14

Horatio hatte gleich mehrere Probleme.

Erstens musste er unbedingt in Erfahrung bringen, wer noch lebte und wer tot war. Und zweitens: Er musste wissen, wer sich in welchem Haus befand.

Kim war in Haus Nummer eins, so viel stand fest. Außerdem war klar, dass Sinhurmas Assistent nicht besonders erfreut über den Verlauf der Ereignisse war. Sinhurma war vermutlich bei ihm, aber mit Gewissheit ließ sich das nicht sagen. Vielleicht war Kim auch einfach nur gefesselt, damit er nicht abhauen konnte, und der Doktor war unter Umständen in dem anderen Haus und hatte den Finger auf dem Zündknopf.

Das war ein weiteres Problem: der Sprengstoff. Der charakteristische Geruch, der in der Luft lag – eine Mischung aus Schuhcreme und Mandeln –, verriet Horatio, dass es sich vermutlich um TNT handelte. Aber wie viel war noch davon übrig? Wo genau befand es sich, und wie wurde es zur Explosion gebracht?

Horatio konnte nur hoffen, dass sich die gesamte Gruppe nicht in einem einzigen Haus befand. Wenn die Leute Sinhurma bis zu diesem Punkt gefolgt waren, waren sie wahrscheinlich bereit, den Weg auch mit ihm zu Ende zu gehen – jedoch nur, wenn Sinhurma bei ihnen war. War aber ein Teil der Gruppe von ihrem Anführer getrennt, konnte er diese Leute vielleicht noch beeinflussen und zur Vernunft bringen. Je länger die ganze Sache dauerte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass die Wirkung der Medikamente, die Sinhurma ihnen verabreicht hatte, nachließ.

Und was war mit Jason McKinley? War er denn noch am Leben?

Horatio hatte ihn weder am Strand noch auf dem Holzsteg gesehen, dessen war er sich sicher. Möglicherweise war Jason in Haus Nummer drei gewesen … vielleicht hatte er es sogar selbst in die Luft gejagt. Das würde Horatio jedoch erst erfahren, wenn Delko und Wolfe die Leichen identifiziert hatten, und das konnte nach einer solchen Explosion eine ganze Weile dauern.

Horatio hatte einfach nicht genug Informationen … und die Zeit drängte. Sinhurma würde nicht ewig warten.

Die Frage war, worauf er eigentlich wartete.

Delko und Wolfe kletterten die Düne hoch, auf der ein Scharfschütze positioniert war, und spähten über den Kamm. An dem zerstörten Haus züngelten noch einige Flammen empor, aber sonst rührte sich nichts. Sogar das Gewitter schien eine Weile innezuhalten.

Die Untersuchung eines Explosionsorts gestaltete sich immer schwierig, denn in der Regel herrschte dort das totale Chaos. Überall lagen Trümmer und Leichenteile herum. Der Geruch von verkohltem Fleisch mischte sich mit dem von brennendem Holz und heißem Metall. In diesem Fall kamen auch noch die vielen Ausdünstungen der Sümpfe hinzu und die feuchte, salzige Luft des Atlantiks.

Zunächst schätzten Delko und Wolfe den Explosionsradius ab, dafür machten sie das am weitesten entfernte Trümmerteil ausfindig und addierten sicherheitshalber noch einmal fünfzig Prozent hinzu. Sie steckten nummerierte Markierungsfähnchen in den Boden und unterteilten die gesamte Fläche in Planquadrate. Wolfe machte Fotos, während Delko mit der Untersuchung des Geländes begann.

»Okay«, sagte er, als er inmitten der Trümmer in die Knie ging und den Boden studierte. »Wir wissen, dass der Explosionsherd irgendwo in diesem Holzhaus war. Wenn wir herausfinden, wo genau, erhalten wir vielleicht einen Hinweis darauf, wo sich die Sprengsätze in den anderen beiden Häusern befinden.«

Wolfes Blick wanderte zu den Hütten. Eins davon, das in der in der Mitte der drei Häuser stand, war höchstens neun Meter entfernt. Die Außenfassade der Seite, die zum Explosionsort zeigte, war verkohlt. Vor den kaputten Fenstern hingen Laken und Handtücher.

»Sieh dir das mal an«, sagte Delko und zeigte auf ein schwarzes Stück Holz, das aus dem Fundament herausragte. »Die Nägel sind alle in die gleiche Richtung gebogen?«

»Ja, tatsächlich. Auf dieser Seite auch, nur in die entgegengesetzte Richtung.« Wolfe machte ein Foto und schaute wieder zu den beiden noch unbeschädigten Häusern.

