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Das Imbisslokal, das sich direkt gegenüber dem Miami-Dade Kriminallabor auf der anderen Straßenseite befand, gab es schon seit Ewigkeiten, und Wolfe wusste nicht so genau, ob die Neonflamingos über der Theke tatsächlich Originale waren, oder ob es sich um Retro-Art-déco aus den Achtzigern handelte.
Der Laden hieß Auntie Bellum’s und war Calleighs Lieblingsfrühstückslokal – und außerdem das Stammlokal von Labortechnikern und Polizisten außer Dienst. Calleigh und Wolfe waren während ihrer Schicht herübergekommen, um rasch etwas zu essen.
»Vielen Dank«, sagte Calleigh zu der Kellnerin, die aussah, als schenkte sie schon seit der Kuba-Krise Kaffee aus. Die Frau nickte ihr zu und stellte zwei Teller auf den Tisch.
»Maisgrütze«, sagte Wolfe kopfschüttelnd. »Wie kannst du dieses Zeug nur essen?«
»Mit einer Gabel und großem Genuss«, antwortete Calleigh. »Das habe ich schon als Kind gern gegessen, und ich sehe keinen Grund, jetzt damit aufzuhören.«
Wolfe widmete sich seinen Rühreiern mit Speck und Toast. »Ja? Also, meine Mutter hat mir immer Sandwiches mit gebratenem Frühstücksfleisch gemacht, und das esse ich heute nicht mehr.«
»Du meinst Spam? Igitt! Davon bekomme ich bereits per E-Mail mehr als genug, vielen Dank!« Sie nahm den Krug, der vor ihr auf dem Tisch stand, und schenkte sich Grapefruitsaft nach. »Und H. ist unterwegs, um mit dem Diät-Doktor zu reden?«
»Ja. Ich arbeite zwar noch nicht so lange mit ihm, aber er wirkte ziemlich … angespannt.«
»Horatio? Ach, der ist doch nur ein lieber Schmusekater.«
»Wohl eher ein hungriger Tiger!?«
Calleigh grinste von einem Ohr zum anderen und schob sich eine Gabel voll Maisgrütze in den Mund. »Mmmm … wunderbar!«, murmelte sie. »Entschuldige, ich sollte nicht mit vollem Mund sprechen.« Sie schluckte, dann antwortete sie: »Als ich klein war, hatten wir eine Katze. Sie war grau getigert und hieß Tina. Sie war eine gute Jägerin und wusste ganz genau, wie man Mäuse fängt. Wenn sie einmal einen Ort gefunden hatte, wo sich Mäuse versteckt hielten, ein Loch in der Fußleiste oder so, dann legte sie sich davor auf die Lauer. Und dann wartete sie. Und wartete, und wartete … manchmal stundenlang. Total aufmerksam, total geduldig. Und früher oder später streckte die Maus den Kopf aus dem Loch – und dann schlug Tina zu.«
Calleigh nahm einen Schluck Saft, bevor sie fortfuhr. »Horatio erinnert mich sehr an sie. Er gibt niemals auf und lässt niemals sein Ziel aus den Augen. Er beobachtet und wartet ab.«
»Dieses Angespannte ist also einfach seine Art, hm?«
»Aber du hast in gewisser Weise Recht, er ist nicht immer gleich. Die erste Stufe ist so ein unterschwelliges Brodeln, würde ich sagen.«
»Und die letzte?«
Calleighs Lächeln schwand. »Das ist dann schon ganz schön Furcht einflössend. Als stünde man neben einem Vulkan, der jeden Augenblick auszubrechen droht.«
Wolfe nahm einen Schluck Kaffee. »Hast du das schon mal erlebt?«
Nun lächelte Calleigh wieder. »Nein. Das wird wohl auch nie passieren. Es sei denn …« Sie hielt inne und nahm noch eine Gabel voll Maisgrütze.
»Es sei denn?«, hakte Wolfe nach.
