10
»Aber wo?«, fragte Stainsby. »Hier ist nirgendwo …«
»Da ist eine Lichtung zu Ihrer Linken!«
Die Männer hatten den Hubschrauber natürlich inzwischen bemerkt – er war ja nicht gerade leise. Der mit der Waffe, ein großer bärtiger Typ in Jeans, schrie irgendetwas und fuchtelte mit seiner Waffe herum. Der Kniende trug einen Tarnanzug und hatte eine schwarze Baseballkappe auf dem Kopf – mehr Details konnte Calleigh nicht erkennen.
»Da kann ich nicht landen – das Gelände ist zu holprig!«, rief Stainsby. Sie flogen in etwa drei Meter Höhe.
Und Calleigh sprang.
Sie landete ziemlich unsanft auf dem Boden und überschlug sich mehrmals. »Schaffen Sie Verstärkung heran!«, rief sie, und dann rannte sie auch schon mit ihrer Pistole im Anschlag auf die beiden Männer zu.
»Miami-Dade Police!«, schrie sie. »Waffe fallen lassen!«
In diesem Moment ertönte ein Schuss.
Calleigh sprang hinter eine struppige Kiefer, die ihr aber nur ungenügend Deckung bot. Der Hubschrauber war bereits weit weg, und der Motorenlärm war kaum noch zu hören. Calleigh wusste, dass Stainsby den Helikopter aus der Gefahrenzone brachte, denn wenn der Schütze nur gut genug zielte, konnte er ihn zum Absturz bringen.
Das war ziemlich clever, dachte Calleigh. Viel cleverer als das, was sie getan hatte. Da hockte sie nun allein im Wald mit einem unbekannten bewaffneten Irren, der sich wahrscheinlich nicht nur viel besser in der Gegend auskannte als sie, sondern obendrein auch noch eine Geisel hatte.
Und denk bloß an die Fallen!, ermahnte sie sich und schüttelte den Kopf. Sie war innerhalb von dreißig Sekunden von ihrem sicheren Aussichtsposten im Hubschrauber mitten in einem Florida-Remake von Rambo gelandet.
Dad hat immer gemeint, ich sei zu impulsiv, dachte sie. Ich muss ihm sagen, dass er Recht hat.
Sie schlich auf leisen Sohlen los und lauschte aufmerksam in alle Richtungen. Vogelgezwitscher und Insekten, sonst nichts. Als sie einen kleinen Hügel erklomm, sah sie auf der anderen Seite einen reglosen Körper in Tarnkleidung liegen. Selbst aus der Ferne konnte sie erkennen, dass er einen Kopfschuss abbekommen hatte.
»Verdammt«, flüsterte sie. Sie war zu spät gekommen.
Aber immerhin blieb ihr so ein Geiseldrama erspart. Dennoch war die Lage kritisch, denn es konnte mindestens eine Stunde dauern, bis Verstärkung eintraf. Das war eine ziemlich lange Zeit, wenn man jemanden in Schach halten musste, der bewaffnet war.
Da der Schütze nun keinen Gefangenen mit sich herumschleppen musste, konnte er sich schnell und leise durch den Wald schleichen. Wahrscheinlich holte er sich genau in diesem Moment sein Jagdgewehr aus seinem Geländewagen. Eins mit einem guten Zielfernrohr und einem Laserpointer.
Calleigh schüttelte den Gedanken ab, sie musste sich konzentrieren. Es war viel wahrscheinlicher, dass der Typ einfach versuchen würde abzuhauen, statt sich in eine Schießerei verwickeln zu lassen. Sie musste nur die Ohren spitzen, bis sie irgendwo einen Motor starten hörte. Dann wusste sie, wo der Kerl war.
Aber was sie als Nächstes hörte, war definitiv kein Motorengeräusch.
»Ich bringe dich um!«, schallte es plötzlich durch den Wald.
So viel zum Thema Abhauen.
