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»Wie läuft es an der Heimwerkerfront?«, fragte Horatio. Calleigh hatte inzwischen ein großes Loch in die Wand hinter der Toilette gesägt und ein Rohr bis zur Decke freigelegt. Es war aus Kupfer, aber nur ein kurzes Stück lang, dann ging es in ein PVC-Rohr über.
Calleigh schob grinsend ihre Schutzbrille hoch. Ihr Gesicht und ihre Arme waren mit Staub und Krümeln von der Steinmauer bedeckt. »Naja, es reicht wohl noch nicht für eine eigene Handwerker-Doku-Soap, aber ich denke, ich habe gefunden, wonach wir suchen.« Sie zeigte auf einen Fleck auf dem Kupferrohr gleich unterhalb der Anschlussstelle.
Horatio trat näher. »Ein Brandfleck – und …«
»… Werkzeugspuren«, sagte Calleigh. »Ich glaube, an dieser Stelle war irgendetwas angebracht – wahrscheinlich eine Art Klemme. Und ich kann dir auch sagen, wie sie sich Zugang zu dem Rohr verschafft haben.«
Sie ging Richtung Küche und gab Horatio einen Wink, ihr zu folgen. Auf der Rückseite der Toilettenwand hing ein Erste-Hilfe-Kästchen. Calleigh nahm es ab, und dahinter kam eine kleine Sperrholzplatte zum Vorschein, die mit Schrauben an der Wand befestigt war. »Diese Platte wurde wahrscheinlich vom Klempner eingesetzt, nachdem er ein Loch in die Wand gebohrt hatte, um Zugang zu dem Rohr zu bekommen. Das Kupfer sieht ziemlich neu aus – vielleicht wurde dieses Stück nach einem Rohrbruch auch ausgetauscht.«
»Oder es wurde aus einem ganz speziellen Grund eingesetzt«, überlegte Horatio. »Versuche bitte herauszufinden, wann diese Reparatur vorgenommen wurde – und die Sperrholzplatte, das Erste-Hilfe-Kästchen und das Kupferrohr müssen ins Labor. Die nächste Frage lautet, wie hat der Blitz hier eindringen können.«
Calleigh zeigte auf ein kleines Fenster hoch oben in der Wand, das ein paar Zentimeter offen stand. In dem Spalt klemmte eine Kaffeetasse mit abgebrochenem Henkel. »Ich vermute, hier wurde irgendein Draht oder ein Kabel durchgesteckt. Ich habe da oben schon nach Spuren gesucht, aber leider nichts gefunden.«
»Okay, gute Arbeit!«
»Zimmermanns- und Klempnerarbeiten«, entgegnete Calleigh vergnügt. »Heute ist wirklich mein Handwerkertag. Wenn das so weitergeht, muss ich noch zum Presslufthammer greifen, bevor meine Schicht zu Ende ist!«
»Wenn irgendwo Beton aufgebrochen werden muss, bist du die Erste auf meiner Liste«, grinste Horatio.
Inzwischen regnete es nicht mehr. Die Wolkendecke war aufgerissen, und orangefarbenes Licht fiel auf die nassen Straßen. Im Schein der tief stehenden Sonne sahen sogar die schäbigen Hinterhöfe hübsch aus. Horatio ging zu einem Müllcontainer, in dem es rumpelte, als wühle ein Bär darin herum. »Ist da jemand vom C.S.I.-Team am Werk oder spreche ich mit Oscar aus der Mülltonne?«
Der Kopf von Eric Delko tauchte über dem Containerrand auf. »Hey, H. – ich glaube, ich habe was gefunden!« Er hielt einen großen Mixer hoch. »Brandspuren am Stecker!«
»Gut gemacht!« Horatio sah sich den Stecker genau an. »Sonst noch was?«
»Ja. Eine leere Hackfleischverpackung.«
»Das passt, denn Alexx hat Fleisch im Magen des Toten gefunden.«
»Ich habe sie jedenfalls eingetütet und ins Labor geschickt. Vielleicht finden wir einen Fingerabdruck darauf.«
»Gute Arbeit! Ich lasse das Personal antreten, damit wir Fingerabdrücke und DNS-Proben nehmen können. Vielleicht ist ja ein Treffer dabei.«
»Weißt du, ich sage es nur ungern, H. aber …«
»Ja?« Horatio sah Eric fragend an.
»Ich bin irgendwie ziemlich hungrig.«
Horatio grinste. »Okay. Bring den Mixer ins Labor, dann kannst du dir etwas zu essen holen.«
»Ja? Und was ist mit dir?«
»Mich interessiert im Augenblick mehr das Thema Diät.«
Ryan Wolfe saß vor seinem Computer und starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Er sah nicht einmal auf, als Horatio hereinkam. Horatio wusste, dass Wolfe weder unhöflich noch unaufmerksam war – der junge C.S.I.-Mitarbeiter konzentrierte sich immer so sehr auf seine Arbeit, dass er ringsum nichts mehr mitbekam. Er hatte eine gewisse Neigung zur Zwanghaftigkeit, weshalb er in den Augen seines Chefs für diesen Job prädestiniert war.
