4

Calleigh kam ins Labor und rümpfte die Nase. »Warum rieche ich jedes Mal, wenn ich dich in letzter Zeit sehe, verbranntes Fleisch?«

Delko grinste. »Bist du sicher?« Er rührte in einer kleinen Pfanne, die auf einem Bunsenbrenner stand.

Calleigh legte ihren Aktenordner auf den Labortisch. »Weißt du, wenn H. dich dabei erwischt, wie du dir mithilfe von Laborgeräten dein Mittagessen kochst, kriegst du große Schwierigkeiten!«

Delko schaltete den Brenner ab. »Das ist kein Mittagessen, hier geht es um ein Experiment.« Er nahm einen kleinen Löffel und häufte etwas von dem klumpigen grauen Zeug auf einen Teller. Ein ähnliches Häufchen lag bereits auf einem zweiten.

»Ich habe über den Mageninhalt des Opfers nachgedacht«, erklärte Delko. »Hackfleisch, nur zum Teil verdaut. Er muss es kurz vor seinem Tod gegessen haben.«

»Vielleicht ist er in seiner Pause essen gegangen«, warf Calleigh ein.

»Ich habe alle Lokale gecheckt, die sich in der Nähe befinden – keines davon hatte Chili auf der Speisekarte, und wir haben keine Beweise dafür gefunden, dass er sich sein Essen mitgebracht hat, was den Verdacht nahe legt, dass das Chili aus der Küche des Earthly Garden kam. Die leere Hackfleischverpackung, die ich im Müllcontainer fand, bestätigt das.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn! In diesem Restaurant gibt es kein Fleisch, und ich glaube nicht, dass sie ihm erlaubt haben, Gehacktes in der Küche zu braten«, wandte Calleigh nachdenklich ein.

Delko nickte. »Ja, die meisten Veganer sind ziemlich streng –sie würden keine Pfanne verwenden, in der Fleisch zubereitet wurde. Und deshalb habe ich mir überlegt, dass er gar nicht wusste, dass er Fleisch isst.«

Delko zeigte auf den ersten Teller. »Das hier ist normales Gehacktes. Und das hier«, sagte er und wies auf den anderen, »ist Tofu.«

»Aha«, machte Calleigh. »Das wird aus Sojabohnen gemacht und dient als Fleischersatz.«

»Richtig. Tofu wird in der vegetarischen Küche oft anstelle des Hackfleischs verwendet – es sieht ziemlich ähnlich aus, nicht wahr? Diese Packung hier habe ich aus dem Earthly Garden – es wird dort für manche Gerichte verwendet. Und rate mal, was auf der Tagesspeisekarte stand, als Mulrooney ermordet wurde?«

»Vegetarisches Chili?«

»Wenn man ein paar Bohnen darunter mischt, ein Paar Tomaten und einen Haufen Gewürze, dann merkt nicht einmal ein Veganer, dass er etwas gegessen hat, das mal vier Beine hatte.«

»Also hat ihm jemand das Fleisch untergeschoben? Aber warum?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich habe ein bisschen rumgeforscht und herausgefunden, dass viele Veganer behaupten, richtig krank zu werden, wenn sie versehentlich Fleisch essen – auch wenn sie es beim Verzehr nicht merken. Die Ursache dafür liegt in dem niedrigen pH-Wert, der nach der Verdauung von tierischem Eiweiß auftritt. Wenn man Fleisch isst, wird mehr Magensäure produziert als bei pflanzlichem Eiweiß. Deshalb ließ ich den pH-Wert des Mageninhalts feststellen.« Er nahm ein Blatt Papier und reichte es Calleigh.

Sie warf einen Blick darauf und nickte. »Eins Komma eins? Das ist wahnsinnig niedrig.«

»Und wahnsinnig sauer. Vielleicht ist ihm deshalb schlecht geworden.«

»Und er musste zur Toilette. Möglicherweise hatte er Durchfall, oder er hat gleich die Schüssel umarmt. Okay – wer hat ihm das also zu essen gegeben?«

»Ich dachte schon, du fragst nie! Ich habe einen Fingerabdruck auf der Hackfleischverpackung gefunden, und der Gewinner ist … Shanique Cooperville, eine der Kellnerinnen!«

»Weiß Horatio das?«

»Hab ihn schon angerufen. Er lässt sie zum Verhör abholen, aber vorher muss er noch etwas anderes überprüfen. Und wie läuft’s bei dir?«

Calleigh lehnte sich an die Wand und verschränkte seufzend die Arme vor der Brust. »Schwer zu sagen. Ich habe das Rohrstück untersucht, das ich aus der Wand geholt habe, und da Kupfer ein weiches Metall ist, sind da so viele Werkzeugspuren drauf, dass man kaum sagen kann, was von den Klempnerarbeiten herrührt und was nicht. An der Stelle, wo sich der Brandfleck befindet, ist auch ein Abdruck zu erkennen, aber was es ist, kann ich noch nicht sagen. Ich dachte zuerst, es sei eine Klemme, aber das konnte ich noch nicht bestätigen.«

»Irgendwelche Fingerabdrücke, die vielleicht in der Datenbank registriert sind?«

»Es gibt viele, aber AFIS hat keinen Treffer gemeldet. Ich dachte, am besten vergleichen wir sie mal mit dem Abdruck, den du auf der Verpackung gefunden hast.« Sie klappte ihren Ordner auf und holte ein Blatt Papier heraus.

