei der Spur des Verdächtigen bis zu dessen Sommerhaus folgt, stellt sie fest, dass er ebenfalls ermordet wurde. Er war gar nicht der Killer, sondern hatte die Passagen in dem Buch vermutlich deshalb angestrichen, weil ihn, genau wie den Reporter, die Ähnlichkeit zwischen Roman und wirklichen Verbrechen verblüffte.
Ein großer Schock wartet auf den Detective: Er findet bei der Leiche des Lesers Hinweise, dass ein Sergeant der örtlichen Polizei der wahre Mörder war. Der Autor, der zu diesem Zeitpunkt zufällig mit genau diesem Polizisten zusammen ist, wird beinahe von ihm getötet, schafft es aber, ihm die Waffe zu entreißen und den Mann in Notwehr zu erschießen.
Fall abgeschlossen.
Wenigstens scheint es so …
Doch Andy Carters Geschichte endete nicht an dieser Stelle. Er fügte noch eine Wendung hinzu. Die Leser erfahren ganz zum Schluss, dass der Sergeant unschuldig war. Er war vom echten Würger hereingelegt worden.
Der niemand anderes als der Autor selbst ist.
Da er nach Veröffentlichung seines ersten Romans von einer Schreibblockade heimgesucht wurde und es ihm nicht möglich war, einen zweiten folgen zu lassen, war der Autor in den Wahn abgeglitten. Verzweifelt und geistig krank, kam er zu der Überzeugung, er könnte seine Schreibtätigkeit wieder in Gang setzen, indem er Szenen aus seinem Roman nachspielte, und so verfolgte und tötete er zwei Frauen auf exakt die gleiche Weise, wie es sein fiktiver Bösewicht getan hatte.
Die Morde beleben seine Fähigkeit zum Schreiben jedoch nicht wieder, und er versinkt noch tiefer in Depressionen. Und dann wendet sich zu allem Überfluss auch noch dieser Fan an ihn, der wegen der Ähnlichkeiten zwischen gewissen Passagen im Roman und den echten Verbrechen misstrauisch geworden ist. Der Autor hat keine Wahl: Er trifft sich mit dem Fan in dessen Häuschen am See und erschlägt ihn. Dann versteckt er die Leiche in der Garage und vertuscht das Verschwinden des Mannes, indem er sich als dieser ausgibt und seinem Chef und Vermieter mitteilt, dass er überraschend die Stadt verlasse.
Der Autor wähnt sich in Sicherheit. Doch seine Zufriedenheit währt nicht lange. Auftritt der Reporter, der die unterstrichenen Passagen gefunden hat, und die Ermittlungen beginnen erneut. Die Polizei ruft an und bittet ihn um Leserbriefe. Der Autor weiß, er ist nur dann sicher, wenn er der Polizei einen Sündenbock präsentieren kann. Er stimmt also einem Treffen mit der Polizei zu – tatsächlich trifft er jedoch einen Tag vor der vereinbarten Zusammenkunft mit dem Detective in der Stadt ein. Er bricht in das Haus des Sergeants ein, deponiert belastende Kleidungsstücke, die aus den Häusern der ermordeten Frauen stammen, und stiehlt einen Hammer und eine Visitenkarte des Sergeants. Dann fährt er hinaus zu dem Haus am See, wo die versteckte Leiche liegt, zertrümmert mit dem Hammer den Schädel des verwesten Körpers und versteckt den Hammer zusammen mit einigen Haaren des Toten in einem Ölfass. Die Visitenkarte steckt er in die Brieftasche. Am nächsten Tag taucht er mit dem Leserbrief, der zu dem Häuschen am See – und letzten Endes zu dem Sergeant – führt, auf dem Polizeirevier auf.
Der Autor, der den ahnungslosen Sergeant bittet, mit ihm essen zu fahren, greift sich dessen Pistole, zwingt ihn, anzuhalten und auszusteigen. Dann erschießt er ihn, legt die Pistole neben die Hand des toten Polizisten und feuert in den Wald, damit Schmauchspuren an die Finger des Mannes gelangen (Krimiautoren wissen genauso viel über Forensik wie die meisten Polizisten). Der Autor holt die Flinte aus dem Kofferraum, lässt sie bei dem Sergeant und steigt dann wieder in den Streifenwagen, wo er tief Luft holt und sich selbst so oberflächlich wie möglich in den Bauch schießt.
Dann kriecht er auf die Straße, um auf ein vorbeikommendes Fahrzeug zu warten, das ihnen zu Hilfe kommt.
Die Polizei nimmt ihm die ganze Geschichte ab.
In der letzten Szene kehrt der Autor nach Hause zurück, um seine schriftstellerische Arbeit wieder aufzunehmen, nachdem er buchstäblich ungestraft mit einem Mord davongekommen ist.
Als Carter die Geschichte zu Ende gelesen hatte, klopfte sein Herz heftig vor Stolz und Aufregung. Sicher, es gab noch das eine oder andere zu feilen, aber angesichts der Tatsache, dass er seit über einem Jahr kein Wort mehr geschrieben hatte, war es eine grandiose Leistung.
Er war wieder ein Schriftsteller.
Das einzige Problem war, dass er die Geschichte nicht veröffentlichen konnte. Er konnte sie nicht einmal auch nur einem Menschen zeigen.
Und das aus einem einzigen Grund: Sie war keine Fiktion; jedes Wort traf zu. Andy Carter selbst war der mörderische Schriftsteller.
Doch es kommt überhaupt nicht darauf an, sie zu veröffentlichen, dachte er, während er die ganze Geschichte in seinem Computer wieder löschte. Was zählte, war, dass es ihm mit dieser Geschichte gelungen war, seine Schreibblockade so rücksichtslos und wirksam zu beseitigen, wie er Bob Fletcher, Howard Desmond und die beiden Frauen in Greenville ermordet hatte. Und was noch besser war, er wusste, wie er eine erneute Schreibblockade künftig umging: Er würde ab jetzt keine erfundenen Romane mehr verfassen, sondern seiner wahren Bestimmung als Autor folgen: echte Verbrechen.
Was für eine perfekte Lösung! Er würde nie mehr um Ideen verlegen sein; Fernsehen, Zeitschriften und Tagespresse würden für Dutzende von Geschichten sorgen, aus denen er wählen konnte.
Und, überlegte er, während er nach unten humpelte, um sich eine Kanne Kaffee zu machen, falls sich herausstellte, dass es keine Verbrechen gab, die ihn besonders interessierten... Nun, Andy Carter wusste, dass er absolut dazu fähig war, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und höchstpersönlich ein bisschen Inspiration zu erzeugen.