INNOVATION TRIFFT AUF RESISTENZEN UND IMMUNREAKTIONEN

Über Immunsysteme und »Never Change a Winning Team«

Was erfolgreich ist, soll natürlich Bestand haben. Wenn eine Mannschaft im Sport mehrmals hintereinander gewinnt, lässt man sie besser unverändert. Manchmal ist im Sport der Mannschaftsbeste einige Zeit verletzt – und er kommt mitten in einer Siegesserie gesund wieder. Soll man ihn einsetzen? Doch lieber nicht! Da gibt es Krach, weil er auf seine Rechte und Fähigkeiten pocht …

Dieses Prinzip gibt es auch als andere Variante bei Rechenzentren, die komplexe IT-Systeme betreiben. Sie sagen immer: »Never change a running system«. Das kennen Sie sicher von Ihren Smartphones und Computern, oder? Dass plötzlich vieles nicht mehr funktioniert, weil Sie eine »deutlich bessere« neue Version einer Software installiert haben, die sich nun als »leider nicht voll kompatibel zum alten System« herausstellt.

Wenn alles gut klappt, lassen wir es so, wie es bisher gut funktionierte. Das ist ein vollkommen vernünftiges Prinzip, besonders für die Zwanghaften! Die Hysterischen langweilen sich aber und wollen wieder und wieder einmal etwas Neues probieren. Einfach so! Das macht die Bewahrer böse, weil sie wissen, dass bei Veränderungen immer wieder kleine oder große Unglücke passieren können. Sie reagieren deshalb mehr oder weniger allergisch gegen neue Vorschläge.

Pinchot spricht in seinem Buch Intrapreneuring (1985 erschienen) auch schon kurz über den Umgang mit dem »Corporate Immune System«. Wer etwas in einem System bewegen will, darf den Bewahrern des Systems nicht als Störenfried oder gar als Feind auffallen. Wenn das nämlich passiert, bemüht sich das System, die Störungen zu beseitigen und Feinde zu besiegen. Pinchot riet uns damals immer eindringlich: »Work underground as long as you can« (»Arbeite im Verborgenen, solange es geht«).

Oh, das wusste ich selbst früher nicht! Meine eigenen Innovationen habe ich, bevor ich diesen Rat hörte, immer gleich begeistert in der übrigen Welt propagiert – und zwar so triumphierend über das »olle Alte«, dass ich die Abwehrkräfte des Systems aktivierte und dann irgendwie wieder ins Glied gestellt wurde.

Gute Systeme sind hoch effizient designt und funktionieren wie am Schnürchen, alles erledigt sich absolut perfekt und zuverlässig, ein Rädchen greift ins andere. Je besser ein System funktioniert, umso problematischer wirkt eine Veränderung. Wenn in einem rigorosen System etwas nicht wie vorgesehen funktioniert, nimmt es die Angelegenheit nicht als Veränderung wahr, sondern als »Ausnahme«, die nicht sein darf. Ausnahmen sind ein Ausdruck für Unordnung. Da setzt in einem System sofort »exception handling« ein. »Wer hat das erlaubt? Das ist nicht vorgesehen. Bitte füllen Sie folgenden Fragebogen aus.« Gute Systeme wollen alles automatisch regeln – da sind ihnen Leute, die Ausnahmen produzieren, von Herzen zuwider, weil diese Ausnahmen einzeln »per Handarbeit« geregelt werden müssen. Ausnahmen werden also nach Möglichkeit und oft mit aller Macht bekämpft. Besonders die zwanghaften Menschen im System sehen in Ausnahmen so etwas wie Abweichlertum oder gar »Sünde«. Wer sich nicht an die Regeln hält, ist wie ein Feind. Sie kennen sicher Erziehungsprediger mit Sätzen wie diesem: »Wenn du es einmal einreißen lässt, ist Tür und Tor offen für Willkür und Anarchie.«

In diesem Sinne bildet ein Unternehmen oder ein System in natürlicher Weise eine Art Immunsystem, das alle nicht vorgesehenen Situationen wie Störungen behandelt.

Innovationen, Veränderungen und jeder Wandel werden vom Immunsystem sorgfältig gecheckt. »Freund oder Feind?« Was ist noch tolerierbar, was nicht? Auch wir Menschen haben ein Immunsystem, das zum Beispiel Krankheitsbakterien abwehrt. Die nützlichen Millionen Darmbakterien aber lässt es natürlich in Ruhe! Wenn wir in fremde Länder reisen, wo ganz andere Bakterien vorkommen, müssen wir meist unter Durchfallerkrankung unser Immunsystem anpassen. Wenn unser Körper das nicht könnte, müsste er ja sterben oder schwere Schäden hinnehmen!

Für ein Unternehmen ist es ebenso lebenswichtig, ein gutes Immunsystem zu haben. Das muss gut im Regelfall funktionieren, sich aber auch wandeln und anpassen können. Die Bewahrer des Systems wollen dabei ein möglichst starkes Immunsystem, das gegen Einwirkungen von außen resistent ist. Die Innovatoren wollen das System hingegen ändern oder weiterentwickeln, im Extremfall sogar neu konzipieren – sie möchten es flexibel und durchlässig haben. Was gut ist, liegt in der Mitte, auf die man sich weise verständigen muss. Das geschieht leider kaum. Statt weiser Verständigung gibt es meistens Streit, den die Mächtigen nur allzu oft gewinnen – das sind fast immer die Bewahrer des Unternehmens. Das ereifert die Innovatoren, die das herrschende Zwanghafte als Unterdrückung empfinden. Leider sind die Vertreter des Neuen oft so ungeschickt, dass sie den Streit selbst erst anzetteln. Ich habe ja schon gesagt, dass ich auch zum Anzetteln neigte – bis Gifford Pinchot mir klarmachte, dass ich das System nicht zu sehr reizen soll, am besten gar nicht. »Halt die Klappe und mach!«

Das Resistenzmodell

Die Innovationstheorien sind zu sehr darauf fokussiert, die Idee in die Welt zu setzen und dann per Marketing am besten allen Menschen auf dem Erdball zu verkaufen. Bei meiner Erörterung des hysterischen und zwanghaften Konzepts haben wir gesehen, dass es eigentlich bei jeder Innovation und bei jedem vorgeschlagenen Wandel zum Teil erbitterte oder zumindest hämende Gegner gibt. Im politischen Raum zum Beispiel gibt es absolut gar keine Reformvorschläge ohne starken Widerstand, weil sich die jeweilige Opposition zur reflexhaften Gegenrede verpflichtet fühlt und auf alles vom Gegner Vorgeschlagene erst einmal beherzt draufhaut. Aus Prinzip! Es wird dabei angenommen, dass opponierendes Dauerkritisieren zu mehr Wählerstimmen und damit Machtgewinn führt.

