Siebenunddreißig Grad
Der Mann hatte die Anzugjacke über die Schulter
geschwungen und schleppte sich den langen Aufgang zu dem Bungalow
hinauf. Seine Lungen brannten, er bekam kaum Luft in der
unglaublichen Hitze, die bis weit nach Sonnenuntergang angehalten
hatte.
Als er auf dem Pflaster vor dem Haus stehen blieb
und nach Luft schnappte, glaubte er, aufgebrachte Stimmen aus dem
Gebäude zu hören. Dennoch blieb ihm nichts übrig, als hier zu
läuten. Es war das einzige Haus, das er entlang des Highways
gesehen hatte.
Er stieg die Treppe zu der unwirtlich dunklen
Veranda hinauf und drückte auf die Klingel.
Die Stimmen verstummten sofort.
Er hörte ein Schlurfen. Zwei, drei gesprochene
Worte.
Er läutete noch einmal, und endlich wurde die Tür
geöffnet.
Sloan beobachtete, dass jeder der drei Leute im
Haus ihn mit einem anderen Gesichtsausdruck ansah.
Die etwas über fünfzigjährige Frau auf der Couch,
die ein zu oft gewaschenes, ärmelloses Hauskleid trug, schien
erleichtert zu sein. Der Mann neben ihr – etwa gleich alt, rundlich
und kahl – war misstrauisch.
Und der Mann, der die Tür geöffnet hatte und nun
vor Sloan stand, hatte ein Grinsen im Gesicht – ein feistes
Grinsen, das eigentlich sagte: Was zum Teufel wollen Sie? Er war
etwa in Sloans Alter – Ende dreißig – und hatte lange, tätowierte
Arme. Er hielt die Tür abwehrend mit seiner kräftigen Hand fest.
Bekleidet war er mit einer grauen, fleckigen Arbeitshose und einem
zerrissenen Arbeitshemd. Sein kahlrasierter Schädel glänzte.
»Kann ich was helfen?«, fragte der
Tätowierte.
»Tut mir leid, Sie zu stören«, sagte Sloan. »Mein
Wagen läuft nicht mehr – überhitzt. Ich muss den Pannendienst
anrufen. Dürfte ich Ihr Telefon benutzen?«
»Die Telefongesellschaft hat Probleme, wie ich
gehört habe«, antwortete der Mann. Er wies mit einem Kopfnicken zum
dichten, stillen Nachthimmel. »Wegen der Hitze – der Strom fällt
dauernd aus oder was.«
Er rührte sich nicht aus der Tür.
Aber die Frau sagte rasch: »Nein, bitte kommen Sie
doch herein.« Sie schien merkwürdig begierig darauf zu sein. »Unser
Telefon hat vor einer Weile geläutet. Ich bin mir sicher, es
funktioniert.«
»Bitte«, plapperte der ältere Mann nach, der ihre
Hand hielt.
Der tätowierte Mann musterte Sloan vorsichtig, wie
es die Leute oft taten. Sloan war von Natur aus ein ernster Mensch
und ein großer, muskulöser Mann – er hatte in den letzten drei
Jahren täglich trainiert -, und im Augenblick sah er einfach nur
heruntergekommen aus; er war durch den Busch gestiefelt, um auf
kürzestem Weg zu den Lichtern dieses Hauses zu gelangen. Und
nachdem er in dieser erdrückend feuchtheißen Luft umhergelaufen
war, war jeder Zentimeter seiner Haut nass geschwitzt.
Schließlich bat ihn der Tätowierte mit einer
Handbewegung ins Haus. Sloan bemerkte eine üble Narbe auf seinem
Handrücken. Sie sah aus wie von einer Messerwunde, und sie war noch
nicht alt.
Das Haus war übertrieben beleuchtet, und es war
unangenehm heiß. Eine winzige Klimaanlage ächzte vor sich hin, trug
aber nichts dazu bei, die stickige Luft zu kühlen. Er warf einen
Blick auf die Wände, nahm rasch Vignetten eines Lebens wahr, das in
einer kleinen Blase der Welt verbracht worden war. Berufsleben bei
Allstate Insurance und in einer High-School-Bibliothek, eine
unklare Verbindung zum Rotary Club, Kirchengruppen und
Elternbeiräte. Angelausflüge nach Saginaw oder Minnesota. Eine
Reise nach Chicago, festgehalten in gerahmten, vergilbenden
Fotos.
Man stellte einander vor. »Ich bin Dave
Sloan.«
Agnes und Bill Willis waren das Paar. Sloan
beobachtete sofort eine Ähnlichkeit im Benehmen, wie sie für lang
verheiratete Paare typisch war. Der tätowierte Mann sagte nichts
über sich. Er machte sich an der Klimaanlage zu schaffen und schob
den Knopf auf und ab.
»Ich störe hoffentlich nicht beim
Abendessen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Es war acht
Uhr abends, und Sloan sah kein schmutziges Geschirr vom
Nachtmahl.
»Nein«, antwortete Agnes schließlich leise.
»Nö, hier gibt’s nichts zu futtern«, bemerkte der
Tätowierte mit einer geheimnisvollen Schärfe. Er blickte wütend auf
die Klimaanlage, als wollte er sie mit einem Tritt aus dem Fenster
befördern, aber er beherrschte sich und ging zu dem Platz zurück,
den er sich gesichert hatte – einem zu dick gepolsterten
Kunstledersessel, der bereits vor Schweiß glänzte, weil er darin
gesessen hatte, ehe er an die Tür ging.
»Das Telefon ist da drin«, sagte Bill und zeigte
zur Küche.
Sloan dankte ihm und ging seinen Anruf machen.
Sobald er ins Wohnzimmer zurückkam, verstummten Bill und der
jüngere Mann rasch, die sich zuvor unterhalten hatten.
Sloan sah Bill an und sagte: »Sie schleppen es nach
Hatfield. Der Abschleppwagen müsste in zwanzig Minuten hier sein.
Ich kann draußen warten.«
»Nein«, sagte Agnes. Dann schien sie das Gefühl zu
haben, sie sei zu forsch gewesen und schielte zu dem Tätowierten,
fast als befürchtete sie, er könnte sie schlagen.
»Zu heiß draußen«, sagte Bill.
»Nicht heißer als hier drin«, erwiderte der
tätowierte Mann sarkastisch und hatte dieses Grinsen wieder auf.
Seine Lippen waren wulstig, und auf der oberen stand Schweiß – ein
Anblick, bei dem es Sloan juckte.
»Setzen Sie sich«, sagte Bill vorsichtig. Sloan sah
sich um und entdeckte das einzige unbesetzte Möbelstück, eine
unbequeme Couch, die mit rosa und grünem Chintz in Blumenmustern
bezogen war. Zusammen mit der Hitze und dem nervösen Gezappel des
tätowierten Mannes machte ihn das grelle Design unruhig.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte die
Frau.
