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Grelle Blitze zuckten über den Himmel, und der Knall, der kurz darauf folgte, klang nach einer gewaltigen Explosion. Horatio Caine, der seinen Wagen gerade am Straßenrand abgestellt hatte, dachte, dass dieses Septembergewitter mehr Ähnlichkeit mit einem Luftangriff hatte als mit einem Naturereignis. Manchmal donnerte es so laut, dass die Touristen unwillkürlich die Köpfe einzogen und vor Angst schrien.
Horatio kniff die Augen zusammen. Nach all den Jahren, die er nun schon in Miami lebte, hatte er sich längst an die lauten Donnerschläge gewöhnt, aber die Ruhe des kriminaltechnischen Labors war ihm lieber. Seit seiner Zeit beim Bombenräumkommando hatte er etwas gegen plötzliche, laute Geräusche.
Er streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über, deren milchiges Weiß im starken Kontrast zu den Ärmeln seines Hugo-Boss-Jacketts stand. In Miami war ein gewisses Modebewusstsein genauso wichtig wie die Fähigkeit, die politischen Winkelzüge des städtischen Klüngels zu durchschauen. Aber Horatio, der als Leiter des C.S.I.-Teams beinahe täglich damit konfrontiert wurde, wusste sich zu behaupten. Er trug in der Regel teure Anzüge, die zwar modisch-elegant, aber doch leger waren: keine Weste, keine Krawatte, und den Kragenknopf stets geöffnet. Mit diesem Outfit passte er gut nach Miami, denn im Süden Floridas hatten die Leute einen lässigen Schick entwickelt und sahen mitunter sogar ein T-Shirt als den letzten Schrei an – wenn nur das richtige Label auf dem Etikett stand. Das äußere Erscheinungsbild konnte eine nützliche Sache sein, und für den Erfolg seiner Arbeit war Horatio jedes Mittel recht.
Er griff zu seinem C.S.I.-Koffer und öffnete die Fahrertür seines Hummers. Als er aus dem klimatisierten Wagen stieg, spürte er gleich die warme Luft auf seiner Haut, die ihm wie der feuchte Atem eines Raubtiers entgegenschlug. Coral Gables, einst ein Vorort von Miami, hatte sich zu einer eigenständigen, wohlhabenden Stadt mit über zwanzig Konsulaten und einem florierenden Vergnügungs- und Geschäftsviertel entwickelt.
Es lag westlich von Little Havana und war in den Zwanzigerjahren von einem exzentrischen Zitrusfrüchte-Millionär namens Merrick entworfen worden. Mit den breiten Boulevards, den hochaufragenden Banyanbäumen und der Architektur, die sich mit jedem spanischen Städtchen hätte messen können, bot Coral Gables einen unvergesslichen Anblick: rote Dachziegel, Marmorspringbrunnen und Terrakotta-Rundbögen in allen erdenklichen Pastelltönen.
Ein paar warme, dicke Regentropfen klatschten auf den Gehsteig, als Horatio auf ein Restaurant zuging, dessen Eingang mit gelbem Plastikband abgesperrt war. Links davon befand sich eine Galerie, rechts davon eine Damenboutique. Über der Tür hing ein Neonschild, auf dem »The Earthly Garden« stand, und auf einem kleineren Schild darunter war der Hinweis »Vegetarische Küche« zu lesen. Der uniformierte Polizeibeamte am Eingang erkannte Horatio sofort und nickte ihm zu, als dieser unter dem Absperrband durchschlüpfte und das Lokal betrat.
Drinnen blieb Horatio stehen und sah sich erst einmal um. Das Restaurant war nicht besonders groß, es hatte höchstens fünfzig Plätze. Die Einrichtung war einfach, und die weiß getünchten Wände waren lediglich mit ein paar Aquarellen dekoriert. Über den ovalen Tischen aus hellem Holz hingen Kristallglaslampen, und um einen Tisch herum standen jeweils vier Stühle. Einer dieser Tische war besetzt. Horatio schloss aus der Kleidung der Leute, dass es sich um Angestellte des Hauses handeln musste. Eine große, aparte Frau in einem grauen Anzug, deren schwarze Locken bis über die Schultern reichten, stand vor dem Tisch. Als Horatio näher kam, unterbrach sie das Gespräch und forderte ihn mit einem Nicken auf, ihr in die Küche zu folgen.
»Kannst du mir schon etwas sagen?«, fragte Horatio.