»Sir?«, rief Calleigh. »Ich bin Officer der Miami-Dade Police! Ich muss Sie bitten, Ihre Waffe fallen zu lassen.«
»Das hast du schon einmal gesagt!«, brüllte der Mann. »Du bist kein Cop, und deine Partner auch nicht!«
»Oh, wie reizend«, murmelte Calleigh. Was sollte sie nun tun? Hinter dem Baum hervorkommen und ihre Marke zeigen? Den Polizisteneid aufsagen?
»Sie haben doch den Helikopter gesehen«, rief sie.
»Sah nicht wie ein Bullenhelikopter aus! Eher wie Armyausschuss!«
Gütiger Gott, dachte Calleigh, ich habe es mit der übelsten Sorte zu tun: mit einem kompletten Idioten.
»Was für ein Cop würde außerdem hier ganz allein auftauchen! Sogar dein Kumpel ist abgehauen! Wollte sich wahrscheinlich nicht seinen billigen Vogel abschießen lassen!«
Calleigh seufzte. Sie konnte dem Kerl nicht einmal widersprechen – kein Cop, der halbwegs bei Verstand war, würde in eine solche Situation geraten.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Das ist doch ganz egal! Ich bin derjenige, der dich umlegen wird – mehr musst du nicht wissen!«
Ganz toll!, dachte Calleigh. Selbst wenn er mich nicht erschießt, bevor Verstärkung eintrifft, sterbe ich an Testosteronvergiftung.
»Nun, ich muss Sie doch irgendwie ansprechen!«
Pause.
»Dooley!«
»Wie bitte?«
»Mein Name ist Dooley!«
»Okay, ich heiße …«
»Aber ich werde dich trotzdem umlegen!«
»Schon gut! Ich heiße …«
»Dann hätten wir das schon mal geklärt!«
»Ich habe verstanden, Dooley! Wollen Sie jetzt meinen Namen wissen, oder wollen Sie lieber jemand völlig Unbekannten erschießen?«
Das brachte Dooley offenbar zum Nachdenken, denn er schwieg eine ganze Weile.
»Ich weiß nicht!«, rief er schließlich. »Ich nenne dich einfach Fischfutter!«
»Ich heiße Calleigh! Calleigh Duquesne!«, brüllte Calleigh.
Der Kerl antwortete mit einem Schuss. »Wie du meinst, Fischfutter!«
»Großartig«, murmelte Calleigh.
»Ich habe die Rakete nicht abgeschossen«, sagte Humboldt.
Horatio taxierte ihn kühl.
»Sie wiederholen sich, Albert. Als wollten Sie unbedingt, dass ich Ihnen glaube.«
»Es ist wahr! Das … so etwas habe ich nicht getan.« Er sprach jedes Wort mit Bedacht aus, als vollführe er einen verbalen Drahtseilakt und bemühe sich, nicht abzustürzen.
