Das Ende des Wohlstands

Neulich war ich in einem Edeka-Markt. Ich suchte mir zusammen, was ich brauchte, und füllte meinen Wagen. Ein Glas Honig wollte ich noch. Auf dem obersten Regal – da, wo das teure Zeugs steht – fand ich einen Bio-Waldhonig.

Auf dem auffälligen Etikett war eine schöne Schwarzwaldlandschaft abgebildet. Quer drüber stand »WALDHONIG werterhaltend abgefüllt«, darunter ein kleines Label: »DE-001-Öko Kontrollstelle«. Also war der Honig von einer privaten, aber staatlich zugelassenen Kontrollstelle daraufhin geprüft worden, ob er die Kriterien der europäischen Öko-Verordnung Nr. 834 vom 28. Juni 2007 erfüllt. In diesem Fall war das die Prüfstelle Nr. 001, also die BCS-Öko-Garantie GmbH Control System Peter Grosch in Nürnberg. Da die Prüfung offensichtlich einen positiven Ausgang hatte, durfte der Honig das offizielle deutsche staatliche Bio-Siegel tragen, sozusagen die Unterschrift von Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner.

Das Bio-Siegel ist dieses Symbol mit dem grünen sechseckigen Rahmen, Sie kennen das. Es garantiert, dass das Produkt nicht durch Bestrahlung verändert wurde, nicht durch oder mit gentechnisch veränderten Organismen oder unter Einsatz von synthetischen Pflanzenschutzmitteln oder mit mineralischen Düngern erzeugt wurde und keine Zusätze wie Geschmacksverstärker, künstliche Aromen, Farbstoffe oder Emulgatoren enthält. Auch die artgerechte Tierhaltung unter Verbot von Antibiotika und nicht-ökologisch produzierten Futtermitteln ist eine Voraussetzung für das Bio-Siegel. Quer über der Schwarzwaldlandschaft auf dem Honigglas prangte außerdem noch ein großes gelb hinterlegtes Feld, auf dem stand: »Aus kontrolliert biologisch-ökologischer Imkerei«. Sicher ist sicher.

Diese Bio-Öko-Prüforgie auf dem kleinen Etikett fand ich lustig. Wie wollten die denn das alles überhaupt kontrollieren? Na, klar, der Schwarzwald ist nicht aus der Welt, da kann man einen Prüfer hinschicken und einmal um den Bienenstock herumlaufen lassen. Aber bekommen die Bienen Flugschreiber umgeschnallt, die anfangen zu piepsen, sobald eine Biene auf einem Feld die Blüte einer mit Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel behandelten oder gentechnisch veränderten Pflanze findet? Bienen sammeln Nektar und Pollen in einem Umkreis von mehr als sieben Kilometern um den Bienenstock, das ist eine Fläche von mehr als 150 Quadratkilometern, die garantiert gentechnikfrei, pestizidfrei und kunstdüngerfrei sein müsste. Gibt es das irgendwo in Deutschland überhaupt noch? Oder dürfen die Bienen vielleicht nur unter einem Plastikzelt fliegen, in dem sie mit kontrolliert biologischökologischem Nektar gefüttert werden? – So ein Humbug! Aber was soll’s …

Als Hersteller wies sich die Honig-Wernet GmbH in Waldkirch/Schwarzwald aus, also tatsächlich Schwarzwaldhonig aus der Region. Waldkirch liegt bei Freiburg und ist von mir zu Hause ungefähr 100 Kilometer weit weg, das kann vielleicht gerade noch als regional durchgehen. Und es ist in jedem Fall besser als ein Honig vom Marktführer Fürsten-Reform, der mit seiner Marke »Langnese-Honig« über 100 Millionen Euro Umsatz im Jahr macht und schon auf seiner Website zugibt, dass die Lieferanten »aus den unterschiedlichsten Regionen in aller Welt« stammen – ohne Angabe, ob es sich dabei um Uruguay, Indien oder Rumänien handelt.