»Nun … Ich habe nur einmal erlebt, wie Horatio kurz davor war auszurasten, und da ging es um Kinder.« Calleigh fügte rasch hinzu: »Er ist natürlich nicht wirklich durchgedreht. Solche Fälle gehen jedem an die Nieren. H. scheint sie nur immer ganz persönlich zu nehmen.«
»Kinder«, wiederholte Wolfe. »Ja, das muss wirklich hart sein.«
Während er vor sich hin grübelte, nahm Calleigh noch einen Schluck Saft.
»Am besten gewöhnst du dich schnell daran, Ryan«, sagte sie. »Manche Fälle, mit denen du zu tun haben wirst, sind alles andere als angenehm. Ich habe mal über einen Fall gelesen, da hat ein Serienkiller die Leichen von Prostituierten in einen Häcksler gesteckt und das, was herauskam, an seine Schweine verfüttert. Die Opfer mussten anhand der DNS im Kot der Tiere identifiziert werden – und bis man den Kerl gefasst hatte, waren einige der Schweine bereits geschlachtet und das Fleisch längst verkauft worden.«
Wolfe stutzte und sah Calleigh irritiert an, während sie ruhig weiteraß.
»Und deshalb hast du mich zum Essen eingeladen?«, fragte er schließlich.
»Nein, ich habe dich eingeladen, weil ich dachte, du siehst hungrig aus.« Sie schaute ihn an. »Naja, eigentlich siehst du immer irgendwie hungrig aus. Ich dachte nur, ich nutze die Gelegenheit und bringe mal ein paar Dinge aufs Tapet.«
Wolfe schaute auf seinen Teller. Er piekste ein Stück Speck auf und studierte es eine Weile, bevor er es sich in den Mund steckte und zu kauen begann.
Calleigh lächelte und winkte die Kellnerin heran, um sich Kaffee nachschenken zu lassen.
Die Anlage war, wie sich herausstellte, viel größer als Horatio angenommen hatte. Hinter dem Hauptgebäude befanden sich ein Pool, ein Platz zum Bogenschießen und eine Turnhalle. Mit weißem Muschelkies ausgelegte Wege führten zu verschiedenen Gebäuden, in denen sich Aufenthaltsräume für Patienten befanden. Horatio lauschte aufmerksam Ruths Vortrag, der ebenso gut einstudiert wirkte wie der einer professionellen Reiseführerin.
»… und auf der Rückseite der Klinik befinden sich die Zimmer«, sagte sie. »Dr. Sinhurma hat sogar einen Teil seines eigenen Wohnraums zur Verfügung gestellt, damit wir mehr Schlafräume für die Patienten haben. Im Moment finden etwa zwei Dutzend bei uns Platz, aber wir werden schon bald expandieren. Dr. Sinhurma will Raum für mindestens zweihundert Personen schaffen.«
»Ein ehrgeiziges Projekt«, bemerkte Horatio. »Aber wie ich hörte, ist die Vitality Method auch sehr beliebt.«
»Oh ja! Wir haben eine lange Warteliste. Dr. Sinhurma behandelt jeden Patienten persönlich, und es gibt keine festen Regeln für die Dauer des Aufenthalts bei uns.«
»Warum nicht?«
Ruth winkte zwei Männern zu, die in einiger Entfernung vorbeispazierten. Einer von ihnen kam Horatio bekannt vor – er machte gewöhnlich die Drei-Punkte-Würfe für die Miami Heat.