»Oh, ich weiß, was Sie getan haben, Albert. Sie wurden erwischt – beim Haschischrauchen in der Klinik. Und das hat Dr. Sinhurma nicht gefallen, nicht wahr? Er hat Sie in die Spülküche abkommandiert. Man sollte meinen, das hätte als Warnung genügt, aber Sie haben weitergemacht. Wenn niemand in der Nähe war, haben Sie mit Ihrem Kumpel Samuel Lucent etwas Haschisch geraucht. Wie war das? Sind Sie abends noch zum Aufräumen im Restaurant geblieben und mit dem eigenen Wagen zurück zur Klinik gefahren, oder hat er Sie mitgenommen?«
»Sie dürfen ihm nicht glauben. Er ist nicht … nicht …«
»Was ist er nicht? So wie Sie? Nein, er hat seinen eigenen Kopf … aber Sie brauchten ihn, nicht wahr? Sie brauchten jemanden, der Ihnen Stoff verkauft. Jemanden, der mit Ihnen raucht. Sind Sie dabei auf die Idee gekommen, Phil Mulrooney umzubringen? Diese Geschichte mit der Rakete und dem Blitz klingt ganz danach, als hätte sie sich jemand ausgedacht, der ziemlich stoned gewesen war.«
»So war das nicht.«
»Tatsächlich? Die Beweise sagen da aber etwas anderes. Sie haben diese Starthilfekabel in der Hand gehabt.«
»Ich habe sie angeschlossen, okay?« Humboldt sah Horatio aufgebracht an. »Ich habe die Klemmen an dem Rohr und an einem Gerät auf dem Dach befestigt. Das ist doch kein Verbrechen!«
»Doch angesichts der Tatsache, dass dies zu Phillip Mulrooneys Tod geführt hat, würden Ihnen die Geschworenen wohl widersprechen. Aber ich will mich mal auf diese Diskussion einlassen. Nehmen wir an, Sie hätten Recht. Wie würden Sie denn Ihre Taten erklären?«
»Ich habe lediglich eine Aufgabe erfüllt. Ich hatte keine Ahnung von einer Rakete und davon, was es mit dem Rohr auf sich hatte. Und zu dem Zeitpunkt, als ich meine Aufgabe erledigte, war Phillip doch gar nicht auf der Toilette. Das hatte mit Mord doch nichts zu tun.«
Horatio studierte ihn aufmerksam. »Und was war Ihrer Meinung nach der Zweck Ihrer Aufgabe?«
»Ich wusste es nicht. Ich musste es gar nicht wissen.« Humboldt lächelte. »Meine Aufgabe war Teil eines größeren Plans. Mein Herz hat mir gesagt, dass ich das Richtige tue.«
»Gut, Sie wissen doch, wie man so etwas unter Juristen und Politikern nennt, Albert? Es heißt: glaubhafte Bestreitbarkeit. Man kann es auch mit Heuchelei übersetzen. Sie behaupten, Sie hätten keine Ahnung von den Konsequenzen Ihres Handelns gehabt und hätten nur Befehle ausgeführt. Aber jemand hat Sie angewiesen, die Kabel in genau der Weise anzubringen, und ich werde herausfinden, wer das war.«
»Ist das alles, was Sie wollen?«, fragte Albert, und seine Miene hellte sich auf. »Warum fragen Sie mich nicht einfach?«
Horatio antwortete mit einem Lächeln.
»Dooley, hören Sie, ich bin wirklich Polizistin.«
»Ja? Schleichen die Cops etwa immer mit einem Seesack voll geklautem Gras durch die Gegend?«
»Ich habe nichts von Ihrem Gras, Dooley!«
»Aber dein Kumpel ganz bestimmt. Er hat fünfzehn von meinen besten Pflanzen rausgerissen, bevor ich ihn geschnappt habe.«
»Hören Sie, ich habe nichts mit dem Mann zu tun, den Sie erschossen haben.«
»Jetzt nicht mehr – es sei denn, du willst auf seine Beerdigung gehen! Aber dazu wirst du wohl keine Gelegenheit mehr haben!«
Wieder fiel ein Schuss. Calleigh versuchte, so gut es ging hinter dem Baum Schutz zu suchen, aber das Geäst war nicht sehr dicht. Sie musste sich ein besseres Versteck suchen.
Dem Schuss nach zu urteilen hatte der Typ lediglich eine Handfeuerwaffe. Obwohl Calleigh aus dem Hubschrauber nur einen kurzen Blick darauf erhascht hatte, wusste sie, dass es sich um einen großen Revolver handelte, vermutlich um einen Colt King Cobra. Das schloss sie aus der Form des Laufs und der Stainless-Ausführung.
Leergewicht zwei Komma sechs Pfund, Sechs-Schuss-Trommel, Spannabzug, Schussweite um die fünfundvierzig Meter. Eignete sich für .38er Kaliber – aber er würde wohl die .357er Magnumpatronen verwenden. Er hatte den Sechs-Zoll-Lauf – leider, denn der Vier-Zoll-Lauf hätte die Zielgenauigkeit eingeschränkt. Allerdings hatte er bisher nichts getroffen, was in ihrer Nähe war.
