Das Mädchen im Stollen
»Entschuldigen Sie, dass ich so früh störe, Sir.«
Ein beunruhigter Ron Badgett blinzelte um sechs Uhr morgens benommen den Mann vor seiner Tür an, der mit einem Anzug bekleidet war und ihm eine Dienstmarke der Polizei entgegenstreckte.
»Ich bin Detective Larry Perillo.«
»Was ist los, Officer?«
»Sie sind der Eigentümer des Gebäudes Humbolt Way 77?«
»Ja. Dort befindet sich meine Firma.« Ron Badgett begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Vor drei Minuten mochte er noch schlaftrunken und müde gewesen sein. Jetzt war er hellwach. »Hat es gebrannt, oder was?« Der dickbäuchige Mann mittleren Alters mit dem schütteren Haar zog den Gürtel seines beigen Frotteebademantels fester zu.
Es war ein kühler Samstagmorgen im September, und die beiden Männer standen im Eingang von Rons renovierungsbedürftigem Wohnhaus im Kolonialstil, das sich von den drei Kindern der Vorbesitzer noch nicht ganz erholt hatte. Offenbar waren diese auf jeder erreichbaren Oberfläche herumgehüpft und -getrampelt, und Ron und seine Frau verbrachten den größten Teil ihrer Freizeit mit Reparaturarbeiten.
»Nein, Sir, mit Ihrem Geschäft ist alles in Ordnung. Aber wir hoffen, Sie können uns helfen. Kennen Sie das alte Gebäude hinter Ihrem, auf der anderen Seite des Parkplatzes?«
»Der heruntergekommene alte Kasten?«
»Genau.«
Sandra, Rons Ehefrau seit achtzehn Jahren, erschien in der Tür und runzelte die Stirn. Sie trug einen blauen Steppmantel und Hausschuhe. Ihr Haar war unordentlich, und sie hatte diesen schläfrigen Morgenblick, den Ron auch nach achtzehn Ehejahren immer noch attraktiv fand. »Was ist los, Schatz?«
»Es gibt ein Problem mit einem alten Gebäude hinter dem Büro.« Er stellte sie dem Beamten vor.
»Ach, das eine, das sie abreißen wollen?« Sandra, die zurzeit nur gelegentlich freiberuflich arbeitete, hatte Ron eine Woche lang beim Umzug in das neue Gebäude geholfen. Eines Tages, als sie an der Laderampe auf der Rückseite stand, hatte sie bemerkt, dass der Bau gefährlich aussah.
»Richtig«, sagte Perillo und fügte dann hinzu: »Gestern Abend hat anscheinend eine Studentin des City College eine Abkürzung durch das Gelände dort hinten genommen. Ein Teil des Gebäudes ist eingestürzt. Sie sitzt in einem dieser alten Lieferstollen fest, die früher die Fabriken und Lagerhäuser in der Gegend miteinander verbunden haben.«
»Großer Gott«, flüsterte Sandra.
»Aber sie lebt noch?«, fragte Ron.
»Bis jetzt, ja. Wir hören sie um Hilfe rufen, aber sie klingt nicht sehr kräftig.«
Rons Frau schüttelte den Kopf. Die beiden hatten eine siebzehnjährige Tochter, die zurzeit in Washington D.C. zur Schule ging, und Sandra dachte daran, wie es wäre, wenn ihr eigenes Kind verletzt oder eingesperrt wäre. Niemand kann so mitfühlen wie andere Eltern.
Der Polizist warf einen Blick auf die Morgenzeitung, die in einer Plastikhülle auf dem Rasen lag. Er hob sie auf und zeigte ihnen die Schlagzeile: WIRD DAS MÄDCHEN IM STOLLEN GERETTET?
Ein Foto zeigte Dutzende von Rettungskräften, die einen Berg Schutt umstanden. Im Vordergrund schnüffelte ein Polizeihund an einem klaffenden Loch im Boden. Ein grimmig blickendes Paar stand in der Nähe; es waren die Eltern von Tonya Gilbert, dem verschütteten Mädchen. Ein weiteres Foto zeigte das Bild des Mädchens im Jahrbuch der High-school. Ron überflog den Artikel und erfuhr ein paar Dinge über Tonya. Sie hatte gerade ihr Abschlussjahr am City College begonnen, nachdem sie den Sommer über als Wanderführerin in einem Naturpark in den Appalachen gearbeitet hatte. Ihr Studienschwerpunkt lag im öffentlichen Gesundheitswesen. Ihr Vater war Geschäftsmann, ihre Mutter arbeitete ehrenamtlich in einer Reihe von Wohltätigkeitsvereinen in der Stadt. Tonya war ihr einziges Kind.
Ron tippte auf einen Artikel am Rand der Seite. »Hey, sieh mal an.« ELTERN BIETEN 500 000 $ FÜR RETTUNG DES KINDES, lautete die Schlagzeile.
Eine halbe Million, dachte er. Dann fiel ihm ein, dass sich der Nachname des Mädchens bekannt anhörte. Ihr Vater war wahrscheinlich derselbe Gilbert, dem eine große Investmentbank in der City gehörte und der in der Presse immer auf Versteigerungen für wohltätige Zwecke und kulturellen Benefizveranstaltungen auftauchte.
»Wie können wir helfen?«, fragte Sandra den Detective.
»Unsere Rettungsteams haben versucht, von der Oberfläche zu dem Mädchen vorzudringen, aber es ist zu gefährlich. Der Rest des Gebäudes könnte jeden Moment einstürzen. Die Behörden würden gern versuchen, über den Keller Ihres Bürogebäudes zu ihr vorzustoßen.«
Sandra schüttelte den Kopf. »Aber was sollte das helfen? Er ist ja ein ganzes Stück entfernt von dem alten Gebäude.«
»Unsere Leute haben sich alte Karten von Gebäuden angesehen, die früher in der Gegend standen. Es gibt einige Kellergeschosse unter dem Parkplatz, zwischen Ihrem Gebäude und dem eingestürzten, und wir glauben, dass diese nicht aufgefüllt wurden. Wir hoffen, dass sich jemand unterirdisch an das Mädchen heranarbeiten kann.«
»Ach so, natürlich«, sagte Ron. »Wir helfen, so gut es nur geht.«
»Vielen Dank, Sir.«
»Ich komme sofort runter und lasse Sie rein. Geben Sie uns nur ein paar Minuten, damit wir uns etwas anziehen können.«
»Sie können mir hinterherfahren.« Der Detective zeigte auf seinen dunkelblauen zivilen Wagen.
Ron und Sandra eilten ins Haus zurück. »Das arme Mädchen... beeilen wir uns«, flüsterte Sandra.