»Zeig her.« Delko griff zu seinen Unterlagen. Mithilfe einer Lupe sah er sich die Abdrücke der Reihe nach an. »Nein, tut mir Leid, keine Übereinstimmung.«

»Na, das wäre ja auch zu einfach gewesen, nicht wahr?« Calleigh nahm das Blatt wieder an sich und legte es in den Ordner. »Ich habe den Klempner ausfindig gemacht, der die Arbeiten in der Toilette ausgeführt hat. Mal sehen, ob die Abdrücke von einem seiner Angestellten sind.«

»Ich denke, ich untersuche als Nächstes den Mixer und die Messer, die H. gefunden hat.«

»Mensch, du bist dem Rest von uns um drei Schritte voraus.« Calleigh nickte anerkennend.

»Hey, ich hatte einfach nur Glück mit diesem Abdruck. Wenn es sich um eine Kugel gehandelt hätte, wärst du bestimmt diejenige …«

»… mit dem fetten Grinsen im Gesicht«, beendete Calleigh den Satz. »Na ja, Chili-Kochen ist sowieso ein Männerding.«

Männer und ihre Spielzeuge, dachte Horatio. Manches verliert für uns einfach nie seinen Reiz. Wie zum Beispiel, Dinge in den Himmel zu jagen. Vielleicht braucht man aber nur einen Vorwand, um ein bisschen zündeln zu dürfen.

Er schaute zu dem drei Stockwerke hohen Holzturm auf, der mitten auf einer Wiese auf einem Betonsockel stand. Weit und breit war nichts zu sehen außer einem kleinen Wohnwagen am Rand der Wiese, der aus der Ferne wie ein weißer Schuhkarton mit Tür aussah.

»Jason McKinley?«, rief Horatio.

Ein Kopf tauchte über dem Geländer in der oberen Etage auf. »Ja?«

»Miami-Dade Police. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Sicher, kommen Sie rauf!«, ertönte es nach kurzem Zögern von oben, und dann verschwand der Kopf wieder.

Eine Holztreppe an der Außenseite des Turms führte im Zickzack in die Höhe und endete ganz oben auf einer Plattform. Ein Mann mit kurzem, stoppeligem schwarzem Haar, der khakifarbene Baggyshorts, Wanderstiefel und ein ausgebleichtes orangefarbenes T-Shirt trug, kniete vor einer Blechkiste, die ungefähr so groß war wie ein Schrankkoffer. Oben ragten ein Dutzend Röhren von je einem Meter Länge heraus, und unten mehrere dicke Kabel, die in einem Loch im Boden verschwanden. Der Mann hatte eine Klappe geöffnet und hantierte darin herum.

»Ich störe Sie nur ungern«, begann Horatio, »aber Dr. Wendall sagte, Sie sind der Richtige, wenn ich etwas über Blitze erfahren will, die mit Raketen ausgelöst wurden.«

McKinley unterbrach seine Arbeit und sah Horatio an. Er war Mitte zwanzig, hatte einen großen Mund mit vorstehenden Zähnen und jede Menge Aknenarben im Gesicht. Ein dünnes Ziegenbärtchen schmückte sein Kinn. »Nun, ich könnte es leugnen … aber angesichts dessen, was ich hier tue, würden Sie mir wohl nicht glauben.«

Horatio lächelte. »Ich bin Horatio Caine, Mr McKinley. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Sie ein paar Minuten mit meinen Fragen löchere.«

»Nein, nein, löchern Sie nur! Und nennen Sie mich Jason. Was wollen Sie denn wissen?«

»Ich wüsste gern, wie die Sache genau funktioniert.«

Jason nahm einen Kaugummi aus der Tasche und wickelte ihn aus, während er sprach. »Im Grunde schießen wir einer Gewitterwolke eine Rakete in den Hintern. Das ärgert sie natürlich, und sie rächt sich, indem sie versucht, die Rakete zu töten. Sie weiß ja nicht, dass ein paar kleine Schlauberger auf der Erde einen langen Draht an der Rakete befestigt haben, mit dem sie den Blitz bis zur Erde leiten können – direkt in unsere Geräte, um genau zu sein.« Er schob sich den Kaugummi in den Mund und begann zu kauen.