»Also muss die Bombe hier gelegen haben. Vom Boden ist nicht mehr viel da, aber siehst du das hier?« Delko zeigte auf ein Rohr, das merkwürdig gekrümmt nach oben ragte. »Das Rohr gehört unter die Dielenbretter. Wenn die Bombe irgendwo im Haus deponiert gewesen wäre, hätte sich das Rohr nach unten in den Boden gedrückt. Aber das hier ist nach oben gebogen, und das bedeutet, dass die Druckwelle von unten kam.«

Wolfe nickte, und sein Blick wendete sich wieder zu den beiden anderen Hütten. »Stimmt. Die Bombe war unter dem Haus.«

Delko schüttelte lächelnd den Kopf. »Auch wenn du ständig dort hinstarrst, ändert das nichts. Entweder geht es in die Luft oder nicht – darauf hast du keinen Einfluss. Konzentriere dich lieber auf deine Arbeit!«

»Ja, okay, tut mir Leid.«

Normalerweise wurde der Explosionsort gründlich nach weiterem Sprengstoff abgesucht, bevor das C.S.I.-Team ihn betrat, aber in diesem Fall war das nicht möglich. Und während sie die Trümmerteile sorgfältig untersuchten und alles mit Fotos dokumentierten, fragten sich Wolfe und Delko immer wieder, wie lange Sinhurma sie noch in Ruhe ließe. Und was er tun würde, um sie zu stoppen.

Als Wolfe und Delko sich endlich die Leichen vornehmen konnten, hatte Horatio bereits eine Menge erfahren.

Er wusste, wie viele Leute in dem Haus gewesen waren: nämlich dreizehn. Einige der Leichen – oder Teile davon – waren von der Druckwelle über den Dünenkamm geworfen worden, und die restlichen sichtete er mithilfe eines Fernrohrs. Dann zählte er zusammen. Nachdem er sich die vielen Rümpfe, Köpfe und Gliedmaßen angesehen hatte, wusste er, dass eine Person sich bereits in dem Haus aufgehalten hatte, in das die anderen zwölf hineingestürmt waren.

Zwei wurden erschossen, rechnete Horatio nach, vier sind in Gewahrsam, und dreizehn sind von der Bombe zerrissen worden. Demnach blieben noch sechs übrig: Sinhurma, Kim und vier Unbekannte.

Und wer waren diese vier?

Horatio versuchte, wie Sinhurma zu denken. Wenn du der Star der Show wärest, die Hauptattraktion, welches Haus hättest du dann genommen?

Das mittlere.

Mr Kim, der treue Assistent, ist in der Stunde der Not nicht bei dir. Warum?

Weil sein Glaube doch nicht so stark ist, wie du angenommen hattest. Er wurde verbannt und isoliert. Du entziehst ihm zur Strafe deine Liebe.

Wen behältst du dann bei dir? Diejenigen, denen du vertraust?

Nein, diejenigen, die du brauchst.

»Jason ist noch am Leben«, murmelte Horatio.

Er lebt noch, weil er Sinhurmas Explosionsexperte ist. Und er muss im mittleren Haus sein, zusammen mit Sinhurma. In dem anderen Haus ist der gefesselte Kim mit einem Bewacher – abervielleicht ist Kim auch allein dort. Schließlich willst du ja nicht, dass er jemanden mit seinen Zweifeln vergiftet.

Kim muss allein sein. Wenn es einen Bewacher gäbe, wäre der Assistent geknebelt worden.

Und dieser Gedanke brachte Horatio auf eine Idee.

Der Officer des Sondereinsatzkommandos näherte sich dem Holzhaus Nummer eins von hinten und war deshalb von dem mittleren aus nicht zu sehen. Er hatte ein TacView 1400 dabei, ein Hightech-Periskop, mit dem man um alle Ecke schauen konnte, ohne in die Schusslinie des Feindes zu geraten. Das Gerät bestand aus einer kleinen Kamera mit Infrarotfunktion. Diese war an einer Teleskopstange befestigt, an deren unterem Ende sich ein Zwölf-Zentimeter-TFT-Monitor befand. Über sein Headset stand der Officer mit Horatio in Verbindung.