Im Schlafzimmer warf Ron Bademantel und Pyjama auf den Boden, während Sandra in ihr Ankleidezimmer ging, um sich umzuziehen. Während Ron Jeans und ein Sweatshirt anzog, klickte er den lokalen Fernsehkanal an. Ein Team war vor Ort, und ein Reporter erzählte dem Nachrichtensprecher gerade, dass ein weiterer Teil des Gebäudes eben eingestürzt sei, die Trümmer hätten Tonya jedoch verfehlt. Sie lebte noch.
Gott sei Dank, dachte Ron. Er schlüpfte in seine Jacke und schaute auf den Bildschirm. Die Kamera schwenkte auf zwei junge Frauen, die an der Polizeiabsperrung standen. Eine wischte sich die Tränen fort, während die andere ein Schild in die Höhe hielt. »Wir ♥ Dich, Tonya!« stand darauf.
 
RB Graphic Design war in einem alten Lagerhaus für Kaffee untergebracht, einem kleinen, nahe am Fluss und auf der Straßenseite gegenüber dem City College.
Vor zwei Jahren hatten ein Dutzend Bauträger beschlossen, dieses frühere Industriegebiet umzuwandeln und Lofts, schicke Restaurants, Theater und künstlerisch angehauchte Gewerbe anzusiedeln – so wie es neuerdings viele Städte in dem mehr oder weniger verzweifelten Bemühen taten, den Trend zur Flucht in die genormten Schlafstädte zu stoppen.
Die Immobiliengesellschaften steckten auf dem acht Straßenzüge im Quadrat großen Gelände enorme Summen in Renovierung und Neubauten, während die Stadt selbst sich zu Steuererleichterungen bereit erklärte, um Menschen und Firmen zum Umzug zu bewegen, und ein paar billige Skulpturen, die Beschilderung und ein PR-Unternehmen bezahlte, das sich den Namen NeDo einfallen ließ, was für New Downtown stand. Trotz des wenig geistreichen Namens und einiger anderer Planungsfehler (zum Beispiel hatte man vergessen, dass die Besucher der schicken Restaurants und Theater und die Angestellten in den kreativen Unternehmen ihre Autos irgendwo parken mussten), fand die Erschließung Anklang. Ron Badgett etwa wusste sofort, dass er seine Firma in das Viertel verlegen wollte, und besonders hatte es ihm das alte Kaffeelagerhaus angetan. Er könne es nicht erklären, sagte er zu Sandra, aber ihm sei instinktiv klar gewesen, dass es perfekt zu seiner Persönlichkeit passe.
Ron hielt außerdem die Zeit für gekommen, sein ursprüngliches Büro aufzugeben. Er fand, die Vorteile des alten Gebäudes hatten sich erschöpft, das im ursprünglichen Stadtzentrum lag, in einer langweiligen Umgebung mit lauter Bürogebäuden aus den 1950ern, dem Busbahnhof und einer kürzlich stillgelegten Sekretärinnenschule. Nachts war es eine Geisterstadt. Gewaltverbrechen hatten in den letzten Jahren zugenommen, und Sandra hasste es, abends allein in das Gebiet zu fahren, um Ron zu treffen.
Doch obwohl NeDo allmählich populär wurde, hatte sich der Umzug in finanzieller Hinsicht für Ron nicht so gelohnt wie erhofft. Offenbar zogen eine Reihe seiner Kunden die alte Gegend vor (die nicht verstopfte Straßen, reichlich Parkplätze und stille, unprätentiöse Restaurants zu bieten hatte). Er hatte ein halbes Dutzend Kunden verloren, und auch wenn er ein paar neue an Land ziehen konnte, litt er immer noch unter dem Umsatzeinbruch und den Kosten des Umzugs, die höher als berechnet ausgefallen waren.
Die Finanzen waren ein Problem, vor allem für Sandra. Sie war ehrgeiziger – und hatte einen kostspieligeren Geschmack – als ihr Mann, und ihrer beider Einkommen hatte sich empfindlich verringert, als sie vor sechs Monaten als Ingenieurin bei einem Energieunternehmen entlassen worden war. Er wusste, sie würde es gern sehen, wenn er sich von einer großen Werbeagentur fest anstellen ließe, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Ron Badgett hatte seine Frau nie darüber im Unklaren gelassen, dass er wichtigere Ziele hatte als Geld anzuhäufen. »Ich muss selbstständig arbeiten. Verstehst du, ich muss meiner Kreativität folgen.« Er hatte wehmütig gelächelt. »Ich weiß, das klingt bescheuert. Aber ich kann nicht anders. Ich muss mir treu bleiben.«
Letzten Endes, glaubte er, verstand ihn Sandra und unterstützte ihn. Abgesehen davon gefiel es ihm sehr in NeDo, und er verspürte kein Verlangen, wegzuziehen.
Während die Badgetts nun dem dahinrasenden Polizeiauto folgten, waren alle Gedanken über Stadtviertel, ihre finanzielle Lage und ihrer beider Persönlichkeiten jedoch in weite Ferne gerückt. Ron konnte an nichts anderes denken als an Tonya Gilbert, das Mädchen im Stollen, das unter dem eingestürzten Gebäude lag.
Ein Stück voraus sah er das Treiben rund um die Tragödie: Massen an Helfern, Feuerwehrautos, Streifenwagen, Schaulustige hinter gelbem Absperrband. Auch die Presse natürlich, ein halbes Dutzend Lkws mit den Logos der Sender an den Seiten und von himmelwärts gerichteten Satellitenschüsseln gekrönt.
Ron hielt vor seinem Gebäude – unter einem vorspringenden Parkverbotsschild -, und er und Sandra stiegen eilig aus. Sie folgten dem Detective zur Einganstür von RB Graphic Design, wo mehrere düster blickende Vertreter von Polizei und Feuerwehr standen. Es waren kräftige Männer und Frauen, einige trugen Overalls und Gürtel mit Rettungsutensilien, andere Anzüge oder Uniformen.
Einer von ihnen, ein weißhaariger Mann in einer marineblauen Uniform mit Bändern und Abzeichen auf der Brust, schüttelte den Badgetts die Hand, nachdem Perillo sie vorgestellt hatte. »Ich bin Feuerwehrkommandant Knoblock. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um uns zu helfen. Wir haben hier ein massives Problem.«
»Du lieber Himmel, unter dem ganzen Zeug hier liegt sie?«, fragte Sandra und blickte durch die Gasse neben Rons Gebäude auf einen riesigen Berg Schutt. Die verbliebenen Wände ragten bedenklich labil über klaffenden Löchern im Untergrund auf. Sie sahen aus, als könnten sie jeden Moment einstürzen. Eine Staubwolke vom letzten Einsturz hing wie grauer Nebel in der Luft.