Horatio grinste. »Okay … ich weiß die Laienversion wirklich zu schätzen, Jason, aber ich hatte auf mehr technische Details gehofft. Trotz meiner Marke kenne ich mich ein bisschen mit den Naturwissenschaften aus. Sie können ruhig mit Fachbegriffen um sich werfen – ich bin manchmal auch ein kleiner Schlauberger.«

Jason war kein bisschen peinlich berührt. »Wirklich? Na gut, dann rede ich einfach so, wie ich es als Wissenschaftler gewohnt bin. Aber ich warne Sie, das ist nicht sehr spaßig!«

»Ich denke, ich komme damit klar.«

»Also, als Erstes suchen wir mit den Geräten zur Messung elektrischer Felder nach einer geeigneten Cumulus congestus, einer Haufenwolke. In der Regel baut sich die negative Ladung im unteren Teil der Wolke auf und die positive im oberen.«

»Wie stark muss die Ladung sein?«

»Wir schießen die Rakete nur ab, wenn wir mindestens elf Kilovolt pro Meter messen. Trotzdem lösen wir nur in der Hälfte der Fälle einen Blitz aus. Wir verwenden einstufige Raketen mit Triebwerken der J-Klasse, die wir in eine Höhe von ungefähr sechshundert Metern jagen. Dabei wird ein mit Kevlar ummantelter Kupferdraht von einer Spule gewickelt, der die elektrische Ladung direkt in dieses Baby hier einspeist.« Er klopfte auf die Kiste. »Wir überwachen den ganzen Prozess von da hinten.« Er zeigte auf den fensterlosen Wohnwagen.

»Und wer bezahlt Ihre Rechnungen?«

»Sie meinen, an wen die ART ihre Forschungsergebnisse verkauft? An alle möglichen Firmen: Stromerzeuger, Flugzeughersteller, NASA. Wir bekommen auch Fördermittel – manchmal arbeiten Studenten an bestimmten Projekten mit. So bin ich hier gelandet.«

Horatio nickte. »Das scheint ja eine ziemlich interessante Arbeit zu sein.«

»Meistens schon. Ich sage den Leuten immer, ich rufe ›Shazam!‹, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen – aber je attraktiver die Person ist, mit der ich rede, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie diese Anspielung versteht.«

»Ich persönlich fand Batman immer besser als Captain Marvel.«

»Ich auch! Wissen Sie, angesichts Adam Wests übertriebener Darstellung und Michael Keatons Gummianzug vergessen die Leute immer, dass er eigentlich der größte Detektiv der Welt ist. In der Höhle von Batman ist bestimmt das beste Kriminallabor der Welt versteckt!«

»Tja, wir können nicht alle milliardenschwere Playboys sein.« Horatio warf einen Blick auf die Geräte in der Kiste, an denen Jason gearbeitet hatte. »Von hier schießen Sie die Raketen also ab. Das ist ziemlich beeindruckend.«

»Oh, sind Sie auch ein Raketenfan?«

»Als Kind habe ich ein bisschen damit herumgespielt. Und ich habe mal in einer ähnlichen Branche gearbeitet.«

»Raumfahrt?«

Jason griff in die Tasche und holte ein Multifunktionswerkzeug heraus. Mit geübtem Griff klappte er die Zange aus und hockte sich über den Kasten.

»Bombenräumkommando. Sie wären überrascht zu sehen, wie oft Bauteile von Modellraketen in selbst gebastelten Sprengkörpern auftauchen.«

»Deshalb sind Sie gekommen?« Jason hantierte mit der Zange herum. »Hat jemand eine Rohrbombe mit Raketenzünder rumliegen lassen oder so?«

»Nein. Ich glaube, dass jemand mit einer Rakete einen Blitzschlag ausgelöst hat, durch den ein Mann getötet wurde.«

Jason runzelte nachdenklich die Stirn. »Nun, ich denke, so etwas wäre möglich. Aber verschwenden Sie keine Zeit mit der Suche nach dem Draht.«

»Wieso?«

»Weil er durch die elektrische Ladung verglüht. Er verschwindet ganz einfach – zack, bumm! Die Rakete bleibt in der Regel erhalten – haben Sie die gefunden?«

»Noch nicht. Aber wir suchen danach.«

Wolfe hatte in den Straßen gesucht. Und in den Hinterhöfen. Er hatte das höchste Gebäude in der Gegend bestiegen, um die Dächer ringsum abzusuchen, und auf die, die er von dort nicht sehen konnte, war er persönlich hinaufgeklettert. Er hatte Baumkronen, Spielplätze, Balkone und Markisen kontrolliert. Er hatte alle Leute im Viertel gefragt, ob sie vielleicht eine Modellrakete gesehen oder gefunden hätten, und bislang keine positive Antwort bekommen.

Aber er würde nicht aufgeben. Er stand an einer Straßenecke, fuhr sich mit der Hand durch sein strubbeliges braunes Haar und dachte nach. Wahrscheinlich hatte derjenige, der die Rakete abgefeuert hatte, dafür gesorgt, dass sie nicht so leicht zu finden war. Vermutlich war sie mit einer unauffälligen Farbe bemalt worden. Vielleicht war sie aber auch explodiert, nachdem sie in die Luft gegangen war, und das hieß, er musste nach Einzelteilen suchen, nicht nach einer kompletten Rakette. Und wenn sie, wie es häufig der Fall war, aus Pappkarton hergestellt worden war, hatte der Regen die Überreste inzwischen aufgeweicht.