»Der Tote heißt Phillip Mulrooney«, antwortete Detective Yelina Salas. »Er ist … er war hier Kellner. Die Leiche wurde in der Personaltoilette gefunden, gleich da hinten.«
Sie führte ihn durch eine Schwingtür und ging mit ihm an der chromglänzenden Küche vorbei. Das Aroma von Knoblauch, Ingwer und Curry hing in der Luft, unterlegt mit einem beißenden Geruch: verbranntes Plastik und ein Hauch Ozon.
Die Tür zu dem kleinen Raum, in dem es gerade genug Platz für ein Spülbecken und eine Toilette gab, stand offen. Der Tote kniete vor der Toilettenschüssel, auf der sein schlaffer Oberkörper zusammengesackt war. Sein Hemd, die Hose und die Socken waren in Fetzen gerissen, ein Schuh lag in der Ecke, der andere im Spülbecken. Horatio nahm den unangenehmen Geruch von verbranntem Fleisch wahr. Kleine Plastik- und Metallstücke lagen auf dem Boden herum.
In diesem Moment traf Eric Delko ein. Er hatte bereits seine Latexhandschuhe angezogen und war nicht nur mit dem üblichen C.S.I.-Koffer ausgestattet, sondern auch mit einer vor seinem Bauch baumelnden Kamera. Er trug Shorts, Sneakers und ein Miami-Heat-T-Shirt, und Horatio vermutete, dass er wohl beim Joggen gewesen war, als er angerufen wurde.
»Wie sieht’s aus, H.?«, fragte Eric.
»Bin selbst gerade erst angekommen«, entgegnete Horatio und hob ein zerbrochenes Plastikteil vom Boden auf. »Offenbar hatte unser Toter ein Handy in der Hand, von dem nun nicht mehr viel übriggeblieben ist.«
»Meinst du, das hat ihn umgebracht? Handyakkus können sich überhitzen und explodieren.«
»Besonders die Billigimitate aus Asien.« Horatio nickte. »Da spielt man bei jedem Anruf russisches Roulett … Aber ich glaube nicht, dass dies die Todesursache war. Dann wäre seine Kleidung nicht so zerfetzt.«
Delko nahm den Schuh aus dem Waschbecken und sah ihn sich genau an. »Die Schnürsenkel sind zugebunden.«
»Und der Boden ist nass.« Horatio zeigte auf eine feuchte Spur. Sie führte von der Toilette weg zu einem vergitterten Abfluss im Küchenboden. »Hätte er ein Siebenereisen in der Hand gehabt, wäre die Sache klar.«
Delko nickte, als er sagte: »Blitzschlag – durch die Hitze der elektrischen Spannung wird die Feuchtigkeit zwischen Haut und Kleidung verdampft, und du wirst regelrecht aus den Klamotten gehauen.«
Horatio ging in die Knie und nahm die Toilettenschüssel unter die Lupe. »Verchromter Stahl.«
»Für die gewerbliche Nutzung«, bemerkte Delko. »So etwas findet man eigentlich eher in öffentlichen Toiletten – beispielsweise in Flughäfen oder Einkaufszentren.«
»Vielleicht hatte der Klempner einen Vertrag mit dem Hersteller«, entgegnete Horatio. »Mir scheint, der Rest der Sanitärinstallationen ist aus PVC – das ist billiger, und da es sich um die Personaltoilette handelt, musste sich der Besitzer des Lokals um die Ästhetik keine Gedanken machen. Aber es sind nicht alle Rohre zu sehen, oder?«
»Also ist der Blitz durch ein Rohr oder eine Leitung gekommen, hat dann den Mann hier erwischt und ist schließlich durch das Wasser auf dem Boden in den Küchenabfluss weitergeleitet worden?«
»Und hat dabei das Handy zur Explosion gebracht«, fügte Horatio hinzu. »Aber die Position der Leiche ist ungewöhnlich. Schauen wir uns doch mal das Dach an. Wir wissen ja jetzt, wo der Blitz hinging – mal sehen, ob wir feststellen können, wie er in das Haus gelangte.«
»Ich bringe am besten die Befragung des Personals zu Ende«, meldete sich Yelina zu Wort.
Im hinteren Teil der Küche gab es eine Luke, die zum Dach führte. Mit einer Aluminiumleiter, die an der Wand lehnte, konnte man hinaufklettern. Horatio sah sich die Sprossen an. »Sieht wahnsinnig sauber aus, findest du nicht?«, fragte er. »Keine Flecken, kein Staub, kein Fett.«
»Die ganze Küche ist doch ziemlich sauber. Vielleicht wird die Leiter jeden Tag abgewischt.«
Horatio nahm einen Stuhl und stellte sich drauf, um einen Blick auf die oberen Sprossen zu werfen. »Bis ganz nach oben? Das ist selbst für ein Restaurant ziemlich ungewöhnlich.« Dann kletterte er die Leiter hoch, öffnete die Luke, die nur mit einem einfachen Riegel verschlossen war, und streckte den Kopf hinaus.