»Vielleicht ein wenig Wasser, wenn es nicht zu viel
Mühe macht.« Sloan wischte sich das Gesicht ab.
Die Frau stand auf.
»Ich nehme an, Sie haben bemerkt«, sagte der
Tätowierte kühl, »dass sie mich nicht vorgestellt haben.«
»Nun ja, wir wollten nicht...«, begann Bill.
Der Mann brachte ihn mit einer Handbewegung zum
Schweigen.
»Ich heiße Greg.« Ein neuerliches Zögern. »Ich bin
ihr Neffe. Hab nur kurz auf einen Besuch vorbeigeschaut. Oder,
Bill? Wie in den guten alten Zeiten?«
Bill nickte und blickte auf den fadenscheinigen
Teppich hinunter. »Die guten alten Zeiten.«
Sloan hörte plötzlich ein merkwürdiges Geräusch.
Ein Scharren. Ein leises Schlagen. Niemand sonst schien es zu
bemerken. Er blickte auf, als Agnes zurückkam. Sie gab Sloan das
Glas, und er trank die Hälfte davon sofort aus.
»Ich habe mir überlegt«, sagte sie, »dass du dir
vielleicht Mr. Sloans Wagen ansehen könntest, Bill. Was hältst du
davon, wenn du und Greg einen Blick darauf werfen?«
»Dave«, sagte Sloan. »Bitte nennen Sie mich
Dave.«
»Vielleicht könnt ihr Dave ein wenig Geld
sparen.«
»Sicher...«, fing Bill an.
»Ach was«, sagte Greg, »das lassen wir mal lieber.
Zu viel Arbeit in der Hitze. Außerdem sieht Dave aus, als könnte er
sich einen richtigen Mechaniker leisten. Er sieht aus, als würde er
in Geld schwimmen. Oder, Dave? Was machen Sie?«
»Verkaufen.«
»Und was verkaufen Sie?«
»Computer. Hardware und Software.«
»Ich traue Computern nicht. Ich wette, ich bin der
einzige Mensch im Land ohne E-Mail.«
»Nein, gut achtzig Millionen Leute haben keine,
soviel ich weiß«, sagte Dave.
»Kinder, zum Beispiel«, meldete sich Bill zu
Wort.
»Wie ich, was? Ich und die Kleinen, wolltest du das
sagen?«
»Aber nein«, sagte Bill rasch. »Das war nur so
dahingesagt. Ich wollte niemanden beleidigen.«
»Wie sieht es mit Ihnen aus, Greg?«, fragte Sloan.
»In welcher Branche sind Sie?«
Er überlegte einen Moment. »Ich arbeite mit meinen
Händen... Wollen Sie wissen, was Bill tut?«
Ein finsterer Ausdruck huschte kurz über Bills
Gesicht. »Ich war in der Versicherungsbranche. Im Moment bin ich
gerade zwischen zwei Jobs.«
»Er wird aber demnächst wieder arbeiten, hab ich
Recht, Bill?«
»Ich hoffe es.«
»Ich bin mir sicher, das wird er«, sagte
Agnes.
»Wir sind uns alle sicher, dass er das wird.
Hey, Sloan, glauben Sie, Bill könnte Computer verkaufen?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, mir macht es
Spaß.«
»Sind Sie gut in Ihrem Job?«
»Oh, ich bin sehr gut.«
»Wieso Computer?«
»Weil es im Augenblick einen Markt für das gibt,
was meine Firma herstellt. Aber es spielt keine Rolle für mich. Ich
könnte alles verkaufen. Vielleicht sind es nächstes Jahr
Heizstrahler oder eine neue Art Laser in der Medizin. Wenn ich Geld
damit verdienen kann, verkaufe ich es.«
»Erzählen Sie doch mal von Ihren Computern«, sagte
Greg.
Sloan tat die Aufforderung mit einem Achselzucken
ab. »Das ist nur technischer Kram. Sie würden sich
langweilen.«
»Na, wir wollen natürlich niemanden langweilen,
besonders uns Kinder nicht. Wo wir doch so nett zusammensitzen, die
ganze Familie... Familie.« Greg schlug mit seiner kräftigen Faust
auf die Armlehne. »Finden Sie nicht, dass Familie wichtig ist? Ich
schon. Haben Sie Familie, Dave?«
»Sie sind tot. Meine nächsten Angehörigen, meine
ich.«
»Alle?«, fragte Greg neugierig.
»Meine Eltern und meine Schwester.«
»Wie sind sie gestorben?«
Agnes zuckte bei dieser unverblümten Frage. Aber
Sloan machte es nichts aus. »Ein Unfall.«
»Unfall?« Greg nickte. »Meine Leute sind auch tot«,
fügte er emotionslos hinzu.
Was bedeutete, dass Bill und Agnes ebenfalls ein
Geschwister verloren hatten, da er ja ihr Neffe war. Greg würdigte
jedoch ihren Verlust mit keinem Wort.
Das Geräusch der Klimaanlage schien zu verstummen,
als das Schweigen der drei den winzigen, stickigen Raum erfüllte.
Dann hörte Sloan ein schwaches Klopfen. Es schien aus einem Zimmer
zu kommen, dessen geschlossene Tür er im Flur sah. Niemand sonst
bemerkte es. Er nahm es noch einmal wahr, dann hörte es auf.
Greg stand auf und ging zu einem Thermometer, das
an der Wand befestigt war. Ein silberner Draht lief durch ein Loch,
das schlampig durch den Fensterrahmen gebohrt war. Er tippte die
runde Anzeige mit dem Finger an. »Kaputt«, verkündete er. Dann
drehte er sich zu den drei anderen um. »Ich hab vorhin Nachrichten
gehört. Und da hieß es, dass es fast siebenunddreißig Grad bei
Sonnenuntergang gehabt hat. Das ist ein neuer Rekord hier in der
Gegend, sagte der Sprecher. Das hat mich ins Grübeln gebracht.
Siebenunddreißig Grad – das ist die Temperatur des menschlichen
Körpers. Und wisst ihr, was für ein Gedanke mir gekommen
ist?«
Sloan blickte prüfend in die unheimlichen,
belustigten Augen des Mannes. Er sagte nichts. Genau wie Bill und
Agnes.
»Mir wurde klar«, fuhr Greg fort, »dass es keinen
Unterschied zwischen Leben und Tod gibt. Nicht den geringsten. Was
halten Sie davon?«
»Keinen Unterschied? Das kapier ich nicht«, sagte
Sloan.
»Nehmen wir zum Beispiel einen schlechten Menschen.
