11

»Tut mir Leid«, sagte Dr. Wendall zu Horatio, »aber ich habe Jason seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Er ist spurlos verschwunden.«

Sie waren in Wendalls Büro bei Atmosphere Research Technologies. Der Wissenschaftler kratzte sich am Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, wo er steckt. Ist er in den Fall involviert, von dem Sie mir erzählt haben?«

»Das kann ich noch nicht so genau sagen«, entgegnete Horatio. »Ist Ihnen vielleicht in letzter Zeit etwas an Jasons Verhalten aufgefallen? War er anders als sonst?«

Wendall zögerte, dann sagte er: »Ja, schon. Wir dachten alle, es ginge um ein Mädchen – er verhielt sich, als sei er verliebt. Sie wissen schon, irgendwie ausgelassen, immer gut gelaunt. Er hat sich sogar besser angezogen – nicht auf der Arbeit, hier war er wie immer ziemlich leger gekleidet, aber nach Dienstschluss. Ich habe ihn sogar einmal im Anzug gesehen.«

»Hm-hm. Was ist mit seinen Essgewohnheiten? Haben die sich verändert?«

»Ich glaube, er ist kürzlich Vegetarier geworden, wenn ich mich recht erinnere.«

Horatio nickte. »Hat er je erwähnt, dass er zu neuen Ansichten gelangt ist?«

Wendall runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht. Meinen Sie, ob er in ein anderes Forschungsgebiet wechseln wollte?«

»Nein, ich meine damit religiöse oder metaphysische Ansichten.«

»Nein. So etwas hat er nie erwähnt.«

Das war ein gutes Zeichen. Wenn Jason seinen Kollegen noch nichts von seinem Gesinnungswandel erzählt hatte, war er sich vielleicht noch nicht so sicher. Möglicherweise war er Sinhurma doch noch nicht auf den Leim gegangen.

»Er wirkte viel zufriedener als sonst«, erzählte Wendall, und seine dicken Augenbrauen stießen über der Nasenwurzel zusammen, als er die Stirn in Falten legte. »Ich dachte, wir müssten auf Leute achten, die auf der Arbeit ständig verstimmt sind – ist plötzliche Freude auch ein Warnsignal?«

»Diese Art der Freude hat einen sehr hohen Preis«, antwortete Horatio. »Und ich glaube nicht, dass Jason ihn zu zahlen bereit ist.«

»Wie viel?«, fragte der Mann mit dem pinkfarbenen T-Shirt und dem weißen Jackett noch einmal. Er schien recht fassungslos zu sein.

»Zwanzig Dollar kostet der Eintritt«, wiederholte der Türsteher. »Wenn du dich in die Schlange stellen willst und nicht wie ein Idiot aussiehst. Oder du zahlst den höheren Preis von fünfzig Dollar.«

»Wofür denn?«, fragte der Mann. Er war vielleicht Mitte vierzig und versuchte, wie Mitte zwanzig auszusehen. Wie sich an seinem unrasierten Kinn und seiner Ray-Ban-Sonnenbrille ablesen ließ, war Miami Vice für ihn immer noch der Inbegriff von Coolness.

»Dafür stehst du ganz vorn in der Schlange, und meine Idioten-Sensoren werden kurz abgeschaltet«, erklärte der Türsteher. Er hieß James Collinson, war ein Meter neunzig groß und hatte braunes gewelltes Haar und Arme wie Baumstämme. »Die werden gerade ziemlich strapaziert, muss ich sagen. Hast du das Jackett vom Flohmarkt? Oder hattest du das noch von deinem Highschool-Abschlussball?«

Der Mann sah Collinson grimmig an, taxierte seine muskulösen Arme und verdrückte sich schließlich, um sein Glück in einem anderen Lokal am Ocean Drive zu versuchen.

Der Türsteher dachte nicht weiter über ihn nach. Diese Diskussion hatte er nicht zum ersten Mal geführt, denn mit solchen Leuten hatte er jeden Abend zu tun; mit Leuten, die dachten, dass sie mit Charme, Arroganz oder – noch lächerlicher – mit Höflichkeit in den Club kämen. Nichts davon machte jedoch Eindruck auf ihn. Er hielt nach Frauen Ausschau, die sexy und möglichst leicht bekleidet waren, nach Berühmtheiten und Geld – in dieser Reihenfolge –, aber selbst das Geld beeindruckte ihn nicht sonderlich. Er hatte Freude an seinem Job, nicht etwa wegen des Profits, sondern wegen ganz anderer Annehmlichkeiten, von denen die wichtigsten Sex und Macht waren.

Er gähnte und streckte sich und ließ dabei genüsslich seine Muskeln spielen. Es war ein warmer Abend, die Luft war feucht, und es drohte zu regnen, aber die Schlange vor dem Eingang war so lang wie noch nie. Garth’s war der neueste, angesagteste Laden am Strand, und wenn man rein wollte, musste man den Hünen an der Tür davon überzeugen, dass man dieser Ehre würdig war. Das Leben war schön!

Collinson warf einen prüfenden Blick auf das Zählwerk in seiner Hand, das ihm anzeigte, wie vielen Leute er bereits Eintritt gewährt hatte. Er musste drauf achten, die Brandschutzbestimmungen nicht zu verletzen. Dann schaute er die Straße hinauf und hinunter und sah über die Leute hinter der Samtkordel hinweg, als wären sie gar nicht anwesend. In South Beach gab es immer viel zu sehen: Auf der Straße fuhren in gemächlichem Tempo schwarze und weiße Limousinen vorbei, auch italienische Sportwagen, die klein genug schienen, um zwischen den Rädern der wuchtigen SUVs hindurchzuflitzen. Die Art-déco-Fassaden der Gebäude wurden von roten, grünen, orangefarbenen und blauen Scheinwerfern angestrahlt, und draußen in der Bucht funkelten die Lichter von unzähligen Booten und Vergnügungsdampfern wie betrunkene Sterne.

An diesem Abend fand Collinson das Ganze jedoch irgendwie langweilig. Er zog ein Buch aus der Gesäßtasche seiner Hose, schlug es auf und begann zu lesen.

