ÜBER DAS NEUE UND SEINE VIELEN ERSCHEINUNGSFORMEN
Es gibt viele Arten des Neuen: Das sind technische Erfindungen, Geschäftsmodelle, neue Produktionsverfahren oder andere Servicemodelle (»jetzt in Selbstbedienung!«). Die Firma Second Life hat uns in künstliche Welten entführt, Google bietet alles online für den Preis, dass Unternehmen zahlen müssen, wenn wir deren Werbung im Netz anklicken. Die Energieexploration hat das neue Fracking-Verfahren bei der Erdgasgewinnung hervorgebracht, wobei man erst vertikal nach unten bohrt und dann von unten aus waagerecht verzweigt (man spült den Weg frei) – dabei findet man nun solche Mengen Erdgas, dass der Marktpreis in den USA kollabiert. Gesetze können zu Neuerungen zwingen, wenn sie erlaubte Grenzwerte verschieben, etwa für den Gasaustritt bei Autos. Wissenschaftliche Ideen erbringen Neues, die Neurologie erbringt gerade Erkenntnisse über Hirn und Mensch – wir könnten von neuen Lehr- und Lernverfahren profitieren. Ideen können sich auf neue Lebensformen beziehen (»Generationenhaus«), den Umgang mit unserem Glauben (»Internetkirche«) oder auf neue Lebensvorstellungen (»Turbokapitalismus«).
Das Neue tritt in vielen Varianten und Formen auf. Wenn ich in diesem Buch das Neue thematisiere, dann meine ich damit eigentlich das Neue im Allgemeinen. Die Beispiele, die ich hierzu anführe, sind dann eher »normal« und beziehen sich oft auf Produkte – bitte verstehen Sie, dass ich irgendwie an etwas anknüpfen möchte, was Sie schon kennen und woran ich gut erklären kann, ohne erst lange schildern zu müssen, worum es überhaupt geht. Das müsste ich wahrscheinlich bei »Second Life« für viele von Ihnen tun, um Ihnen zu erklären, warum das virtuelle Leben dort erst groß in Mode kam und dann schnell langweilig wurde – solche Tendenzen gibt es heute auch wieder bei Facebook.
Ich habe mich für Klarheit und für Beispiele entschieden, die Ihnen bekannt sein müssten. Das sind natürlich oft Produktneuheiten wie früher Waschmaschinen und heute Tablets oder Ultrabooks. Dieses Buch ist aber überhaupt nicht produktlastig gemeint! Wenn ich also »das Neue« thematisiere, meine ich es im weitesten Sinne, auch als neue Werbeidee, als neuen Geruch oder als neue Managementmethode. Unter »Erfinder« verstehe ich den Menschen, der diese Idee als Erster hatte – bitte verbinden Sie den hier gebrauchten Erfinderbegriff nicht ausschließlich mit Maschinen, chemischen Substanzen oder Daniel Düsentrieb.
Es gibt große und kleine Neuheiten – große wie eCars, an denen ganze Nationalindustrien hängen mögen, kleinere, wie der jetzt stark auf den Markt kommende Zuckerersatz aus der Stevia-Pflanze, und ganz kleine wie neue Weinbelüftungsgießaufsätze für Flaschen, die das vorzeitige Entkorken guten Rotweins ersparen. Ob die Erfindung oder das Neue nun groß oder klein sein mögen, immer streiten die Menschen, ob sie das Neue nun mögen oder nicht. »Ich dekantiere! Weinbelüfter ruinieren kostbaren Wein!« – »Er wird in Restaurants immer ruiniert, weil die Flasche beim Essen banausig kurz vor dem Trinken entkorkt werden muss, da ist ein Weinbelüfter ein Segen!« Die Menschheit ist fast immer gespalten, ob es nun um Weinbelüfter oder eine Reichensteuer geht!