»Mr Wolfe«, grüßte Horatio. »Was haben Sie für mich?«
»Eine ganze Menge. Wollen Sie zuerst was über den Doktor wissen oder über seine Diät?«
»Fangen wir mit dem Doktor an«, meinte Horatio und blickte seinen jungen Kollegen gespannt an.
»Dr. Kirpal Sinhurma. Stammt ursprünglich aus Kalkutta und kam durch ein Stipendium in die Staaten. 1975 machte er seinen Abschluss in Psychologie an der John-Hopkins-Universität. Dann hat er eine eigene Praxis im Staat New York eröffnet und ein paar Selbsthilfebücher geschrieben, mit denen er sehr viel Geld verdiente. In den frühen Neunzigern ist er wieder an die Uni zurückgegangen und hat einen Abschluss in Ernährungswissenschaft gemacht. Vor fünf Jahren ist er dann hierher gekommen.«
»Aha. Und was hat er in den fünf Jahren gemacht?« Horatio lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Er hat sich eine eigene Bewegung aufgebaut. Seine Website liest sich wie ein New-Age-Manifest. Das hat mit Ernährungswissenschaften nicht mehr viel zu tun.«
Wolfe holte die Website auf den Bildschirm. »Sehen Sie selbst!«
»Hm, da hat er ja einige Berühmtheiten für sich gewinnen können.«
»Ja, hauptsächlich Models und Schauspieler. Er scheint alles anzuziehen, was jung, reich und schön ist. Seine Philosophie gründet darauf, dass sich im Äußeren des Menschen seine spirituelle Erleuchtung widerspiegelt.«
»Und was können Sie mir über die Diät sagen?«
Wolfe runzelte die Stirn und drückte eine Taste. »Wenig Konkretes. Ich habe mehrere Artikel und Interviews darüber gelesen, und die Diät scheint von Mensch zu Mensch zu variieren. Was für alle gilt, ist vegane Ernährung, Fasten und Meditation.«
»Okay, und was ist mit Nahrungsmittelergänzung, Vitaminpräparaten und so weiter?«
»Da wird die Sache interessant. Die Vitality Method ist ein zweistufiges Verfahren. Jeder kann sich das Buch kaufen und die Diät machen, aber das ist nur die Vorbereitung. Wenn man sich stark genug fühlt – und das nötige Kleingeld hat –, kann man einen persönlichen Termin mit Dr. Sinhurma vereinbaren und sich zu einem Workshop in seiner Klinik anmelden. Der dauert zwei Wochen, in denen man ein besonderes Programm durchläuft, das aus Vitaminen, Übungen und psychologischer Betreuung besteht, und durch das man angeblich länger jung und gesund bleibt als mit allen anderen Methoden.«
»Irgendwelche Verbindungen zum Earthly Garden?«
»Er ist der Besitzer des Lokals. Er hat noch eins in Queens, und ein weiteres wird nächsten Monat in L.A. eröffnet.«
»Also baut sich unser Dr. Sinhurma sein eigenes Imperium auf«, sagte Horatio. »In dem vermutlich die weniger Hübschen und die Fleischesser nicht willkommen sind.«
»Das ist noch nicht alles. Auf der Website gibt es zu viele Informationen, als dass ich alles hätte durchlesen können, aber ich habe mir einen Überblick verschafft und fand heraus, dass die neueren Statements des Doktors sich von den älteren unterscheiden. Am Anfang redet er von universeller Harmonie, und dann schlägt er nach und nach härtere Töne an. Und hier habe ich etwas, das Sie sich bestimmt ansehen wollen.«
Wolfe scrollte nach unten und klickte auf einen Link. Horatio kniff die Augen zusammen, als er den Text überflog. »›Die Natur wird selbst über diejenigen richten, die uns verspotten‹«, las er laut vor. »›Es mag zwar eine Weile dauern, aber irgendwann schlägt die Gerechtigkeit zu wie ein Blitz aus heiterem Himmel.‹« Horatio hielt inne. »Der Artikel wurde vor zwei Tagen ins Netz gestellt.«
»Ich habe auch schon die Liste der Telefonnummern, um die Sie mich gebeten haben. Raten Sie mal, wer der Letzte war, mit dem der Tote gesprochen hat?« Wolfe holte die Liste auf den Bildschirm.
Horatio nickte. »Der gute Doktor höchstpersönlich. Und wenn wir mit dem Todeszeitpunkt richtig liegen, hat Mr Mulrooney sogar in dem Moment mit ihm gesprochen, als ihn der Blitz traf.«
»Das ist ja …« Wolfe hielt inne und schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was das ist. Ein ziemlich unwahrscheinlicher Zufall, sagen wir mal so.«
»Oh, ich glaube ganz und gar nicht, dass es Zufall war«, entgegnete Horatio. »Und ich glaube auch nicht, dass Dr. Sinhurma einen direkten Draht zum Allmächtigen hat.«
»Und was glauben Sie stattdessen, H.?«
»Ich glaube an das, was ich sehe. Und im Augenblick sieht es ganz so aus, als sollten wir die Methoden von Dr. Kirpal Sinhurma genau unter die Lupe nehmen.«
Die Einrichtung nannte sich Mental Freedom Foundation, und es handelte sich dem erhabenen Namen zum Trotz um ein kleines Büro im dritten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes in Little Haiti. Horatio hatte die Adresse im Internet gefunden und telefonisch einen Termin vereinbart.