»Ist das über die Vitality Method?«, fragte jemand, und Collinson sah nur deshalb auf, weil die Stimme weiblich und jung klang.

»So steht es auf dem Cover«, entgegnete er. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, war weder besonders hübsch noch jung und zeigte auch nicht besonders viel nackte Haut. Für ihn sah sie aus wie eine Touristin mittleren Alters, die auch einmal eine heiße Nacht in einem Club erleben wollte, ohne zu wissen, wie unwahrscheinlich es war, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging. Aber irgendwie kam sie ihm bekannt vor …

»Das habe ich auch gerade gelesen!«, fuhr die Frau fort. »Sind Sie Vegetarier?«

Nein, aber vielleicht sollten Sie besser zukünftig auf Cheeseburger verzichten, hätte er ihr um ein Haar entgegengeschleudert – sie war zwar nicht dick, aber er hasste es, gestört zu werden. Doch da fiel ihm plötzlich ein, woher er die Frau kannte. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Collinson hielt sich für einen glücklichen Menschen. In den wenigen Jahren, die er nun in Miami lebte, war er von einem Glücksfall zum nächsten gestolpert, hatte tonnenweise Kohle gescheffelt, die meiste Zeit mit Party-Machern verbracht und mit einigen wirklich außergewöhnlichen Frauen geschlafen, darunter sogar ein Unterwäsche-Model. Aber verglichen mit dem, was er in Kürze erleben würde, kam ihm all dies vor wie ein schnelles Bier in einer schlechten Kneipe.

Lass dir Zeit, dachte er. Immer mit der Ruhe! Koste diesen erhebenden Moment aus, denn so ein Glück hast du nicht alle Tage.

Er schenkte der Frau sein schönstes, entwaffnendstes Lächeln und sagte: »Hey, kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«

Sie erwiderte sein Lächeln und entgegnete mit einem leichten Südstaatenakzent: »Ich denke nicht.«

»Sind Sie sicher? Ich heiße James – sagt Ihnen das irgendwas?«

»Sorry, leider nicht.«

»Hm, also … wo arbeiten Sie denn? Vielleicht kenne ich Sie daher.«

»Ich arbeite im öffentlichen Dienst.«

Collinson breitete die Arme aus. »Genau wie ich!«

Sie lachte. »Oh nein. Mein Job ist viel langweiliger.«

»Das bezweifle ich«, entgegnete er. »Ich wette, Sie haben jede Menge Spaß. Ich für meinen Teil habe ihn auf jeden Fall. Warten Sie schon lange?«

»Seit einer halben Ewigkeit.«

Sehr gut, dachte er. Je länger sie gewartet hat, desto länger wird sie auch ausharren. »Ja, ich weiß, was Sie meinen«, sagte er. »Ich bin in ein paar Minuten hier weg – sobald meine Ablösung kommt.«

»Sie Glücklicher! – Äh, sieht so aus, als wäre da gerade jemand rausgekommen«, sagte sie mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme.

»Wissen Sie, was das Tolle an unseren Jobs ist?«, fragte er freundlich. »Die Kontrolle, die wir über das Leben anderer Leute haben! Ich meine, wir sind zwar nicht direkt für das Schicksal anderer verantwortlich, aber wir haben für den Bruchteil einer Sekunde einen ziemlich großen Einfluss darauf. Es ist, als gäbe es für jeden Menschen einen Schalter, der zwei Einstellungen hat: guter Tag und schlechter Tag. Und wir sind diejenigen, die den Schalter betätigen. Wenn ich jemandem sage, er kann rein, ist es ein guter Tag für ihn, und wenn ich sage, er soll sich verdrücken, ist es ein schlechter. Verstehen Sie, was ich meine?«

Aus den Augen der Frau sprach Argwohn. Als sie antwortete, hatte sie diesen kalten, gereizten Ton, an den er sich sehr gut erinnerte. »Nein, nicht wirklich.«

»Aber sicher verstehen Sie! Sie können diesen Schalter auch jeden Tag betätigen, genau wie ich. Der Unterschied zwischen uns ist nur, dass Sie ihn viel öfter auf den schlechten Tag stellen als ich.«

Da war er wieder, dieser abweisende Blick, der, als sie sich das letzte Mal begegnet waren, in ihm den Wunsch geweckt hatte, sie zu erwürgen. Aber das hier wird viel besser, dachte er.

»Es geht immer nur um Macht, nicht wahr?«, sagte Collinson. »Ich meine, okay, es ist ganz nett, Menschen glücklich zu machen, aber das ist nichts im Vergleich zu dem Kick, den man kriegt, wenn man jemanden so richtig fertig machen kann. Ganz egal, ob es derjenige verdient oder nicht, ganz egal, was er getan hat oder wer er ist, denn es geht gar nicht um diesen Menschen, nicht wahr? Es geht um einen selbst.«

»Ich weiß nicht …«

»Sehen Sie, Sie und ich, wir sind privilegiert«, fuhr er fort. Inzwischen hatte er sich richtig in Rage geredet. »Andere, die jeden Tag mit Menschen zu tun haben, drehen irgendwann durch, weil sie ihre Kunden mit Respekt behandeln müssen. Egal, wie oft sie die gleiche dumme Frage gestellt bekommen, sie müssen die Zähne zusammenbeißen und lächeln. Aber wir beide müssen das nicht, stimmt’s?« Er beugte sich abrupt vor. »Nein, wir können alles rauslassen. Wenn wir verkatert sind oder wütend auf unseren Nachbarn oder einfach nur sauer, weil die Welt so ungerecht ist, können wir den ganzen Ärger an der Person auslassen. An irgendeiner Person, die als Nächste in der Schlange steht. Ich mache das hier als Türsteher … und Sie machen das auf dem Amt.«

Die Frau wollte weg, das merkte er, aber sie war hin- und hergerissen. Sie hatte schon so lange gewartet, und vielleicht war seine Ablösung ja freundlicher. Aber eigentlich, dachte er, möchte sie mich am liebsten so richtig abkanzeln, denn das ist sie gewohnt. Na, dann komm, Mädel, zeig mir, was du drauf hast!