Wer zum Beispiel Innovationen propagiert, die in einer Zeitung diskutiert werden könnten, bekommt Gegenwind, wieder fast aus Prinzip. Steuern rauf oder runter? Es gibt Opposition. Reiche be- oder entlasten? Gegner schimpfen. Privaten Waffenbesitz abschaffen? Da traut sich kaum noch jemand, auf seinem Waffenbesitz zu bestehen, aber das Schweigen ist noch groß genug – es passiert nichts. Frauen an die Managementspitze? Da sind wieder alle laut dafür, geben nur zu bedenken, dass es so viele gute Topfrauen nicht sofort gibt – es passiert nichts. Die Beharrungskräfte eines Systems sind unglaublich hoch. Selbst etwas, was von 90 Prozent befürwortet wird, muss nicht unbedingt verwirklicht werden.

Genauso wird absolut jeder Topmanager glühende Lippenbekenntnisse zur Innovation ablegen. Wie aber wird er im Einzelfall agieren? Engagiert er sich? Oder sieht er der Entwicklung nur wohlwollend zu? Viele da ganz oben »sind dafür«, nicht dagegen. Sie meinen damit, dass sie die Innovationen nicht verhindern. Sie gehen nicht so weit, sich für sie energisch in die Bresche zu werfen. Bloßes wohlwollendes Zuschauen aber überlässt das Feld dem Immunsystem, es ist gegen das Neue resistent und stößt es unter den wohlwollenden Augen der Führung in unerklärlich anmutender Weise ab. Wohlwollen reicht nicht für Innovation oder Wandel! Das verstehen wieder viele Innovatoren nicht. Sie sind glücklich, wenn sie auf Wohlwollen treffen, wo aber Energie nötig wäre. Sie denken, mit Wohlwollen allein ginge jetzt gleich etwas voran. Wohlwollen ohne Energie ist Befürwortung, aber nur im Prinzip, ohne Konsequenz, so wie man ein Luxusauto oder eine Sauerkrautsaftdiät gut finden kann, ohne zu kaufen oder abzunehmen. Das Immunsystem eines Systems muss also nicht einmal aggressiv gegen das Neue kämpfen, wenn es zu wenig Eigenenergie hat. Man kann als eigentlich Opponierender etwas Energieloses sogar befürworten, es zerschellt ja von allein. Die bloße Befürwortung von »Viel mehr Frauen in Toppositionen« ist schon Abwehr. Das Verwehren von Energie ist Resistenz genug:

  • »Ja, aber ich habe keine Zeit.«
  • »Ja, aber die Kassen sind derzeit leer.«
  • »Ja, aber erst steht noch XY an.«
  • »Ja, aber völlig überzeugt bin ich nicht, es muss noch reifen.«
  • »Ja, aber anderes hat derzeit Priorität.«

Resistenzen gegen Wandel und Neues

Abb: Resistenzen gegen Wandel und Neues

Alle diese Abwehrmechanismen muss ein Innovator verstehen lernen. Sehr oft sind die klaren Neinsager in der harten Opposition leichter zu nehmen als diese Ja-aber-Befürworter, die Zustimmung ohne Energie signalisieren. In jedem Fall kann der Innovator aus den unterschiedlich starken Abwehrmechanismen Schlüsse ziehen und Wertvolles lernen. In Abwandlung des Innovationsadoptionsmodells von Everett Rogers schlage ich folgendes Modell vor:

Ich betrachte in diesem Modell, wie die Protagonisten etwas vorschlagen, was die anderen drei Parteien aus verschieden starken Gründen nicht umsetzen, ablehnen oder energisch bekämpfen. Diese vier Parteien streiten nämlich fast immer, wenn eine Idee zur Innovation werden soll:

  • Protagonisten einer Innovation,
  • OpenMinds, die eine Innovation gut fänden, wenn »sie so weit ist« – wenn!,
  • CloseMinds, die fast nur nachteilige Konsequenzen im Neuen sehen und mit »so etwas braucht kein Mensch« den Kopf schütteln,
  • Antagonisten, die das Neue aktiv und fundamental bekämpfen (»Unsicher! Gefährlich! Unmoralisch!«).

Reaktionen auf Neues

Abb: Reaktionen auf Neues

Ich will diese vier Parteien nochmals in derselben Grafik zeigen – mit den gleich danach auftretenden Fragen und Kommentaren.

OpenMinds sehen das Neue meist als mögliche Chance und beurteilen nun von allen Seiten, wie groß diese Chance ist. Nützt das Neue? Hilft es? Hat es einen Imagegewinn? Macht es Freude? Ist es teuer? In der Regel kommt ein »Ja, aber« heraus. Die OpenMinds beschließen oft, das Neue zu kaufen, »wenn es unter 100 Euro kostet« oder »wenn es schon viele ausprobiert haben, die ich dann fragen kann«. OpenMinds im Management fragen zuerst nach Referenzen – wo ist das Neue schon erfolgreich im Einsatz? Wie hoch war der monetäre Nutzen? Bloßes Gerede von einer gewiss besseren Zukunft durch die Protagonisten lehnen sie als »wolkig« ab. Sie sagen meist: »Das ist eine interessante Entwicklung, die ich im Auge behalten möchte. Bitte informieren Sie mich gerne, wenn es in dieser Sache etwas Konkretes gibt – mit messbarem Nutzen.« OpenMinds können Chancen in speziellen Einzelfällen sehen, die sie dann auch wahrnehmen würden, wenn ... Immer steht ein Nutzen im Vordergrund, den sie im Besonderen gerne für sich selbst sähen.