»Jeder Patient ist anders«, erklärte Ruth. »Je nachdem, wie vergiftet der Körper ist und welche Lebensgewohnheiten der Betreffende hat, kann der Aufenthalt zwei Wochen und sechs Monate dauern. Unter Umständen sogar noch länger.«
»Verstehe … und was gehört alles zu dieser Entgiftungskur?«
»Nun, zunächst eine streng vegane Diät – kein Fleisch, keine Eier, keine Milchprodukte, nicht einmal Honig. Man muss diese Diät mindestens sechs Monate lang gemacht haben, bevor man überhaupt einen Termin bei Dr. Sinhurma erhält. Wenn man dann in die Klinik kommt, macht man ein paar Tage lang eine Reinigungsdiät, die nur aus Naturreis und Wasser besteht. Bei Tagesanbruch findet eine Gruppengymnastik statt, nach dem Mittag- und Abendessen eine Einzelgymnastik. Es gibt zusätzlich Ermutigungssessions und vor dem Schlafengehen eine Vitamintherapie.«
»Ermutigungssessions?«
»In diesen Sessions spricht Dr. Sinhurma zu uns. Wir berichten von unseren Erfahrungen und bekommen gesagt, was wir richtig oder falsch machen. Das klingt vermutlich ein wenig langweilig, aber es ist emotional sehr anstrengend. Er hat das große Talent, Menschen dazu zu bringen, sich zu öffnen.«
Darauf wette ich, dachte Horatio. »Singen Sie auch mal zusammen?«, fragte er stattdessen.
Sie lächelte ihn erstaunt an. »Manchmal – und das macht immer sehr viel Spaß. Wie kommen Sie darauf?«
Horatio zuckte mit den Schultern, ohne Ruth anzusehen. »Bogenschießen, Schwimmen, Schlafräume – das klingt für mich sehr nach Sommercamp. Da gehören Singen oder das Erzählen von Geistergeschichten am Lagerfeuer doch mit dazu.«
»Nun, Geistergeschichten gibt es bei uns natürlich nicht, aber selbstverständlich haben die Ermutigungssessions, wenn Sie so wollen, einen spirituellen Aspekt. Dr. Sinhurma ist ein sehr weiser Mann.« Für Horatios Ohren klangen Ruths Aussagen sehr ausweichend.
»Was geschieht, wenn die Patienten wieder von hier weggehen?«
»Sie machen mit der Diät weiter. Der Doktor hält die Ermutigungssessions auch online ab. Außerdem kommen sie einmal in der Woche zum Check-up.«
»Und wie lange sind Sie schon hier?«
»Etwas mehr als ein Jahr. Aber Sie müssen bedenken, je länger man hier ist, desto länger möchte man bleiben. Aus diesem Grund habe ich mich auch für die ehrenamtliche Arbeit in der Klinik gemeldet.«
»Wie ich hörte, war Phillip Mulrooney sogar noch länger hier.«
Ruths Lächeln schwand. »Ja, er war sogar schon bei dem Doktor, bevor es die Schlafräume gab. Er gehörte bereits ganz am Anfang zum Klinikpersonal.«
Horatio blieb stehen. »Es tut mir Leid. Kannten Sie ihn gut?«
»Ist schon okay.« Ruth schaute zu Boden, dann hob sie den Kopf wieder. »Wir waren befreundet. Als ich hörte, was geschehen ist, konnte ich es überhaupt nicht fassen.«
»Dr. Sinhurma scheint damit kein Problem zu haben.«
Nun war Ruths Lächeln gänzlich verschwunden. »Er … er und Phillip hatten eine Meinungsverschiedenheit.«
»Hat Phillip deshalb im Restaurant gearbeitet statt in der Klinik? Wurde er für irgendetwas bestraft?«
Ruth antwortete nicht, aber Horatio sah ihr an, wie gern sie geredet hätte. Er legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter. »Hey«, sagte er leise. »Ich weiß, dass Sie Dr. Sinhurma nicht in Schwierigkeiten bringen wollen. Aber wenn er nichts mit Phillips Tod zu tun hat, dann ist jede Information, die Sie mir geben können, entlastend für ihn.«
»Aber … aber ich dachte, Phillip wurde vom Blitz erschlagen. Ich meine, Sie können doch nicht im Ernst … oh Gott! Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Ihr Kinn zitterte, und schon liefen ihr die Tränen über die Wangen.