Das Viertel war sehr belebt – und das war noch untertrieben. Horatio parkte vor einem riesengroßen Wandgemälde, auf dem irgendein Voodoo-Ritual dargestellt war. Es passte zu der lauten haitianischen Compás-Musik, die aus der geöffneten Tür eines Musikladens schallte. Horatio stieg aus seinem Wagen und sah als Erstes ein Huhn, das vor einem kläffenden Hund davonrannte. In der Luft lag der Geruch von gebratenem Schweinefleisch, der von einem Restaurant herrührte und sich mit dem Müllgestank aus mehreren Abfallsäcken mischte, die neben dem Eingang aufgestapelt waren. Horatio betrat zielstrebig das alte Backsteingebäude, das so aussah, als hätte es schon einige heftige Stürme aushalten müssen.
Weil der Aufzug nicht funktionierte, nahm er die Treppe. Im dritten Stock fand er in einem kleinen, dürftig eingerichteten Vorraum einen Mann mit schütterem braunen Haar. Er saß hinter einem Schreibtisch und machte sich Notizen, während er mit jemandem telefonierte. Er hörte weder auf zu reden noch zu schreiben, als Horatio hereinkam, sondern nickte nur und zeigte auf die Tür zum nächstgelegenen Büro. »Hm-hm, hm-hm«, machte er. »Das ist furchtbar. Ja, ich weiß. Hm-hm.«
Horatio betrat das Büro, in dem es ziemlich chaotisch aussah. An zwei Wänden standen Aktenschränke, auf denen sich Papiere und Bücher stapelten. Am Schreibtisch, auf dem weitere Papierberge aufgetürmt waren, saß vor einem großen Fenster eine zarte Asiatin. Horatio konnte die dicht gedrängten Wolken am Horizont erkennen, die Ähnlichkeit mit einem riesigen Blumenkohlfeld hatten.
Die Frau stand auf und reichte Horatio über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Lieutenant Caine? Sun-Li Murayaki.«
Sie schüttelte ihm kurz und energisch die Hand und setzte ein professionelles Lächeln auf. Zu ihrem schwarzen Anzug trug sie eine weiße Bluse, und das schwarze glatte Haar reichte ihr bis über die Schultern.
»Was gibt es für ein Problem, Lieutenant?«, fragte sie und bot ihrem Gast auf einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz an.
»Nennen Sie mich Horatio. Und mein Problem ist Informationsmangel.«
»Ich kann mit Ihnen nicht über meine Fälle sprechen«, erklärte Murayaki. »Und ich kann Ihnen ebenso wenig den Aufenthaltsort von Klienten nennen, die zur Zeit eine Ausstiegsberatung machen.«
»Eine Ausstiegsberatung? Sie meinen wohl eine Art Entwöhnung?«
»Wenn Sie so wollen. Ich verstehe, dass Sie nur Ihre Arbeit machen, Lieutenant, aber ich lasse mich nicht einmal von einer Entführungsanklage beeindrucken. Was ich mache, nehme ich sehr ernst.«
»Moment!«, unterbrach Horatio sie. »Immer langsam, Ms Murayaki. Ich bin nicht gekommen, um Anklage gegen Sie zu erheben – mein Besuch hat nichts mit Ihren Klienten zu tun. Ich bin hier, weil ich hoffe, dass mir Ihre Fachkenntnis weiterhelfen kann.«
Sie studierte ihn eine Weile. »Tut mir Leid, Horatio. Leider gibt es meistens Ärger, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Dabei habe ich gar nichts gegen die Polizei – ganz im Gegenteil! –, aber es liegt einfach in der Natur meines Berufs. Wenn ich Besuch von einem Polizeibeamten bekomme, rührt das meistens daher, dass mich irgendein Demagoge beschuldigt, eines seiner Schäfchen als Geisel festzuhalten. Was möchten Sie denn wissen?«
»Alles, was Sie mir über die Methoden von Sekten sagen können.«
Murayaki runzelte die Stirn. »Das ist ein ziemlich weites Feld. Können Sie das ein bisschen eingrenzen?«
»Okay. Wie sieht es mit dem Anwerben aus?«
»Sie halten sich gern an Studenten, besonders an die Erstsemester. Es wird allgemein angenommen, nur dumme Menschen träten einer Sekte bei, aber das stimmt nicht. Sie wenden sich an Leute, die auf emotionaler Ebene zu packen sind, nicht auf intellektueller – zum Beispiel junge Erwachsene, die zum ersten Mal von zu Hause weg sind.«
»Jemand, der ein geringes Selbstwertgefühl hat, passt also auch in dieses Muster?«
»Sicher. Jeder, der eine Leere in seinem Leben verspürt, ist hervorragend geeignet. Leute, die kürzlich ihren Job verloren haben oder aus deren Umfeld jemand gestorben ist, haben sie sehr oft im Visier. Sie bevorzugen Leute mit Geld oder Leute, die es beschaffen können, aber auch Sklavenarbeit ist für sie wertvoll.« Sie zuckte mit den Schultern. »Im Grunde nehmen sie jeden, den sie kriegen können. Potenzielle Mitglieder werden wie Vieh begutachtet. Alles, was jung und kräftig ist, wird genommen. Der Stammbaum ist auch ein wichtiger Punkt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Herkunft ist aus mehreren Gründen wichtig: Je attraktiver das neue Mitglied, desto mehr neue Anhänger wird er oder sie anlocken können. Je besser die Familie, desto wahrscheinlicher ist es, dass das neue Mitglied Geld hat. Wenn kein Geld zu holen ist, wird gern gesagt, dass weltliche Güter schlecht sind. Man überredet die Leute, Schmuck, Auto und sogar Kleidung zu verkaufen und den Erlös der Organisation zu spenden.« Sie seufzte. »Aber niemand scheint es anrüchig zu finden, wenn der Anführer selbst ein Dutzend Bentleys besitzt.«
Horatio nickte. »Natürlich. Und wie gelingt es einer Sekte, aus vernünftigen Menschen Marionetten zu machen?«
»Mit Liebesbezeigungen.«
Horatio zog die Augenbrauen hoch.