»Hören Sie, ich mache nur meine Arbeit«, sagte sie kalt. »Es ist nicht meine Schuld, wenn Sie nicht …«

»Wenn ich was nicht?«, brauste er auf. »Wenn ich nicht wie ein lästiges Insekt behandelt werden will? Als wäre ich eine Art Ärgernis, das Sie von etwas Wichtigerem abhält? Kommen Sie, seien Sie ehrlich – Ihr Job gibt Ihnen die Möglichkeit, andere wie den letzten Dreck zu behandeln – und das tun Sie öfter als sich die verdammten Achseln zu rasieren!«

Sie riss die Augen auf, und er wusste, dass sie drauf und dran war, die Beherrschung zu verlieren. Wurde ja auch Zeit, dachte er.

»Für wen halten Sie sich eigentlich? Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?«, fuhr sie ihn an. Er ahnte, dass sie eine Hasstirade vom Stapel lassen würde, aber er hatte nicht die Absicht, sich das anzuhören. Sein Job ermöglichte ihm, etwas zu tun, das ihr in ihrem Job verwehrt war.

Er ging ein Stück zur Seite und richtete das Wort an die Leute ringsumher, von denen viele mit Interesse das Gespräch verfolgt hatten: »Hey! Wie viele von euch sind schon mal auf dem Amt fertig gemacht worden?«

Einige Leute reagierten sofort mit Ja-Rufen.

»Bei der Einkommensteuer? Oder wenn man irgendeine Genehmigung braucht?«, schrie Collinson in die Menge. Nun kam richtig Bewegung auf, und die Rufe der Menschen übertönten die hilflosen Rechtfertigungsversuche der Frau.

»Ja, das kennen wir alle!«, brüllte er.

»Nun, diese Frau hier arbeitet beim Straßenverkehrsamt!«, verriet Collinson genüsslich.

Buh-Rufe und Beleidigungen wurden sofort laut, und die Augen der Frau sahen aus, als kämen gleich Flammen herausgeschossen.

»Was meint ihr? Soll ich sie reinlassen?«, fragte der Türsteher, und die Leute reagierten mit Gejohle und lauten Nein-Rufen. Man konnte sich darauf verlassen, dass Menschen in einer größeren Ansammlung immer dazu neigten, sich wie ein Haufen Drittklässler zu verhalten.

»Meint ihr, sie hat es verdient, mit uns Party zu machen?«

»NEIN!«

»Was? Findet ihr sie nicht nett genug?«

Die Antworten wurden immer übler. Collinson sah die Frau von oben herab an und merkte, wie sie ganz leicht zusammenzuckte.

»Findet ihr sie nicht scharf genug?«, fuhr er fort.

Noch mehr Ablehnung und abschätzige Kommentare zu ihrem Gewicht, ihren Klamotten und ihren Eltern. Und war da vielleicht schon eine Träne in ihrem Augenwinkel?

Aus einer plötzlichen Eingebung heraus hielt Collinson das Buch hoch, das er immer noch in der Hand hatte. »Sie sagen, Sie haben dieses Buch gelesen? Nun, ich bin noch nicht damit fertig, aber bisher habe ich Folgendes gelernt: innen hässlich – außen hässlich! Und daher sind Sie die hässlichste Kuh, der ich je begegnet bin. Sehen Sie, ich trage Verantwortung. Ich bin hier, um eine bestimmte Sorte Menschen von diesem Club fern zu halten – und genau zu dieser Sorte gehören Sie! Niemand hier mag Sie, niemand hier will Sie, und niemand will auch nur ein einziges verdammtes Wort von Ihnen hören!«

Das gab der Frau den Rest. Sie brach in Tränen aus und lief davon. Collinson sah ihr grinsend hinterher und genoss seinen Sieg. Mich ein halbes Jahr auf meinen verdammten Motorradführerschein warten lassen!, dachte er. Mal sehen, wie es ihr gefällt, grundlos schikaniert zu werden! »Sie können jederzeit wiederkommen«, rief er ihr nach. »Ich bin die ganze Nacht hier.«

Dann winkte er die nächsten drei Leute in den Club, um zu beweisen, wie großmütig er war, und nickte lächelnd, als sie ihm gratulierten und ihm bestätigten, dass die Frau es nicht anders verdient hätte. Das Leben war nicht nur schön, es war fantastisch!

Und dann tauchte der Typ mit dem furchtbaren Sakko wieder auf. Er war fast kahl und hatte die Figur und das Gesicht eines gealterten Football-Linebackers. »Das war aber ein Auftritt!«, sagte er. »Denken Sie über alle Angestellten im öffentlichen Dienst so?«

»Nur über die Idioten«, antwortete Collinson.

»Nun, ich werde den diensthabenden Polizisten im Bezirksgefängnis darüber in Kenntnis setzen«, meinte der Mann und zog seine Marke aus der Tasche. »Lieutenant Frank Tripp. Wissen Sie, ich hätte mich schon früher eingeschaltet, aber als Sie das Buch hochhielten, dachte ich, Sie würden vielleicht noch etwas Brauchbares erzählen. Aber das war wohl reines Wunschdenken.«

»Was, das Buch hier? Das hat mir ein Freund gegeben.«

»Ja, und ich wette, ich weiß auch welcher«, entgegnete der Cop. Er nahm seine Handschellen, packte den Türsteher bei den Handgelenken und drehte ihn um. »James Collinson, Sie sind verhaftet.«

»Weswegen?«, fragte Collinson. »Wegen meiner kleinen Racheaktion?«

»Wegen Anbau und Verkauf von Marihuana«, antwortete der Cop. »Gehen wir, Jimbo!«

Verdammt, dachte der Türsteher, als er abgeführt wurde, der Schalter ist wohl gerade auf ›Scheißtag‹ gestellt worden.

Horatio gab Dr. Wendall seine Karte und bat ihn, sich zu melden, falls er etwas von Jason hören sollte. Dann verabschiedete er sich und stieg in seinen Hummer. Unterwegs rief er Wolfe an. Der stand bereits vor Jasons Wohnung und berichtete, dass Jason nicht zu Hause war. Doch das war auch nicht notwendig, weil Wolfe einen Durchsuchungsbeschluss bei sich trug.