»Leider ja«, sagte der Kommandant. »Sie befindet sich acht bis zehn Meter tief in einem Teilstück eines alten Transportstollens, den man früher benutzte, als die Fabriken und Lagerhäuser hier noch in Betrieb waren. Ein Wunder, dass sie noch lebt.« Der hoch gewachsene Mann mit der makellosen Körperhaltung schüttelte den Kopf. »Und das alles, um ein paar Blocks abzukürzen.«
»Man hätte Warnschilder oder so etwas aufstellen sollen«, sagte Ron.
»Die gab es wahrscheinlich«, erwiderte der Kommandant. »Sie wird sie wohl ignoriert haben. Sie wissen ja, wie die jungen Leute heute sind«, sagte er mit der Miene eines Mannes, der so manche von törichten Teenagern verursachte Tragödien gesehen hatte.
»Warum ist das Gebäude eingestürzt?«, fragte Ron.
»Das weiß niemand genau. Die Inspektoren sagten, viele der Stützbalken seien zwar verrottet gewesen, aber sie rechneten nicht damit, dass es in absehbarer Zeit einstürzen würde, sonst hätten sie es mit einem Zaun gesichert.«
»Nun, dann kommen Sie herein«, sagte Ron. Er öffnete die Tür und führte Knoblock und die anderen in das Gebäude und dann hinunter in das Tiefgeschoss. Bei der Renovierung war mit diesem Teil des Baus nicht viel Aufwand betrieben worden, und es war modrig und schlecht beleuchtet, aber dank Sandras Anstrengungen während des Umzugs wenigstens sauber.
»Wissen Sie, was ich mich frage?«, wandte sich Perillo an den Feuerwehrchef. »Hatte sie denn kein Handy dabei? Vielleicht könnten Sie sie anrufen. Sie könnte Ihnen sagen, wie schwer verletzt sie ist oder vielleicht einen nützlichen Hinweis liefern, wie wir an sie herankommen.«
»Oh, sie hat ein Handy«, antwortete der Kommandant. »Wir haben die Gesprächsliste überprüft. Sie hat gestern Abend, als sie das College verließ, ein paar Mal telefoniert – vermutlich unmittelbar, bevor sie in das Loch fiel. Aber der Netzbetreiber sagt, das Gerät ist abgeschaltet. Sie findet es wahrscheinlich im Dunkeln nicht. Oder sie kann es nicht erreichen.«
»Es könnte kaputt sein«, meinte Sandra.
»Nein«, erklärte der Feuerwehrchef. »Das kann der Betreiber feststellen. Intakte Telefone strahlen, auch wenn sie ausgeschaltet sind, noch ein Signal ab. Es muss so sein, dass sie einfach nicht an das Handy herankommt.«
Ein Feuerwehrmann in einem Overall kam die Treppe herunter, sah sich um und räumte dann alles mögliche Grafikzubehör von einem alten Zeichentisch. Er breitete eine Karte von der Umgebung rund um Rons Haus aus. Seine Kollegen bauten Scheinwerfer auf – einen auf die Karte gerichtet, den anderen auf die Wand auf der Rückseite des Gebäudes.
Knoblock nahm einen Anruf auf seinem eigenen Handy entgegen. »Ja, Sir... ja. Wir sagen Ihnen Bescheid.«
Er legte auf, schüttelte den Kopf und wandte sich mit leiser Stimme an Ron und seine Frau. »Das war ihr Vater. Armer Kerl. Er ist fix und fertig. Ich habe mit seiner Frau gesprochen, und anscheinend hatten er und Tonya in letzter Zeit Probleme miteinander. Sie ist mit ihrem Wagen irgendwo gegen gefahren, und er wollte ihr kein Geld für die Reparatur geben. Das ist der Grund, warum sie zur Bushaltestelle laufen musste.«
»Und jetzt«, sagte Sandra, »hält er es für seine Schuld, dass sie diesen Unfall hatte.«
»Ja. Und wenn Sie mich fragen, bietet er deshalb eine so hohe Belohnung an. Ich meine, fünfhunderttausend Dollar... So etwas habe ich noch nie gehört. Jedenfalls nicht hier bei uns.«
Von oben rief eine Stimme: »Langley ist gerade eingetroffen. Er wird in einer Minute bei Ihnen unten sein.«
»Unser Rettungsspezialist«, erklärte der Kommandeur.
»Wer ist er?«, fragte Ron.
»Der führende Spezialist für Rettung und Bergung im Lande. Führt ein entsprechendes Unternehmen in Texas. Greg Langley. Haben Sie noch nie von ihm gehört?«
Sandra schüttelte den Kopf. Ron dagegen zog eine Augenbraue hoch. »Doch, ich glaube schon. Es gab mal einen Bericht über ihn im Discovery Channel oder so.«
»Auf A&E«, sagte Knoblock. »Er soll ziemlich gut sein. Sein Unternehmen rettet Bergsteiger und Wanderer, die auf Bergen oder in Höhlen verunglücken, Arbeiter, die auf Ölplattformen festsitzen, von Lawinen Verschüttete, was Sie wollen. Er hat eine Art sechsten Sinn dafür, Leute zu finden und zu retten.«
»Er war mit seiner Mannschaft gerade in Ohio«, sagte Detective Perillo. »Sie sind die ganze Nacht gefahren, um hierherzukommen.«
»Da hatten Sie ja Glück, dass Sie ihn erwischt haben, als er gerade frei war«, sagte Ron.
»Na ja, eigentlich hat er uns angerufen, kurz nachdem die Geschichte um Mitternacht publik wurde«, antwortete Kommandant Knoblock. »Ich konnte mir nicht erklären, wie er es erfahren hatte, aber er sagte, er lässt Leute überall im Land die Nachrichten verfolgen, und sie geben ihm Bescheid, wenn sich etwas nach einem Job für ihn anhört.« Flüsternd fügte der Feuerwehrchef an: »Für meinen Geschmack ist der Mann ein bisschen zu sehr an der Belohnung interessiert. Aber solange er das Mädchen rettet, soll es mir recht sein.«
Die Feuerwehrleute waren mit der Verlegung der Stromkabel fertig und schalteten das Licht ein. Der Raum wurde in blendend weißes Licht getaucht, und im selben Moment hörte man Schritte auf der Treppe. Eine Gruppe von drei Männern und zwei Frauen kam in das Untergeschoss, sie karrten Seile und Helme heran, Scheinwerfer, Funkgeräte, Metallklammern, Haken und sonstiges Gerät, das für Ron wie Bergsteigerausrüstung aussah. Alle trugen gelbe Overalls mit dem Schriftzug Langley Services, Houston, TX auf dem Rücken.