»Man begegnet dem Mitglied mit vorbehaltloser Liebe – am Anfang. Keine Be- oder Verurteilung, nur Akzeptanz und Anerkennung. Ein ehemaliges Sektenmitglied hat es mir einmal so beschrieben: Es ist, als würden einen unzählige Golden Retriever umkreisen. Du hast deine Freundin betrogen? Nicht deine Schuld. Du hast ein Drogenproblem? Das ist uns egal. Du hast deine Familie bestohlen? Sie hat es nicht anders verdient. Wie irrational es auch ist, diese Art der positiven Stärkung macht abhängig. Und sie lassen auch nicht locker. In der Anwerbungsphase verbringen sie mit dem potenziellen Mitglied so viel Zeit wie nur möglich. Sie tauchen auf der Arbeitsstelle auf, in der Lieblingskneipe, sogar bei den Leuten zu Hause.«
»Das neue Mitglied macht alles, was von ihm verlangt wird, weil es geliebt wird?«, fragte Horatio nach.
»So einfach ist das nicht. Sobald sie das neue Mitglied fest an der Angel haben, wird ihm die vorbehaltlose Liebe nur noch unter bestimmten Umständen entgegengebracht. Wenn jemand beispielsweise gegen die Sektenregeln verstößt, wird ihm diese Liebe sofort wieder entzogen. Die Regeln kann man in zwei Kategorien einordnen: Es gibt Standardregeln wie ›Kein unerlaubter Kontakt mit Fremden‹ oder ›Kein Infragestellen der Entscheidungen des Anführers‹, und dann gibt es gruppenspezifische Regeln, die ganz pragmatischer Natur sein können wie zum Beispiel ›Kein Sex‹. Aber es gibt auch völlig absurde Regeln wie ›Du darfst das Wort gelb nicht aussprechen‹. Wie auch immer sie lauten, bei jedem Regelverstoß droht der sofortige Liebesentzug.«
»Mit anderen Worten, erst werden sie mit Zuneigung voll gestopft und dann auf Diät gesetzt. Am Ende hungern sie dann buchstäblich nach Liebe.«
»Dafür gibt es viele Begriffe«, sagte Murayaki. »Es ist der Bulimie sehr ähnlich, nur dass statt des Körpers die Seele verletzt wird.«
»Also macht die Sekte Jagd auf die Ungeliebten«, sagte Horatio. »Und auf wen noch?«
»Auf die Idealisten. Viele Sekten geben sich als Hilfsdienste aus, die sich ehrenamtlich für die Gesellschaft engagieren. Idealisten sind meistens naiv.«
»Auf Sie scheint das nicht zuzutreffen«, stellte Horatio fest.
»Oh, ich habe nur den Zynismus zur Kunstform erhoben«, erklärte Murayaki. »Jedenfalls ist es so: Wenn die neuen Mitglieder erst einmal mit der Arbeit begonnen haben, werden sie nicht mehr losgelassen. Denn wer bis über beide Ohren beschäftigt ist, hat keine Zeit mehr zum Nachdenken. Und natürlich hat das angeblich gemeinnützige Projekt immer einen direkten Nutzen für die Sekte. Aber die Werber können auch ganz gezielt vorgehen. Sie sind wie Vertreter – sie haben einen ganzen Koffer voller Tricks und von Fall zu Fall individuelle Methoden parat. Wenn sich jemand ausheulen will, haben sie ein offenes Ohr für ihn. Wenn jemand gesellschaftlich engagiert ist, sprechen sie mit ihm über Politik. Sie erstellen nicht nur ein Profil von den Leuten, sondern tüfteln regelrecht aus, wie der ideale Freund für den Betreffenden aussehen müsste, und danach erfinden sie ganz einfach so eine Person. Manchmal übernimmt der Werber selbst diese Rolle, manchmal wird auch jemand anderes aus der Sekte dafür bestimmt. Die Aufgabe besteht darin, den potenziellen Neuzugang für die Ideologie der Sekte empfänglich zu machen.«
Horatio hatte Murayaki die ganze Zeit, während sie sprach, genau studiert. Sie hatte offensichtlich eine große Leidenschaft für das, was sie tat, aber ihm entging auch nicht die kalte Intelligenz, die dahinter steckte.