Es macht aber einen gewissen Unterschied, ob das Neue im Staat, in Großunternehmen oder bei kleineren Mittelstandsunternehmen durchgesetzt werden muss. Es gibt Unterschiede, in welcher Regierungsform ein Staat oder Unternehmen geführt wird. Der kürzlich verstorbene Steve Jobs, der für seine Neuerungen bei Apple fast für unsterblich erklärt wurde, konnte in »seinem« Unternehmen schalten und walten, wie er wollte. Das Neue wird dort nach der Auffassung des Herrschers beurteilt, ganz anders als bei großen deutschen Energieversorgern, deren Aktien zu gutem Teil bei staatlichen Institutionen liegen. Mittelstandsunternehmen sind oft vollständig vom Unternehmenschef geprägt, denken Sie an die Unternehmen (jetzt muss ich wieder große nehmen, damit wir sie alle kennen!) Oetker, Otto, dm, Schlecker, Neckermann, Lidl oder Würth, deren Kultur von einem Einzelcharakter geprägt (worden) ist. Je nach Charakter setzt sich das Neue in solchen Unternehmen in verschiedener Weise durch.
Es ist für mich unmöglich, diese vielen besonderen Charakterfälle in einem Leitfaden über den Kampf um das Neue insgesamt gebührend zu würdigen. Ich habe mich an einen Normalfall von Unternehmen oder Institutionen gehalten, die sich um Neues bemühen, die gleichzeitig Angst haben, wo es Träumer gibt, die an Finanzabteilungen verzweifeln … Diese Unterschiede der Abteilungen und Meinungen finden Sie in kleineren Unternehmen ja auch! Überall, wo es Meetings, Tabellen und Genehmigungsformulare gibt, kommen Probleme gegen das Neue auf! Und wo es all das nicht gibt, entstehen wieder andere Katastrophen … Kleinere Unternehmen sind individueller, farbiger, wechselvoller – große reagieren vorhersehbarer, berechenbarer, weil sie alle dieselben Berater holen, die dieselben Arbeitstechniken einüben. Erfahrungen mit Stereotypen lassen sich natürlich einfacher beschreiben, aber – wie gesagt – ich kenne sehr kleine Unternehmen, in denen die IT-Abteilung (eine Person), die Marketingabteilung (drei Personen) und der Vertrieb (auch sehr wenige) genau dieselben zeremoniellen Kämpfe um das Neue ausfechten wie bei Großbanken oder Chemiegiganten. Es sind Menschen – immer im Hin und Her, immer unsicher zwischen Begeisterung und Angst, immer in Sorge um ihren eigenen Weg.
Ja, und zum Schluss ist das Buch von meinen eigenen Erfahrungen bei Versuchen geprägt, immer einmal wieder etwas Neues auf die Beine zu stellen. Fast 25 Jahre bei IBM stecken in mir, davor die 12 Jahre an der Universität Bielefeld als Forscher – jetzt betreibe ich meine Projekte »in der Welt 2.0«, also im Netz. Ich habe bei IBM drei, vier Mal jeweils über Jahre neue Geschäftsfelder erschlossen, zum Schluss »Cloud Computing«, was inzwischen sehr groß geworden ist. Ich habe dabei Einblick in viele Unternehmen bekommen, die ich bei solchen Geschäftsneugründungen als Kunde besuchen durfte. Ich meine wirklich »durfte«, denn ich habe viele Welten kennenlernen dürfen, von fast hyperaktiven Unternehmen (IBM zum Beispiel) bis hin zu »Großtankern«. Im Rahmen meiner Vortragstätigkeit waren auch viele kleine Unternehmen darunter! Wenn ich irgendwo teilnehme, bin ich ja immer ein paar Stunden vorher da und bekomme die internen Problemdiskussionen mit … Diese authentischen Erfahrungen kann ich hier an Sie weitergeben, selbst wenn ich nicht jeden Winkel der Welt gesehen habe!
Immerhin, seit etwa 1990 habe ich mich in der Welt der Unternehmensoptimierung umsehen dürfen, um »alles besser zu machen«, ich habe den dot.com-Hype beziehungsweise -Niedergang und die Finanzkrise in den Knochen, mich begeistert die immer noch beginnende Internetrevolution. Von allen Büchern, die ich schrieb, steckt in diesem wohl die meiste eigene Erfahrung.