Welche Art Mensch sollen wir nehmen, Bill? Vielleicht jemanden, der
seine Schulden nicht bezahlt? Wie wäre es damit? Okay, was ich
sagen will, ist, dass nicht sein Körper der falsche
Fuffziger ist, sondern seine Seele. Wenn er stirbt, was
bleibt? Die Seele eines falschen Fuffzigers. Dasselbe ist es bei
einem guten Menschen. Da bleibt eine gute Seele, nachdem ein guter
Körper nicht mehr ist. Oder ein Mörder zum Beispiel. Wenn sie einen
Mörder hinrichten, spaziert eine Mörderseele anschließend weiter
herum.«
»Das ist ein interessanter Gedanke, Greg.«
»So wie ich es sehe«, fuhr der Mann fort, »ist ein
Körper nur eine auf siebenunddreißig Grad erwärmte Seele.«
»Darüber müsste ich nachdenken.«
»Okay, unsere Leute sind tot, Ihre und meine«, fuhr
Greg fort.
»Stimmt«, erwiderte Sloan.
»Aber selbst wenn sie tot sind«, sagte Greg in
philosophischem Ton, »kann man immer noch Ärger ihretwegen haben,
oder?« Er lehnte sich in dem glatten, fleckigen Sessel zurück und
schlug die Beine über Kreuz. Er trug keine Socken, und Sloan
erhaschte einen Blick auf ein weiteres Tattoo – eins, das am
Knöchel begann und nach oben weiterging. Sloan wusste, dass eine
Tätowierung am Knöchel zu den schmerzhaftesten gehört, da die Nadel
zwangsläufig auf den Knochen trifft. Ein Tattoo an dieser Stelle
war mehr als Körperbemalung; es war eine trotzige Erinnerung daran,
dass Schmerz seinem Träger nichts bedeutet.
»Ärger?«
»Deine Eltern können dir noch Kummer machen,
nachdem sie tot sind.«
Das kann dir jeder Psychiater sagen, dachte Sloan,
fand die Bemerkung aber ein bisschen zu schlau für Greg.
Der junge Mann fuhr sich mit der kräftigen Hand
über den schweißglänzenden Schädel. Das war wirklich eine
Mordsnarbe, die er da hatte. Am anderen Arm war noch eine. »Vor ein
paar Jahren ist so eine Sache passiert.«
»Was für eine Sache?«, fragte Bill.
Sloan bemerkte, dass Agnes die Serviette in ihrer
Hand vollkommen zerpflückt hatte.
»Ich habe keine Lust, die Einzelheiten vor Fremden
auszubreiten«, sagte Greg gereizt.
»Tut mir leid«, sagte Bill rasch.
»Ich wollte nur grundsätzlich feststellen, dass
jemand, der tot war, mir immer noch Probleme machte. Ich konnte es
sehr deutlich sehen. Ein Miststück im Leben, ein Miststück, als sie
tot war. Gott hat ihr die Seele von jemandem gegeben, der Ärger
macht. Glauben Sie an Gott, Sloan?«
»Nein.«
Agnes zuckte. Sloan blickte auf die drei Kruzifixe
an der Wand.
»Ich glaube an das Verkaufen, das ist so ziemlich
alles.«
»Dann ist das eben Ihre Seele. Auf siebenunddreißig
Grad erwärmt.« Ein Grinsen. »Da Sie ja noch leben.«
»Und wie sieht Ihre Seele aus, Greg? Ist sie gut,
schlecht?«
»Ich bin jedenfalls kein falscher Fuffziger«, sagte
er geziert. »Darüber hinaus müssen Sie raten. Ich verrate nicht so
viel wie Sie.«
Das Licht wurde schwächer. Erneut ein Problem mit
der Stromversorgung.
»Schaut euch das an«, sagte Greg. »Vielleicht sind
es die Seelen einer Familie, die sich hier noch herumtreiben und
mit dem Licht spielen. Was meinst du, Bill?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Einer Familie, die hier gestorben ist«,
spekulierte Greg. »Weißt du, ob hier jemand gestorben ist,
Bill?«
Agnes schluckte heftig. Bill trank einen Schluck
aus einem Glas, es sah aus wie abgestandenes Mineralwasser. Seine
Hand zitterte.
Das Licht brannte wieder in voller Stärke. Greg
schaute sich im Zimmer um. »Was glauben Sie, ist dieses Haus wert,
Sloan?«
»Das weiß ich nicht«, sagte er ruhig. Langsam hatte
er dieses ständige Provozieren satt. »Ich verkaufe Computer, schon
vergessen? Keine Häuser.«
»Ich denke, locker zweihunderttausend.«
Das Geräusch hinter der Tür wieder. Es war lauter
diesmal, über das Ächzen der Klimaanlage zu hören. Ein Kratzen, ein
dumpfes Schlagen.
Die drei Menschen im Zimmer blickten in Richtung
der Tür. Agnes und Bill fühlten sich sichtlich unbehaglich. Niemand
sagte ein Wort wegen des Geräuschs.
»Wo verkaufen Sie Ihre Computer?«, fragte
Greg.
»Ich war heute in Durrant. Jetzt bin ich auf dem
Weg nach Osten.«
»Hier in der Gegend sind die Zeiten schlecht. Die
Leute haben keine Arbeit, stimmt’s, Bill?«
»Ja, schwere Zeiten.«
»Schwere Zeiten hier, schwere Zeiten überall.« Greg
wirkte betrunken, aber Sloan roch keine Fahne, und der einzige
Alkohol in Sichtweite waren eine verkorkte Flasche Port und ein
billiger Brandy, die beide sicher hinter einer verschmierten
Glasscheibe im Wohnzimmerschrank standen. »Bestimmt auch schwere
Zeiten für Verkäufer. Selbst für Verkäufer, die alles
verkaufen können, wie Sie.«
»Passt Ihnen irgendwas an mir nicht, Greg?«, fragte
Sloan ruhig.
»Wieso? Nein.« Aber der stählerne Blick des Mannes
sagte das Gegenteil. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist die Hitze«, versuchte Agnes rasch zu
vermitteln. »Ich habe diese Fernsehsendung gesehen, auf CNN.
Darüber, was die Hitze bewirkt. Krawalle in Detroit, Waldbrände
oben bei Saginaw. Sie lässt die Leute verrücktspielen.«
»Verrückt?«, fragte Greg. »Verrückt?«
»Ich meinte nicht dich«, sagte sie rasch.
Greg wandte sich Sloan zu. »Fragen wir doch unseren
Superverkäufer hier, ob ich mich verrückt benehme.«
Sloan schätzte, dass er den Burschen in vier bis
fünf Minuten in einem Würgegriff auf dem Rücken haben könnte, aber
das würde nicht ohne ernste Schäden an dem billigen Nippeskram im
Haus abgehen. Und die Polizei würde kommen, und es würde alle
möglichen Komplikationen geben.
»Also, was ist?«
»Nein, Sie kommen mir nicht verrückt vor.«
»Das sagen Sie, weil Sie keinen Ärger wollen.