Er schaute auf ein flaches Teerdach, an dessen nördlichem Ende die Klimaanlage angebracht war. Wenige Meter neben der Luke über dem Toilettenraum ragte ein kurzes Rohr aus dem Boden, durch das wahrscheinlich das Faulgas aus den Abwasserrohren austrat.
Horatio sah sich das Dach sehr genau an, bevor er ganz hinauskletterte. Er hoffte, dass die wenigen Tropfen, die vom Himmel fielen, sich nicht plötzlich in einen Platzregen verwandeln würden. Mit langsamen Bewegungen ging er auf das Abzugsrohr zu und hielt den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet.
»Irgendwas Interessantes?« Delko schaute aus der Dachluke heraus.
»Einiges. Der einfachste Weg für den Blitz war dieses Abzugsrohr, aber das ist aus PVC.«
»Ist er vielleicht in die Klimaanlage eingeschlagen und von dort zu irgendeinem Rohr in der Wand gelangt?«
»Möglicherweise … Aber hör mal!« Horatio hielt inne.
Delko legte lauschend den Kopf zur Seite, dann nickte er. »Die Klimaanlage läuft noch. Das würde sie wohl kaum tun, wenn der Blitz sie erwischt hätte.«
»Richtig. Und das bedeutet, dass er auf einem anderen Weg ins Haus eingedrungen sein muss. Entweder durch etwas, das wir noch nicht gefunden haben … oder durch etwas, das inzwischen beseitigt wurde.«
»Blitze können auch durchs Fenster ins Haus gelangen, oder durch Elektrogeräte.«
»Das stimmt, aber der Blitz nimmt immer den für ihn einfachsten Weg … doch der besteht wohl kaum aus einem PVC-Rohr.« Horatio ging zu der Klimaanlage und besah sie von allen Seiten. »Keine Hinweise auf einen Blitzschlag. Moment mal! Eric, komm mal rauf, und sieh dir das an!«
Delko kletterte durch die Luke und kam zu ihm. Horatio ging in die Hocke und tippte mit dem Finger auf eine rußige Stelle auf dem Boden. »Das könnte ein Brandfleck sein«, sagte er nachdenklich. »Aber er sieht ziemlich merkwürdig aus.« Von der Mitte des Flecks verliefen Zickzacklinien in alle Richtungen.
Delko runzelte die Stirn. »Warum hätte der Blitz an dieser Stelle einschlagen sollen? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Allerdings …« Horatio hob eine kleine dreieckige Scherbe vom Boden auf und sah sie sich genau an. An zwei Rändern war sie weiß, aber an dem dritten Rand schwarz. »Sieht nach Keramik aus«, fand Horatio. »Könnte von etwas Rundem stammen, das zerbrochen ist – ein Teller vielleicht?« Delko hielt ihm eine Beweismitteltüte hin, und Horatio ließ die Scherbe hineinfallen.
»Machst du bitte ein Foto von dieser Stelle?« Horatio kratzte ein paar schwarze Krümel von dem Brandfleck und tat sie ebenfalls in eine Tüte. Er schnüffelte daran, dann reichte er sie an Delko weiter. »Riechst du das?«
»Ja, das ist merkwürdig. Ich würde sagen, es riecht fast nach Zuckerwatte, aber da ist auch noch etwas anderes.«
Horatio nickte. Delkos nachdenklicher Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sein Kollege noch etwas anderes witterte – genau wie er.
Die ganze Sache roch nach Mord.
»Also gut, dann nehmen wir uns jetzt die Küche vor«, entschied Horatio. »Eric, du kümmerst dich um die Schränke, und ich schaue mir den Rest an.«
Sie gingen sorgfältig und methodisch vor. Während Delko Schubladen, Einbauschränke und Regale absuchte, inspizierte Horatio sämtliche Tüten der zahlreichen Mehl- und Linsensorten. Sie rückten jeden beweglichen Gegenstand zur Seite und schauten in alles hinein.
Sie fanden nichts.
»Vielleicht sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht«, murmelte Horatio. »Vielleicht haben wir das, was wir suchen, direkt vor der Nase.«
Er ging langsam durch die Küche und hielt dabei nach irgendetwas Ungewöhnlichem Ausschau. Töpfe, Pfannen, Küchengeräte, Plastikeimer, Tabletts. Eine Arbeitsfläche für die Sandwichzubereitung mit einem Schneidebrett und mehreren Plastikbehältern für die Zutaten. In jedem Behälter steckte ein Messer, wahrscheinlich damit nichts von dem einen in einen anderen gelangte und umgekehrt.