»Also«, sagte Wolfe zu sich, »undefinierbare, nasse Pappfetzen. Klar. Kein Problem!«

Er sah auf und versuchte sich vorzustellen, wie die Rakete in den düsteren Himmel geflogen war. Ein grelles Leuchten, als der Blitz einschlug, und was dann?

Er betrachtete die Straße. Es herrschte reger Verkehr. Die Straße lag gleich in der Nähe eines Geschäftsviertels von Coral Gables, das Miracle Mile hieß und in dem es nur so von bekannten Läden wimmelte: Old Navy, The Gap oder Starbucks. Ein Bus fuhr an Wolfe vorbei und blieb ein Stück weiter an einer Haltestelle stehen, wo eine Asiatin mit einer Einkaufstasche zustieg.

Das brachte Wolfe auf eine Idee. Er holte sein Handy aus der Tasche, rief im Labor an und ließ sich mit Calleigh verbinden.

»Hallo?«

»Calleigh, könntest du ganz schnell mal etwas für mich checken?«

»Was brauchst du, Ryan?«

»Eine Info zum öffentlichen Nahverkehr. Ich bin in Coral Gables und muss wissen, wann der Bus an einer bestimmten Haltestelle vorbeikommt.«

»Gibt es da nicht eine andere Nummer, die du zu diesem Zweck anrufen kannst?«

»Sicher, wenn man mindestens zehn Minuten warten will, um mit einem Computer zu sprechen. Da rede ich lieber mit dir«, entgegnete er schmeichelnd.

»Ach, das ist nett. Welche Haltestelle meinst du?«

Nachdem Wolfe ihr seinen Standort durchgegeben hatte, sagte Calleigh: »Okay, ich schaue mal schnell ins Internet. Du hast Glück – hier habe ich schon den Zeitplan für genau diese Haltestelle. Es geht um sechs Uhr fünfundvierzig los, und dann kommt der Bus jede halbe Stunde bis achtzehn Uhr fünfundvierzig. Danach fährt er bis um elf einmal in der Stunde.«

»Genau das wollte ich hören.«

»Willst du den nächsten Bus kriegen?«

»Nein, eine Rakete.«

Wolfe bedankte sich und legte auf, dann rief er die Auskunft an, um sich nach der Nummer der Verkehrsbetriebe zu erkundigen. Wahrscheinlich hätte Calleigh auch die für ihn recherchieren können, aber sie hatte wirklich Wichtigeres zu tun.

Zwanzig Minuten später stieg er in den Bus, der an der Haltestelle vorfuhr, und zeigte der dunkelhäutigen Fahrerin seine Marke. Sie starrte das Ding an, als handelte es sich um eine gefälschte Fahrkarte.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Wolfe. »Sind Sie gestern auch diese Route gefahren?«

»Bin ich«, entgegnete die Frau misstrauisch. »Was ist? Hat sich etwa dieser Betrunkene beschwert, den ich rausgeworfen habe?«

»Nein, nein, darum geht es nicht. Ist das hier derselbe Bus, den Sie gestern gefahren haben?«

Die Frau runzelte die Stirn. »Ja, ich glaube schon. Warum?«

»Haben Sie so gegen vierzehn Uhr fünfundvierzig einen Knall oder einen dumpfen Schlag auf das Dach gehört?«

»Auf dieser Route höre ich allen möglichen Lärm. Solange es kein platter Reifen oder ein Schuss ist, achte ich gar nicht darauf.«

»Ich muss Sie bitten, noch einen Augenblick stehen zu bleiben.«

Eine ältere schwarze Dame, die ganz vorn saß, fragte besorgt: »Dauert es lange? Ich habe einen Termin.«

Wolfe lächelte sie beruhigend an. »Es geht ganz schnell, das verspreche ich Ihnen.«

Es handelte sich um einen Bus von ungefähr achtzehn Meter Länge mit den typischen Ziehharmonikafalten in der Mitte. Wolfe ging zu der hinteren Tür. Dort waren übereinander mehrere ovale Metallringe an Scharnieren befestigt, die ausgeklappt als Leiter dienten. Wolfe kletterte an ihnen hinauf aufs Dach des Busses und fand dort tatsächlich das, wonach er gesucht hatte. In den Gummifalten des beweglichen Mittelstücks lag eine Pappröhre von knapp einem Meter Länge mit Seitenflossen am unteren Ende und einer kegelförmigen Spitze. Sie war in einem matten Schwarz angestrichen.

»Houston, wir haben das Problem gelöst«, murmelte Wolfe.

»Hallo? Lieutenant Caine?« Die Frau am anderen Ende der Leitung klang sehr nervös, und ihre Stimme kam Horatio bekannt vor.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er. Er saß in seinem Hummer und war auf dem Rückweg ins Labor.

»Hier ist Ruth, Ruth Carrell. Ich … ich muss mit Ihnen sprechen. Persönlich.«

»Was ist los?«, fragte er besorgt. »Geht es Ihnen gut?«

»Ja, ich bin okay. Ich … Es gibt da nur ein paar Dinge, die ich Ihnen gern sagen würde, und in der Klinik war mir irgendwie nicht wohl dabei.«

»Sind Sie jetzt dort?«

»Nein, ich bin in Miami Beach. Im Lummus Park, gegenüber dem Starlite Hotel.«

»Ich kann in zwanzig Minuten da sein.«

»Gut, ich warte.« Ruth Carrell legte auf.