Horatio und er trafen sich vor dem Apartmenthaus, dessen Fassade in einem kräftigen Grün erstrahlte. Die Hausmeisterin, eine stämmige Frau mit einer getönten Sonnenbrille und einem bunten Sommerkleid, öffnete ihnen die Tür zu dem Apartment. Horatio gab zu, dass er etwas anderes erwartet hatte. Der Teppich war makellos weiß, die Einrichtung eine Mischung aus Danish Modern und Designeroriginalen mit viel Chrom und hellem Holz – Halogenleuchten unter der Decke, Kunstdrucken in silbernen Rahmen und Bücherregalen aus Aluminium mit Einlegeböden aus Plexiglas.

»Ziemlich schick für einen Wissenschaftsfreak«, bemerkte Wolfe, nachdem er sich umgesehen hatte.

Horatio ging zu dem Bücherregal. »Nur auf den ersten Blick, Mr Wolfe.« Er nahm ein Buch heraus und las den Titel laut vor: »Dungeons & Dragons Handbuch für Fortgeschrittene.«

»Das passt nicht zu der Einrichtung«, sagte Wolfe.

»Die Einrichtung passt nicht zu dem Bewohner«, erwiderte Horatio. »Dann wollen wir mal sehen, ob der Rest der Wohnung genauso aussieht.«

Das Schlafzimmer, das sich am Ende eines kurzen Flurs befand, erzählte eine ganze andere Geschichte: Das Bett war nicht gemacht, und an den Wänden hingen unansehnlich gewordene Poster: Apollo 13, Buffy und spärlich bekleidete Heldinnen aus japanischen Mangas. Schmutzige Wäsche häufte sich auf dem Boden, und mit Essensresten überkrustete Teller standen auf Zeitschriften- und Bücherstapeln. Ein Computer sowie ein Flachbildschirm thronten auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, an dessen Rahmen als behelfsmäßiger Vorhang ein Handtuch befestigt war.

»Das passt schon eher zu dem Kerl, den Sie mir beschrieben haben«, fand Wolfe.

»Stimmt«, entgegnete Horatio. »Die Wohnzimmereinrichtung wirkt irgendwie unecht und aufgesetzt – ich glaube, sie entspricht wohl eher dem Image, das er nach außen hin vermitteln will. Das Schlafzimmer zeigt, wie er wirklich ist.«

»Glauben Sie, er hat versucht, uns etwas vorzumachen?«

»Nein, ich glaube, er ist derjenige, dem etwas vorgemacht wurde … und das von jemandem, der den Leuten predigt, wie wichtig das äußere Erscheinungsbild ist.«

Wolfe sah sich um. »Anscheinend hat die Predigt nicht gefruchtet.«

Das will ich hoffen, dachte Horatio und sagte zu seinem Mitarbeiter: »Lassen wir die Beweise sprechen.«

Wolfe durchsuchte das Wohnzimmer, und Horatio nahm sich das Schlafzimmer vor. Als er alles untersucht hatte, war er ziemlich sicher, dass Jason, falls er mit Ruth Carrell geschlafen hatte, dies nicht in seinem eigenen Bett getan hatte. Die Wäsche war schon eine Weile nicht gewechselt worden, und es gab keine Hinweise auf sexuelle Aktivitäten. Das war logisch: Wenn Ruth Jason verführt hatte, dann wahrscheinlich irgendwo in der Klinik.

»Hey, H.! Sehen Sie sich das mal an!«

Wolfe war in der kleinen Küche neben dem Wohnzimmer. Auf der Resopalarbeitsfläche stand neben der Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte, eine Friteuse. »Ein gewisses Gefühl für Stil hat er vielleicht entwickelt, aber nicht für Hygiene«, sagte Wolfe. »Einer vom Raketenclub hat mir übrigens erzählt, dass er seinen Treibstoff in einer Friteuse zusammenmischt. Und nun sehen Sie sich das hier mal an!«

Am Rand der Friteuse klebte eine gelbliche, wachsartige Substanz. Horatio kratzte mit dem Finger etwas davon ab und roch daran.

»Zucker«, bestätigte er. »Und ich wette, wenn wir das richtig untersuchen lassen, finden wir darin auch zehn Prozent Ammoniumperchlorat. Hier hat er also den Treibstoff für die Rakete hergestellt!«

»Meinen Sie, das Abschusssystem befindet sich auch hier?«

»Das erfahren wir nur, wenn wir nachsehen, nicht wahr?«

Sie durchsuchten das gesamte Apartment und fanden Bücher über Modellraketen, alte Raketenteile und schließlich einen kleinen Werkzeugkasten unter dem Waschbecken. Auf dem Küchentisch, den Jason vermutlich auch als Werkbank benutzte, lagen überall Kabelreste und Plastikteile herum.

Beunruhigender war allerdings das, was sie nicht fanden. »Keine Zahnbürste, kein Rasierzeug«, stellte Horatio fest. »Bei dem Durcheinander im Schlafzimmer ist es zwar schwer zu beurteilen, aber ich tippe mal, es fehlen auch Kleider und ein Koffer. Er ist abgehauen, aber ich vermute, er ist nicht weit weg.«

»Denken Sie, er ist in der Klinik, und Sinhurma versucht, ihn zu schützen?«

»Ja«, antwortete Horatio, »aber nicht so, wie Jason es sich vorgestellt hat.«

Calleigh betrat Charette & Sons mit einem strahlenden Lächeln. Oscar Charlessly stand neben einem großen Kühlschrank und sprach mit einer Frau, die einen grünen Sweater trug. Dabei grinste er von einem Ohr zum anderen und tätschelte das Gerät, als wäre es ein großer freundlicher Hund. Die Frau nickte und lachte und fühlte sich augenscheinlich sehr wohl.

Er ist ein verdammt guter Verkäufer, dachte Calleigh.