»Ich bin jetzt neben dem Haus«, sagte Officer Eskandani leise. »Keine Sprengsätze zu sehen. Das Fenster hier ist kaputt, ich schau mal rein.«

»Aber vorsichtig!«, mahnte ihn Horatio.

Eskandani hob langsam die Stange, und die Kamera zeigte ihm einen langen Raum mit Etagenbetten auf beiden Seiten. Niemand hielt sich dort auf, aber durch die offene Tür am anderen Ende konnte Eskandani eine Gestalt erkennen, die an einen Stuhl gefesselt war. Der Officer gab seine Informationen an Horatio weiter.

»Okay«, sagte Horatio. »Ist der Mann vielleicht irgendwie verkabelt?«

»Schwer zu sagen – ich sehe ihn ja nicht ganz.«

»Was ist mit den Betten? Ist daran irgendwie herumgebastelt worden?«

»Moment bitte …«

Einige Sekunden verstrichen.

»Nein«, sagte Eskandani. »Keine Stolperdrähte, und es ist auch sonst nichts zu sehen. Aber im Boden könnte es Druckkontakte geben.«

»Meine Leute haben mir gesagt, dass sich die erste Bombe vermutlich unter dem Haus befand. Versuchen Sie, mit der Kamera unter die Plattform zu schauen, aber bleiben Sie auf jeden Fall oben!«

Zwischen der Unterkante der Plattform und dem Fußboden befand sich ein Gitter aus Holzlatten. Vorsichtig schob Eskandani die Kamera hindurch.

»Okay, ich suche … Da ist etwas! Ich sehe einen Plastikbehälter, aber keine Drähte … oh-oh.«

»Was ist?«

»Da ist eine Kamera in der Ecke. Wir werden beobachtet.«

In dem Moment klingelte Horatios Handy.

»Hauen Sie sofort ab!«, rief der C.S.I.-Ermittler Eskandani zu, dann klappte er das Handy auf. »Doktor, tun Sie nichts Unüberlegtes.«

»Ich bin enttäuscht von Ihnen, Horatio. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung. Aber vermutlich kann man Ihnen einfach nicht trauen.«

»Tun Sie es nicht, Doktor! Wenn Sie Kim töten, machen Sie einen großen Fehler!«

»Mr Kim gehört nicht mehr zu uns. Sein Schicksal ist für mich nicht von Belang.«

»Das wäre es aber, wenn Sie wüssten, was ich weiß.«

Horatio hielt die Luft an und betete, dass Eskandani sich in Sicherheit gebracht hatte.

»Was könnten Sie über Mr Kim wissen, das für mich von Interesse wäre?«

»Er ist Ihr Geschäftspartner, Doktor. Seine Erben werden bei der Verteilung Ihrer Vermögenswerte ein Wörtchen mitzureden haben, wenn Sie von uns gegangen sind. Haben Sie das bedacht? Soweit ich weiß, besitzt sein Bruder eine Fastfood-Restaurantkette – in sechs Monaten werden im Earthly Garden Cheeseburger und Milchshakes verkauft. Ist es das, was sie der Welt hinterlassen wollen?«

Horatio wusste nicht, ob Kim überhaupt einen Bruder hatte – er pokerte aus reiner Verzweiflung, um etwas Luft zu gewinnen. Wenn Sinhurma jedoch ahnte, dass er versuchte, ihn hinters Licht zu führen, konnte die Sache schnell nach hinten losgehen.

»Das ist bedauerlich«, gab Sinhurma zu, »aber ich sehe keine Lösung für dieses Problem.«

»Das ist doch nicht so schwer, Doktor. Lassen Sie sich von Kim seinen Teil des Geschäfts überschreiben, und zwar sofort. Ich verspreche Ihnen, dass wir den Behörden das Papier zukommen lassen.«

»Und das soll ich Ihnen glauben? Nachdem Sie Ihr Wort gebrochen haben?«

»Ich habe nicht versucht, Ihre Pläne zu durchkreuzen, Doktor. Sie können es mir doch nicht verübeln, dass ich die Sache überprüfe, oder? Auf diese Weise gibt es keine Missverständnisse.«

»Ich verstehe. Sie haben nur nach der Wahrheit gesucht.«

»So ist es, Doktor. Ob Sie es glauben oder nicht.«

»Und warum interessiert Sie mein Vermächtnis?«

Horatio dachte gründlich nach, bevor er antwortete. »Vielleicht will ich ja nur auf Nummer sicher gehen, Doktor. Sie haben in diesem Leben bereits unter Beweis gestellt, dass Sie eine regelrechte Plage sind – ich will Sie im nächsten nicht auch noch zum Feind haben.«