Der Lummus Park lag in South Beach, nahe dem Ocean Drive. Horatio nahm den McArthur-Causeway über Watson Island nach Miami Beach. Ein Wasserflugzeug brummte über seinen Kopf, das vielleicht unterwegs war in Richtung Karibik oder Key West, oder vielleicht machte es auch nur einen kleinen Rundflug über Miami. Horatio überquerte auf dem Causeway die glitzernde blaue Bucht, passierte Dodge Island und Lummus Island, wo riesige weiße Kreuzfahrtschiffe vor Anker lagen, und nahm dann die Fifth Street zum Ocean Drive.

Diesen großen Boulevard hatten wohl die meisten Leute vor Augen, wenn sie an Miami dachten: Zehn Blocks mit Neongeflimmer, Art-déco-Architektur und purem Luxus, und all das direkt am tiefblauen Atlantik und den weißen Sandstränden. Es war immer wieder ein herrlicher Anblick für Horatio, obwohl wirklich nichts Neues für ihn.

Einen Parkplatz in South Beach zu finden, war etwas weniger schwierig, als in manche der örtlichen Clubs eingelassen zu werden – mit anderen Worten: nicht ganz unmöglich. Im Lummus Park gab es immer eine Menge Inline-Skater, und deshalb waren hier viele Flächen betoniert, auf denen man parken konnte – vorausgesetzt es machte einem nichts aus, dass man auf den Weg dorthin Gehsteige überqueren musste. Horatio war stets sehr höflich, wenn er dies tat – »Entschuldigen Sie bitte, Polizeifahrzeug! Haben Sie vielen Dank!« –, schon allein deshalb, weil es ihm insgeheim immer einen Riesenspaß machte.

Naja, eigentlich nicht nur insgeheim.

Es dauerte nicht lange, bis er Ruth Carrell entdeckte. Sie saß unter einem kleinen strohgedeckten Dach auf einer Bank und schaute aufs Meer hinaus. Am Horizont ballten sich dunkle Wolken zusammen, aber der Himmel über dem Park war immer noch strahlend blau.

Horatio setzte sich neben sie und nahm seine Sonnenbrille ab. Statt des üblichen blauen T-Shirts trug Ruth ein weißes Tanktop, dazu Sandalen und Jeans und hatte ihr braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie hielt ihre kleine Stofftasche fest umklammert und wirkte sehr besorgt.

»Ruth, hi«, grüßte Horatio. »Wie geht es Ihnen?«

»Lieutenant Caine …«

»Nennen Sie mich Horatio.«

»Horatio. Ich … ich bin ganz verwirrt.« Sie hielt inne und schaute auf ihre Hände.

»Weshalb?«

»Wegen Dr. Sinhurma. Ich weiß, er ist ein guter Mensch, aber …«

Die Sache war heikel, das wusste Horatio. Ruth wollte offensichtlich reden, aber sie wollte nicht den Mann verraten, den sie als ihren Retter ansah. Wenn Horatio etwas Falsches sagte, würde er sie ängstigen und verärgern.

»Das ist schwer für Sie, ich weiß«, begann er. »Und ich kann Sie sehr gut verstehen. Dr. Sinhurma hat eindeutig die besten Absichten, und ich habe gesehen, dass er sehr viel Gutes getan hat. Ich will ihm ja nicht an den Kragen – ich will nur die Wahrheit erfahren. Dr. Sinhurma glaubt doch an die Wahrheit, nicht wahr?«

»Ja, ja, natürlich. Es ist nur … er hat ein viel umfassenderes Verständnis von der Wahrheit als ich. Ich meine, wer bin ich, dass ich über ihn urteilen könnte.«

»Ruth, es gibt nur eine Wahrheit, und die ist für jedermann gleich, aber nur, wenn er sie auch sehen will.«

Ruth blickte ihn an. »Das ist wohl Ihr Job, nicht wahr? Die Wahrheit suchen.«

»So kann man das sagen.«

»Ist es immer so einfach? Schwarz oder weiß? Unschuldig oder schuldig?«

»Nein, nicht immer.« Horatio schaute über das Meer. »Meine Aufgabe ist es, den Sachverhalt zu klären. Was ist geschehen, wie ist es geschehen, wo und wann ist es geschehen, und wem ist es geschehen.«

»Und wie ist es mit dem Warum?«

Horatio lächelte. »Das ist schon komplizierter. Die ersten fünf Punkte sind Wissenschaft, aber das Warum liegt oft in der Natur des Menschen begründet. Aber auch in ihr kann man die Wahrheit finden. Wissen Sie zum Beispiel, warum das Meer in Miami Beach diese besondere Farbe hat?«

»Nein, warum?« Ruth schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und betrachtete das Spiel der Wellen.