Sie ging geradewegs auf die beiden zu und sagte: »Hallo, da bin ich wieder!«

Oscar drehte sich um und fing an zu strahlen, als er sie erkannte. »Schön, Sie zu sehen! Warten Sie einen Moment, meine Liebe, ich bin hier gleich fertig.«

»Tut mir Leid, Oscar«, entgegnete sie überfreundlich, »aber ich habe es eilig. Wenn ich warte, bis Sie fertig sind, stehe ich vielleicht heute Abend noch hier.«

Er lachte. »Ich rede ein bisschen viel, nicht wahr? Nun, also dann, was kann ich für Sie tun, Ms Duquesne?«

»Sie könnten mir sagen, wie viel getrocknetes Marihuana man in so ein Gerät reinkriegt«, erwiderte sie fröhlich und schaute zu dem Kühlschrank. »So etwas eignet sich doch hervorragend als Versandverpackung, nicht wahr? Ich denke mal, man könnte alle möglichen Großgeräte zu diesem Zweck benutzen – Herde, Waschmaschinen, Trockner …«

Oscars Lachen wurde lauter. »Mannoman, wahrscheinlich schmuggele ich auch noch Kokain in meinen Shorts, nicht wahr? Da ist jede Menge Platz!«

Auch die Frau mit dem grünen Sweater lachte, aber sie wirkte verunsichert.

»Nein, ich denke, Sie halten sich an das grüne Zeug«, entgegnete Calleigh. »Solche alten Geräte sind ja leicht zu bekommen, und sie müssen noch nicht einmal funktionieren, nicht wahr? Stattdessen bekommen Sie dadurch auch noch eine gute Ausrede, um mit einem großen Laster zwischen Miami und Georgia hin- und herzupendeln. Da aus der Karibik so viel Stoff nach Miami kommt, dachten Sie, Sie würden nicht erwischt werden, wenn Sie das Zeug aus der anderen Richtung reinschaffen. Außerdem konnten Sie so die Preise der Konkurrenz unterbieten. Das hiesige Gras ist zwar nicht so gut wie das jamaikanische Ganja, aber Sie konnten es immerhin durch die Kreuzung mit hochwertigen Pflanzenklonen verbessern. Und zu guter Letzt haben sie aus einem Teil des Marihuanas auch noch Haschisch hergestellt, genauso wie ein Winzer, der aus den schlechten Trauben Brandy macht. Sie hatten sogar einen Rastafari als Strohmann – eine verkaufsfördernde Maßnahme, nicht wahr? Wirklich, Oscar, Sie sind ein ausgebuffter Halunke!«

Die Frau mit dem grünen Sweater starrte die beiden an. Calleigh wandte sich ihr lächelnd zu und sagte: »Sie können jetzt gehen«, was die Frau auch augenblicklich tat.

Charlessly schüttelte den Kopf, blickte aber immer noch fröhlich drein. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Ms Duquesne – was für eine Geschichte! Ich denke, das wird alles mein Anwalt klären.«

»Oh, ich bin sicher, er hat mit Ihnen alle Hände voll zu tun. Aber zuerst haben wir beide hier noch etwas zu erledigen.« Sie zog ein gefaltetes Dokument aus der Tasche und gab es Charlessly. »Das ist ein Durchsuchungsbeschluss für Ihren Laden, die Fahrzeuge und den Computer. Alte Geräte haben im Inneren viele kleine Ecken und hervorstehende Kanten – Sie wissen schon, wo sich jede Menge Fett und Staub und so weiter ansammeln kann. Meinen Sie, da finden sich nicht auch ein, zwei Krümel pflanzliches Material?«

»Und wenn schon«, entgegnete Charlessly. »Das hier sind alles gebrauchte Geräte. Ich glaube nicht, dass man mich vor Gericht für die Vorgeschichte eines alten Kühlschranks verantwortlich machen kann.«

»Sie können mir viel erzählen, Oscar, aber DNS-Proben sprechen eine eindeutige Sprache. Weil Sie Klone verwendet haben, kann ich jedes Flöckchen Marihuana, das ich finde, mit drei vorangegangenen Festnahmen in Verbindung bringen: mit der in North Florida, mit der des Haschischherstellers – und mit der auf der Plantage, die Kyle Dolittle überwachen sollte. Dooley hat uns übrigens einiges erzählt.«

Charlessly gefror das Lächeln im Gesicht, und Calleigh winkte die beide Officer herein, die draußen vor der Glastür auf ihren Auftritt gewartet hatten.

»Einen guten Geschäftsmann erkennt man doch daran, dass er seine Bücher gewissenhaft führt«, sagte Calleigh. »Ich nehme an, wenn wir Ihre Dateien öffnen – Sie wissen schon: die, an deren Passwort Sie sich nicht erinnern konnten –, werden wir bestimmt viele interessante Informationen finden.«

Darauf hatte Charlessly keine Antwort.

Einen gewieften Verkäufer mundtot machen, dachte Calleigh, ist fast eine Entschädigung für die ruinierte Hose.

Das große schmiedeeiserne Tor zur Vitality-Method-Klinik war verschlossen, und es ging auch niemand ans Telefon. Horatio sah sich gezwungen, härtere Maßnahmen zu ergreifen.

»Aufbrechen!«, befahl er. Der Officer am Steuer des großen Polizeicruisers nickte und gab Gas. Die Ramme an der vorderen Stoßstange des Wagens krachte in das Tor und öffnete es in Sekundenschnelle.

Horatio, der eine kugelsichere Weste trug, folgte dem Fahrzeug mit gezogener Pistole. Er wurde dabei von vier Cops des Sondereinsatzkommandos begleitet.

Weit und breit war niemand zu sehen. Die Officer schwärmten aus und kontrollierten den Schießstand, den Pool und den Vortragssaal, aber auch dort war niemand.

Horatio ging zum Haupteingang und stellte fest, dass die Tür unverschlossen war. Mit der Pistole im Anschlag betrat er das Gebäude. Der Empfang war nicht besetzt.

»Nicht gut«, murmelte er. Er befürchtete das Schlimmste, als er in den Schlafräumen nachsah. Die kleinen, einfachen Zimmer waren leer und die Betten ordentlich gemacht.