Sinhurma lachte auf. »Ah! Lieutenant Caine, Sie sind selbst ein schwieriger Gegner. Ich bedaure, dass wir nie die Gelegenheit hatten, miteinander Schach zu spielen – aber vielleicht tun wir das ja bereits. Also gut. Ich werde Ihnen erlauben, Ihren Springer abzuziehen … und ich werde über die geschäftliche Vereinbarung nachdenken, die Sie vorgeschlagen haben. Aber wenn ich Sie wäre, Horatio, würde ich mich beeilen – meine Zeit hier ist fast abgelaufen.«

Damit beendete Sinhurma das Gespräch.

Horatio holte tief Luft und ließ sie langsam wieder aus seiner Lunge entweichen.

Delko und Wolfe standen an dem großen Tisch, der im Zelt aufgestellt worden war. Die darauf ausgebreiteten Körperteile – Arme, Hände und Finger – boten einen grausigen Anblick. In den Plastiktüten unter dem Tisch gab es noch mehr davon, aber zunächst konzentrierten sie sich auf Teile, die sie eindeutig zuordnen konnten.

Sie hatten beide ein tragbares, kabelloses IBIS-Gerät in der Hand, das aussah wie ein übergroßes Handy mit einem kurzen Griff. Damit scannten sie Fingerabdrücke ein und speicherten sie in einen Laptop, der an das zentrale AFIS-System gekoppelt war. Außerdem notierten sie, welche Hände von Männern und welche von Frauen stammten, die Farbe der Haut und, falls vorhanden, welche Tattoos oder Narben es gab.

Horatio kam ins Zelt, als sie fast fertig waren. »Okay, was könnt ihr mir sagen?«

»Wir haben Teile von allen dreizehn Leichen gefunden – in einem Fall jedoch nur einen Finger«, berichtete Delko. »Das Opfer muss sich direkt am Explosionsort befunden haben. Sechs Leichen haben wir als weiblich identifiziert, vier als männlich, und bei dreien wissen wir es nicht. Mithilfe von AFIS konnten wir insgesamt acht Leichen identifizieren.« Er gab Horatio einen Ausdruck.

Horatio überflog das Papier und nickte. »Dann bleiben also fünf Leichen und die vier Sektenmitglieder in den Häusern, die wir noch nicht identifiziert haben.«

»Wir können die Sache ein bisschen eingrenzen«, erklärte Wolfe. »Wie auf dem Foto aus der Klinik zu sehen ist, sind drei Sektenmitglieder Afroamerikaner und zwei Asiaten. In Anbetracht unserer bisherigen Ergebnisse ergibt sich daraus, dass einer der getöteten Unbekannten eine Asiatin war und einer ein Schwarzer.«

»Bleiben sieben Unbekannte«, überlegte Horatio. »Vier drinnen, drei draußen. Und wisst ihr was? Ich glaube, ich weiß auch, wer sich in den Häusern befindet.«

Er gab Delko den Ausdruck zurück. »Sag mir, wen du nicht auf dieser Liste siehst.«

Delko studierte das Papier. »Keinen von unseren ursprünglichen Verdächtigen«, erwiderte er. »Weder Shanique Cooperville noch Darcy Cheveau. Und Albert Humboldt und Julio Ferra auch nicht.«

»Anscheinend haben sie Sinhurmas Gunst wiedererlangt«, sagte Horatio. »Oder er will verhindern, dass sie nach seinem Ableben etwas ausplaudern.«

Auf einem anderen Tisch lagen verschiedene Trümmerteile, die sorgfältig auf einem weißen Tuch ausgebreitet waren. Daneben stand ein Gerät von der Größe eines Ghettoblasters. Es hatte einen kleinen Bildschirm, auf dem ein rotes Diagramm und eine Tabelle mit Zahlen zu sehen waren. Bei dem Gerät handelte es sich um einen Hochgeschwindigkeitsgaschromatographen. Er konnte Spuren von Sprengstoffen und Rauschgift bis hin zu einem trillionstel Gramm isolieren und identifizieren.

»Der ETD hat Trinitrotoluol und Ammoniumnitrat gefunden«, sagte Delko.