Einer der Männer stellte sich als Greg Langley vor. Er war in den Vierzigern, etwa einen Meter fünfundsiebzig groß, schlank, aber erkennbar kräftig. Er hatte ein rundes, sommersprossiges Gesicht, gelocktes, rotes Haar und Augen, die vor Selbstsicherheit überflossen.
Man stellte einander vor. Langley warf einen Blick auf Ron und Sandra, begrüßte sie aber nicht einmal. Ron war ein wenig gekränkt, ließ sich aber nichts anmerken.
»Wie ist die Situation?«, fragte Langley die Beamten.
Knoblock beschrieb den Unfall und zeigte auf der Karte die genaue Lage des Mädchens im Stollen, dann erklärte er, wie die Tiefgeschosse Rons Gebäude mit der eingestürzten Fabrik verbanden.
»Ist sie in unmittelbarer Gefahr?«, fragte Langley.
»Wir können sie wahrscheinlich irgendwie mit Essen und Wasser versorgen«, sagte Knoblock. »Und bei diesem Wetter wird sie nicht an Unterkühlung sterben. Aber ihre Stimme klingt sehr schwach. Das lässt uns annehmen, dass sie bei dem Sturz ziemlich schwer verletzt wurde. Sie könnte bluten, könnte sich etwas gebrochen haben, wir wissen es einfach nicht.«
»Die große Gefahr ist ein weiterer Einsturz«, fügte ein anderer Feuerwehrmann an. »Das ganze Gelände ist völlig instabil.«
»Wo gehen wir rein?«, fragte Langley mit einem Blick auf die Kellerwand.
Ein Bauingenieur der Stadt prüfte die Karte und klopfte dann auf einen Punkt auf dem Ziegelwerk. »Auf der anderen Seite dieser Wand war ein altes Gebäude, das vor ein paar Jahren abgerissen wurde. Man hat die Fläche zubetoniert, aber die meisten Räume im Untergeschoss sind noch intakt. Wir glauben, dass Sie sich einen Weg bis zu einer Holztür bahnen können... etwa hier.« Er berührte die Karte. »Dann kommen Sie in diesen Transportstollen.« Er fuhr ihn auf der Karte bis zu einem angrenzenden Stollen entlang. »Das Mädchen ist in dem nächsten Gang.«
In diesem Augenblick war ein leises Rumpeln im Keller zu hören.
»Großer Gott«, sagte Sandra und packte Ron am Arm.
»Was war das?«, rief Knoblock in sein Funkgerät.
Man hörte statisches Rauschen, ein, zwei unverständliche Worte, dann eine deutliche Stimme. »Ein weiterer Einsturz, Chef.«
»Oh, verdammt... Ist sie in Ordnung?«
»Moment... Wir hören nichts. Warten Sie.«
Niemand im Keller sprach ein Wort.
»Bitte«, flüsterte Ron.
Dann knisterte es wieder aus dem Funkgerät des Kommandeurs, und die Stimme meldete: »Okay, okay – wir hören sie. Man versteht nicht viel, aber es klingt, als würde sie sagen: ›Bitte helft mir.‹«
»Okay«, kommandierte Langley. »An die Arbeit. Ich will diese Wand in fünf Minuten eingerissen haben.«
»Jawohl«, sagte Knoblock und setzte das Funkgerät an den Mund.
»Nein«, bellte der Rettungsspezialist. »Meine Leute machen das. Es muss richtig gemacht werden. So etwas überlasse ich nicht...« Er sprach nicht zu Ende, und Ron fragte sich, welche Beleidigung er wohl gerade auf den Lippen gehabt hatte. Langley wandte sich an eine junge Frau aus seinem Team. »Ach ja, hier, rufen Sie ihren Vater an. Sagen Sie ihm, das ist das Konto, auf das er das Geld überweisen soll, sobald sie in Sicherheit ist.«
Die Frau nahm den Zettel und eilte nach oben, um zu telefonieren. Im Keller herrschte einen Augenblick lang Schweigen, während die Feuerwehrleute und Polizeibeamten einander voll Unbehagen ansahen. Langley fing ihren Blick auf. Seine Miene sagte schlicht: Ich bin ein Profi, ich erwarte, dass ich bezahlt werde für die Ergebnisse, die ich liefere. Wenn Sie ein Problem damit haben, engagieren Sie jemand anderen.
Bei Knoblock, Perillo und den anderen schien die Botschaft anzukommen, und sie wandten sich wieder der Karte zu. »Soll Sie einer von unseren Leuten begleiten?«, fragte der Kommandeur.
»Nein, ich gehe allein«, sagte Langley und begann seine Ausrüstung zusammenzustellen.
»Ich habe eine Frage«, sagte Ron. Langley ignorierte ihn. Knoblock zog eine Augenbraue hoch. Der Grafikdesigner zeigte auf die Karte. »Was ist das?« Er fuhr mit dem Finger an etwas lang, das wie ein Schacht aussah; er verlief von einer nahen Straße zu einem Stollen, der an den Stollen mit dem Mädchen grenzte.
»Das ist ein alter Abflusskanal«, sagte einer der Feuerwehrleute. »Ehe der Damm errichtet wurde, gab es in diesen Transportstollen immer Überflutungen, wenn der Fluss Hochwasser führte. Sie brauchten einen richtigen Abfluss.«
»Wie breit ist er?«
»Ich weiß nicht... einen Meter im Durchmesser, würde ich sagen.«
»Könnte jemand durchkriechen?«
Langley blickte auf und sprach ihn endlich an. »Wer waren Sie gleich noch?«
»Mir gehört das Gebäude hier.«
Der Rettungsspezialist wandte sich wieder der Karte zu. »Nur ein Idiot würde diesen Weg wählen. Sehen Sie es nicht? Der Kanal führt direkt unter dem instabilen Teil des Gebäudes durch. Wahrscheinlich ist er seit dem ersten Einsturz schon blockiert. Und selbst wenn nicht, einmal an einen Stützbalken stoßen, einmal falsch atmen, und schon kommt alles auf Sie runter. Dann hätte ich zwei Leute zu retten. Das Mädchen im Stollen und das Arschloch im Stollen.«
»Klingt, als hätten Sie es bereits überprüft«, sagte Ron in spitzem Ton. Er ärgerte sich über die Hochnäsigkeit des Mannes. »Sie arbeiten schnell.«
»Ich bin schon eine ganze Weile in diesem Geschäft. Ich habe ein Gespür dafür, was ein vertretbares Risiko ist und was nicht. Der Abflusskanal ist keins.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich«, murmelte Langley. »Wir haben es hier mit einem ziemlich kniffligen Unterfangen zu tun. Vielleicht sollten Sie beide jetzt besser gehen. Wir werden schweres Gerät hier runterschaffen, da ist schnell etwas passiert.« Er sah Ron an, dann warf er Sarah einen Blick zu.