Ich nahm also das Gläschen mit: 500 Gramm für 6,50 Euro, nicht gerade ein Schnäppchen, aber auch nicht teuer für ein regionales Produkt, das offenbar fachgerecht hergestellt worden war.

Echt süß

Honig ist eine tolle Sache. Er kann nicht in einer Fabrik hergestellt werden, sondern nur von dem altehrwürdigen, wunderschönen Berufsstand des Imkers und zwar auf ursprünglichste Weise. Honig wird kaum bearbeitet, sondern lediglich gesammelt und möglichst unerhitzt geschleudert. Er entsteht nur in unmittelbarem Kontakt mit der Natur. Wo es keine Freiflächen und Wälder mehr gibt, gibt es auch keine Blüten und keine Bienenvölker. Stadt-Honig jedenfalls habe ich noch nirgends gesehen.

Honig besteht aus ungefähr 200 verschiedenen Inhaltsstoffen. Neben verschiedenen natürlichen Zuckersorten sind das Proteine, Enzyme, Mineralstoffe, Aminosäuren, Vitamine und Aromastoffe. Laut Gesetz darf in Deutschland dem Honig nichts hinzugefügt oder entzogen werden, er ist also automatisch zu 100 Prozent naturbelassen. Er ist bei sachgemäßer Behandlung gesund, kann sogar als Heilmittel verwendet werden, weil er eine leicht entzündungshemmende Wirkung hat. Ungefähr anderthalb Kilo pro Kopf verbrauchen wir in Deutschland. Mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Honig ist ein uraltes Lebensmittel, das schon in der Steinzeit zur Nahrungsergänzung diente. Spätestens 7000 Jahre vor Christi Geburt wurden die ersten Bienenvölker kultiviert. Honig gehört zur Kulturgeschichte der Menschen wie das Feuer, der Hund und das Rad. Dort, wo wir waren, waren immer auch Bienen in unserer Nähe, und so hatten wir durch all die Jahrtausende fast überall auf der Welt immer etwas Süßes zu essen.

Aber die Honigkultur scheint uns nicht so wichtig zu sein. In Deutschland gibt es nur noch wenige Imker. Der Selbstversorgungsgrad bei Honig liegt bei uns nach unterschiedlichen Angaben nur noch zwischen 12 und 20 Prozent. Das bedeutet, dass im Saldo 80 bis 88 Prozent des verbrauchten Honigs eingeführt werden – ein Musterbeispiel der renditegetriebenen Globalisierung mit der Begleiterscheinung des Kulturverlusts. Wenn man da einmal Honig von einem Imker aus der Region findet, muss man eigentlich sofort zugreifen.

Zumal in den Hauptherkunftsländern Argentinien, Mexiko und Brasilien der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen im Freiland weit verbreitet ist. Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen sind aber laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom September 2011 auf dem Honig mit »Enthält gentechnisch veränderte Organismen« auszuweisen, wenn der Pollen im Honig zu mehr als 0,9 Prozent von gentechnisch veränderten Pflanzen stammt. Das würde einen Honig nahezu unverkäuflich machen. Also schreibt es niemand drauf. Der Schluss, dass es darum auch keinen Honig mit genveränderten Bestandteilen gibt, ist aber wohl eher naiv.

Honig darf außerdem überhaupt nicht in Verkehr gebracht werden, wenn die gentechnisch veränderten Pflanzen, von denen Spuren im Honig gefunden werden, in der EU gar nicht zugelassen sind. Das trifft aber auf viele Pflanzen in Nord- und Südamerika zu. Der Honigverband hat deshalb bestätigt, dass ca. 5 Prozent der Honige in Deutschland überhaupt nicht mehr verkauft werden dürften. Ich glaube, das ist eine sehr vorsichtig geschätzte Zahl.