»Ist schon gut«, sagte Horatio, griff in seine Jacke und holte ein Taschentuch heraus, das er Ruth reichte.
Sie nahm es und trocknete sich die Augen. »Danke«, schniefte sie. »Ich … ich bin nur gerade irgendwie verwirrt. Sehen Sie, Phillip stand Dr. Sinhurma wirklich sehr nah. Bevor die Schlafräume ausgebaut wurden, hatte er sein eigenes Zimmer im Haupthaus. Aber vor ein paar Wochen wurde alles anders. Phillip kam eines Nachts zu mir und erzählte, er habe gesehen, wie Dr. Sinhurma einen Anfall bekam und wie ein Wahnsinniger über Götter und Teufel und den Garten Eden faselte. Das hat Phillip richtig aufgerüttelt. Danach ist er aus seinem Zimmer in einen der Schlafräume gezogen.«
»Ruth, hören Sie mir zu. Ich weiß, dass Sie großen Respekt vor Dr. Sinhurma haben, aber vielleicht ist es momentan nicht die beste Idee, hier zu bleiben.«
Sie starrte ihn mit feuchten Augen an. »Vielleicht haben Sie Recht. Vor einer Weile hat Dr. Sinhurma mich um etwas gebeten – um etwas, das mir nicht richtig vorkam. Ich dachte mir damals nichts dabei, aber seitdem quält es mich und geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«
»Verzeihen Sie mir die Frage, aber war es etwas Sexuelles? Wenn ja, dann hat er das Gesetz gebrochen.«
»Nein, nein, so war das nicht – nicht wirklich. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen, ja? Er ist mir nicht zu nahe getreten.« Sie hielt inne und atmete tief durch. »Ich vertraue ihm wirklich. Bevor ich herkam, war ich dick und hässlich, wissen Sie? Er hat das alles verändert.«
»Dick vielleicht«, antwortete Horatio. »Aber ich kann nicht glauben, dass Sie jemals hässlich gewesen sind.«
Es war nur ein zaghaftes Lächeln, das über Ruths Gesicht huschte, aber es war ehrlich. »Das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich könnte Ihnen Fotos zeigen, durch die Sie Ihre Meinung ändern würden.«
»Das bezweifle ich doch sehr. Aber ich bin von Natur aus sehr skeptisch.« Horatio lächelte. »Ruth, ich möchte, dass Sie mir etwas versprechen.«
»Was?«
Horatio zog eine Visitenkarte aus der Tasche und gab sie ihr. »Versprechen Sie mir, dass Sie von hier verschwinden, wenn Sie das Gefühl haben, in Gefahr zu sein – und dass Sie mich anrufen. Haben Sie jemanden, bei dem sie übernachten könnten? Verwandte oder Freunde?«
Ruth nahm die Karte und schüttelte den Kopf. »Nein, niemanden – ich bin aus Tampa hierher gekommen. Alle Leute, die ich kenne, gehören zur Klinik.«
»Dann gehen Sie in ein Motel, wenn es sein muss, okay?«
Sie steckte die Karte in die Tasche und nickte. »Okay. Glauben Sie wirklich, Dr. Sinhurma hat etwas mit Phils Tod zu tun?«
»Genau das will ich herausfinden.«
Calleigh studierte im Schein ihrer Schreibtischlampe einen Bericht, als Horatio hereinkam. »Hey, Horatio!«, rief sie fröhlich. »Wie war’s in der Klinik? Hast du irgendjemand Berühmtes gesehen?«
»Nur einen Profisportler, der besser bei Gatorade geblieben wäre. Was hast du da?«
Sie reichte ihm den Bericht. »Das ist gerade reingekommen. Das Ergebnis der Massenspektrometrie von der Probe, die du vom Dach des Restaurants mitgebracht hast.«
Horatio warf einen Blick auf das Papier. »Achtundfünfzig Prozent Kaliumnitrat, zweiunddreißig Prozent Dextrose, zehn Prozent Ammoniumperchlorat. Das erklärt den süßlichen Geruch – gut ein Drittel davon ist Zucker.«
»Aber warum, H.? Kann Zucker eine chemische Reaktion auslösen?«
»Ganz genau. Mit ihm kann die Verbrennungsgeschwindigkeit erhöht werden. Was du vorgelesen hast, sind alles Komponenten für den Treibstoff eines Feststoffraketentriebwerks.«
»Also hat jemand eine Rakete vom Dach abgeschossen?«
»Es sieht ganz danach aus.«
»Und was hochgeht, muss auch wieder runterkommen, richtig?«
In diesem Moment kam Ryan Wolfe herein. »Kann ich vielleicht bei irgendetwas helfen?«
Horatio und Calleigh sahen sich an.