Sinhurmas Büro war ebenso verlassen wie seine Wohnung. Im japanischen Garten, wo Horatio zuletzt mit dem Doktor gesprochen hatte, fand er ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das mit einem grauen Stein beschwert war. Auf den Zettel waren mit schwarzer Tinte vier japanische Schriftzeichen gepinselt. Horatio hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, aber dass die Botschaft für ihn bestimmt war, wusste er genau.

»Das heißt ›Sayonara‹«, erklärte Delko. »Auf Wiedersehen.«

Er war gekommen, um mit Wolfe und Horatio die gesamte Klinikanlage zu durchsuchen, während Calleigh noch bei Charette & Sons beschäftigt war.

»Du kannst Japanisch, Eric?«, fragte Horatio.

»Nur ein bisschen. Ich war mal mit einer Austauschstudentin aus Tokio zusammen – sie hat mir immer kleine Nachrichten hinterlassen. Wenn ich herausfand, was sie bedeuteten, bekam ich eine Belohnung.«

»Nun, in diesem Fall könnten wir ein Massaker verhindern«, entgegnete Horatio. »Eric, du fängst mit den Schlafräumen an. Wolfe, Sie übernehmen die Behandlungszimmer. Haltet Ausschau nach dem Kontrollraum – für die Kameras muss es eine Leitstelle geben. Ich werde mir Sinhurmas Privaträume vornehmen. Wir suchen nach allen Arten von Hinweisen, die uns verraten, wohin die Leute verschwunden sind oder was sie vorhaben. Alles, was nach Terminkalendern aussieht, ist ebenfalls wichtig. Los geht’s!«

Delko trabte los, während Wolfe noch zögerte. »Glauben Sie wirklich, wir haben eine Art Massenselbstmord zu erwarten?«, fragte er.

»Schwer zu sagen«, antwortete Horatio. »Sinhurma ist ein Meister der Manipulation – vielleicht ist das hier nur eine Finte. Ich habe versucht, ihn nervös zu machen, damit er einen Fehler begeht, aber er ist clever genug, um es bei mir mit der gleichen Strategie zu versuchen. Wenn wir überreagieren, macht er seinen Einfluss geltend, und wir stehen in der Öffentlichkeit ganz schnell als – ich zitiere den Richter – ›paranoide Sturmtruppe‹ da. Wir hatten Glück, dass wir überhaupt einen Durchsuchungsbeschluss bekommen haben.«

»Aber Sie halten es für möglich, dass Sinhurma es ernst meint?«

»Ich denke, wir sollten ihn aufspüren und fragen. Und zwar schnell.«

Sinhurmas Privatwohnung war im Gegensatz zu den kargen Schlafräumen sehr luxuriös. Von dem riesigen Wohnzimmer mit seiner verglasten Front hatte man einen herrlichen Ausblick auf den japanischen Garten. Da bei Horatios letztem Besuch die Jalousien geschlossen gewesen waren, hatte er all das nicht zu Gesicht bekommen.

Auf dem polierten Hartholzboden lagen dicke Perserteppiche, die groß genug waren, um Elefanten damit zuzudecken. In kleinen Nischen in der Wand waren verschiedene Kostbarkeiten ausgestellt: ein mit Juwelen besetzter Dolch, die Skulptur eines Vogels und eine goldene ägyptisch inspirierte Maske. Im ganzen Raum waren große Brokatkissen verteilt, und das einzige Möbelstück war ein erhöhtes Podest aus durchsichtigem Plexiglas mit einer dünnen Schaumstoffauflage, das vor dem Fenster stand. Sinhurmas Thron.

Da hast du gesessen, umgeben von einem Heiligenschein aus Sonnenstrahlen – mit dem richtigen Timing hattest du die untergehende Sonne im Rücken. Und auf diesem Podest aus Plexiglas sahst du aus, als schwebtest du, nicht wahr?

Nur der engste Kreis hatte hier Zutritt, und sie saßen alle auf dem Boden und sahen zu dir auf. Nach einem langen, anstrengenden Tag mit wenig Essen waren diese großen, weichen Kissen wahrscheinlich der Himmel … und dann hast du deinen Anhängern die Geheimnisse des Universums offenbart. Natürlich, nachdem du sie mit Medikamenten voll gepumpt hattest.

Horatio untersuchte den Raum sorgfältig, aber er fand keine Hinweise darauf, wohin Sinhurma mit seinen Anhängern hätte verschwinden können.

Als Nächstes war das Schlafzimmer an der Reihe, das so unpersönlich eingerichtet war, dass Horatio zunächst dachte, es sei für Gäste, aber nachdem er sich die anderen Räume angeschaut hatte, erkannte er die Wahrheit.

Auf dem – selbstverständlich – extragroßen Bett war ein violetter Samtüberwurf ausgebreitet. Die antiken Kommoden waren aus dunklem Holz, und der große Schrank war gefüllt mit teuren Anzügen, Schuhen und Unmengen von Seidenkrawatten. Abgesehen von der Kleidung war der Raum so steril wie eine leere Hotelsuite.

Horatio hatte schon viele Schlafzimmer durchsucht und in die privaten Ecken und Winkel von allen möglichen Leuten geschaut, aber dies war das erste Mal, dass er sich einer derartigen Leere gegenübersah. Es war, als wäre jemand mit einem Riesenstaubsauger durch den Raum gegangen und hätte ihn von allen persönlichen Gegenständen befreit. Man kam sich vor wie im Ausstellungsraum eines Möbelgeschäfts.

Das hier hat nichts mit dir zu tun, nicht wahr? Das ist nur eine Fiktion, die du mir hinterlassen hast. Du hast deine Persönlichkeit aus diesem Raum ebenso gründlich entfernt wie das kritische Nachdenken bei deinen Anhänger.

Aber Horatio ließ sich nicht so leicht zum Narren halten.

Außer Anzügen und Schuhen keine persönlichen Gegenstände. Warum hatte er die Kleidung nicht auch mitgenommen? Warum hatte er sie im Schrank gelassen?

Als Botschaft.