In Süd- und Mittelamerika gab es interessanterweise ursprünglich gar keine stachelbewehrten Honigbienen, so wie wir sie kennen, sie wurden erst nach der Conquista aus Europa eingeführt. Im Jahr 1956 importierte dann das brasilianische Agrarministerium 120 Bienenköniginnen aus Afrika, um sie einzukreuzen und damit die europäischen Honigbienen noch leistungsfähiger zu machen – und so die Rendite beim Honigexport zu erhöhen. Das gelang auch, aber schon 1957 entkamen 26 Schwärme mit afrikanischen Königinnen und flüchteten in die brasilianische Wildnis, wo sie erstaunlich gut überlebten, sich rasch ausbreiteten und einheimische Bienenarten verdrängten. Die ursprünglich in Süd- und Mittelamerika lebenden staatenbildenden stachellosen Bienen sind heute vom Aussterben bedroht und mit ihnen viele Pflanzenarten, die durch sie bestäubt werden.

Die afrikanischen Anteile in den Bienenschwärmen sind dominant und verdrängten auch innerhalb der Völker die europäischen Anteile beinahe vollständig. Die Bienenschwärme, die aus der Einkreuzung resultierten – Wissenschaftler schätzen ihre Zahl auf mehr als eine Milliarde Bienenvölker –, sind hoch aggressiv, denn sie stechen nie vereinzelt oder alleine, sondern greifen immer mit fast dem ganzen Schwarm an und verfolgen ihre Opfer über mehrere Kilometer, sodass man schnell mehrere Hundert Stiche abbekommt. Ab ungefähr 500 Stichen stirbt ein Kind. Alleine in Brasilien sterben pro Jahr ungefähr 200 Menschen durch die eingeführten Bienen.

Mittlerweile haben sich die sogenannten »Killer-Bienen« über den gesamten Subkontinent ausgebreitet und bevölkern auch schon die Südstaaten der USA. Nur der Winterfrost wird sie vor einer weiteren Ausbreitung nach Norden abhalten. Die vielen Tausend Opfer der afrikanisierten Honigbiene starben aber immerhin für einen ganz bestimmten Zweck: die Rendite der Lebensmittelindustrie.

Umso besser also, wenn man es mit einem europäischen, besser noch mit einem deutschen und viel, viel besser noch mit einem regionalen Honig zu tun hat. Bio hin oder her. Denn Bio verhält sich zu regionaler Nähe wie Salz zu Suppe. Salz ist gut. Aber zunächst mal brauche ich die Suppe, sonst habe ich nichts zum Salzen. Denn Regionalität verbraucht viel weniger Energie und erhält Strukturen, die sich, wenn sie mal vernichtet sind, nicht wieder so leicht aufbauen lassen.

Für die Imker wäre der Absatz über die Supermärkte direkt vor Ort anstatt über global operierende Lebensmittelkonzerne außerdem ideal. Ein kleiner Imker kann vielleicht zwei, drei Supermärkte versorgen. Aber die Supermarktketten haben mit kleinen Produzenten nun mal ein Problem. Die können das logistisch gar nicht verarbeiten, denn deren Einkaufssysteme sind auf wenige Großlieferanten eingestellt und nicht auf viele Tausend kleine.

Whole Foods aus den USA zeigt aber, dass es geht, und zwar in ganz großem Stil. Ein Unternehmen mit 9 Milliarden Euro Umsatz, das kleine Imker zu seinen Lieferanten zählt und diese sogar bisweilen mit Kleinkrediten unterstützt, damit sich eine kleinteilige, hochqualitative regionale Produzentenstruktur erhalten kann. Die Verkäufer in den Whole Foods Markets sind auch so fit, dass sie genau wissen, woher ihre Produkte stammen. Sie können den Kunden bisweilen sogar die eine oder andere Geschichte von dem speziellen Imker erzählen, dessen Gläser da im Regal stehen. Ausgerechnet die Amis können das besser als wir …

Na, jedenfalls freute ich mich über meinen Schwarzwaldhonig und genoss ihn immer mal wieder zum Frühstück.

Dann, einige Wochen später, machte ich eine grausige Entdeckung: Ich starrte auf den Deckel meines Schwarzwaldhonigs, der auf dem Frühstückstisch stand. Ich hatte zufällig einen Blick darauf geworfen und fand da eine relativ unleserliche Schrift, die auf den Deckel aufgeprintet war, so ähnlich wie man das von Haltbarkeitsdaten kennt. Da stand: »Herkunft: Italien/Brasilien«.