»Und manchmal«, bemerkte er, »ist der Werber auch ein attraktiver Vertreter des anderen Geschlechts.«
»Ganz genau. Aber bislang haben wir nur über das Ködern gesprochen – darüber, wie das Interesse potenzieller Mitglieder geweckt wird. Die Techniken, die eingesetzt werden, wenn sie jemanden erst mal am Haken haben, sind weitaus raffinierter.«
»Zum Beispiel?«
»Leiden lassen und retten. Der potenzielle Neuzugang wird in eine gefährliche oder unangenehme Lage gebracht und dann gerettet. Wenn das gut gemacht wird, kann man den Kandidaten sogar dazu bringen, um Hilfe zu bitten. Dankbarkeit führt zu Vertrauen, und das führt wiederum zu Manipulation. Oder man tut etwas für den Kandidaten, ohne dass er darum bittet, und er fühlt sich zur Wiedergutmachung verpflichtet, wodurch wiederum eine Bindung entsteht, die man sich zunutze machen kann.«
»Sind diese Spielchen nach einer Weile nicht sehr durchschaubar?«
Murayaki lehnte sich zurück und begann, mit einem Brieföffner zu spielen, der aussah wie ein kleines japanisches Schwert. »Sie müssen bedenken, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts Fragwürdiges passiert ist. Man hat ein paar neue Freunde gewonnen. Sie widmen einem sehr viel Aufmerksamkeit. Sie tun nette Dinge für einen. Sie scheinen die gleichen Wertvorstellungen zu haben wie man selbst … und alles, was sie von einem verlangen, ist ein bisschen Zeit.«
Sie machte große Augen und sprach mit sanfter Stimme: »›Komm doch mal mit zu einer Versammlung, ja? Wirklich, das würde mir sehr viel bedeuten ‹«
Horatio grinste. »Okay, ich verstehe. Und wenn man einmal eingewilligt hat …«
»Diese Treffen finden oft an entlegenen Orten statt. Aus einem Abend wird sehr schnell ein ganzes Wochenende. Wenig oder gar kein Schlaf, Essen ohne Proteine, viele Gruppenaktivitäten wie Singen oder Beten. Keine Privatsphäre – ein Sektenmitglied ist immer in der Nähe, redet mit einem, berührt einen. Und wenn sie denken, dass man bereit ist, kommt die letzte Phase.«
Murayakis Blick schweifte in die Ferne. Dann atmete sie tief durch und fuhr fort. »Man nennt es das Brechen. Die Persönlichkeit des Neuzugangs wird zerstört, und es wird eine neue geschaffen, die alles tut, was die Sekte verlangt. Zu diesem Zeitpunkt glaubt der Neuzugang bereits, die Sekte habe die gleichen Wertvorstellungen wie er selbst und der Anführer wäre die Inkarnation all dessen. Ihm wird suggeriert, er würde ein neuer Mensch, wenn er nur wolle.«
»Ein beliebterer Mensch?«, fragte Horatio nach.
»So hat das noch kein ehemaliges Sektenmitglied ausgedrückt, aber es stimmt. Beliebter, attraktiver, glücklicher – einfach in jeder Hinsicht besser. Das ist das Zuckerbrot … und dann kommt die Peitsche. Es beginnt mit Geständnissen. Die Atmosphäre ist sehr emotional, und so ist es nicht schwer, dem neuen Mitglied etwas zu entlocken. Danach beginnen die Anschuldigungen – ›Das hättest du nicht tun sollen‹, ›Du hast keine Moral‹ oder ›Du bist ein schrecklicher Mensch‹. So etwas erwartet das neue Mitglied natürlich am wenigsten. Nachdem man es vorher zum emotionalen Höhenflug getrieben hatte, stößt man es nun in einen Abgrund.«
»Das klingt brutal.«
»Sie machen sich keine Vorstellung davon! Das ist wie eine Vergewaltigung der Gefühle. Man wird plötzlich von Leuten beschimpft, die sich vorher als zuverlässig und vertrauenswürdig darstellten. Den Neuzugang zum Weinen zu bringen, genügt ihnen nicht. Sie hören erst auf, wenn er sich in einer Fötusstellung auf dem Boden zusammengerollt hat. Zu diesem Zeitpunkt ist der Betreffende derart voller Selbsthass, dass er alles tun würde, um dem zu entfliehen. Aber so einfach ist das mit dem Weglaufen nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass man sich irgendwo in der Pampa befindet, kann man vor sich selbst auch nicht davonlaufen.«
»Es sei denn«, warf Horatio ein, »man wird ein anderer Mensch.«
»Ganz genau. Ein Seniormitglied der Sekte geht auf den Neuen zu und umarmt ihn. Ihm wird Vergebung und Erlösung angeboten. Der Neue muss sich lediglich von der Person lossagen, die er war – und nichts will er in diesem Augenblick lieber, glauben Sie mir. Er nutzt die Gelegenheit, ein neuer Mensch zu werden – und die Sekte hat ein neues Mitglied. Aber damit ist es noch nicht vorbei. Das neue Mitglied ist gefügig und formbar wie nie zuvor, und daraus wird Kapital geschlagen. In diesem Moment verschwindet auch die Fassade, hinter der sich die Sekte versteckt hielt, und die wahre Ideologie kommt zum Vorschein. Das neue Mitglied saugt sie auf wie ein Schwamm. Da es seine alten Ideale verworfen hat, braucht es nun Ersatz. Durch Arbeit bis zur Erschöpfung wird diese neue Struktur gefestigt. Zudem überfordert man den Neuzugang mit extremen Gefühlen – wenn er nicht gehorcht oder auch nur die kleinste Regel infrage stellt, schlägt die Liebe sofort in Missbilligung um. Das neue Mitglied empfindet dies, als würde es von Gott persönlich bestraft werden.«
Horatio nickte. »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, dass diese Dinge für Sie nicht nur bloße Theorie sind.«
»Was?« Murayaki wirkte überrascht.