»Amatol?« Horatio runzelte die Stirn. Amatol war ein Sprengstoff, den das Militär benutzte. »Dafür war der Rauch ziemlich weiß – das muss fast eine Fünfzig-fünfzig-Mischung gewesen sein.«

Wolfe nickte. »Achtundvierzig-zweiundfünfzig.«

»Jason, Jason.« Horatio schüttelte den Kopf. »Jeder andere wäre mit halb und halb zufrieden gewesen, aber du musstest natürlich etwas Neues ausprobieren, nicht wahr?«

»Das sind alle Bauteile, die wir finden und identifizieren konnten«, sagte Wolfe. Nicht alle Bestandteile einer Bombe wurden bei einer Explosion vernichtet, und Kriminalistikexperten wussten, dass bis zu fünfundneunzig Prozent eines Sprengkörpers unter Umständen erhalten blieben. Geschulte Ermittler erkannten die Teile anhand ihrer charakteristischen Ruß- und Bruchmuster.

Horatio musterte alles, was auf dem Tisch lag. »Kein Zeitschalter, das überrascht mich nicht … Aha!« Er nahm ein kurzes Stück Draht in die Hand. »Das kommt mir bekannt vor.«

»Sieht genauso aus wie das Drahtstück, das wir an der Rakete gefunden haben«, sagte Wolfe. »Kupfer mit Kevlarummantelung.«

Horatio überlegte: »Wenn Modellraketen auch dann verkabelt sind, wenn sie nicht per Fernsteuerung gestartet werden, dann nehme ich an, dass dies auch für andere Sprengkörper gilt, die nicht per Funk gezündet werden.«

»Und das bedeutet«, stellte Delko fest, »dass uns der GPS-Störsender nicht viel nützen würde.«

Horatio hatte sich von der Küstenwache so ein Gerät besorgen lassen, um eventuell Funkfrequenzen, die zur Zündung einer Bombe genutzt werden könnten, zu blockieren.

»Er wäre sowieso zwecklos gewesen«, gab Horatio zu. »Denn damit hätten wir auch die Handyfrequenzen gestört, und die Kommunikation mit dem Doktor steht im Augenblick an erster Stelle. Er muss das Gefühl haben, dass er die Sache im Griff hat. Wenn wir per Megaphon mit ihm verhandeln, erinnert das zu sehr an eine Belagerung – dann dreht er am Ende noch vollends durch.«

»Und wenn er nur deshalb mit Ihnen redet, um uns davon abzuhalten, die Frequenzen zu blockieren?«, fragte Wolfe. »Vielleicht haben sie die Bombe sogar mit einem Handy verbunden.«

»Das glaube ich nicht. Sinhurma ist paranoid, und Jason ist clever – sie werden wissen, dass wir Frequenzen blockieren können, und es genau deshalb nicht tun. Nein, ich denke, wir haben es mit einem normalen Zündmechanismus zu tun.«

»Was bedeutet, dass wir die Chance haben, die Kabel zu finden und durchzuschneiden«, sagte Delko.

Wolfe schüttelte den Kopf. »So nah wird uns Sinhurma nicht ranlassen. Wenn schon die Bombe mit einer Kamera überwacht wird, wird vermutlich auch der Zwischenraum zwischen den Häusern kontrolliert.«

»Das stimmt«, räumte Horatio ein, »aber zu wissen, dass es eine Leitung gibt, die man durchschneiden kann, ist ein erster Schritt.«

»Und was ist der zweite?«, fragte Delko. Wolfe runzelte die Stirn. Die Frage kam ihm ein wenig frech vor, so als wolle Delko andeuten, Horatio wisse nicht, was der nächste Schritt sei.

Aber eigentlich war es genau umgekehrt – Delko war absolut sicher, dass Horatio einen Plan hatte, und ihm kam gar nicht in den Sinn, dass seine Frage nicht als Bitte um Informationen verstanden werden könnte.

»Unser zweiter Schritt, meine Herren«, sagte Horatio, »besteht darin, dass wir eine bessere Verbindung herstellen.«

»Alles klar, Doktor, ich habe die Formulare, die Sie brauchen, heruntergeladen und ausgedruckt«, sagte Horatio. »Ich werde einen Officer zu Kim schicken, damit er sie unterschreiben kann. Ich nehme an, er wird ebenfalls von einer Kamera überwacht?«

»Diese Annahme ist richtig.«

»Dann können Sie beobachten, dass der Officer keine Dummheiten macht. Er wird sich Kim nicht nähern, sondern nur die Formulare hinlegen.«