Als sich Ron nicht rührte, wandte sich Langley an den Feuerwehrchef. »Sehen Sie das nicht auch so?« Er setzte sich einen gelben Helm auf und schnallte ein beeindruckend aussehendes Handy an seinen Gürtel.
»Ähm, Mr. Badgett«, begann Knoblock verlegen, »ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen, aber es wäre vielleicht besser, wenn...«
»Schon gut«, sagte der Grafikdesigner. »Wir wollten sowieso gerade gehen.«
 
Draußen stieg Ron in den Wagen und bedeutete Sandra, ebenfalls einzusteigen. Er fuhr langsam die Straße hinauf, fort von dem eingestürzten Gebäude und den Rettern, dem Scheinwerfergewirr und den Schaulustigen.
»Bleiben wir denn nicht hier und schauen, was passiert?«, fragte Sandra.
»Nein.«
»Was ist los?«, fragte sie nervös und beobachtete, wie ihr Mann langsam die menschenleere Straße entlangrollte, in die Gassen und auf die freien Grundstücke blickte, die von Gras überwachsen und voller Müll waren – Orte, die später einmal ein Teil von NeDo werden sollten, aber im Moment nur Zeugnis davon ablegten, was dieses Viertel einmal gewesen war.
Schließlich blieb er stehen und starrte auf den Boden. Er stieg aus, Sandra folgte ihm.
»Was hast du...?« Ihre Stimme verklang. »Nein.«
Ron blickte auf den Eingang zu einem großen Abflusskanal – es war der, den er auf der Karte entdeckt hatte.
»Du willst doch nicht... Nein, Ron, du gehst nicht da rein.«
»Fünfhunderttausend Dollar«, flüsterte er. »Wann sonst bekommen wir eine Chance auf so viel Geld?«
»Nein, Schatz. Du hast gehört, was Langley gesagt hat. Es ist gefährlich.«
»Eine halbe Million. Denk mal nach... Du weißt, das Geschäft ging zuletzt schleppend. Der Umzug hat mich weiter zurückgeworfen, als ich dachte.«
»Es wird besser werden. Du findest neue Kunden.« Ihre Miene war starr vor Sorge. »Ich will nicht, dass du da reingehst, wirklich.«
Ron schaute auf das Gitter vor der Grube, auf die Schwärze dahinter. »Ich halte es überhaupt nicht für gefährlich... Kam dir das, was Langley gesagt hat, nicht irgendwie merkwürdig vor?«
»Merkwürdig?«
»Er hat sich den Abflusskanal nicht einmal angesehen. Aber erzählt die ganze Zeit etwas davon, wie gefährlich es ist. Du bist doch selbst Bauingenieurin. Was denkst du? Ist das nicht der beste Weg, um an sie heranzukommen?«
Sie zuckte die Achseln. »Mit Geologie habe ich nichts zu tun, wie du weißt.«
»Es sieht jedenfalls selbst für mich wie der beste Weg aus... Mir kam es vor, als wollte Langley allen weismachen, dass es nur einen Weg zu dem Mädchen gibt, nämlich seinen. Damit es erst gar niemand über den Abflusskanal versucht.« Er nickte in Richtung des Gitters. »Auf diese Weise kann er sich seiner Belohnung sicher sein.«
Sandra verstummte einen Moment lang. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das Gefühl hatte ich eigentlich nicht. Er ist ziemlich arrogant und beleidigend, aber selbst wenn das stimmt, was du sagst, muss es immer noch riskant sein, da reinzugehen.« Sie zeigte in Richtung des eingestürzten Gebäudes. »Du musst trotzdem da unten durch.«
»Fünfhunderttausend Dollar, Baby«, flüsterte er.
»Das ist es nicht wert, dafür umzukommen.«
»Ich werde es tun.«
»Nein, Ron, bitte nicht.«
»Ich muss.«
Sie seufzte und verzog das Gesicht. »Ich hatte immer das Gefühl, dass es eine Seite an dir gibt, die ich nicht kenne, Ron. Dinge, die du nicht mit mir teilst. Aber Ritter in schimmernder Rüstung zu spielen, um ein Mädchen zu retten? So habe ich dich eigentlich nie gesehen. Oder bist du einfach nur sauer, weil er uns beleidigt und aus unserem eigenen Gebäude geworfen hat?« Ron antwortete nicht. »Und mal ganz ehrlich, Schatz«, fügte Sandra an, »du bist körperlich nicht gerade in bester Verfassung.«
»Ich werde kriechen und nicht einen Marathon laufen.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Irgendwas stimmt nicht an der ganzen Sache. Langley zieht irgendein krummes Ding durch. Aber nicht mit mir. Ich werde mir das Geld holen.«
»Du hast dich entschieden, oder?«, fragte sie leise.
»Das ist eine Sache, die du auf jeden Fall von mir weißt: Wenn ich mich einmal entschieden habe, kann mich nichts mehr aufhalten.«
Ron griff ins Handschuhfach und holte die Taschenlampe hervor. Dann ging er zum Kofferraum und zog das Radeisen heraus. »Meine Bergwerksausrüstung«, scherzte er matt, als er die gebogene Eisenstange hochhielt. Er sah zur schwarzen Öffnung des Abflusskanals.
Sandra holte ihr Handy aus dem Wagen und hielt es fest in der Hand. »Ruf an, wenn etwas passiert. Ich hole dann so schnell wie möglich Hilfe.«
Er küsste sie heftig. Dann stieg der Ritter – in ausgewaschenen Jeans und einem alten Sweatshirt statt schimmernder Wehr – in die düstere Öffnung.
 
Der Weg durch den Abflusskanal war tatsächlich sehr viel weniger riskant, als es der schwarzmalende Egomane Langley vorhergesagt hatte – zumindest am Anfang. Ron kroch etwa hundert Meter weit gleichmäßig schnell dahin, nur gehemmt von ein paar Wurzeln, Erdklumpen und abflusstypischem Müll, der wahrlich nicht angenehm, aber keinesfalls gefährlich war.
Er begegnete ein paar Ratten, aber sie fürchteten sich und huschten schnell fort. (Ron fragte sich, ob sie dorthin stürmen würden, wo sich der Rettungsspezialist gerade seinen Weg zu Tonya bahnte. Er musste zugeben, die Vorstellung, wie ein paar Nager mit scharfen Zähnen seinem Rivalen eine Heidenangst einjagten, gefiel ihm – oh ja, Sandra hatte in einem Punkt Recht: Er war wirklich stinksauer auf Langley.)