»Ich meine nur, dass Sie sich anscheinend bis zu einem gewissen Grad auf Erfahrungen aus erster Hand berufen.«
Nun sah sie ihn ungläubig an. »Wie bitte? Wollen Sie damit andeuten, ich sei selbst einmal ein psychisch labiles Sektenmitglied gewesen?«
»Nein, nein, ich …«
»Das wäre nämlich äußerst verletzend.« Murayaki sah aus, als sei sie den Tränen nahe – aber dann blickte sie plötzlich ganz unbeteiligt drein und fuhr gelassen fort. »Leiden lassen und retten«, sagte sie. »Haben Sie gemerkt, wie einfach es ist, jemanden zu triezen? Ich hätte Sie fast dazu gebracht, sich dafür zu entschuldigen, dass Sie Ihre Arbeit tun. Noch ein paar Minuten, und Sie hätten mich für einen ganz tollen Menschen gehalten, weil ich Ihnen so schnell vergebe.«
Horatio schüttelte nachdenklich den Kopf. »Und jetzt sagen Sie mir vermutlich, dass Sie aus den Gesprächen mit Ihren Klienten gelernt haben, wie so etwas funktioniert.«
»Nein, ich bin bei einer Meisterin in die Lehre gegangen. Sie hat mich gelehrt, wie man in die Köpfe anderer eindringt und die richtigen Knöpfe drückt, ohne Reue und Schuldgefühle zu empfinden. Nichtgläubige waren Maschinen für mich. Sie sahen wie Menschen aus, aber sie hatten eigentlich keine Seele. Es war mein Job, die Maschinen zum Workshop zu holen, wo wir ihnen eine Seele schenkten. Alles, was ich tat oder sagte, um diese Maschinen so weit zu bringen, war gerechtfertigt.«
»Sie waren eine Werberin?«
Murayaki nickte. »Eine der besten. Ich war Mitglied einer Gruppe, die sich Divine Order of Enlightened Thought and Wisdom nannte, und von einer Frau geführt wurde, die Boddhisatva Gaia hieß. Ihr richtiger Name war Irene Caldwell.«
»Ich wusste nicht, dass es auch Sekten mit weiblichen Anführern gibt.«
Murayaki schnaubte. »Denken Sie etwa, nur Männer hätten Charisma? Frauen beherrschen dieses Spiel genauso gut. Wenn man mich nicht mit Gewalt von dort weggeholt hätte, würde ich immer noch für die Sekte arbeiten.«
»Und nun bieten Sie anderen diesen Dienst an?«
Sie sah ihn ausdruckslos an und schwieg.
»Richtig, darüber dürfen Sie nicht sprechen«, erinnerte sich Horatio lächelnd. »Kein Problem.«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Ist Ihnen der Begriff ›Nachträgliches Einverständnis‹ vertraut?«
»Ich denke schon. Er wird für psychisch gestörte Menschen verwandt, die aufgehört haben, ihre Medikamente zu nehmen, nicht wahr? Dabei zwingt man jemanden, der keine rationalen Entscheidungen treffen kann, zu einer Behandlung, die ihm seine Entscheidungskompetenz zurückgeben soll.«
»Richtig. Das ist das Prinzip, nach dem wir arbeiten. Der Betreffende mag sich zwar anfangs heftig gegen unser Vorgehen sträuben, aber hinterher ist er uns sehr dankbar.«
»Das ist eine gefährliche Mission, Ms Murayaki.«
»In der Tat, Lieutenant Caine. Aber nachdem ich so viele Leute auf die schiefe Bahn gebracht habe, fühle ich mich verpflichtet, einige wieder auf den richtigen Weg zurückzuholen.«
Horatio erhob sich. »Ich weiß Ihr Engagement zu schätzen. Ich hoffe, Ihre Klienten auch.«
»Bislang liegt die Rückfallquote bei unter fünf Prozent. Das ist nicht perfekt, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin auch nur ein Mensch, nicht wahr?«
»Wie wir alle«, entgegnete Horatio.
Die Vitality-Method-Klinik lag am nordwestlichen Rand von Miami, wo die Vororte langsam in die Sumpfgebiete übergingen, und die Anwohner sich bereits daran gewöhnt hatten, gelegentlich einen Alligator in ihrem Swimmingpool vorzufinden. Die dicken Reifen des Hummers knirschten auf dem weißen Muschelkies, mit dem die Einfahrt ausgelegt war. Als Horatio durch das schmiedeeiserne Tor fuhr, nahm ihn die Überwachungskamera ins Visier.