CloseMinds sehen zuerst die Nachteile des Neuen, das ihre heile Welt stört (Erinnern Sie sich bitte an frühere Reaktionen: »Wenn überall und unaufhörlich die Handys klingeln, wo kommen wir da hin?«). CloseMinds fragen immer: Ist es gesund, pädagogisch wertvoll, nützlich, erlaubt, wünschenswert, innerhalb der Ordnung und so weiter. Sie stellen sich das Neue gleich als neue Lebensregel vor. Wenn etwa »das Internet« propagiert werden soll, sind sie nicht etwa neugierig darauf, sondern sie überlegen gleich, welche Konsequenzen es hätte,, wenn so ziemlich jedermann das Internet nutzen würde. Sie fragen sicher: »Können sich das alle Leute finanziell leisten? Spaltet sich nicht die Gesellschaft in solche und solche? Wie regeln wir, dass keine Ungleichgewichte entstehen? Ist das Internet sicher? Schützen die Gesetze? Ist detailliert geregelt, was man da tun darf und was nicht? Was passiert, wenn ein Mensch Schlechtes über mich im Internet verbreitet?« CloseMinds finden die grundsätzlichen Haken an der Sache. Sie betrachten alles aus einer allgemeinen Perspektive. Sie wollen ausschließen, dass eine Innovation zu sehr in das Leben eingreift und Regeln verändert. Diese mehr Zwanghaften möchten auch keine Ausnahmeregeln für das Neue, um es einmal unter noch nicht geklärten Umständen zu probieren. »Wenn ich das einmal erlaube, kommt ihr immer damit. Da bricht der Damm. Das reißt ein. Einmal Smartphone für einen Enkel, dann immer Smartphone für alle Enkel. Wir müssen uns über die Konsequenzen für unser Leben klarwerden. Darf man beim Essen Mails checken? Doch nicht, oder? Werde ich nach und nach selbst gezwungen sein, ein Smartphone zu bedienen? Haltet mich da raus.« CloseMinds sehen die Gefahr im Vordergrund, wenn sie das Neue betrachten. Insbesondere fürchten sie sich vor persönlichen Konsequenzen – das sagen sie nicht gerne offen, aber sie drücken es dadurch aus, dass sie »im Namen der Schwächeren« argumentieren – dass es also Menschen gibt, denen das Neue schadet. Ich bin zum Beispiel jemand, der in der Öffentlichkeit als Protagonist für höherwertige Erziehung und Bildung eintritt. Viele schleudern mir entgegen, dass dann die Schwächeren noch weiter als bisher schon abgehängt werden. Niemand spricht über ein eigenes Unwohlsein bei dem Gedanken, sich höchstpersönlich selbst weiterentwickeln zu müssen.

Antagonisten sind grundsätzlich gegen eine vorgeschlagene Innovation. Sie verbreiten Angst (»Smartphones strahlen gefährlich«), appellieren an Ethik und Heiliges (bei Stammzellenforschung oder Abtreibung) oder verdammen das Neue als Unkultur (»Fernsehen macht dumm, aber Internet noch mehr!«). Sie sind polar und grundsätzlich auf der Seite der militanten Gegner. Sie kämpfen aktiv gegen das Neue. Dies sind die vier Standpunkte der Parteien im Augenblick der Entscheidung, ob es eine Idee zur Innovation schafft oder nicht. Innovation ist wie die Erschließung eines neuen Landes. Die Protagonisten schwärmen, dass dort wahrscheinlich Milch und Honig fließt, wenn erste Besiedlungen einsetzen würden. Die OpenMinds warten, bis die ersten Siedlungen zu besichtigen sind. Sie wollen Milch und Honig tatsächlich vor Augen sehen. CloseMinds wollen nicht umziehen, das jetzige Land ist seit langer Zeit gut eingerichtet, es bietet gute Lebensqualität. Antagonisten fürchten Schreckliches – wilde Tiere, Gesetzlose und Krankheiten erwarten die wahnsinnigen Abenteurer, die mit dem Leben spielen!

Verbleibende Resistenzen an der zweiten Hürde

Abb: Verbleibende Resistenzen an der zweiten Hürde

Die zweite Hürde – von der Innovation zur Allgemeinkultur

Fast alle Innovationsforschung und -anstrengung richtet sich auf den Moment, an dem ein neues Produkt vom normalen Markt angenommen wird. Diese zweite Hürde der Innovation macht ein neues Produkt quasi zum Standard. Das geschieht nicht von selbst oder durch Warten, wie es oft suggeriert wird! Es ist eine Hürde. Der Übergang von den OpenMinds zu den CloseMinds wird nie wirklich gesehen, ich habe jedenfalls noch nie etwas darüber gelesen oder davon gehört. Und genau diesen wichtigen Punkt sehe ich daher in der Innovationsdiskussion unterrepräsentiert.

Betrachten wir das Mobiltelefon. In den 90er Jahren war es eine Technologie für Angeber, die so unverfroren waren, im Restaurant, auf der Straße oder im Zug ihre Mitmenschen an ihrem banalen Privatleben teilnehmen zu lassen oder die es hinbekamen, hoch wichtige Anrufe laut inmitten zuhörender Menschen zu beantworten. »Herr Bundespräsident, Sie kommen zu uns? Ich freue mich, ich muss aber unser Gespräch um 20 Minuten verschieben, weil ich erst dann aus dem Fitnessstudio komme.«

Nach einer langen Zeit der Handy-Protagonisten oder Early Adopters begannen die OpenMinds, ein Handy nützlich zu finden. »Wo bist du jetzt? Kannst du noch Milch mitbringen?« Damit hielt das Mobiltelefon Einzug in unser Leben. Wer jetzt ein Handy gut findet, hat eines. Mit der Zeit gewöhnen sich die OpenMinds an die neue Bequemlichkeit. Jetzt rufen sie jedermann kurz auf dem Handy an. »Vater, es ist zum Haareausraufen. Wir suchen dich dringend. Seit heute Morgen! Schaff dir jetzt endlich mal ein Handy an!« Die OpenMinds finden nun in der Masse, es sei an der Zeit, dass nun absolut jeder die neue Technologie nutzen soll.

Das sehen die CloseMinds nicht ein. Sie pochen auf ihre eigene Lebensführung. »Ich will nicht immer erreichbar sein. Ich bin kein Hausmeister oder Notarzt.« Das sagen sie, jeder für sich, unendlich oft. Sie warnen vor den negativen psychischen Schäden des Erreichbarkeitsstresses. Heute haben die meisten Leute ein Handy, aber sie benutzen es nicht alle wirklich. Die meisten schalten es an, wenn sie kurz etwas Wichtiges durchgeben wollen. »Ich bin im Stau!« Das Handy ist längst noch nicht im Lebensalltag aller angekommen. Die Close-Minds fühlen sich durch den Anspruch der OpenMinds empfindlich in ihrer Lebensführung gestört, sie wollen nicht »immer online sein«. Sie fügen sich widerwillig ein und haben jetzt ein Handy, aber »nur nach Vorschrift« – sie verweigern sich der geforderten offenen Kommunikationshaltung. Sie zeigen sich weiter resistent oder leisten passiven Widerstand.

Die Antagonisten haben natürlich gar kein Handy und wüten gegen das Neue umso mehr, je verbindlicher es ins allgemeine Leben einzieht und umso selbstverständlicher das Nutzen des Neuen allgemein wird.