Nein! Ich will keinen Honig aus Italien, und erst recht keinen aus Brasilien! Aber ich kann mich als Konsument doch nicht mit jeder Kartoffel, Nudel, Milch und mit jedem Glas Honig en détail beschäftigen. Ich kann mir auch nicht merken, welches der zig Gütesiegel jetzt glaubwürdig ist und welches nicht. Ich habe auch vergessen, wie die Firma gleich noch mal hieß, die letzte Woche mit diesem Lebensmittelskandal in der Zeitung war.

So, und das ist der Punkt: Um mich zu orientieren, bin ich auf die Händler angewiesen. Das sind doch die Profis, das wäre ihr Job! Die Händler müssen die Auswahl tätigen und dafür geradestehen. So wie Whole Foods das mit Freude tut.

Einer ist immer der Depp

Handel ist bisweilen ein schmutziges Geschäft. Natürlich ist mit dem Schwarzwaldhonig aus Brasilien alles juristisch korrekt und unangreifbar abgelaufen, denn es stand ja nirgends ausdrücklich »Schwarzwaldhonig« oder »Herkunft: Schwarzwald« auf dem Etikett. Es war nur ein irreführendes Bild und die Ortsangabe des Abfüllers, die mich in Kombination getäuscht hatten. Über meine Doofheit würden die Hersteller, Abfüller und Händler vermutlich nur grinsen und ansonsten eine Unschuldsmiene aufsetzen wie ein Abwehrspieler im Strafraum, der neben dem rüde gefällten Stürmer steht: Ich hab doch nichts Unrechtes getan …

Im Handel wird genauso getrickst wie in der Produktion. Wenn wir schon beim Schwarzwald sind, kann ich auch gleich die Freiburger Firma Breisgaumilch erwähnen, die Schwarzwälder Butter, Schwarzwälder Buttermilch, Schwarzwälder Schichtkäse, Schwarzwälder Frischkäse und Schwarzwälder Kaffeesahne mit Bollenhut und Schwarzwaldlogo verkaufte – und jeder dachte, das Zeug habe Schwarzwälder Milch von Kühen zum Ursprung, die in Schwarzwälder Ställen stünden. Vermutlich lief es mit dem Unternehmen so gut, dass es im gesamten Schwarzwald nicht genügend Milch gab, jedenfalls stammte die Milch in Wahrheit aus dem Allgäu, was aufmerksame Kunden sogar schmecken konnten. Der Schwindel flog 2010 auf. Dass die Firma Breisgaumilch kurz nach ihrem imageschädigenden Etikettenschwindel ihre Marke aufgab und sich in »Schwarzwaldmilch« umbenannte, hat laut Angaben des Unternehmens nichts damit zu tun.

Die Kunden hinters Licht zu führen ist in manchen Kreisen der Wirtschaft so normal, wie es unanständig ist. Wenn es kurzfristig Umsatz bringt, wird es einfach gemacht. Die langfristigen Folgen sind egal. Als Verbraucher haben wir nach zig Skandalen in den letzten Jahrzehnten jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass wir uns auf nichts mehr verlassen können.

Aber am allerschmutzigsten geht es dort zu, wo der Ursprung der Renditegier der Manager sitzt: bei den internationalen Finanztransaktionen, die sekündlich über die Bildschirme der Brokerzunft flimmern. Dieses Geschäft ist der Wilde Westen, denn es gibt ja in diesem Feld nicht einmal Gesetze, auf deren Verletzung hin man die Täter verfolgen könnte.

Ich glaube, wir alle fühlen instinktiv, dass es so nicht mehr weitergeht. Wir leben in einer unglaublich abgefahrenen, zutiefst verunsichernden Zeit, in der sich radikalste Veränderungen mit irrwitziger Geschwindigkeit abspulen. Wir erleben, wie gestern noch scheinbar festgefügte Systeme plötzlich kollabieren. Ich bin damit aufgewachsen, dass in Ägypten Mubarak und in Libyen Gaddafi herrschen. Das war so sicher wie die Tatsache, dass ein Taxi beige ist und aus Untertürkheim stammt. Und plötzlich ist das alles weggefegt.