Er hielt mitten auf dem Platz vor dem großen Hauptgebäude an und fühlte sich eher an ein Herrenhaus erinnert als an eine Klinik. Horatio stieg aus, setzte seine Sonnebrille ab und sah sich um. Das Gebäude war von einer dichten Hecke umgeben, und auf der rechten Seite zweigte ein Weg, der hinter das Haus führte, von der Einfahrt ab.
Der Mann, der aus der Tür kam, um ihn zu begrüßen, sah aus, als sei seine natürliche Umgebung der Pool, und als sei er dafür geschaffen, Handtücher zu verteilen. Er trug Neoprensandalen, eine weiße Hose und ein T-Shirt, das genauso aquamarinblau war wie seine Augen. Er war jung, gebräunt und muskulös, hatte gewelltes langes Haar und ein sehr breites, perlweißes Lächeln, mit dem er Horatio an einen stets gut gelaunten Vertreter erinnerte.
»Tut mir Leid, aber den können Sie da nicht stehen lassen«, sagte er und sah Horatio entschuldigend an.
»Sicher kann ich das«, entgegnete Horatio lächelnd. »Das ist ein offizielles Polizeifahrzeug. Ich kann so gut wie überall parken … und Sie sind?«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch, aber sein Lächeln blieb. »Randolph. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Horatio widerstand der Versuchung, ihn um ein Handtuch zu bitten. »Ja, das können Sie. Ich würde gern mit Dr. Sinhurma sprechen.«
»Ich werde sehen, ob er abkömmlich ist. Folgen Sie mir!«
Sie durchschritten eine riesige Tür, die einem Kirchenportal glich. Die Eingangshalle verstärkte diesen Eindruck: Das durch ein Buntglasfenster im Dach hereinfallende Tageslicht malte purpurrote und violette Streifen auf den Marmorboden, und der hohe Empfangsschalter aus poliertem Holz in der Raummitte hatte sogar Ähnlichkeit mit einer Kanzel.
Die blonde Frau dahinter trug ein blaues T-Shirt und lächelte genauso strahlend wie Randolph. »Hallo!«, sagte sie fröhlich. »Willkommen in der Vitality-Method-Klinik!«
Horatio blieb stehen, erwiderte ihr Lächeln mit weitaus weniger Enthusiasmus und stemmte die Hände in die Hüften, um beiläufig sein Jackett beiseite zu schieben und die Marke an seinem Gürtel zu zeigen. »Selber hallo«, grüßte er.
»Marcie, kannst du Dr. Sinhurma sagen, dass ihn ein Polizeibeamter sprechen möchte?«, bat Randolph.
»Sicher.« Marcie griff zum Telefon. »Einen Moment bitte!«
Horatio sah sich prüfend um, während er wartete. Zwei Überwachungskameras unter der Decke, Bewegungsmelder über der Tür und große Fenster mit schmiedeeisernen Schutzgittern davor.
Randolph stand mit gefalteten Händen vor der Rezeption. Sein Lächeln war verschwunden, doch er war offensichtlich bereit, es jederzeit wieder hervorzaubern.
Marcie beendete das Telefonat. »Okay, Randolph, kannst du ihn hineinbringen? Dr. Sinhurma ist in Raum C.«
»Folgen Sie mir bitte!«
Randolph führte Horatio durch eine weiße Tür aus Stahl – Horatio registrierte das. Sie gingen einen Korridor hinunter, der mit einem gemusterten Perserteppich ausgelegt war, und er besaß dieselben Farbtöne wie das Buntglasfenster in der Eingangshalle. Sie gingen an zwei Türen vorbei – wahrscheinlich Raum A und Raum B, dachte Horatio – und blieben vor einer dritten stehen. Randolph räusperte sich und klopfte an.
Von innen drang eine herzliche Stimme zu ihnen. »Herein, herein.«
Randolph öffnete die Tür und winkte Horatio in einen Raum, der ganz und gar nicht seinen Erwartungen entsprach. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Behandlungsraum, sondern wirkte eher wie ein Wohnzimmer. Die Einrichtung bestand aus einer Couch, ein paar bequemen Sesseln und einem niedrigen Kaffeetisch aus Glas und Chrom.
Zwei Männer waren in dem Raum. Der eine saß auf der Couch, während der andere mit ausgestreckter Hand auf Horatio zukam. Er war dunkelhäutig, schlank und trug Sandalen, eine weiße Hose und ein blaues Seidenhemd. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen!«
Horatio zögerte, dann schüttelte er dem Mann die Hand. Dr. Sinhurma schien um die Fünfzig zu sein. Sein Haar war schwarz, aber an den Schläfen zeigten sich bereits erste graue Strähnen. Er sah Horatio mit festem, warmherzigem Blick in die Augen und hielt seine Hand einen Augenblick länger als nötig.
»Lieutenant Caine«, stellte Horatio sich vor. »Miami-Dade Police. Hätten Sie wohl Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
»Selbstverständlich, Lieutenant«, entgegnete Sinhurma strahlend. »Oh, das ist mein Assistent Mr Kim.« Er zeigte auf den Mann auf der Couch. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn er dabei ist?« Kim war Asiate, um die Zwanzig und trug wie Dr. Sinhurma auch eine weiße Hose und ein blaues Hemd. Er nickte Horatio zu, sagte jedoch keinen Ton.