Calleigh sah sich um. Zu ihrer Linken lag ein umgestürzter Baum, aber modriges Holz bot keinen ausreichenden Schutz vor .357er Geschossen. Sie konnte sich dahinter verstecken, aber das war es auch schon, und wenn der Typ sah, wie sie dort Zuflucht suchte, war sie geliefert.
Direkt hinter dem Baumstamm war eine leichte Vertiefung im Boden, an deren Rand ein Felsbrocken lag. Wenn sie sich flach auf den Bauch legte, müsste sie dort ausreichend geschützt sein … aber um die Mulde zu erreichen, musste sie sich erst einmal in die Schusslinie begeben.
Wahrscheinlich war der Revolver voll geladen gewesen. Vielleicht hatte der Kerl vor dem tödlichen Schuss schon einmal auf den Dieb abgefeuert, um ihn aufzuschrecken –, aber das war eher unwahrscheinlich, denn Dooley handelte eher nach dem Motto »Erst feuern, dann fragen«. Zwei Kugeln hat er auf mich abgefeuert, und mit einer hat er den Dieb getötet, also bleiben ihm noch drei Kugeln – falls er nicht genau in diesem Moment nachlädt. Am besten lasse ich ihm keine Zeit dafür.
Calleigh feuerte rasch zweimal in seine Richtung. Er reagierte, wie sie erwartet hatte, mit zwei Schüssen. Als die nächste Kugel, die Dooley abschoss, in den Stamm einschlug, flogen Calleigh kleine Holzstückchen um die Ohren, doch im selben Moment hechtete sie bereits in die mit Kiefernnadeln gefüllte Mulde hinter dem schützenden Felsbrocken.
»Wo willst du hin, Fischfutter? Du solltest hier draußen vorsichtig sein – man kann nie wissen, in was man reintritt!«
Fallen. Er redete von Fallen.
Calleigh sah sich argwöhnisch um – und erstarrte.
Weniger als einen halben Meter von ihr entfernt war in etwa fünfzehn Zentimetern Höhe eine fast unsichtbare Perlonschnur über den Boden gespannt. Sie war so dünn, dass man sie für den Faden einer Spinnwebe hätte halten können … aber sie führte zu einem hohlen Baumstumpf. Eine khakifarbene Ecke lugte daraus hervor.
Calleigh wusste ziemlich genau, was sich in dem Stumpf verbarg: Es war aus Metall, kleiner als ein Schuhkarton und trug die Aufschrift »Diese Seite auf den Feind richten«.
Eine Kastenmine. Der Typ war wirklich hart drauf.
»If you go out in the woods today, yer in for a big surprise …«
Jetzt singt er mir auch noch The Teddy Bear’s Picnic vor, dachte Calleigh.Ich wünschte fast, ich wäre über die Schnur gestolpert.
»If you go out in the woods today, you’ll get it between the eyes!«
Okay, sie würde sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Sie würde bleiben, wo sie war, und einfach abwarten. Früher oder später musste Stainsby mit der Verstärkung kommen – bis dahin musste sie einfach ausharren. Das waren zwar keine berauschenden Aussichten, aber vielleicht konnte sie in der Zwischenzeit sogar etwas lernen.
»Hey Dooley! Wollen Sie mich mit Ihrer Singerei umbringen?«
Als Antwort schoss er auf den Felsbrocken, von dem die Kugel zischend abprallte.
»Es wird dir noch Leid tun, dass du hergekommen bist, Fischfutter!«
Das Einzige, was mir Leid tut, ist, dass ich nicht ein bisschen mehr Munition mitgenommen habe, dachte Calleigh. Stattdessen rief sie: »Fragen Sie sich nicht, wie ich diesen Ort hier gefunden habe, Dooley?«
Schweigen.