Ich bin damit aufgewachsen, dass trotz Tschernobyl gegen die Atomindustrie kein Kraut gewachsen ist, und wenn man auch noch so heftig dagegen demonstriert. Und plötzlich wird die Atomwirtschaft von der schwarzgelben Bundesregierung so schnell wie möglich aus dem Land geworfen.

Ich bin mit einer stabilen Währung in einem vereinigten Europa aufgewachsen, und heute droht uns der Euro mitsamt der EU um die Ohren zu fliegen. Alles scheint möglich. Alles ist irgendwie extrem verdreht. Auf nichts ist mehr Verlass. Alles passiert von heute auf morgen. Und niemand blickt mehr durch.

Während sein Land vor die Hunde geht, sitzt da der griechische Milliardär George Economou, der weltweit zweitgrößte Besitzer von Riesen-Containerfrachtern der Panamax-Klasse, nach ausgiebigem Kunstwerke-Shopping bei Noch-Metro-Chef Eckhard Cordes im Büro auf dem Ledersessel und will von ihm für ein paar Milliarden die Warenhauskette Kaufhof übernehmen. Während seine Landsleute unter den drakonischen Sparmaßnahmen ächzen, die federführend die Bundeskanzlerin des Heimatlands von Kaufhof durchdrückte. Das ist einfach nur durchgeknallt.

Wir ärgern uns und wir wissen, dass die Profiteure all dieser Verrücktheiten am Ende immer nur einige wenige sind. Und diese wenigen sind immer diejenigen, die nicht Waren oder Dienstleistungen verkaufen, sondern Geld. Sie sitzen in ihren Villen an der Goldküste des Zürichsees oder in den Beverly Hills vom Genfer See und produzieren nichts, sie erzeugen keinen Mehrwert, sie erfinden nichts, innovieren nichts, verkaufen nichts, sie haben einfach nur Geld und lassen es per Computer ein paarmal pro Minute um den Globus wandern, um es zu vermehren. Legal. Steuerfrei.

Wir, der »neue Mittelstand« zwischen Geldadel und Transferleistungsempfängern, sind das Melkvieh. Wir sollen einfach nur stillhalten, effizient und verfügbar sein, unser hoch versteuertes Einkommen beziehen, Bausparverträge und Versicherungen sowie billigen Trödel und schlechte Nahrungsmittel hoch versteuert konsumieren, gelenkt von der Werbung in Print und TV. Und weil wir das alle so brav machen, haben die Investoren, die Aktionäre, die Deutsche Bank und die Broker an den Finanzplätzen der Welt immer wieder aufs Neue die Gelegenheit, ihre Renditeziele hochzuschrauben und die Wirtschaft weiter steuerfrei auszusaugen.

Dabei stecken wir in einer tiefen Krise, vielleicht schon kurz vor der Explosion. Was uns um die Ohren zu fliegen droht, ist unser gesamtes Wirtschafts- und Finanzsystem, unser Lebensstil, unsere Konsumwelt. Denn die sind nicht nachhaltig.

Geld wächst an Geld

Ein Beleg für diese Krise von Wirtschaft und Gesellschaft ist das Auftauchen des Begriffs »Nachhaltigkeit« selbst. Der Journalist und Nachhaltigkeitsexperte Ulrich Grober hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Darin zeigt er unter anderem, dass der exzessive, fast schon wahllose, inflationäre Gebrauch des Begriffs nichts anderes ist als ein zuverlässiges Symptom der Systemkrise.

Das Wort ist nicht neu. Schon vor über 250 Jahren war »Nachhaltigkeit« der Leitbegriff der deutschen Forstwirtschaft, nachdem Hans Carl von Carlowitz das erste Grundlagenwerk über die Forstwirtschaft verfasst und darin das »Dreieck der Nachhaltigkeit« beschrieben hatte: den Zusammenklang von ökologischem Gleichgewicht, ökonomischer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit.