In jedem bis auf einen. Er war mit einer dunklen, zähflüssigen Masse gefüllt. Horatio beugte sich vor und schnupperte daran. Ein süßer, beinahe rauchiger Geruch drang in seine Nase. Zuckersirup. Wenn es für jeden anderen Behälter ein eigenes Messer gab, warum dann nicht auch für diesen?
Neben der Spülmaschine stand ein großes Tablett mit schmutzigem Besteck. Horatio hatte es bereits untersucht, aber nun fiel ihm plötzlich etwas ein, und er nahm es sich noch einmal vor. Inmitten des großen Besteckhaufens entdeckte er zwei Buttermesser mit Holzgriffen, an deren Klingen eine zähe, dunkle Masse klebte.
Delko kam zu ihm herüber.
»Hast du was gefunden, H.?«
»Ich bin mir nicht sicher«, entgegnete Horatio. Vorsichtig wischte er die klebrige Masse von der Spitze des ersten Messers und stellte fest, dass die Klinge schwarz angelaufen war. Bei dem zweiten Messer war es genauso.
»Diese Klingen sind erhitzt worden?«, stellte Delko fest.
»Aber warum gibt es zwei davon?«, fragte Horatio. »Eric, ich möchte, dass du weitersuchst. Und nimm vor allem die Steckdosen und Elektrogeräte unter die Lupe. Ich werde mich mit dem Personal unterhalten.«
Horatio Caine hatte ein Geheimnis.
Kein dunkles natürlich – und diejenigen, die ihn gut kannten, würden sogar behaupten, es sei gar kein Geheimnis. Horatio hatte nur gelernt, bei seiner Ermittlungsarbeit seine Gedanken für sich zu behalten.
Deshalb wussten viele, denen er begegnete, nicht, dass er Humor besaß, und der, wenn er ihn durchblicken ließ, trocken und ironisch war. Wie alle C.S.I.-Mitarbeiter hatte er festgestellt, dass die Arbeit nicht ohne Humor zu bewältigen war. Natürlich fand Horatio menschliches Leid nicht komisch, und er hatte größtes Mitgefühl mit denen, die leiden mussten. Es kam sogar vor, dass er sich in die Arbeit stürzte, weil er den Schmerz zu sehr nachempfand. Aber es gehört auch zu den natürlichen Abwehrmechanismen des Menschen, Leid durch ein Lachen zu bewältigen. Würden die C.S.I.-Ermittler nicht einen gewissen Sinn für das Absurde entwickeln, könnten sie den täglichen Umgang mit so viel Tod nicht aushalten.
Horatio hielt sich jedoch mit humoristischen Einlagen zurück, einerseits, um seinen Mitarbeitern ein Vorbild zu sein, andererseits aus Respekt gegenüber den Toten. Er hatte jeden Tag mit leidgeprüften Menschen zu tun, und ob es sich nun um Opfer oder Verdächtige handelte, er musste dafür sorgen, dass sie ihn ernst nahmen. Also gestattete er sich gelegentlich ein Grinsen oder einen trockenen Kommentar, aber das Witzereißen überließ er den anderen. Sie brauchten dieses Ventil dringender als er.
Das redete er sich jedenfalls ein. Und meistens glaubte er es auch.
Horatio warf einen Blick auf die Notizen von Yelina Salas, die neben ihm am Mitarbeitertisch saß. Sie baten einen Angestellten nach dem anderen herein, während die anderen draußen warten mussten. Der Mann, der ihnen nun gegenübersaß, war klein und gepflegt und hatte sein gewelltes weißes Haar glatt nach hinten gekämmt. Seine Fingernägel waren kurz geschnitten, und er saß mit gefalteten Händen am Tisch. Über seinem blauen Leinenhemd, dessen Ärmel er bis an die Ellbogen hochgekrempelt hatte, trug er eine weiße, saubere Schürze. Albert Humboldt sah gar nicht aus wie ein Tellerwäscher, sondern eher wie ein Kellner.
Vielleicht hat er Ambitionen, dachte Horatio. Aber er bezweifelte, dass das Streben nach einer Kellnerposition in einem vegetarischen Restaurant ein plausibles Motiv für einen Mord war. Jedenfalls hatte Humboldt ihm gerade mehr oder weniger das Gleiche erzählt wie die beiden Kellner vorher, und er verlor allmählich die Geduld.