Vielleicht haben Sie doch keine Verkäuferseele. Vielleicht haben
Sie eine Lügnerseele...« Er rieb sich mit beiden Händen das
Gesicht. »Mann, ich muss schon ein paar Liter geschwitzt
haben.«
Sloan spürte, wie der Mann die Beherrschung verlor.
Er bemerkte einen Waffenschrank an der Wand mit zwei Gewehren
darin. Er schätzte ab, wie schnell er ihn wohl erreichen konnte.
War Bill dumm genug, eine nicht abgesperrte, geladene Waffe darin
aufzubewahren? Wahrscheinlich.
»Ich will Ihnen mal etwas sagen...«, begann Greg
drohend und klopfte mit seinen stumpfen Fingern auf die
schweißnasse Sessellehne.
Es läutete an der Tür.
Im ersten Moment rührte sich niemand. Dann stand
Greg auf, ging zur Tür und öffnete sie.
Ein stämmiger Mann mit langen Haaren stand im
Eingang. »Hat hier jemand einen Abschleppwagen gerufen?«
»Ja, ich.« Sloan stand auf. »Danke, dass ich das
Telefon benutzen durfte«, sagte er zu Bill und Agnes.
»Kein Problem.«
»Wollen Sie bestimmt nicht bleiben? Ich könnte
Abendessen machen. Bitte.« Die arme Frau war nun eindeutig
verzweifelt.
»Nein, ich muss mich auf den Weg machen.«
»Ja«, sagte Greg. »Dave muss sich auf den Weg
machen.«
»Mann«, sagte der Fahrer. »Hier drin ist es ja
heißer als draußen.«
Wenn du wüsstest, dachte Sloan und ging die Treppe
hinunter zu dem im Leerlauf wartenden Abschleppwagen.
Der Fahrer wuchtete Sloans defekten Chevy mit der
Winde auf die Ladefläche und kettete ihn fest, und dann stiegen die
beiden Männer ins Führerhaus des Lkw. Sie fuhren in östlicher
Richtung auf den Highway. Die Klimaanlage ratterte, und die kühle
Luft war eine Wohltat.
Das Funkgerät knisterte. Sloan verstand über dem
Lärm der Klimaanlage nicht viel, aber der Fahrer beugte sich vor,
um einer offenbar wichtigen Mitteilung zu lauschen. Als die
Übertragung zu Ende war, sagte er: »Sie haben den Kerl noch immer
nicht erwischt.«
»Welchen Kerl?«, fragte Sloan.
»Den Mörder. Der aus diesem Gefängnis knapp fünfzig
Kilometer östlich von hier geflohen ist.«
»Davon habe ich gar nichts gehört.«
»Hoffentlich schafft es die Geschichte in
American’s Most Wanted. Haben Sie die Sendung schon mal
gesehen?«
»Nein. Ich sehe nicht viel fern«, sagte
Sloan.
»Ich schon«, sagte der Fahrer. »Kann sehr lehrreich
sein.«
»Wer ist dieser Kerl?«
»So eine Art Psychokiller. Wie in Das Schweigen
der Lämmer. Wie sieht es mit Filmen aus, mögen Sie die?«
»O ja«, sagte Sloan. »Das war ein guter Streifen.«
Er blickte aus dem Fenster. »Wie ist der Kerl entkommen? Das
Gefängnis ist doch streng gesichert, oder?«
»Klar doch. Mein Bruder... äh, mein Bruder hatte
einen Freund, der dort wegen Autodiebstahl saß. Rauer Laden.
In den Nachrichten hieß es, dieser Killer habe sich im Gefängnishof
aufgehalten und wegen der Hitze sei es zu einem Stromausfall
gekommen. Vermutlich ging das Notstromaggregat auch nicht oder was,
und die Lichter und der elektrische Zaun fielen fast eine Stunde
lang aus, keine Ahnung. Als alles wieder funktioniert hat, war er
weg.«
Sloan fröstelte, da die kalte Luft seine
durchgeschwitzten Sachen kühlte. »Sagen Sie«, fragte er, »kennen
Sie diese Familie, wo Sie mich abgeholt haben?«
»Nein. Hier komme ich nicht oft heraus.«
Sie fuhren zwanzig Minuten weiter. Sloan sah eine
Reihe blinkender Lichter ein Stück voraus.
»Eine Straßensperre«, sagte der Fahrer.
»Wahrscheinlich suchen sie nach diesem Ausbrecher.«
Sloan sah zwei Polizeiautos. Zwei uniformierte
Beamte winkten die vorbeikommenden Autos an den Straßenrand.
»Wenn wir an die Sperre kommen«, sagte Sloan, »dann
halten Sie bitte an der Seite. Ich will mit einem Polizisten
reden.«
»Wird gemacht, Mister.«
Als sie angehalten hatten, stieg Sloan aus und
teilte dem Fahrer mit, er würde in einer Minute zurück sein. Dann
atmete er tief ein, aber keine Luft schien in seine Lungen zu
gelangen. Seine Brust schmerzte wieder.
Einer der Beamten blickte zu Sloan. Der kräftige
Mann, dessen braunes Hemd dunkel war vor Schweiß, ging auf ihn zu.
»Einen Augenblick, Sir. Kann ich Ihnen helfen?« Er hielt seine
Taschenlampe abwehrbereit, als er auf Sloan zutrat, der sich
vorstellte und ihm eine Visitenkarte überreichte. Sloan warf einen
Blick auf das Namensschild des Mannes. Sheriff Mills. Der Beamte
betrachtete die Karte und dann Sloans Anzug und kam zu dem Schluss,
dass er nicht der Gesuchte war. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ist das hier wegen des Kerls, der aus dem
Gefängnis geflohen ist?« Er nickte in Richtung der
Streifenwagen.
»Ja. Haben Sie etwas beobachtet, das uns helfen
könnte, ihn zu finden?«
»Na ja, vielleicht ist nichts dran, aber ich
dachte, ich sollte es Ihnen sagen.«
»Nur zu.«
»Wie sieht der Mörder aus?«
»Er ist erst vor etwa zwei Stunden entwischt. Wir
haben noch kein Bild. Aber er ist Mitte dreißig, bärtig. Eins
achtzig groß, muskulös. So wie Sie, mehr oder weniger.«
»Rasierter Schädel?«
»Nein, aber an seiner Stelle hätte ich ihn mir
vielleicht rasiert, sobald ich draußen gewesen wäre. Und den Bart
ebenfalls weggemacht.«
»Ist er tätowiert?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich.«
Sloan erzählte von seiner Autopanne und wie er beim
Haus der Willis geläutet hatte. »Glauben Sie, dieser Gefangene wäre
dort vorbeigekommen?«
»Wenn er schlau war, dann ja. Wäre er nach Westen
gegangen, hätte er fünfzig Meilen Wald vor sich. In diese Richtung
hatte er die Chance, in der Stadt ein Auto zu stehlen oder als
Anhalter auf dem Highway mitgenommen zu werden.«
»Und dann käme er genau an den Willis
vorbei?«
»Ja. Wenn er auf der Route 202 unterwegs war.
Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich glaube, der Bursche könnte bei den Willis
sein.«
»Wie bitte?«
»Wissen Sie, ob sie einen Neffen haben?«
»Ich glaube nicht, dass je von einem die Rede
war.«
»Nun, dort hält sich ein Mann auf, der in etwa auf
die Beschreibung des Täters passt. Er gab sich als Bills Neffe aus,
der zu Besuch sei. Aber irgendwie stimmte da etwas nicht. Ich
meine, zunächst einmal war Abendessenzeit, aber sie hatten nicht
gegessen und kochten nicht, und in der Küche war kein schmutziges
Geschirr. Und sie taten alles, was dieser Greg ihnen sagte, als
hätten sie Angst, sie könnten ihn aufregen.«
Der Sheriff zog ein zusammengefaltetes
Papierhandtuch aus der Tasche und wischte sich Gesicht und Schädel
ab. »Noch etwas?«
»Er sagte merkwürdige Dinge – sprach über den Tod
und diese Erfahrung, die er gemacht hatte und die ihn das Sterben
anders sehen ließ. Als wäre es nichts Schlimmes … Ich fand’s
unheimlich. Ach ja, und noch etwas – er sagte, er wolle eine
bestimmte Sache nicht vor Fremden erzählen. Er könnte mich gemeint
haben, aber wieso hat er dann die Mehrzahl benutzt und nicht gesagt
›vor einem Fremden‹? Es war, als würde er Bill und Agnes ebenfalls
meinen.«
»Da ist was dran.«
»Er hatte außerdem ein paar üble Narben. Als hätte
er an einem Messerkampf teilgenommen. Und er hat eine Frau erwähnt,
die ihm nach ihrem Tod genauso viel Kummer gemacht hat wie vorher.
Ich dachte, er könnte vielleicht die Schwierigkeiten mit dem Gesetz
gemeint haben, weil er sie getötet hat.«
»Was hat ihre Tochter dazu gesagt?«
»Tochter?«
»Die Willis haben eine Tochter, Sandy. Haben Sie
sie nicht gesehen? Sie ist gerade in den Semesterferien zu Hause.
Und sie arbeitet in der Tagesschicht bei Taco Bells. Sie hätte um
diese Zeit zu Hause sein müssen.«
»Großer Gott«, murmelte Sloan. »Ich habe sie nicht
gesehen... Aber jetzt fällt mir noch etwas ein. Die Tür zu einem
der hinteren Zimmer war zu, und aus dem Raum kam ein Geräusch. Alle
waren total nervös deshalb. Meinen Sie nicht, wie soll ich sagen,
sie könnte irgendwie gefesselt da drin gewesen sein?«
»Du meine Güte«, sagte der Sheriff. »Dieser
Ausbrecher – der war im Gefängnis, weil er Mädchen vergewaltigt und
ermordet hat. Studentinnen.« Er zog sein Funkgerät hervor. »An alle
Polizeieinheiten in Hatfield. Hier spricht Mills. Ich habe eine
Spur, was diesen entflohenen Sträfling angeht. Der Mann könnte sich
draußen bei Bill Willis an der Route 202 aufhalten. Lasst alle
Straßensperren mit einem Wagen besetzt, alle andern sofort dorthin.
Nähert euch leise, ohne Lichter. Haltet an der Straße bei der
Einfahrt, aber geht nicht hinein. Wartet auf mich.«
Antworten wurden gefunkt.
Der Sheriff wandte sich an Sloan. »Wir brauchen Sie
möglicherweise als Zeugen, Mr. Sloan.«
»Sicher. Wenn ich helfen kann, jederzeit.«
»Lassen Sie sich von dem Abschleppwagen zum
Polizeirevier bringen – es ist an der Elm Street. Mein Mädchen ist
dort, sie heißt Clara. Erzählen Sie ihr einfach dasselbe wie mir.
Ich rufe sie an, damit sie Ihre Aussage aufnimmt.«
»Gern, Sheriff.«
Der Sheriff lief zu seinem Wagen und sprang hinein.
Sein Deputy nahm auf dem Beifahrersitz Platz, sie wendeten und
rasten davon zum Haus der Willis.
Sloan sah ihnen nach und stieg wieder in den
Abschleppwagen, wo er zum Fahrer sagte: »Hätte ich auch nicht
gedacht, dass ich mitten in so einer Geschichte lande.«
»Das ist der aufregendste Auftrag, den ich
je hatte, das kann ich Ihnen sagen.«
Sie fuhren auf den Highway zurück, und das Gefährt
rumpelte auf ein schwaches Lichtband zu, das von der
hitzegetränkten Stadt Hatfield, Michigan, abgestrahlt wurde.
»Ich sehe niemanden außer den Willis«, flüsterte
der Deputy.
Er hatte den Bungalow rasch durch ein Seitenfenster
erkundet. »Sie sitzen nur da und reden, Bill und Agnes.«
Drei männliche Beamte und zwei Frauen – fünf Achtel
des Polizeireviers von Hatfield – umringten das Haus.
»Er könnte auf dem Klo sein. Gehen wir schnell
rein.«
»Klopfen wir?«
»Nein«, murmelte der Sheriff. »Wir klopfen
nicht.«
Sie stürmten so schnell durch die Haustür, dass
Agnes ihr Soda auf die Couch fallen ließ und Bill zwei Schritte bis
zum Gewehrschrank schaffte, ehe er den Sheriff und seine Leute
erkannte.
»Jesus, Maria und Josef, ihr habt uns aber
erschreckt, Hal.«
»So ein Schock«, murmelte Agnes. Dann: »Keine
Gotteslästerung, Bill.«
»Alles in Ordnung bei euch?«
»Natürlich ist alles in Ordnung. Wieso?«
»Und eure Tochter?«
»Die ist mit ihren Freunden unterwegs. Ist ihr
etwas passiert?«
»Nein, es geht nicht um sie.« Sheriff Mills ließ
die Waffe sinken. »Wo ist er, Bill?«
»Wer?«
»Dieser Kerl, der hier war.«
»Der Mann mit der Autopanne?«, fragte Agnes. »Er
ist mit dem Abschleppwagen gefahren.«
»Nein, nicht der. Der Typ, der sich Greg
nennt.«
»Greg?«, fragte Agnes. »Der ist auch weg. Worum
geht es hier denn?«
»Wer ist Greg?«, fragte der Sheriff.
»Der Sohn meines verstorbenen Bruders.«
»Dann ist er also wirklich dein Neffe?«
»So ungern ich es zugebe – ja.«
Der Sheriff steckte seine Pistole weg. »Dieser
Sloan, der Mann, der den Abschleppwagen von hier gerufen hat – er
glaubte, Greg könnte vielleicht dieser Ausbrecher sein. Wir
dachten, er hält euch als Geiseln.«
»Was für ein Ausbrecher?«
»Ein Mörder aus dem Gefängnis westlich von hier.