Immer da, wo in unserer Geschichte dieses Zusammenspiel gestört war, entstanden Krisen. Und immer, wo es diese Krisen gab, kam die Idee der »Nachhaltigkeit« auf, wenn auch nicht immer unter diesem Begriff. Diese war, wie Ulrich Grober sagt, immer ein »Kind der Krise«.

Jetzt ist es wieder so weit. Wieder haben wir die Aufgabe, die Balance zwischen ökologischer Verträglichkeit, ökonomischer Vernunft und sozialem Ausgleich neu herzustellen. Denn jedes Mal, wenn der Begriff »Nachhaltigkeit« zum Modewort avancierte und von einer Krise zeugte –, zum Beispiel als um 1700 der sächsische Silberbergbau aufgrund von Holzmangel zum Erliegen zu kommen drohte, zum Beispiel 1972 mit der Studie »Grenzen des Wachstums« des Club of Rome oder mit der Rio-Erklärung von 1992 –, entstand auch ein neues Bewusstsein, das die Gesellschaft auf eine neue Stufe hob.

Im 18. Jahrhundert, als der Wald niemandem gehörte und es keine vernünftigen Regeln gab, wurde er schlicht leergeplündert. Jeder hatte sich bedient, es wurde mehr verbraucht, als nachwachsen konnte. Die Folge war ein schmerzhafter Holzmangel, der teilweise tatsächlich eintrat, teilweise nur befürchtet wurde. In der gesamten Bevölkerung grassierte jedenfalls die Angst vor der sogenannten »Holznot« – was in etwa vergleichbar gewesen wäre mit einem gravierenden Ölmangel heute. Und die Menschen lernten schmerzhaft: Man muss solide planen, vernünftige Regeln aufstellen und durchsetzen und vorsichtig mit seinen Ressourcen umgehen, damit nicht die ganze Gesellschaft vor die Wand läuft.

Für mich ist heute klar, dass wir dringend wieder einen solchen Schritt nach vorne tun müssen, denn in keiner der drei Ecken des Dreiecks der Nachhaltigkeit – weder in der ökonomischen noch in der ökologischen noch in der der ethisch-sozialen Ecke – sieht es gut für uns aus:

Ökonomisch: Wir wirtschaften nicht nachhaltig. Die globalisierte Wirtschaft verbraucht ihre eigenen Grundlagen, weil sie auf internationaler Ebene unreguliert, völlig enthemmt abläuft. Die Tatsache, dass die Logistik heute fast nichts kostet, macht es möglich, dass der Ort der Herstellung und der Ort des Verkaufs eines Produkts völlig voneinander entkoppelt sind. Das begünstigt massive Konzentrationen bei der Produktion, aber vor allem beim Handel, die im Wesentlichen rendite- und effizienzgetrieben sind. Aber weder steht uns das Öl sicher zur Verfügung, noch ist die weltweite Verfügbarkeit der Logistik sicher, noch ist die Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte sicher. Es ist deshalb ökonomisch nicht vernünftig, Unternehmen, Geschäftsmodelle und Wohlstand davon abhängig zu machen.

Ökologisch: Unabhängig von der Klimadiskussion sind die Energierohstoffe von heute stark verschmutzend. Wir haben ein Riesenproblem mit den Kunststoffen, die allesamt aus Öl gemacht werden. Die Kunststoffe sind fast alleine dazu da, Produkte billiger zu machen und den Transport zu vereinfachen. Unsere natürlichen Ressourcen bewirtschaften wir nicht mit weitem Horizont, sondern beuten sie auf dem gesamten Globus kurzlebig aus: Überfischung, Landübernutzung und Flächenversiegelung, Abholzung der Regenwälder, Zerschneidung von Biotopen und Vernichtung von Lebensräumen, Verlust von Tier- und Pflanzenarten, Erosion, Trinkwassermangel, Luftverschmutzung, Staubstürme, Schäden durch eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten, Giftrückstände in der Nahrungskette, Antibiotika-Resistenzen bei Krankheitserregern. Die Liste ließe sich fortsetzen. Profit gegen Tod und Vernichtung einzutauschen, geht nicht lange gut.