»Albert«, sagte er gefasst. »Habe ich Sie richtig verstanden? Sie behaupten also, dass Mulrooney hingerichtet worden sei?«
»Nicht hingerichtet, sondern aus dem Leben gerissen«, korrigierte Humboldt. Seine Sprechweise war ebenso akkurat und untadelig wie der Rest von ihm. Er erinnerte Horatio in gewisser Weise an eine weiße Ratte, die zu viel Zeit mit der Fellpflege verbrachte.
»Also gut, aus dem Leben gerissen. Von …«
»Gott.«
Horatio sah Yelina verstohlen von der Seite an. Sie hatte die Augenbrauen nun schon so lange hochgezogen, dass er befürchtete, sie bekäme einen Krampf.
»Nun gut. Lassen wir die theologischen Fragen für einen Moment beiseite, und gehen wir noch einmal den Ablauf der Ereignisse durch. Sie sagten, Sie haben gesehen, wie Mr Mulrooney zur Toilette ging?«
Humboldt nickte. »Ja.«
»Hat er dabei sein Handy am Ohr gehabt und mit jemandem telefoniert?«
Humboldt zögerte. »Nicht dass ich wüsste.«
»Haben Sie ein Handy klingeln gehört, oder haben Sie mitbekommen, dass Mr Mulrooney mit jemandem sprach, als er auf der Toilette war?«
»Nein, die Spülmaschine ist so laut, dass man sowieso kaum etwas anderes hören kann.«
»Aber einen Donnerschlag haben Sie gehört?«
»Oh ja. Ich hörte es den ganzen Tag donnern, aber dieser Donnerschlag war so laut, dass die Fensterscheiben klirrten. Und es war eine Art doppelte Explosion, es klang fast wie ein Echo.«
»Können Sie sich an die genaue Uhrzeit erinnern?«
»Ja, es war Viertel vor drei. Ich hatte gerade meine Pause beendet.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
Horatio beugte sich vor. »Und Sie waren derjenige, der die Leiche gefunden hat.«
Humboldt sah ihm in die Augen und leckte sich nervös die Lippen. »Ja, ich habe an die Tür geklopft, als ich diesen Geruch bemerkte – ich reagiere sehr empfindlich darauf.« Er schluckte. »Ich bin Veganer.«
»Er isst weder Fleisch noch tierische Erzeugnisse wie Eier oder Milch«, bemerkte Yelina.
»Und Mulrooney?«, fragte Horatio.
»Er war auch Veganer«, antwortete Humboldt. »Wie wir alle. Das ist Bestandteil der Vitality Method.«
»Das ist der letzte Schrei in Sachen gesunde Ernährung«, erklärte Yelina. »Damit hat die South-Beach-Diät eine echte Konkurrenz bekommen. Bestimmte Vitaminpräparate ersetzen dabei das, was einem fehlt, wenn man kein Fleisch mehr isst.«
»Dahinter steckt sehr viel mehr«, ereiferte sich Humboldt. »Es ist eine richtige Philosophie – es hat mein Leben verändert.«
»War das bei Phil Mulrooney auch so?«, fragte Horatio nach.
»Die Vitality Method verändert das Leben. Dr. Sinhurma glaubt, dass die innere Schönheit des Menschen zum Vorschein kommt, wenn man Körper und Seele die richtige Pflege angedeihen lässt.«
»Das ist doch ein lobenswerter Ansatz«, bemerkte Horatio. »Die anderen Angestellten haben recht unterschiedliche Theorien dazu, warum Mulrooney von Gott bestraft wurde. Würden Sie mir vielleicht auch Ihre verraten?«
»Er war nicht mehr von Dr. Sinhurmas Lehren überzeugt«, antwortete Humboldt. »Er hatte seinen Glauben verloren.«
»Und dann verlor er auch noch sein Leben.« Horatio schüttelte den Kopf. »Ein verdammt hoher Preis für den Abbruch einer Diät, wenn Sie mich fragen!«
Humboldt hob die Hände und zuckte hilflos mit den Schultern.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich. Ich weiß nur, dass Dr. Sinhurma ein sehr weiser, scharfsinniger Mann ist, und als Phillip sich von seiner Weisheit abwandte, wurde er vom Blitz erschlagen.«
»Auf der Toilette«, warf Yelina ein. »Wenn Gott diesen Blitz geschickt hat, dann hat er einen ziemlich fiesen Humor.«
»Er oder jemand anderer«, entgegnete Horatio ironisch und bedachte Humboldt mit einem sanften Lächeln, bevor er ihn nach draußen schickte.