Ein Psychopath. Er ist vor ein paar Stunden entkommen.«
»Nein!«, sagte Agnes atemlos. »Wir haben heute
Abend noch keine Nachrichten gesehen.«
Der Sheriff erzählte ihnen, was Sloan über Gregs
Benehmen gesagt hatte – und dass die Willis ihn erkennbar aus dem
Haus wünschten und sogar Angst vor ihm zu haben schienen.
Agnes nickte. »Tja, weißt du...«
Ihre Stimme brach ab, und sie sah zu ihrem Mann.
»Schon gut, Schatz«, sagte dieser, »du kannst es ihm
erzählen.«
»Als Bill letztes Jahr seinen Job verlor, wussten
wir nicht, was wir tun sollten. Wir hatten kaum Ersparnisse, und
meine Arbeit in der Bücherei, nun, die bringt nicht viel Geld. Wir
mussten uns also welches leihen. Die Bank wollte nicht einmal mit
uns reden, deshalb haben wir Greg angerufen.«
Sichtlich beschämt schüttelte Bill den Kopf. »Er
ist der reichste in unserer Familie.«
»Der?«, fragte Sheriff Mills.
»Ja«, antwortete Agnes. »Er ist Klempner... nein,
Verzeihung, Installationsunternehmer. Der scheffelt das Geld nur
so. Besitzt acht Lkws. Er hat das Geschäft geerbt, als Bills Bruder
starb.«
»Er hat mir ein Darlehen gegeben«, fuhr ihr Mann
fort. »Bestand natürlich auf einer zweiten Hypothek auf das Haus.
Und reichlich Zinsen dazu. Mehr als die Banken verlangt hätten. Hat
sich wirklich ekelhaft benommen bei der ganzen Sache, da wir mit
ihm und seinem Vater eigentlich nie viel Kontakt hatten – mein
Bruder und ich verstanden uns nicht allzu gut. Aber er schrieb uns
einen Scheck aus, und er war der Einzige, der dazu bereit war. Ich
dachte, ich würde inzwischen einen neuen Job gefunden haben, aber
leider hat sich nichts ergeben. Und die Arbeitslosenunterstützung
lief aus. Als ich die Raten an ihn nicht mehr bezahlen konnte,
hörte ich auf, seine Anrufe entgegenzunehmen. Es war mir so
peinlich. Schließlich hat er dann heute Abend unangemeldet hier
vorbeigeschaut. Er hat uns die Hölle heiß gemacht. Hat mit
Zwangsvollstreckung gedroht, wollte uns auf die Straße
setzen.«
»An diesem Punkt ist Mr. Sloan aufgetaucht. Wir
hofften, er würde bleiben. Es war ein Albtraum, hier zu sitzen und
sich Gregs endlose Tiraden anzuhören.«
»Sloan sagte, er habe Narben gehabt. Wie
Messerwunden.«
»Unfälle bei der Arbeit wahrscheinlich«, sagte
Bill.
»Was hat er mit einer Frau gemeint, die vor ein
paar Jahren gestorben ist?«
Bill nickte. »Er wollte uns nicht sagen, was er
genau meinte.« Er sah Agnes an. »Es muss wohl um seine Freundin
gegangen sein. Sie ist bei einem Autounfall gestorben, und Greg hat
ihren Sohn ein paar Monate lang gewissermaßen geerbt. Es war eine
Katastrophe – Greg ist nicht gerade der beste Vater, wie Sie sich
vorstellen können. Schließlich hat ihre Schwester den Jungen
genommen.«
Dem Sheriff fiel noch etwas ein. »Dieser Sloan
sagte, er hat Geräusche aus einem anderen Zimmer gehört. Es kam ihm
verdächtig vor.«
Agnes errötete heftig. »Das war Sandy.«
»Eure Tochter?«
Ein Nicken. Die Frau konnte nicht fortfahren. »Sie
ist mit ihrem Freund nach Hause gekommen«, sagte Bill. »Sie gingen
in ihr Zimmer, weil sie sich vor dem Ausgehen umziehen wollte. Bis
wir wussten, wie uns geschah... na ja, du kannst es dir ja
vorstellen... Ich habe sie gebeten, mehr Respekt zu zeigen und
nicht mit ihm zusammen zu sein, wenn wir zu Hause sind. Aber es ist
ihr egal.«
Dann war das Ganze also nur ein Missverständnis,
dachte Sheriff Mills.
Bill lachte leise. »Und ihr dachtet, Greg ist der
Mörder? Das ist verrückt.«
»Es war nicht so weit hergeholt«, sagte der
Sheriff. »Überlegt mal. Der Kerl ist um fünf Uhr nachmittags
geflohen. Da wäre ihm gerade genügend Zeit geblieben, um ein Auto
zu stehlen und es bis zum frühen Abend von Durrant zu euch zu
schaffen.«
»Kommt hin«, sagte Bill.
Der Sheriff wandte sich zum Gehen und machte die
Tür auf.
»Warte mal, Hal«, sagte Bill. »Sagtest du eben
Durrant?«
»Ja. Der Kerl ist aus dem Gefängnis dort
geflohen.«
Bill sah Agnes an. »Hat dieser Sloan nicht erzählt,
dass er aus Durrant kommt?«
»Ja, da bin ich mir sicher.«
»Wirklich?«, fragte der Sheriff. Er drehte sich
wieder zu den Willis um. »Was wisst ihr sonst noch über ihn?«
»Eigentlich nicht viel. Er hat nur gesagt, dass er
Computer verkauft.«
»Computer?« Der Sheriff runzelte die Stirn. »Hier
in der Gegend?«
»Das hat er gesagt.«
Das war merkwürdig. Hatfield war nicht gerade ein
Technologiezentrum des Bundesstaats. Den nächsten Computerladen gab
es gut zwanzig Kilometer südlich in einem Nachbarort. »Sonst noch
etwas?«
»Er ist Fragen ziemlich ausgewichen, jetzt, da ich
darüber nachdenke. Hat so gut wie nichts erzählt. Außer dass seine
Eltern tot sind.«
»Und es schien ihn nicht groß zu bekümmern«, warf
Agnes ein.
Der Sheriff überlegte: Sloan war etwa gleich alt
und gleich gebaut wie der Mörder. Und hatte ebenfalls dunkles
Haar.
Verdammt, dachte er für sich, ich habe mir nicht
einmal seinen Führerschein angesehen, nur seine Visitenkarte. Er
könnte den echten Sloan getötet und seinen Wagen gestohlen
haben.