»Kein Problem.«
Sinhurma setzte sich in einen Sessel und deutete Horatio an, ebenfalls Platz zu nehmen.
Horatio lächelte freundlich und blieb stehen. »Es geht um einen Ihrer Patienten – Phillip Mulrooney.«
Das Lächeln verschwand aus Sinhurmas Gesicht wie die Sonne hinter einer dicken Wolke. »Ach ja, Phillip«, sagte er. »Sehr traurig, sehr tragisch.«
»Und obendrein ungewöhnlich.«
»Das Leben ist voller Überraschungen.« Sinhurmas Stimme war ernst, dennoch kehrte das Lächeln in seine Augen zurück.
»Das ist es ganz gewiss. Sagen Sie, wann haben Sie zum letzten Mal mit Phillip gesprochen?«
»Wir sprachen im Augenblick seines Todes miteinander.« Sinhurma wirkte völlig ruhig.
»Ich verstehe. Worüber?«
»Er steckte in einer spirituellen Krise. Ich habe versucht, ihm zu helfen, seine Gedanken zu ordnen.«
»Könnten Sie sich etwas klarer ausdrücken?«
»Nicht ohne die ärztliche Schweigepflicht zu brechen, tut mir Leid.«
»Oh? Ich dachte, es sei ein spirituelles Gespräch gewesen und kein medizinisches.« Horatio studierte die Körpersprache des Doktors, der Mann schien entspannt und unbefangen zu sein.
»In meiner Praxis ist das häufig ein und dasselbe. Jedenfalls kann ich Ihnen sagen, dass ich keinen Erfolg hatte.«
»Weil das Gespräch unterbrochen wurde?« An der Wand hinter dem Doktor hing ein abstraktes Aquarell, und Horatio drängte sich der Eindruck auf, dass es von demselben Künstler stammte wie die Bilder, die er im Restaurant gesehen hatte.
»Nein, weil er eine falsche Entscheidung getroffen hatte.«
Horatio lenkte seinen Blick wieder auf Sinhurma. »Und die wäre?«
»Auch das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Hm-hm. Sie hatten also eine wie auch immer geartete Meinungsverschiedenheit, und dann ist er gestorben. Ist das korrekt?«
»So scheint es.«
»Wie lange war Mr Mulrooney Ihr Patient?«
»Ungefähr achtzehn Monate.« Sinhurma kratzte sich geistesabwesend an der Wange.
»Und wie lange hat er im Restaurant gearbeitet?«
»Noch nicht sehr lange, drei Wochen vielleicht.«
»Ist es normal, dass Sie dort Leute beschäftigen, die bei Ihnen in Behandlung sind?« Horatio sah Kim an, aber der blickte mit steinerner Miene stur geradeaus.
»Die Beziehung zwischen mir und meinen Patienten umfasst alle Bereiche ihres Lebens. Manchmal empfehle ich ihnen, einer Arbeit nachzugehen, die die Ernährungsumstellung sinnvoll begleitet.«
»Also gehört die Arbeit in Ihrem Restaurant zu der Therapie? Müssen die Patienten etwa auch für dieses Privileg bezahlen?«
Sinhurma lachte. »Leben ist Therapie, Lieutenant. Ich mache die Leute nur darauf aufmerksam, auf welche Aspekte sie sich konzentrieren sollten.«
»Natürlich. Sagen Sie, war Mr Mulrooney in irgendetwas involviert, wovon er besser die Finger gelassen hätte?«
»Sie meinen illegale Aktivitäten? Nein, nicht dass ich wüsste.«
Sinhurma sprach völlig gelassen, und aus seiner Stimme klang ein Hauch von Langeweile.
Horatio hätte noch ein bisschen bohren können, aber er wusste, dass es ihn nicht weiterbringen würde. Also streckte er lächelnd seine Hand aus. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Doktor. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich noch etwas umsehe? Ich würde mir gern ein Bild von Ihrer Klinik machen.«
»Ganz und gar nicht.« Sinhurma schüttelte ihm die Hand zum Abschied. »Ich bin sehr beschäftigt, aber ich rufe jemanden, der Sie herumführt.« Er ging zu seinem Wandtelefon und nahm den Hörer ab.
Die junge Frau, die kurz darauf erschien, trug die gleiche Kleidung wie die beiden anderen Mitglieder des Personals, die Horatio kennen gelernt hatte. Ihre Augen waren von einem auffallenden Grün, und das braune Haar hatte sie zu zwei kurzen Zöpfen geflochten.
»Lieutenant Caine, das ist Ruth«, stellte Sinhurma die Frau vor. »Ruth, bitte zeig dem Lieutenant unsere Einrichtung. Mach die komplette Tour mit ihm.«
»Okay.« Ruths Lächeln war ein wenig zurückhaltender, aber ebenso freundlich wie das ihres Gurus. »Haben Sie vor, sich uns anzuschließen?«
»Wer weiß«, sagte Horatio. »Das Leben ist voller Überraschungen.«