»In der Tat, Ryan«, sagte Calleigh extrem freundlich. »Wir hätten da etwas …«
Bevor er zum C.S.I.-Team kam, war Ryan Wolfe Streifenpolizist gewesen. Er war es gewohnt, an fremde Türen zu klopfen und Leute zu befragen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er es gern tat.
Seufzend ging er auf seine dreiundzwanzigste Tür zu. Er empfand diese Arbeit nicht als erniedrigend, auch nicht als langweilig. Bei der Untersuchung von Beweismaterial brütete er manchmal stundenlang über irgendwelchen Daten oder wiederholte mehrmals dieselbe Prozedur – das machte ihm nicht das Geringste aus.
Aber mit Zeugen zu reden machte ihn wahnsinnig.
Die meisten Geschichten, die er sich anhören musste, waren unvollständig oder widersprüchlich oder ganz einfach falsch. Das war höchst frustrierend für den Wissenschaftler in ihm, und seine zwanghafte Seite machte es auch nicht besonders glücklich.
Er klopfte an die Tür. »Eine Moment, bitte!«, rief jemand mit spanischem Akzent, und gleich darauf ertönte wildes Hundegebell.
Dann ging die Tür auf, und ein korpulenter Kubaner mit schütterem Haar und dickem schwarzen Schnurrbart starrte ihn fragend an. Er trug einen kurzen Rüschenbademantel, der ihm nur bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, und zwischen seinen Füßen stand ein Pudel.
»Ja?«, fragte er, während der Hund böse knurrte.
»Miami-Dade Police«, antwortete Wolfe und hielt seine Marke hoch. »Im Zuge polizeilicher Ermittlungen suche ich nach einem Beweisstück, das unter Umständen in diesem Viertel zu finden ist. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Hokey«, willigte der Mann ein.
»Ich bin auf der Suche nach einer Art Modellrakete. Sie sieht ungefähr aus wie ein langes Rohr mit Seitenflossen und einer kegelförmigen Spitze, wahrscheinlich aus Pappkarton. Sie ist vielleicht in einen Baum oder auf ein Dach geflogen.«
Während der Mann nachdachte, starrte der Pudel Ryan böse an und zitterte vor Empörung. »Ein Rrohrr?«, fragte der Mann.
»Ja.«
»Ungefährr so lang?« Als der Mann die Arme ausstreckte, öffnete sich sein Morgenmantel, und es kam mehr zum Vorschein, als Wolfe sehen wollte.
»Ungefähr«, sagte er und konzentrierte sich auf das Gesicht des Mannes.
»Mit Seiteflosse?«
»Ja, mit Seitenflossen.«
Der Mann runzelte die Stirn. Er griff in die Taschen seines Morgenmantels und holte eine Zigarre heraus, dann ein Feuerzeug. Er zündete die Zigarre an und bedachte Wolfe mit einem nachdenklichen Blick.