Ein weiteres ›Auf Wiedersehen‹, aber mit einem konkreten Hinweis. Diese Kleidungsstücke repräsentierten die konservative Uniform derer, die sich in die Gesellschaft einfügten. Wohin auch immer du gegangen bist, du hast nicht vor, jemals wieder einen Anzug zu tragen, nicht wahr? dachte Horatio.

Das Bad neben dem Schlafzimmer war ebenso steril. Keine Medikamente, keine Toilettenartikel, nicht einmal Handtücher. Wenn Sinhurmas Verschwinden eine Finte war, hatte er bis ins kleinste Detail alles richtig gemacht.

Horatio hoffte, dass Wolfe und Delko mehr Glück hatten.

Sinhurmas Büro war kein holzvertäfelter Raum voller Bücherregale, wie Wolfe erwartet hatte. Mit den vielen Pflanzen wirkte es eher wie ein Wintergarten, und in einer Ecke stand sogar ein kleiner Brunnen, aus dem Wasser sprudelte. Der Schreibtisch, auf dem lediglich eine kabellose Tastatur ruhte, und der Sessel davor waren aus Rattan. Der Monitor und der PC-Tower waren in einem Bambusschrank verborgen, und dort in einem klimatisierten Glaskasten vor den Außeneinwirkungen geschützt aufbewahrt. In dem Bambusschrank daneben waren Schubladen für Dokumente, doch sie enthielten nichts. Sämtliche Akten waren verschwunden, nur die Bücher – größtenteils medizinische Werke – waren noch an ihrem Platz.

Wolfe versuchte, den Computer einzuschalten, aber nichts geschah. Ein schneller Geräte-Check offenbarte, dass die internen Laufwerke entfernt worden waren.

Aus den Kabeln, die zu dem Computer führten, schloss Wolfe, dass damit auch die Überwachungskameras kontrolliert worden waren. Es gab keine Aufzeichnungen, weder CDs noch Disketten.

Wolfe seufzte. Falls die dekorativen Palmen nicht plötzlich zu reden begannen, würde der Raum ihm wohl keine Geheimnisse eröffnen.

Und dann fiel ihm das Foto auf, das an der Wand hing.

Gleich rechts neben dem Schreibtisch hatte es seinen Platz gefunden. Der Witz bei solchen Bildern war, dass man sie jeden Tag sah und nach einer Weile nicht mehr registrierte, weil sie einfach zur Umgebung gehörten.

Er sah sich das Foto genauer an. Es zeigte eine Gruppe strahlender Patienten, die sich vor der Klinik um den grinsenden Sinhurma scharten wie Küken um die Henne. Wolfe zählte die Gesichter rasch durch und kam auf sechsundzwanzig.

Ruth Carrell und Phillip Mulrooney standen nebeneinander. Beide sahen sehr stolz und glücklich aus.

»Und da sagt man doch immer, dass Fotos nicht lügen«, murmelte Wolfe.

Delko fand in jedem der Schlafräume das Gleiche: ein Einzelbett, eine leere Schubladenkommode und einen leeren Schrank. Das war jedenfalls der erste Eindruck.

Im Schein des Speziallichts sah die Sache jedoch ganz anders aus. Es war zwar kein Blut zu finden, dafür aber andere Körperflüssigkeiten – Sperma und Scheidensekret – sowie Haare unterschiedlicher Färbung auf diversen Kopfkissen und ein benutztes Kondom unter einem Bett, das wohl beim Saubermachen übersehen worden war. Obwohl die Betten recht schmal waren, hatten die Bewohner der Schlafräume offenbar nicht allein darin gelegen.

Im Gemeinschaftsbadezimmer stand ein Mülleimer, der nicht geleert worden war. Delko fand dort benutzte Taschentücher, und zwar massenweise.

»Entweder hatte jemand eine Erkältung«, murmelte er vor sich hin, »oder die Leute haben wahnsinnig viel geweint.«

Sie trafen sich in der Küche, um ihre Erkenntnisse auszutauschen.

»Das Büro wurde gründlich gesäubert«, sagte Wolfe. »Die Laufwerke der Computer fehlen, außer Fachliteratur gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen, und auch die Bilder der Überwachungskameras sind verschwunden.«

»Was ist mit den Behandlungszimmern?«, fragte Horatio.

»Ich habe medizinische Geräte gefunden, aber alles war sauber und sterilisiert. Keine Medikamente, keine benutzten Spritzen, weder Wattestäbchen noch anderer medizinischer Abfall. Doch das hier habe ich trotzdem mal mitgenommen.« Er zeigte Horatio das Foto.

»Und die Schlafräume?«

»Leer – aber nicht wirklich sauber«, erklärte Delko. »Ich habe benutzte Taschentücher, ein Kondom und frische Spuren eines Geschlechtsverkehrs gefunden. In fast jedem Bett.«

»Also hatten sie entweder eine Mitternachtsparty«, sagte Horatio, »oder sie dachten, es sei ihre letzte Gelegenheit.«

»Was ist mit der Küche?«, fragte Wolfe.

»Ich hab sie mir schon vorgenommen«, entgegnete Horatio. »Kein frisches Obst und Gemüse, keine Konserven oder getrocknete Lebensmittel. Ein paar Teller und Küchenutensilien, die sie anscheinend nicht mitnehmen wollten.«

»Das ist ein gutes Zeichen«, meinte Delko. »Leute, die einen Massenselbstmord planen, denken für gewöhnlich nicht ans Essen.«

»Vielleicht decken sich Sinhurmas Pläne nicht mit denen seiner Anhänger«, überlegte Horatio. »Das Problem ist, dass wir nicht genug Informationen über diese Pläne haben. Wir müssen unbedingt herausfinden, was Sinhurma vorhat. Wolfe, fahren Sie zurück ins Labor. Sehen Sie sich die Website der Klinik an und schauen Sie, ob es kürzlich irgendwelche Aktualisierungen gab. Wenn er wirklich etwas im Schilde führt, konnte er bestimmt nicht der Versuchung widerstehen, eine Art Ankündigung zu veröffentlichen. Eric, du nimmst dir die Nebengebäude und die Außenanlage vor. Ich fahre rüber zum Earthly Garden. Vielleicht ist da noch irgendetwas zu finden.«

Bei dem Polizeibeamten, der für die Festnahmen von James »Jimbo« Collinson und Oscar Benjamin Charlessly verantwortlich war, handelte es sich um Lieutenant Frank Tripp, einen schroffen Mann mit schütterem Haar. Mit seiner unnachgiebigen, aber auch besonnenen Art war er Calleigh bestens vertraut. Er saß mit ihr im Verhörraum, während sie mit Charlessly sprach, und taxierte den Verdächtigen mit finsterem Blick. Calleigh mochte Frank, obwohl ihr nicht gefiel, dass er rauchte. Jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn vor sich mit einer Zigarre zwischen den Zähnen.