»Und da war noch etwas«, bemerkte Bill. »Er sagte,
sein Wagen sei überhitzt. Man sollte meinen, dass ein
Handelsvertreter mit einem neuen Wagen unterwegs ist. Und wann hast
du zuletzt gehört, dass ein Wagen überhitzt ist? Das passiert
heutzutage doch kaum mehr. Und noch dazu abends?«
»Heilige Mutter Gottes«, sagte Agnes und
bekreuzigte sich. Offenbar erachtete sie die Situation einer
Ausnahme von ihrer Regel über Gotteslästerung für würdig. »Und er
war hier bei uns, in unserem Haus.«
Aber die Gedanken des Sheriffs waren auf diesem
beunruhigenden Weg bereits weitergewandert. Sloan, wurde ihm nun
klar, hatte gewusst, dass es eine Straßensperre geben würde.
Deshalb hatte er seinen Wagen selbst funktionsuntüchtig gemacht,
die Pannenhilfe angerufen und die Straßensperre auf diese Weise
passiert. Mann, er war sogar dreist auf den Sheriff zugegangen und
hatte die Geschichte über Greg erzählt – um die Polizei in die Irre
zu führen.
Und wir haben ihn davonkommen lassen. Er konnte
inzwischen …
O nein!
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die
Magengrube. Er hatte Sloan zum Polizeirevier geschickt. Wo sich im
Augenblick nur eine Person befand. Clara. Einundzwanzig.
Wunderschön.
Und die der Sheriff nicht aus Chauvinismus als
»sein Mädchen« bezeichnet hatte, sondern weil sie tatsächlich seine
Tochter war, die in den Semesterferien bei ihm arbeitete.
Er griff zum Telefon und rief auf dem Revier an.
Niemand meldete sich.
Sheriff Mills rannte aus dem Haus und sprang in
seinen Wagen. »Großer Gott, bitte nicht...«
Der Deputy neben ihm sprach ebenfalls ein
Stoßgebet. Aber der Sheriff hörte ihn nicht. Er ließ den Wagen an,
und zehn Sekunden später brauste der Crown Victoria mit hundert
Sachen durch die Nacht, die heiß wie eine Suppe war und gesprenkelt
von Tausenden nervösen Glühwürmchen.
In der Elm Street bremste der Sheriff scharf ab
und warf noch eine Mülltonne um, ehe der Wagen zum Stehen kam.
Leere Flaschen und Süßigkeitenpapier ergossen sich über die
Straße.
Der Deputy neben ihm schleppte die kurze
Schrotflinte mit, eine Patrone in der Kammer und entsichert.
»Wie sieht der Plan aus?«, fragte er.
»So«, entgegnete der Sheriff knapp, stieß mit der
Schulter voran durch die Tür und richtete die Waffe geradeaus. Der
Deputy folgte ihm auf den Fersen.
Beide Männer blieben abrupt stehen und starrten die
beiden Menschen im Raum an, die sie beim Schlürfen von Eistee
überrascht hatten. Dave Sloan und die Tochter des Sheriffs
blinzelten erschrocken über den überfallartigen Auftritt.
Die Beamten ließen die Waffen sinken.
»Dad!«
»Was ist los, Sheriff?«, fragte Sloan.
»Ich...«, stammelte er. »Mr. Sloan, könnte ich wohl
einen Ausweis sehen?«
Sloan zeigte dem Sheriff seinen Führerschein; Mills
prüfte das Foto – es war eindeutig Sloan. Darauf erzählte er ihnen
verlegen, welchen Verdacht er nach der Unterhaltung bei den Willis
gehabt hatte.
Sloan nahm es gutmütig auf. »Sie hätten sich den
Führerschein am besten gleich zeigen lassen sollen, Sheriff.«
»Ja, das hätte ich wohl. Es schien mir nur alles
ein wenig verdächtig. Etwa dass Sie den Willis erzählt haben, Sie
kämen aus Durrant.«
»Meine Firma installiert und wartet die
Gefängniscomputer. Es ist einer meiner größten Kunden.« Er langte
in seine Jackentasche und zeigte dem Sheriff einen Arbeitsauftrag.
»Diese Stromausfälle wirken verheerend auf die Computer. Wenn man
sie nicht ordnungsgemäß herunterfährt, kommt es zu allen möglichen
Problemen.«
»Ach so. Tut mir leid, Sir. Sie müssen
verstehen...«
»Dass Sie es mit einem flüchtigen Mörder zu tun
haben.« Sloan lachte wieder. »Dann dachten die Willis also,
ich sei der Mörder... Ich würde sagen, damit sind wir quitt,
nachdem ich Greg dafür hielt.«
»Ich habe vorhin hier angerufen«, sagte der Sheriff
zu seiner Tochter. »Niemand hat sich gemeldet. Wo warst du?«
»Ach, die Klimaanlage ist ausgegangen. Mr. Sloan
und ich sind hinters Haus gegangen, um zu sehen, ob wir sie wieder
in Gang bringen.«
Einen Augenblick später begann das Faxgerät ein
Blatt Papier auszuspucken. Es zeigte das Bild eines jungen,
bärtigen Mannes mit dichtem, dunklem Haar: Die Front- und
Profilansicht des Ausbrechers.
Der Sheriff zeigte es Sloan und Clara und las aus
der Mitteilung des Gefängnisses vor. »Er heißt Tony Windham. Kind
reicher Eltern aus Ann Arbor. Millionenschwer, Treuhandvermögen,
Privatschule. Einserabschluss. Aber irgendwo ist eine Schraube
locker bei ihm. Er hat sechs Frauen getötet und beim Prozess keinen
Funken Reue gezeigt. Nun, er wird es jedenfalls nicht durch
Hatfield schaffen. Die Route 202 und die 17 sind die einzigen
Zufahrten zum Highway, und wir kontrollieren jedes Fahrzeug.« Er
wandte sich an den Deputy. »Lösen wir die Jungs an der
Straßensperre ab.«
Draußen zeigte der Sheriff Sloan den Weg zu der
Werkstatt, wo sein Chevy repariert wurde, und stieg mit seinem
Deputy in den Streifenwagen. Er wischte sich den Schweiß vom
Gesicht und verabschiedete sich von dem Handelsvertreter. »Immer
cool bleiben.«
Sloan lachte. »Nichts leichter als das. Nacht,
Sheriff.«
In Earl’s Reparaturwerkstatt ging Sloan auf den
Mechaniker zu, dessen Overall ebenso viele Schweiß- wie Ölflecken
aufwies.
»Okay, er läuft wieder«, sagte der Mann.