Heute, 2012, gibt es weitere Technologien, die gerade die zweite Hürde nehmen, zum Beispiel die E-Mail und die Homepage. Die OpenMinds werden jetzt böse, wenn jemand keine E-Mail-Adresse hat, damit man ihm einen Link oder ein Foto schicken kann. »Nun eröffne bitte einen Account, es kostet doch nichts!« – »Aber ich habe keinen Computer und will auch keinen, schon gar nicht, dass ihr mir einen aufzwingt.« OpenMinds werden ungehalten, wenn ein Geschäft oder eine Institution keine Homepage hat, auf der man Öffnungszeiten oder Anfahrtswege finden kann. »Warum haben Sie keine Website?« – »Das kann jeder halten, wie er will, wir können so etwas gar nicht. Es muss auch keineswegs sein.« Auch Facebook steht gerade vor dieser zweiten Hürde. Die OpenMinds wollen, dass jeder auf Facebook ist, so wie sie wollten, dass jeder eine E-Mail-Adresse oder ein Mobiltelefon hat. Bei Facebook stellen sich die CloseMinds heute noch energisch quer. TV-Sendungen schimpfen über die Preisgabe der Persönlichkeit. Das Mobiltelefon macht erreichbar, aber Facebook macht sichtbar. Die Antagonisten erklären Facebook zur Suchthölle, Mediziner führen Patienten vor, die keinen Tag ohne Facebook überleben würden und Entziehungskuren brauchen. Das alles ist der Kampf an der zweiten Hürde. Wenn Facebook die nicht nimmt, kann es wieder zusammenklappen – sobald ein anderes Unternehmen kommt, das mit Social Media die zweite Hürde nimmt.

Das Rauchverbot habe ich schon erwähnt, es hat die zweite Hürde schon genommen. Die OpenMinds haben mit dem Rauchen aufgehört, weil es schädlich ist. Sie haben sich von den Gesundheitsprotagonisten langsam weichschießen lassen. Die CloseMinds aber rauchten weiter. Es schert(e) sie nicht, dass Rauchen tötet. Die Antagonisten pochen auf die Freiheit des Menschen über den eigenen Körper. »Selbstmord darf nicht verboten sein.« Da finden schließlich auch immer mehr CloseMinds, dass Raucher schlecht riechen und dass sie durch das erzwungene Passivrauchen gefährdet werden. »Selbstmord ist erlaubt, okay, aber ihr dürft uns nicht umbringen.« Das ist das entscheidende Argument für den Sprung über die zweite Hürde. Die Raucher werden kriminalisiert. Das war der Moment, an dem die CloseMinds das Rauchen begrenzten und nicht mehr gegen die Idee des Rauchverbots opponierten.

Zusammengefasst: Viele Infrastrukturtechnologien und kulturelle Gebräuche werden besser nutzbar oder sind für das gemeinsame Leben geeigneter, wenn alle Menschen eines Kulturkreises sie verwenden oder nach solchen neuen Regeln leben. In solchen Fällen tendieren die OpenMinds dazu, an den CloseMinds so lange herumzuzergen, bis diese endlich das Neue mindestens so weit adaptieren, dass eine Allgemeinkultur entstehen kann. In einer solchen Allgemeinkultur kann jetzt jeder erwarten, dass andere Menschen in der Regel eine E-Mail haben, dass jedes Geschäft und jeder Selbstständige eine Website hat, dass Mitmenschen über Handy erreichbar sind, mindestens über die Sprachbox und so weiter.

Sie können mich jetzt fragen, was das Überwinden einer solchen Hürde im engeren Sinn mit Innovation zu tun hat, weil ja die Technologie an diesem mittleren Punkt eigentlich nicht neu ist, sondern nur der Druck der OpenMinds auf die CloseMinds zunimmt. Das stimmt nicht ganz. Oft gelingt der Durchbruch einer Innovation zu einem Infrastrukturwandel erst durch eine sehr einfache Technologie, mit der sogar die CloseMinds einigermaßen gerne technisches Neuland betreten. Es zeigt sich gerade heute, dass viele CloseMinds, die sich gegen Computer gesträubt haben, nun ganz passabel oder sogar gut mit einem Tablet zurechtkommen. Damit beginnen sie dann doch zu googeln, bei Amazon zu kaufen oder sich etwas bei eBay zu ersteigern. Diese Unternehmen haben die CloseMinds erreicht, sie haben die zweite Hürde übersprungen. Diese Infrastruktur bildenden Technologien oder Innovationen machen ihre Innovatoren zu Milliardären!

Starke Resistenzen an der dritten Hürde

Abb: Starke Resistenzen an der dritten Hürde

Die dritte Hürde – vom Standard zur verbindlichen Regel

Innovationen im Bildungsbereich müssen nach der Vorstellung der Länderregierungen oft einheitlich eingeführt werden. Sie werden dann per Verordnung verbindlich. Das kann man wohl erst dann erfolgreich tun, wenn die zweite Hürde übersprungen ist und sich auch die CloseMinds langsam an die neuen Strukturen gewöhnt haben. Wenn sie sich endlich und überhaupt (als mehr Zwanghafte) an etwas gewöhnt haben, wünschen sie meistens, dass es zur allgemeinverbindlichen neuen Lebensregel werden soll. Dann aber heulen die Antagonisten noch viel extremer auf, denn bisher argumentierten sie immer noch einigermaßen sachlich gegen das Neue, nun aber soll es ihnen selbst aufgezwungen werden. Jetzt werden sie militant.

Innovationen im Bildungsbereich sind ein gutes Beispiel. Sie treffen auf viel längeren Widerstand als normale Innovationen, weil sie eben auch noch die dritte Hürde überwinden müssen.

Steht man an der dritten Hürde, so ist es vollkommen gleichgültig, ob nun schon 90 oder 95 Prozent der Bevölkerung etwas als verbindlich festgesetzt haben wollen. Die letzten Antagonisten rufen jetzt eben die höchsten Gerichte an.

Wir können es schaffen, dass fast gar nicht mehr geraucht wird, aber das Rauchen prinzipiell verbieten? Das gibt Krieg. Wir haben eine beliebige öffentliche Mehrheit gegen privaten Waffenbesitz, aber ein Verbot bekommen wir nicht hin. Die Katholiken machen (glaube ich) in größter Mehrheit von Verhütungsmitteln Gebrauch, aber eine offizielle Erlaubnis bekommen sie nicht.