»Nun, Oscar«, sagte sie aufgeräumt. »Anscheinend hat irgendein schlechter Mensch Ihre Gebrauchtgeräte mit hochwertigem Marihuana voll gestopft.«

Der Verkäufer machte einen gefassten Eindruck. Er hatte zwar auf der Anwesenheit seines Anwalts bestanden, sich aber bereit erklärt, ein paar Fragen zu beantworten.

»Eine schreckliche Sache«, entgegnete er grinsend. »Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen behilflich sein soll.«

»In dieser Angelegenheit brauche ich auch gar keine Hilfe«, erwiderte Calleigh. »Ich will nur wissen, ob Sie außer Samuel Lucent, Kyle Dolittle und seinem Freund James Collinson noch andere Partner hatten.«

»Ich wünschte, es wäre so«, bemerkte Charlessly. »Jimbo haben Sie auch, hm?«

Sein Anwalt, ein blassgesichtiger Mann mit lockigem schwarzem Haar und wässrigen Augen, sagte sofort: »Mein Klient kennt keine der eben erwähnten Personen.«

»Oh, entspannen Sie sich, George.« Charlessly blieb gelassen. »Wir führen lediglich ein informelles Gespräch, nicht wahr, Ms Duquesne?«

»Sicher, Oscar. Also war sonst niemand an der Sache beteiligt?«

»Leider nicht«, antwortete Charlessly freundlich. »Ich meine, wenn ich die Schuld ein bisschen verteilen könnte, würde ich das tun – aber Sie scheinen sämtliche Fische auf einmal gefangen zu haben, nicht wahr? Allerdings bin ich der kleinste im Bunde – woher sollte ich wissen, dass meine Transporter dazu benutzt wurden, verbotenes Zeug durch die Gegend zu fahren? Ich hatte mit dem Beladen und der Fahrerei nichts zu tun – das hat alles Jimbo gemacht. An Samuel habe ich lediglich ein paar Handrührgeräte und Mixer verkauft. Wenn Sie mich fragen«, sagte er, beugte sich vor und senkte die Stimme, »war Dooley der führende Kopf bei der ganzen Operation.« Dann zwinkerte er Calleigh zu.

Sie musste unwillkürlich grinsen. »Netter Versuch, Oscar. Die Dateien, die wir aus Ihrem Computer geholt haben, beweisen, wie viel Profit Sie mit dieser Operation gemacht haben, und vor allem sagen Ihre Partner, dass die ganze Sache Ihre Idee gewesen sei.«

Charlessly zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. »Dann läuft es wohl darauf hinaus, dass wir uns vor Gericht gegenseitig die Schuld zuweisen. Glauben Sie mir, wenn es einen kriminellen Strippenzieher gäbe, den ich statt des hirntoten Altrockers und des Rastafari-Klempners verpfeifen könnte, dann würde ich das tun.«

»Ich bin überrascht, Oscar«, sagte Calleigh. »Ich hätte gedacht, dass ein Schlitzohr wie Sie besser vorbereitet ist.«

Er kicherte.

»Dass ich Ihnen einen Prügelknaben serviere, meinen Sie? Nun, Ms Duquesne, so unbarmherzig bin ich wohl doch nicht. Selbst wenn ich mich des Handels mit ein bisschen Grünzeug schuldig gemacht habe, bin ich noch lange kein Monster!«

»Das vielleicht nicht«, gab Calleigh zu, »aber ein netter Mensch auch nicht, denn die legen keine Claymore-Minen, um ihre Investitionen zu schützen.«

Horatio fand das Earthly Garden verschlossen. Das Restaurant war am Vortag von der Polizei freigegeben worden, aber es hatte offenbar noch nicht wieder aufgemacht. Er spähte durchs Fenster, obwohl er eigentlich nicht glaubte, dass er im Lokal neue Hinweise finden würde. Abgesehen davon war das Restaurant im Durchsuchungsbeschluss nicht enthalten, und es war niemand zu sehen, den er hätte bitten können, es betreten zu dürfen.

Am Himmel waren dunkle Wolken aufgezogen, und es blitzte wie an dem Abend, als Phillip Mulrooney ermordet worden war. Als Horatio zurück zum Kriminallabor fuhr, rechnete er jeden Augenblick mit einem heftigen Regenguss. In den Gewitterwolken rumpelte und grollte es, aber bislang hatten sie noch keinen Tropfen ausgespuckt.

Hatte er Sinhurma zu sehr unter Druck gesetzt?

In den Schlafräumen war Platz für zwei Dutzend Menschen, das waren fünfundzwanzig Personen einschließlich Sinhurma. Waren sie bereits tot? Hatten sie Fruchtsaft mit einem Schuss Zyanid getrunken wie die Opfer des Jonestown-Massakers, oder stand noch etwas viel Schrecklicheres auf dem Programm? Die japanische Aum-Sekte hatte in der U-Bahn Sarin-Gas verbreitet und damit zwölf Menschen getötet und tausende verletzt. Hatten Sinhurma und seine Leute etwas Ähnliches vor? Der Doktor hatte Zugang zu allen möglichen Medikamenten, und die Vorstellung, was für eine Katastrophe er und seine Anhänger damit anrichten konnten, war ein entsetzlicher Gedanke.

Hatte er Sinhurma zu sehr unter Druck gesetzt?

Der Himmel beantwortete diese Frage mit lautem Getöse. Was es genau bedeutete, wusste Horatio nicht, aber es klang nicht sehr wohlwollend.