Als Letzter kam Darcy Cheveau, der Koch, an die Reihe. Er war dunkelhäutig und gut gebaut. Er hatte kurz geschnittenes, lockiges dunkles Haar und einen leichten Bartschatten. Direkt über dem Mund hatte er eine kleine sichelförmige Narbe, und es ging etwas Bedrohliches von ihm aus. Es war wie mit einem teuren Parfum: Man wusste nicht genau, was es war, aber es fiel einem auf.
»Mr Cheveau«, begann Horatio. »Wo waren Sie, als sich der Zwischenfall ereignete?«
»Sie meinen, als Phil gegrillt wurde?«, entgegnete Darcy grinsend. »Nun, ich war da, wo ich den ganzen Tag war – in der Küche, beim Kochen.«
»Sie machen keinen sonderlich betroffenen Eindruck«, sagte Yelina.
»Ich und Phil, wir standen uns nicht sehr nah. Es ist einfach so, wie der Doc immer sagt: Früher oder später wird jeder von seinem Karma eingeholt.«
»Mit ›Doc‹ meinen Sie Dr. Sinhurma?«, fragte Yelina.
»Ja. Gehören Sie auch zu uns?«
»Wohl kaum«, entgegnete Yelina.
»Dann glauben Sie also, Mulrooney habe verdient, was ihm widerfahren ist?«, fragte Horatio.
»Hey, das weiß ich doch nicht! Das ist eine Sache zwischen ihm und dem Universum! Aber wenn man bedenkt, wie er erledigt wurde, dann muss ihn irgendjemand da oben nicht besonders gemocht haben.«
»Ich interessiere mich mehr für die Menschen hier unten«, sagte Horatio. »Gab es zwischen Ihnen und Mr Mulrooney irgendwelche Spannungen?«
»Ach was, wir waren bloß keine besonders dicken Freunde«, entgegnete Cheveau schulterzuckend. »Ich habe ihn gar nicht so gut gekannt, ehrlich! Und es sieht nicht so aus, als würde sich daran so schnell etwas ändern.«
Calleigh Duquesne – schwarze Hose, weiße Bluse, das blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden – kam in die Restaurantküche. Sie trug ein breites Lächeln im Gesicht und eine Makita-Motorsäge in der Hand. »Also, wer hatte das Tagesgericht bestellt?«
Delko zeigte grinsend auf. »Das war ich. Medium, bitte!«
Calleigh hob den Kopf und schnupperte. »Ich würde meinen, gut durchgebraten ist angebrachter, oder?«
»Es war noch schlimmer, bevor die Leiche abtransportiert wurde«, antwortete Delko. »Wenn jemand vom Blitz getroffen wird, kann die Temperatur bis zu viermal höher sein als die der Sonnenoberfläche, und das ist mehr als genug, um Fleisch zu grillen.«
»Wo kann ich das Ding anschließen?«
»Überall, nur hier nicht«, sagte Delko, während er vorsichtig mit dem Pinsel Magnetpulver auf einer Steckdose über der Arbeitsfläche verteilte. »Ich habe alles überprüft, und das hier ist die einzige Steckdose, die beschädigt wurde.«
»War denn irgendetwas daran angeschlossen?«, fragte Calleigh, während sie ihren Werkzeugkoffer auf dem Boden abstellte und die Riegel aufschnappen ließ.
»Nein. Und es gibt auch keine Fingerabdrücke, aber sieh dir das mal an.« Delko zeigte auf den oberen Rand der Steckdose. »Sieht aus, als hätte da etwas einen Abdruck in dem geschmolzenen Plastik hinterlassen.«
Calleigh kam zu ihm und sah es sich an. »Hm. Sieht aber nicht nach einem Stecker aus. Vielleicht war irgendein Gegenstand in der Steckdose eingeklemmt?«
Delko legte den Pinsel zur Seite und nahm seine Kamera zur Hand. »Ja, und ich glaube, ich weiß auch schon, was!« Er erzählte Calleigh von den Messern, die Horatio gefunden hatte. »Ich wette, mit einem davon wurde hier herumexperimentiert«, sagte er und fotografierte den Abdruck.