Wann also gibt es die ersten Schullehrbücher nur als Software im Netz mit freier Lizenz für alle? Wann Wahlen im Internet (»Geht nicht! Ich habe keinen Internetanschluss und will auch keinen! Dann ist es Wahlfälschung!«)? Verfolgen Sie das Drama um den Stuttgarter Bahnhof? Da gab es eine Volksabstimmung mit einer Mehrheit für das sogenannte S21-Projekt. Nach der Niederlage der Gegner akzeptierten die meisten CloseMinds die demokratische Entscheidung. »Es ist nun so – und wir gewöhnen uns an die neue Lage, die wir eigentlich nicht wollen.« Die Antagonisten aber arbeiten weiter an der Verhinderung, als sei nichts geschehen. Das kann sehr viel Sand ins Getriebe der Projekte streuen! Die Antagonisten erzeugen erhebliche Mehrkosten.

Viele Innovatoren begehen unverzeihliche Fehler, indem sie ihr Neues so konzipieren, dass es (viel zu) viele Antagonisten erzeugt. Facebook sagt zu Datenschutzproblemen so etwas wie: »So what?«, weil es die OpenMinds nicht so kratzt, wenn die Datenlage nicht total sicher ist. Aber es gibt wütende Angriffe der anderen resistierenden Parteien – und Facebook wundert sich über die Aggression und findet es auch nicht gerecht, dass die Anfeindungen ja nicht von den eigenen Kunden kommen, sondern von außen. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe eine Aggressionskampagne gegen den Geschmack von Erdbeerjoghurt von lauter Leuten, die nie Joghurt essen! Das würden wir nicht verstehen, aber wir können so eine Kampagne sofort erwarten, wenn das Essen dieses Joghurts Pflicht werden soll.

Immer, wenn etwas für alle gelten soll, kommt leicht solche Aggression auf. Wir nutzen zum Beispiel alle nach und nach die Suchmaschine Google, die uns immer mehr Nutzen bietet und dadurch zum allgemeinen Standard wird. Das Googeln ist nicht direkt verbindlich vorgeschrieben, aber so sehr bestmöglich, dass Google zum »de facto«-Standard geworden ist. Nun aber regt sich sofort Widerstand gegen jede Neuerung von Google, weil Google jetzt nicht mehr nur einfach eine Dienstleistung anbietet oder verändert, sondern weil Änderungen bei Google gleichzeitig unmittelbare Eingriffe in unser Leben darstellen – da müssen wir doch gefragt werden! Dieselben Aggressionen hatten wir vor einem halben Internetzeitalter gegen die Firma Microsoft, die uns das Betriebssystems Windows »aufzwang«. Neuerdings befürchten wir, dass das Unternehmen Apple uns etwas aufzwingt. Alle Innovationen, die bis zur dritten Hürde kommen, müssen sehr vorsichtig sein, sich nicht erbitterte Feindschaften einzuhandeln, wenn sie ihre Konzepte ändern. Sie verändern ja dadurch unser aller Leben, und bei »de facto«-Standardveränderungen haben wir keine Wahl, wir müssen sie »schlucken«. Ja, wir wollen alle das beste Produkt, aber keine Fremdbestimmung.

Mehrere Hürden gleichzeitig

Viele Innovatoren sind ernsthaft verbittert, weil das eigene (meist Groß-) Unternehmen, in dem und für das sie arbeiten, einer neuen Idee verschlossener gegenübersteht als die Kunden draußen. Oft kommen schon die Kunden und fragen, wo die neuen Produkte des Unternehmens bleiben und wie viel sie wohl kosten mögen. Wann ist alles lieferbar? Währenddessen hat das Unternehmen immer noch nicht entschieden, ob es auf den neuen Trend aufspringen soll. Soll ein Festnetztelefonunternehmen in ein Mobilfunknetz investieren? Die Mitarbeiter des Unternehmens sind von der höheren Qualität des Festnetzes absolut überzeugt und sehen die Vorteile eines Mobilgeräts nicht wirklich. Sie fürchten sich auch, dass der Mobilfunk ihr Unternehmen stark verändert und vielleicht insgesamt schwächt. Was wird werden? Im Kopf sind sie überzeugt, dass das Alte besser ist, im Körper sitzt die Angst. Sie sind CloseMinds. Die Controller des Unternehmens zählen das schöne Geld, das mit dem Alten (noch) verdient wird. Sie scheuen die Investitionen ins Ungewisse. Die Innovatoren im Unternehmen schimpfen: »Unser Unternehmen sollte immer vorn sein und sich nicht hinten verstecken. Unser Unternehmen steht sich selbst im Wege.«

Wir sehen: Wenn die Hürde zum OpenMind auf der Kundenseite übersprungen ist, bedeutet das noch lange nicht, dass sich das Unternehmen selbst der neuen Idee oder Innovation geöffnet hat. Es ist oft selbst noch CloseMind oder gar Antagonist. Das ist besonders dann der Fall, wenn eigene Unternehmensprodukte durch die Innovation kannibalisiert werden, wie man sagt, wenn also das Neue die alten Produkte des Unternehmens bedroht.

Die Buchverlage mögen einfach nicht eBooks produzieren, die Banken keine Internetservices aufbauen, die Schulbuchverlage hassen interaktive Lehreinheiten im Internet, der stationäre Handel redet die Intershops klein, die Computerhersteller die Smartphones, Firmen wie Kodak haben bis kurz vor dem eigenen Tod nicht geglaubt, dass sie das Neue einfach verdrängt.

»Bücher sind haptisch – eBooks nicht!« – »Kunden wollen beraten werden, nicht im Internet selbst agieren.« – »Nicht jeder kann sich Internet leisten, aber Schulbücher zahlt der Staat!« – »Kleidung muss man anfassen, niemals kauft man die im Internet.« – »Personalberatung ist eine wichtige diskrete Angelegenheit, man kann nicht einfach Fachleute durch bloßes Googeln finden und anhauen.«

Als Chief Technology Officer der IBM habe ich mir viele Jahre lang diese Gegenargumente angehört. Ich war auf vielen Verbandstagungen für Büromöbel, Bankfilialausstattungen, Büroimmobilien, Druckmaschinen, Bücher, Bibliotheksorganisation, Headhunting und so weiter, die der eigenen Branche goldene Zeiten nach der kurzen Störung durch das Internet bescheinigten. »Das ist ein Hype, der geht vorbei.« Ich selbst habe diese liturgischen Wiederholungen immer wie Leichenpredigten empfunden und mit Trauer versucht, Industrien zu warnen. Ich erwähnte es schon: Ich wurde belächelt oder wie auf der Hybris-Curve glatt ausgelacht. Besonders die etablierten Unternehmen selbst sind oft nicht so aufgeschlossen wie ihre eigenen Kunden. Wenn die OpenMinds unter den Kunden schon das Neue kaufen, sind die Großunternehmen noch CloseMinds, und die auf Vergangenheit pochenden Keynote-Speaker ernten als flammende Antagonisten auf den Verbandstagen rauschenden Beifall für ihre Durchhalteparolen.