»Weil es hier weniger Plankton gibt. Im kälteren Wasser verstärkten Kohlendioxid und Sauerstoff das Wachstum von Phytoplankton und Zooplankton. Je mehr Plankton im Wasser ist, desto trüber sieht es aus. Das Meerwasser von Florida ist warm, also gibt es weniger Plankton … und deshalb kristallklares blaues Wasser. Das ist die wissenschaftliche Seite.«

Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »›Das sind die Zeiten verträumten Friedens, da man, in die ruhige Schöne der schimmernden Meereshaut versunken, gern das pochende Tigerherz darunter vergisst, und die grausame Pranke, die sich in der Sammetpfote verbirgt.‹«

»Shakespeare?«

»Herman Melville, Moby Dick.Das Meer mit wissenschaftlichen Fachbegriffen zu beschreiben, so wie ich es tue, ist nur eine Seite der Wahrheit. Melville sah eine ganz andere, und trotzdem ist es dieselbe Wahrheit.«

»Ja, das ähnelt Dr. Sinhurma. Er sieht Fassetten der Wahrheit, die ich einfach nicht erkennen kann.«

»Verstehe. Und die Dinge, die er begreift und die Sie nicht begreifen, machen Ihnen allmählich Sorgen?«

Zuerst gab Ruth keine Antwort, und Horatio dachte schon, er wäre zu weit gegangen. Aber dann sagte sie zögernd: »Ein wenig schon.«

Er wartete ab.

»Es ist nur so … Sie erinnern sich doch noch an die Sache, die ich erwähnte? Die Dr. Sinhurma von mir verlangte?«

»Ich erinnere mich.«

»Ich habe viel darüber nachgedacht. Zuerst dachte ich, es sei keine große Sache, aber je länger ich darüber grübelte, desto mehr kam ich zu der Meinung, dass es falsch war. Und dass ich mit jemandem darüber reden sollte, aber nicht mit den Leuten in der Klinik oder mit Dr. Sinhurma, und …«

Sie schlug die Hände vor den Mund und begann, bitterlich zu weinen. Horatio hätte sie gern getröstet, aber er befand sich mitten in einer kritischen Situation, und es war an der Zeit, offen zu reden. Er beugte sich vor und gab ihr damit Hoffnung auf Trost, ohne ihn ihr tatsächlich zu geben. »Ruth, um was hat er sie gebeten?«

Sie sah ihn mit verweinten roten Augen an und antwortete: »Er bat mich, nett zu jemandem zu sein.«

»Aber nicht in sexueller Hinsicht?«, hakte Horatio in Erinnerung an ihr erstes Gespräch nach.

»Nein, nicht wirklich. Dr. Sinhurma lud mich eines Abends zu einem langen Gespräch in sein Arbeitszimmer ein. Wir redeten über die Vitality Method und darüber, wie wichtig es ist, das Leben anderer Menschen zu ändern, weil diese Menschen dann wieder andere beeinflussen können und so weiter, bis man schließlich die ganze Welt verändert – obwohl man nur mit einem einzigen Menschen angefangen hat.«

Ruth zog ein Taschentuch hervor – wie Horatio bemerkte, war es seins, das er ihr bei dem ersten Gespräch in der Klinik gegeben hatte – und putzte sich die Nase. »Und man muss ein ganz besonderer Mensch sein, damit man die Richtigen findet, die man ändern kann, und diese ziehen weitere von der richtigen Sorte mit sich und … ach, ich kann das nicht so gut erklären, nicht wahr?«

»Doch, doch, das können Sie. Ich verstehe ganz gut.«

»Jedenfalls war mir klar, dass Dr. Sinhurma einer von diesen Menschen ist, die die Fähigkeit besitzen, die Richtigen zu finden, obwohl er es mit keiner Silbe angedeutet hat. Die richtigen Menschen zu finden, ist eine große Verantwortung, wissen Sie? Er versuchte, es zu verbergen, aber ich habe gespürt, dass auch ihm diese Aufgabe manchmal schwer fiel.«

»Und Sie wollten ihm helfen.«

»Ja! Weil manche Menschen einfach nicht einsehen wollen oder können, wie fantastisch Dr. Sinhurmas Philosophie ist. Und dann haben wir dieses Gebäck gegessen, diese wunderbaren Mandelplätzchen, die er manchmal als besondere Leckerbissen spendiert, und er sagte, er wolle mir ein Geheimnis verraten – und wie sich herausstellte, sind diese Plätzchen wirklich sehr gesund: Sie sind aus Vollkornmehl gemacht und enthalten fast kein Fett oder Zucker. Und dann sprachen wir darüber, dass es okay ist, jemandem etwas anzubieten, das er für dekadent hält, obwohl es doch eigentlich gut für ihn ist.«

»Denn letztlich wird derjenige davon profitieren«, half Horatio ihr weiter.

»Ja. Und dann kam Dr. Sinhurma auf diese … Person zu sprechen, die seiner Meinung nach wirklich von der Vitality Method profitieren würde. Eine Person, die zu den Richtigen gehört, verstehen Sie? Und er fragte mich, ob ich mit dieser Person reden könnte. Mit ihr reden und …« Ruth hielt inne, trocknete ihre Augen und schnäuzte sich erneut.