Näher zum Gebäude wurde der Kanal zunehmend verstopft. Wurzeln waren durch die Betonwände gebrochen und ballten sich wie erstarrte Riesenschlangen zusammen, und teilweise war der Weg durch getrockneten Schlamm blockiert, der fast so hart war wie Beton. Mit schmerzendem Rücken und Krämpfen in den Beinen kam Ron nun langsamer voran. Dennoch hatte sich Langley geirrt – was ihn nicht überraschte. Die Wände des Abflusskanals waren solide und keineswegs in Gefahr einzubrechen.
Das Arschloch im Stollen...
Ron kroch weiter, seinen Fortschritt maß er an den Abzweigungen zu Kellern und alten Transportstollen. Schließlich erreichte er jene, die zu der Holztür führte, an die er sich von der Karte erinnerte. Hinter der Tür lag der Stollen, in dem sich Tonya Gilbert befand. Er legte sein Ohr an die Öffnung und lauschte.
»Helft mir«, krächzte gedämpft die Stimme des Mädchens. »Bitte helft mir...« Sie war wahrscheinlich nicht mehr als zehn Meter von ihm entfernt.
Die Öffnung zu diesem Seitentunnel war klein, aber nachdem er mit dem Radeisen ein paar alte Ziegel aus der Wand gebrochen hatte, konnte er durchkriechen. Er kletterte auf die trockene Erde des Stollens, stand auf und leuchtete umher. Ja, es war der Tunnel genau neben dem des Mädchens.
Er hatte es geschafft! Er hatte das verschüttete Mädchen als Erster erreicht.
Dann hörte er ein Geräusch.
Bum... Bum...
Was war das? Machte das Mädchen Klopfzeichen?
Nein, das Geräusch kam von woanders her.
Bum...
Ron begriff plötzlich, was es war. Greg Langley war eingetroffen. Er brach am anderen Ende des Tunnels durch eine weitere alte Tür, die diesen Schacht mit dem leer stehenden Keller nebenan verband. Das Geräusch von splitterndem Holz verriet Ron, dass Langley in drei, vier Minuten im Stollen sein würde. Dann hörte das Hämmern auf, und Ron hörte die gedämpfte Stimme des Mannes. Ron schaltete beunruhigt das Licht aus. Was, wenn Langley nicht allein war? Er ging leise zu der Tür, die der Rettungsspezialist bearbeitet hatte, und lauschte. »Ich rufe Sie zurück«, hörte er den Mann sagen.
Er telefonierte also nur. Aber mit wem sprach er? Und was hatte er gesagt? Hatte jemand herausgefunden, dass Ron kam und ihnen die Belohnung streitig machte?
Bum...
Langley fuhr fort, durch die Holztür zu brechen. Ron drückte sich flach an die Wand neben der Tür. Plötzlich gab es ein lautes Krachen, und mehrere Bretter fielen in den Stollen. Durch die gut einen halben Meter im Quadrat große Öffnung drang das Licht von Langleys Lampe. Ron stand dicht an die Wand gepresst, atmete flach, rührte sich nicht.
Schließlich ragte ein fies aussehender Pickel durch die Öffnung. Er wirkte mehr wie eine Waffe als wie ein Werkzeug. Dann schoss der Strahl einer zweiten Taschenlampe – einer sehr starken – durch den Stollen und schwenkte von einer Seite zur anderen. Ihr Lichtkegel verfehlte Ron nur knapp. Er kniff die Augen zusammen, blieb so dicht wie möglich an der Wand und rieb sich die Augen, die sich erst an die Helligkeit gewöhnen mussten.
Es dauerte einen Moment, dann sah er schließlich Langleys Kopf in der Öffnung auftauchen. Er streckte ihn halb durch und begann dann erneut, den Tunnel mit der Taschenlampe auszuleuchten.
Kurz bevor der Lichtschein Rons Füße erreichte, hob der Grafikdesigner das Radeisen und ließ es kräftig auf Langleys Kopf hinuntersausen, direkt unterhalb des Helms. Es traf ihn voll, der Mann stöhnte auf und brach zusammen.
Wenn ich mich einmal entschieden habe, kann mich nichts mehr aufhalten...
So leise wie möglich sammelte Ron Ziegel und Gestein vom Boden und begann sie auf den bewusstlosen Greg Langley zu türmen, bis er fand, er hatte das realistische Szenario eines Einsturzes geschaffen, von dem der Rettungsspezialist überrascht worden war.
 
Zwei Tage später standen Ron und seine Frau nicht weit von dem Podium vor dem City College und warteten auf den Beginn der Pressekonferenz. Hundert Leute liefen hin und her. Hinter dem Pult war ein vergrößerter Zeitungsausschnitt auf einen Vorhang projiziert, der sich im Wind kräuselte. Die Schlagzeile lautete: VERSCHÜTTETES MÄDCHEN GERETTET!
Sandra hatte sich bei ihrem Mann eingehakt. Er genoss ihre Nähe und den blumigen Duft ihres Parfums. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Das Publikum war festlich gestimmt, fast wie berauscht. Nichts fördert das Gemeinschaftsgefühl mehr als die Rettung eingeschlossener Kinder.
Winkend und lächelnd schritten Kommandeur Knoblock, Tonya Gilbert und ihre Eltern durch die Menge zum Podium. Nach ausführlichem Jubel und Applaus beruhigte der Feuerwehrchef die Zuschauer wie ein Dirigent sein Orchester und sagte: »Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?... Danke. Ich freue mich, Ihnen Tonya Gilbert vorstellen zu dürfen. Sie wurde erst heute Morgen aus dem Memorial Hospital entlassen. Ich weiß, sie will ein paar Worte zu Ihnen sagen.«
Erneut wildes Klatschen und Rufe.
Das hübsche Mädchen mit dem kleinen Pflaster auf der Stirn und einem blauen Gipsverband an Knöchel und Handgelenk trat schüchtern ans Mikrofon. Heftig errötend setzte sie zu sprechen an, aber die Stimme versagte ihr. Sie begann erneut. »Also, ich will nur sagen, äh, ich danke allen. Ich hatte ganz schön Schiss. Deshalb, also... äh, danke.«
Ihr Mangel an Artikulationsfähigkeit hielt die Menge nicht davon ab, erneut in Beifall und Jubelrufe auszubrechen.
Dann stellte der Kommandant die Eltern des Mädchens vor. Der Geschäftsmann trat, mit blauem Blazer und grauer Hose bekleidet, ans Mikrofon vor, während seine Frau strahlend lächelnd ihrer Tochter den Arm um die Schultern legte. Gilbert dankte Feuerwehr und Polizei für ihren heldenhaften Einsatz und den Bürgern der Stadt für ihre Unterstützung.