»Glaube nicht«, sagte er zögernd, »dass ich so was jemals habe gesehen.«
Der Hund bellte, und Wolfe machte den Fehler, nach unten zu schauen. Ruckartig schnellte sein Blick wieder nach oben. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich in Ihrem Hinterhof umsehe? Es dauert nicht … lang.«
Der Mann nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarre. »Könne Sie mache«, sagte er, »aber Vorsicht mit die Aa von der Hund!« Dann schloss er die Tür.
»Vielen Dank«, sagte Wolfe. »Ich werde aufpassen.«
Im Miami-Dade Kriminallabor hörte man die Frage »Hast du schon was?« so oft, dass sie fast zu einer Standardbegrüßung wurde, aber im Gegensatz zu der Frage »Wie geht’s?« wurde darauf nicht mit einer Standardfloskel geantwortet.
Als Yelina Horatio vor dem Aufzug traf, stellte auch sie diese Frage.
»Ein sehr schlechtes Gefühl«, entgegnete Horatio.
»In Bezug auf?«
»Dr. Kirpal Sinhurma. Ich war bei ihm in seiner Kaserne … äh, Klinik, meine ich, und was ich sah, hat mich nicht gerade mit religiöser Ehrfurcht erfüllt. Es war eher ein unangenehmes Déjà-vu.«
»Er hat dich an jemanden erinnert?«
»An einige. David Koresh, Jim Jones. Reverend Moon …«
»Du denkst, er führt eine Sekte an?«
»Der Expertin zufolge, mit der ich sprach, sind seine Methoden wie aus einem Sektenlehrbuch. Er entzieht seinen Anhängern Nahrung und Schlaf, sperrt sie ein und indoktriniert sie mit seiner Heilsbotschaft. Mit Gruppenaktivitäten wie Gymnastik und Singen hält er sie auf Trab und bricht zu guter Letzt ihre Persönlichkeit. Er lässt die Leute sogar unter dem Deckmantel der Therapie umsonst für sich arbeiten.«
Die letzten Worte schleuderte er Yelina regelrecht entgegen, aber sie sah ihn skeptisch an. »Bist du sicher, Horatio? Berühmte Persönlichkeiten lassen sich von diesem Mann behandeln. Ich meine, es ist doch nur eine Diät, nicht wahr?«
»Genau das ist der Punkt«, entgegnete Horatio grimmig. »Es ist ihm gelungen, sich zu etablieren, weil er seine Philosophie als Fitnesstrend verkauft. Man erwirbt sein Buch; man hört, wie ein angesagter Schauspieler von der Diät sagt, sie habe sein Leben verändert; und man bekommt auf der Website jede Menge New-Age-Flausen in den Kopf gesetzt.
Nichts, was wirklich radikal wäre. Aber wenn man erst einmal in der Klinik ist, geht es richtig zur Sache.«
»Trotzdem – selbst wenn er ein Sektenanführer wäre, macht ihn das noch nicht zwangsläufig zum Mörder. Du bist doch derjenige, der immer sagt, man muss die Beweise für sich sprechen lassen.«
»Und das werde ich auch tun.« Als sich die Aufzugtüren öffneten und sie einstiegen, fuhr Horatio fort: »Ich bin sicher, dass er ein ziemlich gutes Alibi für die Tatzeit hat. Aber man hält doch den Boss einer Gangsterbande nicht für unschuldig, nur weil er irgendwo anders war, als der Schuss fiel. Ich habe mit diesem Mann gesprochen, Yelina. Ich habe ihm in die Augen gesehen!«
»Ja und? Kommt er wie ein Psychopath rüber?«
»Ganz im Gegenteil. Herzlich, sympathisch, lässig. Unglaublich charismatisch.«
»Tja«, bemerkte Yelina trocken, »dann müssen wir ihn wirklich unbedingt einsperren!«
Horatio musste grinsen. »Ich bin gar nicht richtig an ihn herangekommen. Erinnerst du dich noch an Seth Lockland?« Lockland war ein Serienkiller und Vergewaltiger, an dessen Überführung Horatio fünf Jahre zuvor beteiligt gewesen war. Er und Yelina waren beide bei der Vollstreckung des Todesurteils dabei gewesen, und als man ihm die Todesspritze gab, war das Letzte, was sie in seinem Gesicht sahen, ein Grinsen und ein Augenzwinkern.