»Und dann?«

»Wenn Sie Ihr Versteck nicht verlassen wollen, dann habe ich dafür Verständnis. Ich weiß, dass Sie nicht allein sind – Sie könnten eine Ihrer Anhängerinnen losschicken. Sie lässt Kim die Dokumente unterschreiben und bringt sie Ihnen. Dann unterschreiben Sie, und sie bringt mir die Papiere hierher.«

Horatio drückte sich selbst die Daumen. Er wollte, dass Sinhurma Jason losschickte – aber darum konnte er ihn nicht direkt bitten, denn dann hätte der Doktor geahnt, dass er etwas im Schilde führte. Deshalb hatte er auch von einer Frau gesprochen. Er hoffte, den Doktor in Sicherheit zu wiegen und damit die Chancen zu erhöhen, dass er doch Jason schickte. Ferra war als Bote eher unwahrscheinlich – er war zu labil, zu nervös –, aber Cheveau und Humboldt waren mögliche Kandidaten. Cheveau schien standfest zu sein, und Humboldt war der geborene Mitläufer.

»Und woher weiß ich, dass Sie nichts Dummes anstellen? Können Sie mir garantieren, dass Sie meinen Boten in Ruhe lassen?«

Der Doktor klang ganz ruhig, aber Horatio spürte seine Nervosität. Solange Sinhurma im Besitz des Zünders war, hatte er alle Trümpfe in der Hand. Er konnte das Haus in die Luft jagen und hätte trotzdem die gleiche vorteilhafte Position wie vorher. Obwohl er nichts zu befürchten hatte, schien Sinhurma beunruhigt.

Werden wir oben auf dem Hochseil ein bisschen nervös, Doktor?, fragte sich Horatio. Es wird Zeit, dass ich Ihnen zeige, wie weit Sie tatsächlich vom Boden entfernt sind.

»Es wird nichts garantiert«, sagte Horatio. »Aber wenn ich Sie – oder Ihre Leute – hätte umbringen wollen, hätte ich Ihnen einfach eine Tränengasbombe ins Fenster geworfen und abgewartet. Ehrlich gesagt hätte ich größte Lust dazu.«

Schweigen. Dann: »Und dennoch tun Sie es nicht. Warum?«

»Ich weiß es nicht, Doktor. Sie würden es natürlich gern damit erklären, dass wir irgendeine mystische Verbindung haben, aber je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher kommt mir das vor. Sehen Sie, ich bin ein Mann der Wissenschaft, und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, sind ebenfalls Wissenschaftler. Diesen Menschen fühle ich mich verbunden, an ihnen liegt mir etwas. Sie dagegen sind für mich lediglich ein Mediziner – jemand, der einen Eid geleistet hat, anderen keinen Schaden zuzufügen, aber ein Erlöser …« Horatio hielt inne. »Sagen wir einfach, Ihnen fehlen noch ein paar Wunder bis zur Heiligsprechung.«

»Ich verstehe. Da Ihnen der rechte Glaube fehlt, brauchen Sie ein Zeichen – eine spirituelle Sicherheit.«

»Ich brauche gar nichts, Doktor. Ich weiß sehr genau, was Sie zu tun im Stande sind. Jemandem Schaden zuzufügen, ist kein Beweis.«

»Dafür ist es zu spät, Horatio. Aber ich verstehe. Wir alle bedürfen früher oder später der Führung. Mein Zeichen kommt jeden Moment … und Ihres ebenfalls.« Sinhurma legte auf.

Horatio zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Würde es klappen? Hatte er genug Andeutungen gemacht, ohne zu direkt zu sein?

Und selbst wenn Sinhurma tatsächlich Jason schickte, war nicht abzuschätzen, in welcher Verfassung der Wissenschaftler war. Horatio hoffte, dass er inzwischen vielleicht schon Zweifel bekommen hatte und möglicherweise wieder bereit war, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Aber wenn Sinhurma ihm eingeredet hatte, dass Horatio in irgendeiner Weise an Ruth Carrells Tod schuldig war, dann war er wohl eher von Hass erfüllt.

Horatio unterdrückte ein Lächeln. Ironischerweise musste er sich auf den Glauben an die Vernunft verlassen – der Glaube war das, was einem blieb, wenn es keine Beweise gab.

Horarios Instinkt gegen Sinhurmas Instinkt.

Wissenschaft gegen Aberglauben.

Letzten Endes war doch alles – ganz egal, wie man es betrachtete – eine Frage des Glaubens.