Dann: »Was zum Teufel soll das bedeuten?«
»Denken Sie darüber nach!«, antwortete Calleigh. Wenn Sie können, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sie ging ein kalkuliertes Risiko ein. Denn Dooley könnte vielleicht auf die Idee kommen, dass sie die Information von Joseph Welfern hatte – und diese Annahme wäre richtig gewesen. Aber Calleigh beruhigte sich, schließlich hatte Dooley bislang noch nicht so viele Treffer gelandet. Doch wenn er sich treu blieb, würde er eine neue hirnverbrannte Vermutung anstellen …
»Dieser gottverdammte birnenförmige Bastard! Ich mache ihn noch kälter als dich! Ich lasse mich von niemandem übers Ohr hauen!«
Calleigh grinste.
»Und warum sollte ich Ihnen glauben?«, fragte Horatio. »Verzeihen Sie mir meine Skepsis, aber ich weiß, dass eines von Dr. Sinhurmas Prinzipien die Loyalität ist, und warum sollten Sie plötzlich einen Gleichgesinnten verraten?«
Humboldt bedachte ihn mit einem überheblichen Blick. »Er war nie einer von uns, nicht wirklich. Die beste Strategie ist es, die Stärken des Feindes zu nutzen, indem man sie gegen ihn wendet – das ist der einzige Grund, weshalb er dabei sein durfte.«
»Der einzige Grund, weshalb er angeworben wurde, meinen Sie.« Horatio runzelte die Stirn. »Das war Ruth Carrells Aufgabe, nicht wahr? Sie hat ihn angelockt und umgarnt – auf Sinhurmas Befehl.«
»Dr. Sinhurma hatte nichts damit zu tun.«
»Vergessen Sie’s, Albert! Dieser Trick zieht nicht. Sie denken vielleicht, Sie könnten die ganze Sache einfach jemand anderem in die Schuhe schieben, aber das wird nicht klappen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, entgegnete Humboldt steif. »Die Person, die mich angewiesen hat, diese Kabel anzubringen, hasst unsere Organisation ganz offensichtlich und versucht, sie zu zerstören.«
»Ich dachte, Sie sind Ihrem Herzen gefolgt, Albert. Wie war das denn nun? Haben Sie das Richtige auf Befehl Ihres Anführers getan, oder haben Sie das Falsche getan, weil Sie keine Ahnung hatten, um was es ging?«
»Ich … ich habe getan, was mir aufgetragen wurde.«
»Von wem?«
Humboldt sah Horatio in die Augen. »Es war McKinley. Jason McKinley, der Raketenexperte.«
Calleigh glaubte ziemlich genau zu wissen, wo sich Dooley befand. Aus dem Klang seiner Stimme und der Flugbahn der Kugeln schloss sie, dass er sich auf einem Hochsitz verschanzt hatte, zirka sechs Meter über dem Boden und um die neunzig Meter von ihr entfernt. Sie hatte Glück: Da das Gelände auf ihrer Seite anstieg, war sein Höhenvorteil ausgeglichen – ansonsten hätte er sie schon längst in aller Ruhe erschießen können. Aber wie es aussah, befanden sie sich ungefähr auf gleicher Höhe.
Calleigh glaubte in einiger Entfernung die Umrisse eines Hochsitzes zu erkennen, der mit einem Tarnnetz überzogen war. Sie fragte sich, warum Dooley einen Revolver benutzte. Wenn er auf dem Hochsitz Wache schob, sollte er mindestens ein Gewehr mit Zielfernrohr haben.
Aber vielleicht hatte er ja auch eins. Vielleicht versuchte er nur sie anzulocken, um besser zielen zu können.
Vielleicht war er gar nicht so blöd, wie er klang.