»Ihr ein Mandelplätzchen anbieten?«, soufflierte Horatio.

Ruth schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Mehr oder weniger. Er bat mich nicht, irgendetwas Unangemessenes zu tun, ich sollte nur dafür sorgen, dass derjenige sich bei uns wohl fühlt.«

»Und haben Sie das auch getan?«

Sie seufzte. »Ja, das habe ich.« Sie sah Horatio kurz an, bevor sie den Blick wieder abwandte. »Richtig wohl, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Wer war diese Person, Ruth?«

»Das … möchte ich lieber nicht sagen, okay? Ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen. Er hat ja nichts Böses getan. Ich wollte nur mit jemandem darüber reden.«

Horatio nickte. Er wusste, was Ruth hören wollte: dass alles in Ordnung war und sie sich keine Gedanken machen musste.

Aber das war nur vordergründig. Die Tatsache, dass sie diese Bestätigung von Horatio bekommen wollte und nicht von jemandem aus der Klinik, zeigte nur zu deutlich, wie ernst ihre Bedenken waren.

Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um freundlich zu sein.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, begann Horatio. »Wären Sie eine körperliche Beziehung mit dieser Person eingegangen, wenn Dr. Sinhurma Sie nicht dazu angeregt hätte?«

Ruth überlegte. »Nein, ich glaube nicht«, sagte sie leise.

»Hätten Sie getan, was Sie getan haben, wenn Sinhurma nicht dieses lange Gespräch mit Ihnen geführt hätte?«

Sie sah ihn an. »Wahrscheinlich nicht«, entgegnete sie dann, und Horatio hörte einen Hauch Verärgerung aus ihren Worten heraus.

»Ich weiß, dass Sie sich gern als Märtyrerin darstellen möchten, Ruth, aber das ist einfach nicht die Wahrheit. Sie haben nicht Ihre Ehre geopfert, um Ihr Engagement unter Beweis zu stellen. Sie wurden dazu getrieben, sich zu prostituieren.«

Ruth stand abrupt auf. »Ich dachte, Sie würden es verstehen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Aber das tun Sie nicht. So war das gar nicht …«

»Es ist nicht Ihre Schuld, Ruth. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«

»Dr. Sinhurma sagt, dass man auch dann die Verantwortung trägt, wenn man etwas hinnimmt«, erwiderte sie. »Ich akzeptiere, was ich getan habe, und übernehme die volle Verantwortung für meine Taten.«

Horatio merkte, dass er im Begriff war, Ruth zu verlieren. Sie wollte nicht wahrhaben, dass ihrem Retter ihr Wohl unter Umständen gar nicht so sehr am Herzen lag. »Und«, sagte Horatio ruhig, »Sie sind bereit, es wieder zu tun?«

Ruth sah ihn an, als hätte er sie geschlagen. »Ich … er würde doch nicht …«

Horatio erhob sich ebenfalls. »Es geht nicht mehr darum, was er tun würde«, sagte er. »Jetzt geht es darum, womit Sie zu leben bereit sind. Denken Sie darüber nach … und wenn Sie zu einem Entschluss gelangt sind, rufen Sie mich an.«

Er setzte seine Sonnenbrille auf und ging. Ruth blieb mit seinem Taschentuch in der Hand stehen und blickte hilflos hinaus aufs Meer.

Shanique Cooperville trug hochhackige Schuhe, eine enge weiße Satinhose und ein bauchfreies pinkfarbenes Top – und ihr Blick war mehr als wütend. Horatio sah ihr gelassen über den Tisch hinweg in die Augen und sagte: »Shanique. Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Kein Problem«, entgegnete sie, aber ihr Ton ließ ahnen, dass sie eigentlich ganz anderer Meinung war.

Detective Salas, die neben dem Tisch stand, sagte nichts. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und taxierte Shanique mit kühlem Blick.

»Sie halten sich jetzt seit … acht Monaten an die Vitality Method, nicht wahr?«, fragte Horatio. »Wie geht es Ihnen dabei?«

»Bestens.«

»Freut mich. Trotzdem, es ist bestimmt nicht einfach, die vielen Leckereien aufzugeben. Nie wieder Steak, nie wieder Omelette, nie wieder Shrimpscocktail oder Eier Benedict oder Grillhähnchen …«

»Was soll das? Wollen Sie, dass mir schlecht wird? Mir fehlt das ganze Zeug überhaupt nicht!«, fuhr sie ihn an.