»Was war los?«
»Der Deckel war abgegangen, deshalb ist Ihr
Kühlmittel herausgeschwappt, das war alles. Ich trau mich gar
nicht, etwas zu berechnen.«
»Aber Sie werden es trotzdem tun.«
Der Mann nahm seine durchnässte Baseballmütze ab
und wischte sich die Stirn ab. Setzte die Mütze wieder auf. »Wenn
Ihr Auto nicht gewesen wäre, würde ich jetzt daheim in einer kalten
Badewanne sitzen.«
»Das verstehe ich.«
»Ich habe Ihnen nur zwanzig Dollar berechnet. Plus
das Abschleppen, natürlich.«
Zu jeder anderen Zeit hätte Sloan gefeilscht, aber
er wollte zurück auf die Straße. Er zahlte, stieg in den Wagen und
drehte die Klimaanlage voll auf. Dann fuhr er auf die Hauptstraße
und hinaus aus der Stadt.
Zehn Meilen östlich von Hatfield, nahe der
Interstate, bog er auf den Parkplatz eines Greyhound-Busbahnhofs.
Er stellte den Wagen in einem verlassenen Teil des Parkplatzes ab.
Dann stieg er aus und ließ den Kofferraum aufspringen.
Er sah hinein und nickte dem bärtigen jungen Mann
in dem Gefängnisoverall zu. Der Mann blinzelte mit
schmerzverzerrtem Gesicht in das grelle Licht über ihnen und
schnappte nach Luft. Er lag in einer embryonalen Stellung
zusammengekrümmt.
»Wie geht’s?«, fragte Sloan.
»Himmel«, murmelte Tony Windham. Er schnappte nach
Luft, und sein Kopf rollte beunruhigend schlaff hin und her.
»Heiß... schwindlig. Krämpfe.«
»Klettern Sie langsam heraus.«
Sloan half dem Gefangenen aus dem Wagen. Selbst mit
Bart und schweißnassem Haar sah der Mann eher wie ein wohlerzogener
Banker als wie ein Serienmörder aus – auch wenn sich diese beiden
Tätigkeiten nicht gegenseitig ausschließen mussten, dachte
Sloan.
»Tut mir leid«, sagte der Handelsvertreter. »Es hat
länger gedauert als gedacht, bis der Abschleppwagen kam. Dann saß
ich im Büro des Sheriffs fest, bis der zurück war.«
»Ich habe bestimmt zwei Liter Wasser getrunken«,
sagte Windham, »und muss noch immer nicht pinkeln.«
Sloan blickte sich auf dem menschenleeren Parkplatz
um. »Zur vollen Stunde fährt ein Bus nach Cleveland. Da drin ist
eine Fahrkarte und ein falscher Führerschein«, fügte er hinzu und
gab Windham eine Sporttasche, die außerdem einige Toilettenartikel
und Kleidung zum Wechseln enthielt. Der Mörder trat hinter eine
große Mülltonne und zog Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift
»Rock and Roll Hall of Fame« an. Seine Gefängnisklamotten stopfte
er in die Tonne. Dann kauerte er nieder und rasierte sich den Bart
mit Gel und Mineralwasser; mit den Fingern prüfte er sorgfältig, ob
er alle Barthaare erwischt hatte. Als er fertig war, versteckte er
sein Haar unter einer Baseballmütze.
»Wie sehe ich aus?«
»Wie ein ganz anderer Mensch.«
»Verdammt«, sagte Windham. »Sie haben es geschafft,
Sloan. Sie sind gut.«
Der Geschäftsmann hatte Tony Windham vor einem
Monat in der Gefängnisbibliothek kennengelernt, als er ein Upgrade
des Computersystems der Anstalt überwachte. Er fand Windham
charmant, klug und einfühlsam – dieselben Eigenschaften, die Sloan
zu einem Starverkäufer gemacht hatten. Die beiden verstanden sich
prächtig. Schließlich unterbreitete Windham sein Angebot für die
eine Sache, die Sloan verkaufen konnte: Freiheit. Es gab keine
Verhandlungen. Sloan setzte den Preis auf drei Millionen fest, die
der Millionenerbe auf ein anonymes Konto in Übersee transferieren
ließ.
Sloans Plan sah vor, dass er auf einen der
heißesten Tage des Jahres wartete, dann so tat, als hätte es einen
momentanen Stromausfall gegeben, und mit Hilfe der Computer die
Stromversorgung und die Sicherungssysteme des Gefängnisses
lahmlegte. Das würde es Windham ermöglichen, über den elektrischen
Zaun zu klettern. Sloan würde den Mörder dann aufsammeln und im
Kofferraum verstecken, den er zu diesem Zweck mit Luftlöchern und
einem großen Wasservorrat versehen hatte.
Sloan hatte damit gerechnet, dass die Polizei
Straßensperren an den Routen errichten würde, die vom Gefängnis
wegführten. Deshalb hatte er seinen Wagen in der Nähe eines der
wenigen Häuser entlang der Route 202 gestoppt und den Deckel des
Kühlwasserbehälters offen gelassen, sodass das Fahrzeug überhitzte.
Dann hatte er darum gebeten, das Telefon benutzen zu dürfen. Er
hatte beabsichtigt, ein wenig über die Hausbesitzer in Erfahrung zu
bringen, damit er eine glaubwürdige Geschichte über verdächtige
Vorgänge im Haus auftischen und die Polizei ablenken konnte, sodass
sie seinen Wagen nicht durchsuchten. Aber er hätte sich nie träumen
lassen, auf eine so gute falsche Fährte wie Greg, den verrückten
Klempner, zu stoßen.
Mir wurde klar, dass es keinen Unterschied
zwischen Leben und Tod gibt. Nicht den geringsten. Was halten Sie
davon?
Sloan gab Tony Windham fünfhundert Dollar in
bar.
Der Mörder schüttelte ihm die Hand. Dann runzelte
er die Stirn. »Sie fragen sich wahrscheinlich, ob ich jetzt, da ich
draußen bin, mein Leben auf die Reihe kriege. Oder ob ich, na ja,
so weitermache wie vorher. Mit den Mädchen.«
Sloan hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu
bringen. »Ich will Ihnen einen Grundsatz meines Gewerbes verraten,
Tony. Sobald ein Geschäft abgeschlossen ist, denkt ein guter
Verkäufer nicht darüber nach, was der Käufer mit dem Produkt
anfangen wird.«
Der Mann nickte und machte sich mit der Tasche über
der Schulter auf den Weg zur Bushaltestelle.
Sloan stieg in seinen Firmenwagen und ließ den
Motor an. Er öffnete einen Aktenkoffer und schaute sich den
Verkaufsplan für den folgenden Tag an. Ein paar ganz gute
Aussichten darunter, überlegte er zufrieden. Er drehte die
Klimaanlage voll auf, fuhr aus dem Parkplatz und steuerte in
Richtung Osten, um sich ein Hotel für die Nacht zu suchen.
Glauben Sie an Gott, Sloan?
Nein. Ich glaube ans Verkaufen. Das ist so
ziemlich alles.
Dann ist das Ihre Seele.
O ja, das ist sie, dachte Sloan.
Auf siebenunddreißig Grad erwärmt.