»Jetzt komme ich dich holen, Fischfutter! Du kannst dich nicht vor mir verstecken!«
Seiner Stimme nach zu urteilen kam er jedoch nicht näher. Offenbar versuchte er sie aufzuscheuchen, damit sie in eine seiner Fallen lief – und das brachte sie auf eine Idee.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief sie und bemühte sich, ein bisschen ängstlich zu klingen. »Meine Freunde sind unterwegs!«
»Sicher doch! Kann es kaum erwarten, sie kennen zu lernen!«
Den Stolperdraht im Blick spurtete Calleigh zu dem Baumstumpf. Sie gab Acht, dass sie ihn nicht berührte. Dann sah sie sich die Mine an. Es gab hunderte Arten von Landminen, und sie kannte sie nicht alle, aber zu ihrem Glück identifizierte sie das Modell im Baumstumpf auf Anhieb. Es war eine M18 Claymore mit einem einfachen Auslöser: Wenn man an dem Draht zog, wurde sie aktiviert. Calleigh holte tief Luft und hob die Metallbox vorsichtig hoch.
Als nichts geschah, atmete sie wieder aus und stellte die Mine so auf den Boden, dass die Vorderseite von ihr wegzeigte, und der Draht nicht mehr gespannt war. Dann kroch sie zu der Stelle, wo das andere Ende des Drahts befestigt war. Sie kappte ihn mit ihrem Messer und hielt ihn vorsichtig fest.
»Kommen Sie nicht näher!«, rief sie und entfernte sich so weit von der Mine, wie sie konnte – darauf bedacht, nicht ihre Deckung aufzugeben. Dann zog sie kräftig an dem Draht und hielt sich die Ohren zu.
BUMM!
Claymore-Minen waren mit siebenhundert Stahlkugeln geladen, die jedes Ziel in bis zu fünfzig Meter Entfernung zerstören konnten. Zum Glück feuerten sie ihre Ladung bogenförmig nach vorn, und so war das Einzige, was zerfetzt wurde, das Laub von ein paar Bäumen ringsumher.
»Ha! Das war eine Überraschung, was?«
Calleigh reagierte nicht.
»Fischfutter?«
Okay, Mr Dooley, dachte sie, jetzt sind Sie an der Reihe. Kommen Sie her und prüfen Sie die Lage!
Dann werden Sie nämlich eine Überraschung erleben.
»Wie war noch mal der Name?«, fragte Wolfe.
»Jason McKinley«, antwortete Horatio.
Wolfe überflog die Mitgliederliste des Raketenclubs. »McKinley, McKinley …ja, da ist er. Jason McKinley. Und wer ist das?«
»Im Augenblick unser Hauptverdächtiger«, entgegnete Horatio. »Ich habe mit ihm über die von Raketen ausgelösten Blitze gesprochen, aber da stand er noch nicht mit dem Fall in Verbindung – er war nur eine Informationsquelle.« Und als ich ihn das letzte Mal besuchte, dachte Horatio, hatte er keine Allergie, sondern einen Heulkrampf. Er hatte um Ruth getrauert. Trotzdem hat er es geschafft, so lange ich bei ihm war, halbwegs die Fassung zu wahren.
Und schon war Horatio unterwegs. Er eilte den Korridor zur Treppe hinunter, und Wolfe musste sich anstrengen, um Schritt zu halten.
»Anscheinend waren Sie nicht der Einzige, der von seinem Fachwissen profitieren wollte«, stellte Wolfe fest. »Wenn Kim wirklich so wenig Ahnung von Raketen hat, wie er sagt, dann war McKinley derjenige, der die Rakete gebaut hat.«
»Dafür wurde er offenbar angeworben«, bemerkte Horatio und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. »Jemand hat Ruth Carrell auf ihn angesetzt, und nach dem, was sie mir sagte, war dieser Jemand Sinhurma persönlich.«
Wolfe und Horatio verließen gemeinsam das Gebäude. »Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Wolfe.
Horatio ging zielstrebig auf seinen Hummer zu. »Besorgen Sie einen Durchsuchungsbeschluss für Jasons Wohnung«, antwortete er, dann öffnete er die Tür und stieg in den Wagen. »Wir treffen uns dort. Ich sehe mich erst noch an seinem Arbeitsplatz um.«
Schon brauste das große silberglänzende Fahrzeug davon, und Wolfe rannte zurück ins Gebäude.