Ein Innovator muss in diesem Fall natürlich in seinem eigenen etablierten Unternehmen auf viel mehr Widerstand treffen als im Markt. Er muss auch verstehen, dass sein Unternehmen überhaupt kein Gefühl für die neuen Wünsche der Kunden hat, weil es als CloseMind die OpenMind-Kunden nicht versteht. Jemand, der Bücher zu einem guten Teil nach Haptik (»wie es sich anfühlt«) beurteilt, kann nicht wirklich spüren, was ein eBook-Kunde will. Ein Buch von mir bekam vor einiger Zeit eine vernichtende Kritik (mit der schlechtest möglichen minimalen Einsternebewertung bei Amazon) – ein Leser hatte es als eBook eines ehrwürdigen Wissenschaftsverlags gekauft:

»... aber die kindle-version ist eine zumutung, und für den preis erst recht! das schriftbild ist verschwommen, die silbentrennung nicht gefiltert, das format ist blocksatz. blocksatz im ebook? ich kenne mich noch nicht mit dem kindleformat aus, aber das hier ist das schriftbild eines pdf’s auf einem standard ebookreader. (mit allen diesbezüglichen macken, siehe oben) shame on you!!! (verlag) wer dueck kennt weiss, dass hier gerade etwas passiert ist, das er u. a. thematisiert.«

Inhaltlich drückt das wohl aus, dass die Kunstform des eBooks eine andere ist. Die versteht ein Verlag nicht gleich und »speichert das Buch einfach als pdf ab«, wahrscheinlich ohne sich die Mühe zu machen, das neue elektronische Buch einmal auf den meistverkauften eBook-Readern anzuschauen. Und wenn ein solcher Leser wie im echten Leben schimpft, wird ein Verlagsmanager vielleicht denken, dass die Rezension in sehr speziell eigenwilligem Deutsch formuliert ist und einige Rechtschreibeeigentümlichkeiten enthält. Zu einem Verständnisversuch aus der Initiative des Verlags heraus kommt es in solch einer Situation nicht. »Das ist bestimmt so ein ungebildeter junger Mensch …«

Ein Innovator darf sich also keinesfalls nur um die OpenMinds aufseiten der Kunden bemühen, die sein Produkt oder seine neue Dienstleistung ja kaufen sollen. Er muss sich unbedingt auch um die CloseMinds und Antagonisten kümmern. Er muss sich spezielle Argumentationsketten und Zugangsweisen für jede Hürde zurechtlegen. Oft ist – wie gesagt – der eigene CEO (der Vorstandsvorsitzende) selbst ein Antagonist. »Wer das Neue unterstützt, ist ein Verräter – so einer gehört nicht hierher!« Das darf einen Innovator nicht einmal wundern und schon gar nicht in die Knie zwingen und gleich aufgeben lassen.

Und es gibt noch mehr Fronten als nur diese zwei (Kunden und eigenes Management): Da wollen die Mitarbeiter des Unternehmens nicht mitziehen, Betriebsräte sperren sich, Controller und Investoren haben ihre eigentümlichen Denkschemata, wann sie etwas finanzieren und wie sie etwas steuern. Es gibt eine Fülle von Resistenzen und Immunsystemen, die alle auf das glatte Funktionieren einer Prozesskette ausgelegt sind und nicht mit größeren »Ausnahmen« wie einer Innovation umgehen können.

Wir werden immer wieder sehen: Innovation hat wirklich etwas vom Geschmack der Art »Sisyphos schafft es!«

Vom Innovator selbst erzeugte Resistenzen

Haben Sie noch die Zahl »100 Prozent Mist aushalten« im Kopf? Innovation hat so viele Barrieren zu durchbrechen, so viele Hürden zu überspringen und ein komplexes Gewusel von »unerwarteten« Problemen zu lösen, dass ein Innovator sehr viel Herzblut für »sein Baby« aufbringen muss, um die Last allein psychisch tragen zu können. Erfahrene Manager in Unternehmen sehen genau, wann jemand Innovationen mit dem gebotenen Ernst und der notwendigen Professionalität vorantreibt. Innovatoren müssen vor allem die Dinge sichtbar in Bewegung bringen, sonst werden sie vom Management nicht wirklich respektiert.

Diesen Respekt muss sich ein Entrepreneur, ein Intrapreneur oder allgemein ein Innovator ganz natürlich durch seine Arbeit erwerben.

Leider strahlen Mitarbeiter oder Manager, die mit Innovationsaufgaben betraut sind, oder Erfinder, die ihre Idee nun umsetzen wollen, so etwas wie eine Aura aus, dass sie allein deshalb schon etwas Besonderes sind. Es ist nicht die Aura des Erfolgs, die sie gerne ausstrahlen dürfen, es ist auch keine eines ausgeprägten Sendungsbewusstseins, was allgemein geachtet wird, sondern eine des Herausgehobenseins. Die wird übelgenommen.

Die Innovatoren diskutieren unter sich oft über die harten Arbeitsbedingungen beim Brechen von Widerständen und fordern auch zu Recht eine offenere Unternehmenskultur. Als Protagonisten der Innovation betonen sie immer wieder Prinzipien wie diese:

  • Innovation geht nur mit Freude und Energie bei der Arbeit, unter »Flow«.
  • Innovation sollte intrinsisch motiviert sein, nicht unter Druck von Incentives stehen.
  • Der Innovator muss eine freiere Hand im Unternehmen haben als die meisten anderen, weil er agil sein und schnell entscheiden muss.
  • Innovatoren müssen querdenken dürfen.
  • Fehler bei der Innovation müssen erlaubt sein.
  • Innovation »ist jung« beziehungsweise assoziiert mit jungen Leuten.

Das stimmt auch alles, aber diese Bedingungen können nicht jedermann einfach so geschenkt werden, das wäre eine gigantische Verschwendung! Die guten Ideen müssen sich schon durchsetzen und durchkämpfen.

Ein Innovator hat fast regelmäßig nur dann Erfolg, wenn er sich mit Haut und Haar seinem Projekt verschreibt und eben alle diese Probleme aushält, die ihm in den Weg kommen – zu 100 Prozent! Wenn er das nicht tut, will oder kann, wird es nichts. Ein Innovator kann aber nicht verlangen, dass ihn nun seine Umgebung in Watte packt und Verständnis dafür hat, dass er »Freude bei der Arbeit braucht«.