Ethisch-sozial: Die Eisscholle, auf der wir leben, ist in einer Schieflage, und der größte Teil der Menschen droht abzurutschen. Laut einer Studie des Credit Suisse Research Institute besitzen knapp 10 Prozent der Weltbevölkerung über 80 Prozent des Weltvermögens. Und die Schere geht immer weiter auseinander. In der Schweiz beispielsweise gibt es Vermögenswerte von 3,3 Billionen US-Dollar. Es gibt über 600 000 Schweizer Dollar-Millionäre und fast 4000 superreiche Schweizer mit Vermögen über 50 Millionen US-Dollar. Und das bei nur 7,8 Millionen Einwohnern. Aber in der Demokratischen Republik Kongo beträgt das Bruttonationaleinkommen pro Kopf 290 US-Dollar. Pro Jahr.

Der Ursprung der viel zu extremen und immer noch extremer werdenden Schere zwischen Arm und Reich lässt sich ablesen an den reichsten Ländern der Welt, gemessen am Bruttonationaleinkommen pro Kopf: Die ersten drei sind Norwegen, das Emirat Kuwait und das Sultanat Brunei. (Luxemburg, das die Statistiken meist anführt, ist weit weniger reich als allgemein vermutet, denn in Luxemburg sind die Hälfte aller Beschäftigten Grenzgänger, deren Einkommens-, Steuer- und Abgabenbeträge in die Statistiken einfließen, deren Summe aber nur durch die Anzahl der »echten« Einwohner dividiert wird, was das Land im Ergebnis doppelt so reich aussehen lässt, wie es ist.) Und wovon leben die 5 Millionen Norweger, die knapp 3 Millionen Kuwaitis und die 400 000 Einwohner Bruneis? Vom Erdöl.

Die nächsten drei in der Rangliste sind Singapur, die USA und die Schweiz. Diese drei Länder beherbergen laut der City of London Corporation vier der sieben wichtigsten Finanzplätze der Welt, nämlich die Städte New York City, Singapur, Chicago und Zürich. Die Superreichen werden reich durch Erdöl oder durch Geld, das Geld verdient. Wer Öl hat, wird reich. Und wer reich ist, wird immer noch reicher.

Die Symptome der ethisch-sozialen Schieflage sind zahlreich, ich will hier nur drei erwähnen: Erstens Hunger – die nächste große Hungerkatastrophe der Welt droht in der ungebrochen wachsenden Bevölkerung Indiens, die bereits 1,2 Milliarden Menschen groß ist und sich aus eigener Kraft nicht mehr ausreichend ernähren kann. Zweitens Kinderarbeit – laut UNICEF arbeiten weltweit 190 Millionen Kinder unter 14 Jahren, vor allem in der Landwirtschaft, in kleinen Werkstätten, in Fabriken, in Steinbrüchen, im Straßenverkauf und als Dienstmädchen. Drittens Wanderarbeiter – beispielsweise arbeiten rund 250 Millionen Wanderarbeiter und Tagelöhner vom Land ohne Niederlassungsbewilligung, ohne Arbeitsvertrag, ohne Gesundheitsversorgung und unter miserabler, unregelmäßiger oder ausbleibender Bezahlung fern ihrer Familien in Chinas Millionenstädten. Auf dem Elend dieser Menschen ist unser Billigsystem aufgebaut.

Wir in Deutschland, in einem der am höchsten entwickelten Länder der Welt, fühlen uns in der Mehrheit überhaupt nicht reich. Wer heute bei null anfängt, schafft es kaum, zwanzig Jahre später ein eigenes Haus zu besitzen. Wir werden, gemessen an unseren Lebenshaltungskosten, schlecht bezahlt für sehr effiziente und sehr wertschöpfende Tätigkeiten und können uns vergleichsweise wenig leisten: Viele Einkommen in den Sozialberufen, im Dienstleistungsbereich, im Einzelhandel oder in der Gastronomie sind katastrophal. Es gibt immer mehr vor allem freiberufliche Akademiker, die sich halbtot arbeiten, und es reicht gerade mal zum Leben. Meine Wahrnehmung ist, dass die wenigsten, auch nicht die gut ausgebildeten, eine Chance haben, nennenswert Reserven aufzubauen, wie es noch unsere Elterngeneration konnte.