»Verdammt«, fluchte Horatio leise. »Ich hätte mir diese Mitgliederliste persönlich ansehen müssen!« Natürlich war es ihm nicht immer möglich, im Zuge einer Ermittlung jede einzelne Information selbst zu überprüfen – und schließlich hatte es auch keinen Grund gegeben, McKinley zu verdächtigen –, aber er konnte es einfach nicht ertragen, wenn er etwas Wichtiges übersehen hatte.
Nun galt es zu klären, in welchem Umfang Jason an der Sache beteiligt war. Er hatte anders auf Horatio gewirkt als die übrigen Vitality-Method-Patienten, die von Jugendwahn und Popularität besessen waren, aber wahrscheinlich war er gerade deshalb eine leichte Beute gewesen. Dass Ruth sich an ihn herangemacht hatte, war vermutlich ausreichend genug gewesen, um ihn anzuwerben. Medikamente oder Fastenkuren hatte er gar nicht gebraucht.
Obwohl die Geschichte ein bisschen nach Science-Fiction klang, war der Raketen-Blitz-Trick gar nicht so schwierig. Es war sehr gut möglich, dass Jason nur als Informationsquelle benutzt worden war und jemand anders die Rakete gebaut und abgeschossen hatte. Allerdings …
Allerdings hätte ein Laie keinen selbst gemischten Treibstoff verwendet. Diese Mischung deutete auf einen Bastler hin, der wusste, was er tat, und versuchte, sich immer wieder zu verbessern.
Horatio wollte nicht so recht an Jasons Schuld glauben. Irgendwie war es einfacher, ihn als Opfer und nicht als Täter zu sehen – als jemanden, von dessen Wissen man profitiert hatte, und den man nachher wieder abstoßen wollte.
Vielleicht war Jason betrogen worden. Vielleicht war aber auch sein Charakter durch Sinhurmas Einfluss weitaus mehr verdorben worden, als Horatio sich eingestehen wollte. Dieser letzte Gedanke war das, was ihm wirklich zu schaffen machte. Dass ein anständiger, vernünftiger Mann – ein Mann der Wissenschaft – durch Sinhurmas egozentrischen Hokuspokus beeinflusst worden war. Das lag Horatio schwer ihm Magen.
Andererseits tat zu viel Einsamkeit niemandem gut. Verstand und Logik hielten einen nachts nicht warm, und der Glaube an die Präzision und Unfehlbarkeit der physikalischen Gesetze konnte einem angesichts zweier tiefgrüner Augen schon mal abhanden kommen.
Horatio wusste noch nicht, wie tief Jason in der Sache drinsteckte. Aber das würde er herausfinden.
Kyle »Dooley« Dolittle war kein Idiot. Absolut nicht. Er hatte gehört, wie die Mine explodiert war, und er war ziemlich sicher, dass sie diesem diebischen kleinen Flittchen die Beine abgerissen hatte. Aber Vorsicht war besser als Nachsicht. Nein, er würde runterklettern und sich die Sache persönlich ansehen, um sich zu vergewissern. Und dann … nun, er war sich nicht ganz sicher, was er dann tun würde. Vielleicht sollte er sich so viele Pflanzen wie möglich unter den Arm klemmen und sich aus dem Staub machen – vielleicht sollte er aber auch dableiben und auf jeden schießen, der auftauchte.
Der Hochsitz war dafür bestens geeignet. Noch besser wäre es allerdings gewesen, wenn er sich auf seinem Aussichtsposten nicht so gelangweilt hätte und nicht durch die Ballerei auf Vögel und Eichhörnchen seine ganze Gewehrmunition verbraucht hätte – aber zum Teufel –, er hatte doch nicht damit gerechnet, dass tatsächlich jemand auftauchen und versuchen würde, ihn zu beklauen! Und er hatte ja immerhin noch den Colt. Die Waffe taugte zwar auf große Entfernungen nicht besonders viel, aber für Nahschüsse war sie prima. Mit ihr hatte er den ersten Wilderer erledigt, und er würde auch jeden anderen damit aus dem Weg räumen, der ihm vor die Füße kam.