»Mein tiefster Dank gilt jedoch dem Mann, der sein Leben riskiert hat, um mein kleines Mädchen zu retten. Und als Zeichen meines Dankes will ich ihm das hier überreichen.« Der Geschäftsmann hielt ein gerahmtes, ein Meter langes Faksimile eines Schecks über fünfhunderttausend Dollar in die Höhe. »Dieser Scheck steht für die Summe, die ich auf sein Konto habe überweisen lassen.«
Weiterer heftiger Applaus. Wie gerettete Kinder sind große Geldsummen etwas, das bei den Massen immer gut ankommt.
»Bitte danken Sie mit mir...«, fügte Gilbert hinzu, »... Mr. Greg Langley.«
Mit einer Halskrause und einem Verband um die Hand humpelte der Rettungsspezialist langsam zum Podium. Er wirkte aufgewühlt, wenngleich Ron annahm, es hatte weniger mit dem Schmerz von seinen Verletzungen zu tun als mit seiner Abneigung gegen solches Tamtam. Er nahm den großen Scheck und reichte ihn rasch an seine Assistentin weiter.
»Was Mr. Langley getan hat«, fuhr Tonyas Vater fort, »erforderte großen Mut und Opferbereitschaft. Auch nachdem er selbst verschüttet worden war und beinahe ums Leben gekommen wäre, kroch er weiter zu dem Stollen, in dem unsere Tonya eingeschlossen war, und brachte sie in Sicherheit. Die Dankbarkeit unserer Familie wird Ihnen für alle Zeit gewiss sein.«
Die Menge schien eine Rede zu wünschen, aber alles, was Langley sagte, war ein ungeduldiges: »Vielen Dank.« Er winkte und verließ das Podium rasch wieder – zu neuen Rettungen und neuem Lohn, dachte Ron. Er bedauerte plötzlich, dass er den Kerl bei seinem simulierten Einsturz nur ohnmächtig geschlagen und keinen ernsteren Schaden verursacht hatte; er hätte sich auf jeden Fall ein gebrochenes Handgelenk oder Kiefer verdient gehabt.
Auf der Heimfahrt freute sich Sandra sichtlich über die Rettung des Mädchens, aber sie sagte auch mit echter Anteilnahme in der Stimme: »Tut mir leid, dass dir die Belohnung entgangen ist, Schatz.«
Er hatte seiner Frau erzählt, der Abflusskanal sei so von Wurzeln und Schlamm verstopft gewesen, dass er nur die halbe Strecke bis zum Stollen geschafft habe.
»Ich weiß, du bist enttäuscht, dass du nicht bekommen hast, was du wolltest«, fügte Sandra an. »Aber wenigstens ist das Mädchen wohlbehalten zurück... und du auch. Das ist das Wichtigste.«
Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar.
Und dachte: Tja, da irrst du dich, Liebes. Ich habe genau bekommen, was ich wollte.
Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. So wie er ihr viele Dinge über sich nicht sagen konnte. Zum Beispiel, warum er das alte Kaffeelagerhaus überhaupt ausgewählt hatte: Weil es Fenster besaß, die zum Haupteingang des City College hinausgingen – und ihm eine perfekte Sicht auf die Mädchen boten, die das Gebäude verließen und unter denen er sich seine Opfer aussuchen konnte. Das war es, was er mit seiner Bemerkung gemeint hatte, das Gebäude entspreche seiner Persönlichkeit; es hatte nichts damit zu tun, ein schickes Büro in einem florierenden Sanierungsgebiet zu haben. Er brauchte ein neues Jagdrevier, nachdem die Sekretärinnenschule gegenüber seinem alten Büro geschlossen worden war – aus dieser Schule hatte er im Lauf des letzten Jahres zwei Schülerinnen entführt und ihre gemächliche Ermordung auf Video aufgenommen. (Ironischerweise war Ron Badgett selbst einer der Gründe, warum Gewaltverbrechen im alten Stadtzentrum in letzter Zeit zugenommen hatten.)
Vor ein paar Wochen, kurz nach dem Umzug in das neue Gebäude, hatte er die wundervolle Tonya Gilbert aus dem College kommen sehen. Er konnte nicht aufhören, an ihr enges rosa Tanktop zu denken, an ihr langes Haar, das im Wind flatterte, die schlanken Beine – konnte nicht aufhören, sie sich gefesselt in einem Keller vorzustellen, wo Ron ihr die Garrotte um den makellosen Hals schlingen würde.
Nachdem er beschlossen hatte, Tonya würde sein erstes Opfer in NeDo sein, war er ihr mehrere Tage lang gefolgt und hatte herausgefunden, dass sie immer eine Abkürzung durch die Gasse neben seinem Gebäude und weiter über den Hof der aufgegebenen Fabrik dahinter nahm. Ron hatte die Entführung sorgfältig geplant. Er hatte entdeckt, dass ein alter Stollen direkt unter ihrer Route verlief, und ihr eine Falle gestellt, indem er ein Gitter entfernte und das Loch mit einer dünnen Rigipsplatte abdeckte, die so angemalt war, dass sie wie Beton aussah. Als sie vor drei Tagen abends darüber gegangen war, war sie durchgebrochen und sechs Meter tief auf den Boden des Stollens gestürzt. Er war zu ihr hinuntergeklettert, hatte sich vergewissert, dass sie bewusstlos war, ihr Handy ausgeschaltet und in ein Abflussrohr geworfen (er war erschrocken, als er von Kommandant Knoblock erfuhr, dass auch abgeschaltete Handys immer noch ein Signal abgeben; er würde in Zukunft daran denken müssen).
Dann hatte er sie im Stollen zurückgelassen und war an die Oberfläche zurückgekehrt, um das offene Gitter mit Sperrholz zu verschließen. Doch während er das Gitter wieder festhämmerte, musste er einen maroden Balken getroffen haben. Er war eingestürzt, und während Ron sich mit knapper Not in Sicherheit brachte, war das halbe Gebäude in sich zusammengefallen. Es war ausgeschlossen, von dort wieder hineinzukommen. Zu allem Überfluss war auch noch eine der Wände im Tiefgeschoss eingestürzt und hatte den Stollen freigelegt, in dem das Mädchen lag.
Tonya war immer noch bewusstlos und würde weder wissen, was Ron getan hatte, noch konnte sie ihn identifizieren. Aber die Retter würden unweigerlich den Arbeitsraum neben dem angrenzenden Stollen finden, wo er seine Messer und Seile und die Videokamera aufbewahrte, alles mit seinen Fingerabdrücken darauf. In der Kamera war auch ein Videoband, von dem er bestimmt nicht wollte, dass die Polizei es sah. Er hatte versucht, wieder nach unten zu klettern und sein Zeug zu holen, aber das Gebäude war viel zu instabil. Er suchte gerade nach einem anderen Weg, als die ersten Fahrzeuge der Feuerwehr eintrafen – jemand musste den Einsturz gehört und die Notrufnummer gewählt haben -, und Ron war geflüchtet.