»Oh ja, ich erinnere mich«, sagte Yelina. »Der Mistkerl hat in seiner sehr eigenen Welt gelebt.«
»Genau. Und diese Art von entspannter Arroganz hat auch Sinhurma, Yelina. Seine ganze Art sagte nicht ›Ihr habt den Falschen‹, sondern ›Das werdet ihr sowieso nie verstehen.‹ Im Grunde hat er behauptet, Gott habe Mulrooney mit dem Tod bestraft, weil er einen Fehler beging … und er achtete darauf, dass sein Assistent dies auch hörte, damit es sich unter den Anhängern herumspricht. Er hält sich für unantastbar.«
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und die beiden stiegen aus. »Ich nehme an, du wirst ihm das Gegenteil beweisen«, sagte Yelina.
»Ich werde das tun, was ich immer tue«, antwortete Horatio entschlossen. »Die Wahrheit beweisen.«
Die Firma Atmosphere Research Technologies befand sich im Süden der Stadt, ein Stück außerhalb von Homestead. Sie erforschte die Auswirkungen von Blitzen und galt als eine der weltweit besten Einrichtungen dieser Art. Es war äußerst sinnvoll, dass sie sich in Florida angesiedelt hatte, denn dort und in Texas wurden alljährlich die meisten Verletzungen als Folge von Blitzschlägen registriert.
Horatio öffnete die massive Glastür und betrat das Gebäude. Eine verglaste Wand, die nach Süden zeigte, ließ viel Licht in die geräumige Empfangshalle eindringen, in deren hinterem Teil ein großer halbrunder Holzschreibtisch stand. Vom Eingangsbereich ging links ein Korridor ab. Ein stark vergrößertes Foto von einem Blitz über Miami hing an der Wand hinter der Empfangstheke, wo eine etwa fünfzigjährige Frau mit rundem Gesicht und kurzem grauem Haar am Computer arbeitete. Sie trug ein weißes Sweatshirt mit der Aufschrift »All charged up! Zapcon 92« und sah lächelnd auf, als Horatio hereinkam. »Hallo?« In ihrer Stimme schwang etwas Osteuropäisches mit, aber aus welchem Land sie stammte, konnte Horatio nicht einschätzen.
»Hallo. Ich bin mit Dr. Wendall verabredet. Horatio Caine.«
»Ich sage ihm, dass Sie da sind.« Tschechien? Polen? Vielleicht Kroatien, überlegte Horatio.
Der Mann, der einen Augenblick später in die Empfangshalle kam, war Ende vierzig, völlig kahl und trug einen blauen Laborkittel, ein Miami-Dolphins-T-Shirt, Jeans und weiße Sneakers. Er hatte ein breites verschmitztes Grinsen im Gesicht und Augenbrauen, die so dick und schwarz waren, als hätte er sie mit einem Edding nachgezogen. »Hi! Sie müssen Lieutenant Caine sein!« Er schüttelte Horatio die Hand.
»Bitte nennen Sie mich Horatio.«
»Kommen Sie mit ins Labor – ich arbeite da gerade an etwas.« Er führte Horatio den Korridor hinunter, vorbei an vielen Türen, bis er schließlich eine öffnete, auf der »LAB 4« stand. Es gab mehrere Arbeitsplätze in dem Raum und einen langen Tisch, auf dem eine Menge elektronischer Geräte herumlagen. Daneben stand eine Art Aquarium mit einer trüben, weißlichen Flüssigkeit.