Horatio kam in die Küche. »Calleigh! Gut, dass du da bist. Du musst dir die Wand in der Toilette vornehmen. Vielleicht kannst du herausfinden, welchen Weg der Blitz genommen hat. Eric, hast du hier noch etwas gefunden?«
Delko zeigte ihm die Steckdose. »Interessant«, murmelte Horatio. »Hast du die elektrischen Geräte überprüft?«
»Jedes einzelne. Und sie funktionieren alle.«
Horatio stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. »Okay, das hier ist ein vegetarisches Restaurant in Miami. Und da würde man doch meinen, dass es jede Menge frische Obst- und Gemüsesäfte zu trinken gibt … Und was ist hier nirgends zu sehen?«
Delko schaute sich um. »Ein Mixer.«
»Richtig. Sieh mal im Müllcontainer nach. Vielleicht haben wir ja Glück!«
»Bin schon dabei.«
Calleigh setzte sich eine Schutzbrille auf. »Kann ich jetzt anfangen, H.?«
»Leg los! Ich gehe zum Telefonieren nach vorn.«
Das Restaurant war inzwischen leer und die Angestellten nach Hause geschickt. Horatio holte sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste für das kriminaltechnische Labor.
»Mr Wolfe? Horatio hier.« Er sprach sehr laut, um das Geknatter der Motorsäge zu übertönen. »Tragen Sie bitte alles zusammen, was Sie über einen gewissen Dr. Sinhurma herausfinden können, und stellen Sie fest, was er mit dem Restaurant The Earthly Garden zu tun hat! Ja, richtig, der Ernährungsguru. Und ich brauche außerdem eine Liste aller Nummern, mit denen der Tote, Phillip Mulrooney, in den letzten vierundzwanzig Stunden telefonierte. Okay, danke!«
Horatio klappte sein Handy zu und steckte es wieder in die Tasche. Calleighs Motorsäge, die sich in der Toilette durch die Wand fraß, klang wie das Fauchen eines wütenden Raubtiers.
Draußen goss es inzwischen in Strömen.
Horatio Caine kannte sich in Miami aus. Er kannte die Stadt so gut wie ein Matrose das Meer, wie ein Mann die Launen seiner Frau. Er konnte zwar nicht voraussagen, was als Nächstes passieren würde, aber er wusste, was möglich war. Miami war eine Stadt der Extreme: An der Oberfläche gab es nur Neonzauber, goldbraune Haut auf weißem Sand, aufgekratzte Modetypen, die einen Mohito-Cocktail nach dem anderen wegkippten, heiße tropische Nächte und coole Clubs.
Aber jenseits der bunten Glitzerwelt herrschte tiefste Finsternis.
Horatio wusste, wie kurz der Weg vom schummrigen Schein der Nachtclublichter zu den grellen, fluoreszierenden Lampen über dem Sektionstisch war. Er wusste, dass Miami-Dade trotz der riesigen Geldmengen, die durch die Stadt flossen, einer der ärmsten Bezirke des Landes war. Und er wusste auch, dass unter der sengenden Hitze die Nerven vibrierten und die Feriensaison für einen gewissen Teil der Bevölkerung eine willkommene Gelegenheit zum Diebstahl bot.
Die meisten Leute erkannten nicht den Übergang zwischen Hell und Dunkel, doch genau dort war Horatio zu Hause. Er stand mit beiden Beinen fest auf der Erde, er hatte einen Fuß auf der einen Seite der Grenze und den zweiten auf der anderen. Er nahm die Unterschiede der Stadt so deutlich war wie den Unterschied zwischen Leben und Tod. Wo andere Menschen die Sonne sahen, sah Horatio ihre dunklen Schatten.
Es war sein Job, sich um diejenigen zu kümmern, die diese Grenze übertraten. Und sie übertreten sie immer in der falschen Richtung, dachte Horatio, als er in die Zuschauerkabine des Sektionssaals ging. Zu viele landeten am Ende dort auf dem Tisch.
Er schaute hinunter zu Dr. Alexx Woods und schaltete die Sprechanlage ein. Da die Räumlichkeiten der Rechtsmedizin auch zu Unterrichtszwecken genutzt wurden, befanden sich in dem verglasten Zuschauerbereich oberhalb des Sektionssaals auch einige Monitore. Manchmal sah Horatio sich die Autopsien lieber von dort aus an – nicht etwa, weil er zu empfindlich war, sondern weil er auf den stark vergrößerten Bildern, die die Kameras unten im Saal übertrugen, die Details besser erkennen konnte.
Und, Alexx?«, fragte Horatio. »Was kannst du mir über unser Opfer sagen?«
Alexx schaute lächelnd zu Horatio hoch, bevor sie sich wieder der Leiche widmete. »Der arme Kerl hat im Gesicht Verletzungen und Verbrennungen, die von der Explosion des Handys herrühren, aber daran ist er nicht gestorben. Todesursache war ein Herz-Lungen-Stillstand, der vermutlich von einem Blitzschlag verursacht wurde.«
Horatio runzelte die Stirn. »Vermutlich, Alexx?«
»Nun, es gibt da ein paar Unstimmigkeiten. Ein Blitzschlag kann eine Stärke von bis zu zwei Milliarden Volt haben, aber da die Haut einen relativ hohen Widerstand hat, bewegt sich die elektrische Ladung meistens nur auf die Körperoberfläche.«
»Stimmt, ich habe davon gelesen«, sagte Horatio.