Er war nach Hause zurückgekehrt und hatte verzweifelt überlegt, wie er die erdrückenden Beweise herausholen sollte. Während Sandra schlief, hatte er die ganze Nacht wie gebannt vor dem Fernseher gesessen, die Berichterstattung über das Mädchen im Stollen verfolgt und dabei gebetet, dass die Retter nicht in den Stollen gelangten, ehe er die Chance hatte, ihnen irgendwie zuvorzukommen. Er hatte auch gebetet, dass Tonya nicht sterben würde – seine einzige Chance, zu seinem Arbeitsraum zu gelangen, bestand darin, so zu tun, als würde er sie selbst irgendwie zu retten versuchen.
Nach einer qualvollen, schlaflosen Nacht hatte dann die Polizei vor seiner Tür gestanden (seine Beunruhigung beim Anblick von Detective Perillo hatte natürlich nichts mit einem eventuellen Brand in seinem Bürogebäude zu tun gehabt).
Trotz dieses Schreckens war es jedoch ein Glücksfall gewesen, dass sie ihn um Hilfe baten. Nur durch Knoblock und die städtischen Bauingenieure hatte er erfahren, dass es vielleicht noch einen anderen Weg zurück in den Stollen gab, auf dem er alles, was er in der Nacht zurückgelassen hatte, holen konnte. Und nachdem er sich durch den Abflusskanal gearbeitet und Langley k.o. geschlagen hatte, war es ihm gelungen, seine Ausrüstung zu bergen, seine Fußund Fingerabdrücke zu verwischen und aus dem Tunnel zu schlüpfen, ohne dass Tonya ihn hörte. Auf dem Rückweg durch den Abflusskanal hatte er sich der Waffen, Seile und der Kamera entledigt, indem er sie in Spalten in der Kanalwand stopfte und diese mit Erde und Schlamm verschloss. (Das Videoband von der Schülerin, die er zuletzt getötet hatte, behielt er natürlich; es war eines der besseren.)
Oh, er bedauerte es schon ein wenig, dass er nicht derjenige sein durfte, der das Mädchen rettete und die Belohnung kassierte. Aber wenn er das getan hätte, hätte sich die Presse möglicherweise ein wenig mit ihm befasst und einige interessante Dinge in Erfahrung gebracht – zum Beispiel, dass er im Laufe seines Lebens immer in der Nähe von Bildungseinrichtungen gewohnt oder gearbeitet hatte, aus denen Schülerinnen verschwunden waren.
Außerdem war er in noch einer Hinsicht ehrlich zu Sandra gewesen: Dass andere Werte für ihn zählten, als Geld zu verdienen. Die Belohnung bedeutete wenig. Es gab tatsächlich eine andere Seite an ihm, wie Sandra richtig beobachtet hatte, eine wichtigere Seite.
Ich muss meiner Kreativität folgen. Ich muss mir selbst treu bleiben...
Natürlich ging es bei dieser Kreativität nicht um Grafikdesign. Sie drehte sich um Seile, Messer und schöne Studentinnen.
»Ich muss sagen«, bemerkte Sandra, »ich bin immer noch nicht überzeugt, dass alles so war, wie es aussah.«
Ron beäugte seine Frau argwöhnisch. »Nein?« Er hoffte, sie war ihm nicht auf der Spur. Er liebte sie und hätte sie nur ungern getötet.
»Es war einfach seltsam, dass Langley sofort nach dem Unfall anrief. Weißt du, ich habe mich tatsächlich gefragt, ob er nicht vielleicht hinter der ganzen Sache steckte.«
»Im Ernst?«
»Ja. Vielleicht reist er durch die Lande, baut Fallen in Gebäude und Ölbohrtürme ein, und wenn dann jemand in die Falle geht, ruft er an und kassiert eine Belohnung oder ein Honorar für die Rettung der Opfer.« Sie lachte leise. »Und weißt du, was ich noch gedacht habe?«
»Was?«
»Dass Tonya und Langley bei dieser Sache vielleicht unter einer Decke steckten.«
»Die beiden zusammen?« Da er sah, dass die Vermutungen seiner Frau in eine harmlose Richtung gingen, konnte er lachen.
»Ich meine, sie und ihr Vater hatten Probleme – er wollte ihren Wagen nicht reparieren lassen, weißt du noch? Vielleicht wollte sie es ihm heimzahlen. Ach ja, und hast du gesehen, dass sie Wanderführerin in den Appalachen war? Sie könnte Langley kennengelernt haben, als er jemanden im Naturpark gerettet hat. Und sie war nicht sehr schwer verletzt. Vielleicht haben die beiden die ganze Sache inszeniert, um sich die Belohnung zu teilen.«
Ron dachte, dass es für einen außenstehenden Betrachter durchaus vernünftig klingen konnte. Wenn er darüber nachdachte, könnte derselbe Betrachter natürlich ebenso gut spekulieren, dass Sandra selbst mit Langley zusammenarbeitete; sie konnte ihn bei ihrer Tätigkeit für eine Ölfirma kennengelernt und als Bauingenieurin eine Falle für das Mädchen konstruiert haben, nachdem ihr bei Rons Umzug das Gebäude aufgefallen war.
Interessante Reaktionen auf den Zwischenfall, dachte ein amüsierter Ron Badgett, der natürlich als einziger Mensch auf der Welt genau wusste, was dem Mädchen tatsächlich widerfahren war.
»Könnte sein«, sagte er, »aber das ist jetzt wohl eine Sache zwischen Gilbert und Langley.«
Ron steuerte den Wagen in die Einfahrt, ließ den Motor laufen und stieg aus, um seiner Frau die Tür zu öffnen. »Ich fahre zurück ins Büro und schaue, wie sie mit der Kellerwand vorankommen.« Die Stadt bezahlte die Reparatur des Lochs in seinem Untergeschoss.
Sandra küsste ihn zum Abschied und sagte, sie würde das Abendessen fertig haben, wenn er nach Hause käme.
Ron setzte sich ans Steuer und fuhr in gespannter Erwartung nach NeDo. In Wirklichkeit war ihm die Kellerwand völlig gleichgültig. Aber in zwanzig Minuten waren die letzten Unterrichtsstunden am City College zu Ende, und er wollte bis dahin an seinem Schreibtisch vor dem Fenster sein, damit er die Schülerinnen beim Verlassen der Schule beobachten konnte.
Das Mädchen im Stollen war gerettet worden; Ron Badgett brauchte ein neues.