Er steckte sich den Revolver in den Hosenbund, kletterte die Leiter hinunter und sprang aus einem Meter Höhe auf den Boden. Augenblicklich zog er die Waffe wieder heraus und rückte vor, indem er von Baum zu Baum spurtete. Wenn sie noch am Leben war, versuchte sie vielleicht, ihn zu erschießen – als ihre letzte große Tat. Das respektierte er zwar, aber es passte ihm selbstverständlich nicht in den Kram.
Das Sonnenlicht kam ihm unnatürlich grell vor. Das Adrenalin in seinen Adern und das Speed, das er in den vergangenen zwei Tagen eingeworfen hatte, brachten sein Herz zum Rasen. Seine Haut kribbelte, und er hätte schwören können, dass er spürte, wie die Haare auf seinem Kopf wuchsen.
Er fragte sich, wer zum Teufel der Kerl in dem Helikopter gewesen war. Doch wie auch immer, er würde ihn aufspüren und ihm eine Kugel zwischen die Augen verpassen – er ließ sich von niemandem, aber auch wirklich niemandem, übers Ohr hauen! Nicht einmal von einem Typen mit Helikopter.
Und wo wollte er überhaupt landen? Es gab noch nicht einmal eine unbefestigte Straße hier im Wald, ganz zu schweigen von einer Fläche, die groß und eben genug für die Landung eines Hubschraubers gewesen wäre. Er und Jimbo hatten die ganzen verdammten Pflanzen eigenhändig hergeschleppt und gesetzt, und nun, da die Ernte näher rückte, bewachten sie die Plantage abwechselnd rund um die Uhr.
Dooley blieb kurz stehen und überlegte, ob Jimbo ihn am Ende übers Ohr gehauen hatte. Er kannte den Typ nun schon zwanzig Jahre und hatte auch mit ihm gemeinsam gesessen, aber letzten Endes war alles möglich. Vielleicht sollte er sich mal mit seinem Partner unterhalten, nachdem er die Leichen vergraben hatte.
Er näherte sich vorsichtig der Stelle, an der er die Mine aufgestellt hatte. Die Bäume ringsum sahen aus, als hätte jemand mit einer Schrotflinte schießen geübt.
Ist doch komisch, dachte er dann. Hatte ich die Mine nicht nach Osten ausgerichtet?
»Waffe fallen lassen, Dooley!«, sagte jemand hinter ihm. »Sonst verpasse ich Ihnen einen Kopfschuss!«
Fluchend ließ er seinen Revolver fallen.
»Und jetzt umdrehen!« Er tat es.
Aber da war niemand.
»Und nach oben gucken!«
Eine blonde Frau hockte oben auf einem Baum und hielt ihre Waffe auf ihn gerichtet. »Höher gelegene Aussichtsposten sind immer gut – aber dazu braucht man nicht unbedingt einen Hochsitz. In meiner Jugend habe ich ziemlich gut klettern gelernt.« Sie seufzte. »Aber ich bin echt sauer, Dooley. Ich glaube, ich habe mir meine Hose ruiniert.«
»Dann wirst du mich jetzt wohl erschießen, hm?«
Calleigh warf etwas vom Baum, das mit einem metallischen Klappern vor Dooleys Füßen landete. »Das kommt darauf an. Wenn Sie sich an den nächstbesten Baum fesseln und versprechen, sich zu benehmen, bis meine Kollegen eintreffen, vermutlich nicht.« Ihre Stimme wurde eine Spur kühler. »Aber wenn Sie mich noch einmal Fischfutter nennen, kann ich für nichts mehr garantieren!«