»Oh?«, warf Yelina jetzt ein. »Sie wollen sagen, Sie mogeln nie? Nicht mal ab und zu ein kleines Stückchen Frühstücksspeck zu Ihrem Müsli mit Sojamilch?«

Shanique verdrehte die Augen. »Sie verstehen das nicht! Es ist etwas anderes, wenn man auf tierische Produkte verzichtet, als das Rauchen oder Trinken aufzugeben. Es ist eine Veränderung der Denkweise und des Seins. Für mich sind das keine Nahrungsmittel mehr. Allein bei der Vorstellung, meinem Körper so etwas zuzuführen, wird mir speiübel.«

»Ich verstehe«, sagte Horatio. »Also würden Sie es als extrem Ekel erregend empfinden, wenn Sie etwas wie … ich weiß nicht … eine Packung Hackfleisch anfassen müssten?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Allerdings.«

»Würden Sie mir dann bitte erklären, wie Ihre Fingerabdrücke auf einer solchen Verpackung gelandet sind, die wir im Müllcontainer des Restaurants gefunden haben?«

Shanique senkte den Blick. »Ich … das weiß ich nicht.«

»Ich aber«, entgegnete Horatio. »Sie haben das Hackfleisch mit ins Restaurant gebracht, um es unter das vegetarische Chili zu mischen, das an jenem Tag auf der Speisekarte stand – nicht in das Chili, das den Gästen serviert wurde, sondern nur in die Schüssel, aus der Phillip Mulrooney gegessen hat. Das kann ich beweisen.«

Sie antwortete nicht, aber Horatio merkte, wie sie innerlich zusammensackte. Er legte noch einmal nach. »Mulrooney, der bekanntermaßen Veganer war, hatte Fleisch in seinem Magen. Wir haben eine benutzte Schüssel mit seinen Fingerabdrücken und Resten des mit Fleisch versetzten Chilis gefunden, und obendrein Ihre Fingerabdrücke auf der Hackfleischverpackung!«

»Und? Auch wenn ich das getan habe, was wollen Sie mir dann vorwerfen? Schließlich habe ich ihn ja nicht vergiftet!«, fuhr Shanique auf.

»Beihilfe zum Mord«, sagte Horatio, »würde die Anklage lauten. Wir können Sie mit einem Mordfall in Verbindung bringen, der viele Fragen aufwirft. Fragen, auf die ich Antworten bekommen möchte. Ich kann Sie immerhin wegen Körperverletzung hinter Gitter bringen – und wenn Mulrooneys Tod kein Unfall war, sieht es schlecht für Sie aus, denn sie waren dran schuld, dass er zur Toilette musste.«

Nun war es vollends mit Shaniques Entschlossenheit vorbei. Aus ihren Augen und ihrer Stimme sprach Resignation. »Ich wollte ihm doch nur zeigen, dass er sich irrte.«

»In Bezug worauf?«, hakte Yelina nach.

»In Bezug auf Dr. Sinhurma. In Bezug auf die Vitality Method. In Bezug auf … auf uns.«

Horatio nickte. »Sie hatten eine Beziehung mit Phillip Mulrooney?«

»Wir haben zusammen geschlafen, ja. Bis er anfing zu zweifeln.«

»An Ihnen?«, fragte Horatio.

»An Dr. Sinhurma. Phil begann, seine Methoden anzuzweifeln, ja sogar seine Absichten. Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber er wollte nicht zuhören.«

Horatio stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Was hat er denn gesagt?«

»Verrücktes, paranoides Zeug. Dass die Vitality Method einer Gehirnwäsche gleicht und dass Dr. Sinhurma ein Sektenguru ist. Und er hat sich die Spritzen nicht mehr geben lassen.«

Horatio runzelte die Stirn. »Was für Spritzen?«

»Vitaminspritzen. Wir bekommen sie jeden Abend in der Klinik.«

»Und als er sie nicht mehr haben wollte, schob der Doktor ihn ins Restaurant ab?«

»Nun, er würde ihn doch nicht einsperren und zwingen, seine Vitamine zu nehmen, nicht wahr? Er ist ein Ernährungswissenschaftler, nicht Charles Manson.«

»Also haben Sie beide sich gestritten«, sagte Yelina und beugte sich vor. »Und das Hackfleisch war dann Ihre kleine Rache.«

»Nein! Ich ahnte, dass er daran dachte, die Klinik zu verlassen. Früher oder später hätte er dann auch die Diät abgesetzt, und ich wollte nur, dass er erkennt, wie schlecht Fleisch für seinen Körper ist.«

»So wie man einem Kind eine ganze Packung Zigaretten zu rauchen gibt, nur weil man es einmal mit einer einzigen erwischt hat und die Folgen befürchtet?«, fragte Horatio.

»Ich dachte, Phil würde verstehen und die Dinge wieder so sehen wie damals, als wir zusammenkamen. Das war etwas ganz Besonderes … Wir sind Dr. Sinhurma aus vielen Gründen zu großem Dank verpflichtet. Als Phil das nicht mehr so empfand, hat er mir sehr wehgetan.«

»Also haben Sie ihm auch wehgetan.«

»Es war zu seinem Besten.«

»Tja, die vegane Ernährungsweise mag ja gut für Sie und Ihresgleichen sein«, sagte Horatio und erhob sich, »aber von einer elektrischen Hochspannung kann man das wohl nicht behaupten.«

»Stehe ich unter Arrest?«

»Noch nicht«, entgegnete Horatio. »Aber einen langen Urlaub in der Karibik sollten Sie besser nicht planen.«