Innovatoren weigern sich in Unternehmen sehr oft, so wie alle Manager, bei der Bonusvereinbarung harte Ziele zu akzeptieren, also de facto »bei Misserfolg ein bis drei Monatsgehälter Abzug« hinzunehmen. Normalerweise prognostiziert man, wie viel ein Manager erfolgreich leisten kann und setzt ihm dieses Maß als Jahresziel oder Quartalsziel. Abweichungen vom Ziel hinterlassen Spuren auf der Gehaltsabrechnung, nach oben oder unten. Bei Innovationen kann man aber schlecht prognostizieren! Das ist eine ewige Quelle des Konflikts. Den sollte man besser in jedem Einzelfall regeln, nicht aber »tönen«, man sei als Innovator eine Ausnahme.

Ich bitte Sie als Innovator: Vermeiden Sie unter allen Umständen, für sich zu viele Ausnahmen zu produzieren oder sie gar zu fordern. Jede Ausnahme trifft auf das gesunde Immunsystem des Systems. Geben Sie sich nie den fahrlässigen Anschein, eine Ausnahme sein zu wollen. Drehen Sie es so, dass Sie sich lange sorgsam um Regeleinhaltung bemüht haben, aber nach langem Hin und Her Ihr Management am Schluss aus dessen eigener Überzeugung heraus eine Ausnahme macht oder machen muss.

Dasselbe gilt für die »freiere Hand für mehr Flexibilität«. Hüten Sie sich, so etwas auszustrahlen. Denken Sie einfach quer, aber fordern Sie nicht, dass Querdenken von allen begrüßt werden muss. Sie können auch Fehler machen, keine Angst – nur nicht solche, die man Ihnen als Unprofessionalität auslegt. Predigen Sie deshalb bitte nicht vorher, dass Ihre Fehler schon vorab verziehen werden müssten.

Sie müssen es schaffen, eine Ausnahme zu sein, diese eine. Erwerben Sie sich Respekt, in diesem einen Fall. Fordern Sie keine Generalabsolution. Bewegen Sie alles, schimpfen Sie nicht zu viel, wenn andere Ihnen nicht helfen. Vermeiden Sie jeden Anschein, etwas Besonderes per se zu sein, bloß weil Sie an etwas Neuem arbeiten. Wenn es Anlass gibt, stolz auf Sie zu sein, wird es genug Leute im Unternehmen geben, die mit Ihrem Verdienst hausieren gehen. »Unser Unternehmen hat einen wichtigen Meilenstein in einem revolutionären Technologiegebiet überschritten …« Alle im Unternehmen sind froh, solche Meldungen verbreiten zu dürfen! Aber die Innovation als solche trifft im Unternehmen immer auch auf CloseMinds und Antagonisten.

»Begeisterung einfach so« weckt das Immunsystem! Schauen Sie auf die beiden folgenden Grafiken, hier die erste, die den Normalfall illustriert:

Reaktionen auf Innovation im Allgemeinen

Abb: Reaktionen auf Innovation im Allgemeinen

Nur in den wirklich erfolgreichen Unternehmen denken die vier Parteien grundsätzlich so:

Restresistenzen in innovativen Unternehmen

Abb: Restresistenzen in innovativen Unternehmen

In jedem Fall gibt es auch in »innovativen Unternehmen« noch genug Reserve gegenüber der Innovation als solcher. Und diese bildet Abwehrreaktionen aus, die man nicht fahrlässig provozieren sollte.

»Der Thor hält Rat für Feindschaft«

Der Protagonist einer neuen Idee sollte sich alle Meinungen anhören – alle! Er sollte die Antagonisten nicht für dumm erklären, und er darf die CloseMinds nicht für rückständig halten und als Bedenkenträger verachten. Sie werden ihn dafür in einer ganz natürlichen Gegenreaktion als Hasardeur, Spinner oder Fantast titulieren. Neuerer müssen möglichst viele Menschen für ihre Idee gewinnen. Sie müssen verstehen, was die Kunden wollen, was das Management erwartet, welche Angst die Investoren umtreibt und welche Risiken der Controller abwägt.

Alle Gruppen haben ihre OpenMinds, CloseMinds und Antagonisten, von denen der Innovator vieles verstehen lernen kann.

Professionelle Menschen hören zu und nehmen ernst. Man muss beileibe nicht tun, was andere wollen. Zuhören und verstehen bedeutet nicht »gehorchen«. Man muss einfach verstehen, was all die anderen verlangen und welche Gründe sie dafür haben. Innovatoren innerhalb eines Unternehmens bekommen unsäglich oft so etwas gesagt: »Unser Unternehmen tickt nun einmal anders und das geht hier nicht.« Damit haben die CloseMinds im Management nicht unbedingt gesagt, dass sie nun feindlich gegen das Neue sind, sie sind oft nicht einmal dagegen. Nein, sie wissen aus ihrer intimen Kenntnis der Unternehmensstrukturen, dass etwas Neues im Unternehmen auf Ablehnung stoßen wird – und sie wissen aus langer Erfahrung, dass sie selbst deshalb nicht mitmachen sollten, weil ihr Mitwirken verschwendete Zeit wäre. Innovatoren werden in Unternehmen oft angefeindet. »Ihr nervt! Es geht doch nicht! Wir wissen das aus Erfahrung.« Auch das gilt es zu verstehen.

Das Schlimmste, was ein Innovator da tun kann, ist das beleidigte oder verachtende Zurückzucken. Seine Idee trifft doch ganz natürlich auf viele Barrieren und Resistenzen, die er verstehen muss. Aber so, wie er für einen Feind gehalten wird, beginnt er selbst, die Andersdenkenden für seine Feinde zu halten, gegen die er kämpfen muss. Dabei sind es einfach Resistenzen von CloseMinds und Antagonisten, die es praktisch immer gibt. Die Haltung, Andersdenkende für Feinde zu halten, ist weitverbreitet – sie ist einfach Ausdruck einer neurotischen Innenresistenz gegen Einflüsse von außen.

Immer, wenn ich die Schlossanlage in Schwetzingen in der weiteren Umgebung von Heidelberg besuche, erschauere ich vor einer Inschrift in der Moschee im Schlossgarten: »Der Thor hält Rat für Feindschaft.«

Der »Thor« hat ein inneres Immunsystem, das auf Kritik nicht in der Sache reagiert, sondern den Kritiker als seinen Feind möglichst aus seinem Gesichtskreis entfernt.