Dr. Wendall zog einen Plastikstuhl unter einem der Arbeitstische hervor und bot ihn Horatio an. Dann nahm er selbst Platz. »Ich bin gerade dabei, Daten auszuwerten«, sagte er aufgeräumt und zeigte auf einen Bildschirm, über den in einem Irrsinnstempo endlos lange Zahlenreihen tickerten. »Aber ich helfe Ihnen gern, wenn ich kann. Sie haben am Telefon etwas von einem Mord gesagt, der mit einem Blitzschlag in Zusammenhang steht?«
»Das ist richtig. Ich dachte, Sie könnten vielleicht etwas Licht in die Angelegenheit bringen.«
Dr. Wendall kicherte. »Nun, ich muss zugeben, dass ich die Wörter ›Blitz‹ und ›Mord‹ nicht allzu oft im gleichen Satz zu hören bekomme. Die meisten Menschen überleben Blitzschläge nämlich – nur ein Drittel von ihnen sind tödlich. Ein Blitz ist eine ziemlich unwahrscheinliche Mordwaffe.«
Horatio lächelte. »Meiner Erfahrung nach werden Mordwaffen manchmal genau aus diesem Grund ausgewählt. Und für das Vorgehen des Verdächtigen in diesem speziellen Fall wäre ein Blitz aus den Wolken mehr als passend.«
»Nun, auch wenn ich davon ausgehe, dass sie weder Thor noch Zeus dafür festnehmen wollen, bestätige ich Ihnen, dass es im Prinzip möglich ist. Ungefähr hundert Menschen werden jährlich in den Vereinigten Staaten durch einen Blitzschlag getötet. Die Frage ist nur, wie können Sie sicher sein, dass Ihr Opfer in diese Kategorie fällt? Haben Sie es auf dem Dach eines Gebäudes an einen Blitzableiter gefesselt vorgefunden?«
»Nicht wirklich.« Horatio erklärte, wo der Tote gefunden wurde.
»Auf der Toilette? Nun, da hat man auch Elvis gefunden, also ist er in guter Gesellschaft. Und Sie sagen, er hat dabei telefoniert?«
»Ja, mit einem Handy.«
»Hm. Eine ganze Reihe von Leuten werden jedes Jahr beim Telefonieren vom Blitz getroffen – aber in der Regel durch die Überlandleitung, die einen ausgezeichneten Leiter abgibt. Eine Zeit lang kursierten Geschichten darüber, dass Handys Blitze anziehen, aber das war eine urbane Legende – Mobiltelefone nutzen eine Funkfrequenz, die nur etwa sechshundert Milliwatt Sendeleistung hat und deshalb kaum etwas bewirkt. Waren seine Trommelfelle intakt?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Wenn der Blitz durch das Handy gekommen wäre, hätte mindestens eins platzen müssen.« Wendall warf einen Blick auf die Zahlen, die über den Bildschirm liefen, bevor er Horatio wieder ansah. »Aber das Verhalten von Blitzen ist nur schwer voraussagbar. Es gab einen Fall in Dänemark, da ist der Blitz durchs Fenster hereingekommen und hat alle Teller auf einem Regal, sechzig Glasscheiben und sämtliche Spiegel im Haus zertrümmert, bevor er wieder nach draußen sprang und ein Schwein und eine Katze tötete.«
»Ich denke, ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es keine Tiere im Gebäude gab«, sagte Horatio. »Aber da war etwas auf dem Dach. Wir haben Beweise dafür gefunden, dass eine Modellrakete abgefeuert wurde.«
Wendall riss erstaunt die Augen auf. »Soll das ein Scherz sein?«, fragte er langsam.
»Leider nicht.«
Wendall schüttelte den Kopf. »Okay, dann sieht die Sache natürlich ganz anders aus. Jetzt ist mir klar, wie das ablief. Aber da reden Sie leider mit dem Falschen.«
»Oh?« Horatio beugte sich interessiert vor. »Und wer ist der Richtige?«
»Er heißt McKinley – Jason McKinley. Und ich kann Ihnen auch sagen, wo Sie ihn finden werden.«