»Aus diesem Grund überleben die meisten Leute einen Blitzschlag. Der Blitz fährt gar nicht in den Körper hinein, sondern wandert über die Haut und lässt dabei alle Feuchtigkeit verdampfen. So entstehen auch die charakteristischen linien- oder punktförmigen Brandwunden. Man kann sie hier sehen, unter den Armen, an der Innenseite der Oberschenkel, an den Füßen und der Stirn.«
»Und das hat ihm die Kleider zerfetzt und die Schuhe von den Füßen gerissen.«
»Da ist auch noch das hier.« Alexx zeigte auf ein verästeltes Muster auf der Brust des Toten. »Das ist eine so genannte Lichtenberg’sche Figur, die bei Opfern von Blitzschlägen auftreten kann. Das aus der subkutanen Fettschicht ausgetretene Blut verursacht diese rötlichen oder bräunlichen Flecken auf der Haut. Wie das genau funktioniert, wurde noch nicht herausgefunden, aber fest steht, dass diese Muster innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder verschwinden.«
»Und wo sind die Unstimmigkeiten, Alexx?«
»Punktförmige Hautblutungen an den Augenlidern und den inneren Wänden des Brustkorbs.« Sie zeigte auf die verräterischen roten Punkte.
»Anzeichen für einen Erstickungstod? Das ist in der Tat merkwürdig.«
»Man sieht so etwas manchmal in Fällen von Tötung durch einen Stromschlag mit Niederspannung. Wenn sich die Stromstärke über ungefähr sechzehn Milliampere bewegt, ziehen sich Beuge- und Streckmuskeln in den Unterarmen zusammen. Der Beugemuskel ist der stärkere von beiden und lässt die Hand krampfartig zur Faust zusammenballen. Dem Opfer gelingt es unter Umständen nicht, den Stromkreis zu unterbrechen. Außerdem kann der Strom eine krampfartige Lähmung der Atemmuskeln auslösen, wodurch schließlich der Erstickungstod einsetzt.«
Horatio beugte sich vor und studierte das Bild auf dem Monitor sehr genau. »Sechzehn Milliampere. So einen Schlag kann man sich ja schon mit ganz normalem Hausstrom zuziehen. Wenn also sein Herz nicht versagt hätte, wäre er an Atemstillstand gestorben?«
»Nicht bei einem Blitz, denn der dauert nicht lange. Die Sache ist schon nach zweihundert Millisekunden oder weniger vorbei, und die höchste Stromstärke erreicht der Blitz nur in einer Zeitspanne von null Komma ein Prozent dieser zweihundert Millisekunden. In den meisten Fällen fängt nach kurzzeitiger Muskellähmung die Lunge nach der Unterbrechung des Stromkreises wieder an zu arbeiten. Erst nach zwei, drei Minuten konstanter Stromzufuhr hätte er ersticken können. Aber dafür sind diese Blutungen nicht ausgeprägt genug – ich würde sagen, er war etwa eine Minute lang ohne Sauerstoff, vielleicht auch weniger. Und ich habe noch etwas gefunden.« Alexx zeigte auf ein paar kleine rote Punkte am Oberschenkel. »Einstiche.«
»Für Drogen wäre das eine merkwürdige Stelle. Junkies nehmen meistens eine leicht zugängliche Vene.«
»Nun, diese Einstiche sind intramuskulär und mindestens eine Woche alt – was immer er sich gespritzt hat, er hat damit aufgehört. Das Drogenscreening wird uns wahrscheinlich nicht verraten können, was er genommen hat.«
»Nein«, gab Horatio zu, »aber es wird uns verraten, was er nicht genommen hat – und das ist möglicherweise ebenso nützlich. Was ist mit dem Mageninhalt?«
»Die Ergebnisse sind gerade reingekommen. Halb verdautes Chili, so wie es aussieht.«
»Vegetarisch?«
»Nein, da ist eindeutig tierisches Eiweiß dabei.«
»Also ist unser Junge rückfällig geworden«, grübelte Horatio. »Der Versuchung des Fleisches erlegen. Danke, Alexx!«
Alexx wandte sich dem Toten mit einer Freundlichkeit zu, die sie allen ihren Schützlingen zuteil werden ließ. »Wir alle werden ab und zu mal schwach«, sagte sie sanft. »Immer stark bleiben, das kann niemand.«