Wenn ein Innovator sich in diesem Sinne als Thor zeigt, ist eigentlich schon alles verloren. Er soll doch die Immunsysteme aufbrechen und verändern! Er soll nicht alles gleich zu Beginn zerstören, indem er selbst durch seine eigenen Immunsysteme erhebliche Störungen erzeugt.

Ich selbst werde so oft von Gründern nach meiner Meinung zu ihrem neuen Service oder Produkt befragt. Meist haben die Gründer alle diese Hindernisse, die ich im Verlauf dieses Buches zeigen will, nicht aus ihrem eigentlichen Grund heraus verstanden. Sie wissen meist nicht, wie Kunden denken, wie der Markt reagiert, sie können ihre Erfindung nicht einleuchtend darstellen oder gar attraktiv erscheinen lassen, sie wissen nicht, wer genau das alles kaufen soll und wie viel es kosten soll. Dann weise ich sie möglichst schonend auf die absolut gähnenden Lücken hin. Ich zeige ihnen den Abgrund, vor dem sie stehen und über den sie springen sollen. Meist muss ich leider sagen: »Ich verstehe gar nicht, was Sie überhaupt verkaufen.« Denn meistens steht im neuen Flyer nur, dass das neue Produkt die Welt verbessern wird, sonst nichts! Und die entgegengesetzte schlimme Variante ist es, so technisch wie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu argumentieren. Es klingt wie »heiße Luft« oder sieht aus wie »unverständliche Tüftelei«. Und dann würde ich mir wünschen, die Innovatoren, die meinen Rat haben wollen, würden ab und zu einmal »Aha« sagen und zuhören. Ich muss nicht recht haben, aber ich habe doch wohl hörenswerte Argumente. Ich vernehme aber allzu oft am anderen Ende der Leitung ein stilles Stöhnen – es klingt wie »Dueck ist auch dagegen«. Dann verteidigen sie zäh ihre Idee und erklären mir, dass sie schon lange daran gearbeitet haben und es in der derzeitigen Form sehr gut finden. Ich frage: »Haben Sie schon anderswo Resonanz? Haben Sie Investoren gewonnen? Etwas verkauft?« Antwort: »Ich werde hin und her geschoben, keiner hört mir zu.« Und dann versuche ich zu erklären, dass es gerade dann doch wohl an der Zeit wäre, den anderen zuzuhören … »Na, Sie wimmeln mich ja jetzt auch ab. Was soll das heißen, man versteht es nicht, was ich will. Als wenn sich alle gegen mich verschworen hätten. Ich darf irgendwie nicht in die entscheidenden Zirkel.« Und ein wenig später lege ich traurig auf. Der Thor hält Rat für Feindschaft.

Geben Sie einmal einem von Scheidung Bedrohten einen Rat. Er nimmt ihn nicht an, er will nur Tröstung. Deshalb sollte man ihn trösten und ihm keinen Rat geben. Wenn ein Übergewichtiger klagt oder ein Raucher über seine kranke Lunge stöhnt, will er Trost, keine Entzugsvorschläge. Wenn jemand zaghaft zu mir kommt und andeutet, Manager werden zu wollen, will er Zustimmung, keinen Rat. Wenn alle diese Leute einen Rat bekommen, werden sie böse und halten uns Ratgeber für Feinde. »Du bist auch gegen mich!« Was können wir tun? Vielleicht trösten. Das löst die Spannung für den Moment. Aber der Trostsuchende bleibt weiterhin in sein Problem verstrickt – das ist sein Schicksal und sein Teufelskreis. Bei Innovationen ist es anders als bei Magersucht, Depression oder Prüfungsangst. Da tröstet keiner! Niemand nimmt an, dass ein Innovator getröstet werden muss. Man meint, man müsste ihm nur Rat geben und helfen! Und da ist das Zuhören als Innovator nicht so angenehm wie in fast allen anderen Fällen, wo die Menschen noch einen Sinn für Mitleid haben.

Hören Sie zu:

Hindernisse bei Innovationen sind meist ein wertvoller Hinweis auf noch Unverstandenes, das eher mit Neugierde untersucht als ärgerlich abgewiesen werden sollte.

Und ich bitte Sie jetzt, mir durch den ganzen Hindernisparcours zu folgen. Worüber muss ein Innovator mit seiner Innovation springen – wieder und wieder?

Die größten Hindernisse liegen in der als Prozess glatt laufenden Arbeitsteilung der Menschen, in die sich eine meist »quer« (im Amerikanischen »cross«) über das Ganze gelagerte Innovation nicht glatt einfügen lässt. Das Leben ist für den Normalfall ausgelegt und widersteht systematisch allen Veränderungen und Ausnahmen. Die einzelnen Menschen und Unternehmensabteilungen haben ja klare Verantwortlichkeiten in ihrem Mini-Kosmos. Nur der Innovator muss alles miteinander verbinden und in Bewegung setzen. Wie schafft er es, all die Menschen für eine günstige Zeit kurz von ihren engen Partikulärinteressen und Glaubenssätzen abzubringen? Viele Hindernisse lassen sich schon aus einer kurzen Aufzählung erahnen – und sie kommen Ihnen sicherlich bekannt vor (sie liegen unter anderem im Wort »nur«):

  • Wissenschaftler träumen nur von Ruhm.
  • Marketingchefs heischen nur nach Aufmerksamkeit.
  • Kommunikationsmanager wollen nur ein positives Image.
  • Manager wollen hauptsächlich Ordnung bei steigendem Gewinn.
  • Berater suchen nach Schwachpunkten, um Beseitigungsaufträge zu bekommen – oder sie verkaufen Innovationsmanagement als Ware – Herzblut exklusive.
  • Kunden zu verstehen ist schwer – auf welche soll man hören? Auf die Protagonisten unter den Kunden, die Neues euphorisch begrüßen? Oder auf im Prinzip offene potenzielle Käufer?
  • Fast alle Zukunftsträumer verstehen nicht, dass erst die Infrastrukturen für die Idee wachsen müssen (Autos nützen nichts ohne Straßen, Smartphones nichts ohne Funkabdeckung), deshalb erwarten sie chronisch zu viel und alles zu schnell …
  • Investoren und Shareholder nennen Träume Erwartungen.
  • Mitarbeiter haben Besitzstandsängste im Angesicht des Neuen.
  • Der Innovator weiß mit all dem nicht umzugehen.

In diesen Sätzen liegen die Grundfesten der hohen Barrieren, die eine Innovation oder ein Innovator überwinden muss.