Meine Eltern kauften sich 1977 ein Haus für 250 000 D-Mark, also 128 000 Euro. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seitdem etwa vervierfacht, das verfügbare Einkommen pro Arbeitnehmer und Jahr aber nur verdoppelt. Rechnen wir doch mal genauer: Das durchschnittlich verfügbare Jahreseinkommen betrug damals umgerechnet ungefähr 8900 Euro. Das Haus meiner Eltern kostete also das 14,4-Fache davon. Im Jahr 2011 belief sich das durchschnittliche verfügbare Einkommen je Arbeitnehmer auf 18 588 Euro. Würde ich heute das 14,4-Fache davon für den Hauskauf aufwenden, dann wären das 268 000 Euro. Dafür würde ich in der Wohngegend, in die meine Eltern sich damals eingekauft haben, heute aber nicht einmal mehr das Grundstück bekommen. Nicht einmal annähernd! »Es ist, als ob man in einem Raum lebt, der immer mehr schrumpft«, zitierte Frank Schirrmacher im August 2011 den englischen Publizisten und Thatcher-Biografen Charles Moore in einem Artikel mit der bemerkenswerten Überschrift »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat« – und das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung!

Schlechte Bezahlung, hohe Immobilienpreise, unsichere Perspektiven und immer höhere Aufwendungen für die Altersvorsorge. Ja, die Räume schrumpfen. Dennoch: Bislang sind wir insgesamt trotzdem immer noch eine der reichsten Gesellschaften der Welt, unbestritten. Die Frage ist also: Wo ist das Geld?

Überall auf der Welt, auch innerhalb von Deutschland, klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Und durch alles, was neuerdings im Finanzgeschäft möglich ist, wird das noch extremer, denn mit nichts kann man so viel Geld verdienen wie mit Geld. Noch einmal Charles Moore: »Ein System, das angetreten ist, das Vorankommen der Vielen zu ermöglichen, hat sich zu einem System pervertiert, das die Wenigen bereichert.« Ungleichheit und Ungerechtigkeit ziehen aber Gewalt, Aufstände und Krieg nach sich, das ist eine der wichtigsten Lehren der Geschichte der Menschheit.

Wir sind in Deutschland im Moment noch eine der sichersten Gesellschaften, die es überhaupt gibt. Aber auch bei uns ist die Gesetzmäßigkeit, dass übermäßige Ungleichheit unter Menschen notfalls gewaltsam beseitigt wird, nicht außer Kraft gesetzt. Und was wir noch lange nicht verstanden haben, was wir aber endlich verstehen müssen: Mit jedem Einkauf beim Discounter, bei jedem Schnäppchen, das wir mitnehmen, mit jeder Entscheidung für ein billiges anstelle eines wertvollen Produkts schieben wir uns ein kleines Stückchen weiter vor an den Rand des Abgrunds.

Ausgegeizt!: Wertvoll ist besser - Das Manufactum-Prinzip
titlepage.xhtml
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_000.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_001.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_002.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_003.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_004.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_005.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_006.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_007.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_008.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_009.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_010.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_011.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_012.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_013.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_014.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_015.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_016.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_017.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_018.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_019.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_020.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_021.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_022.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_023.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_024.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_025.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_026.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_027.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_028.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_029.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_030.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_031.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_032.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_033.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_034.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_035.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_036.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_037.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_038.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_039.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_040.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_041.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_042.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_043.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_044.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_045.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_046.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_047.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_048.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_049.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_050.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_051.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_052.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_053.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_054.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_055.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_056.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_057.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_058.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_059.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_060.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_061.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_062.html
CR!QN2HCRW2CS0TS3AETD709YEE8KVG_split_063.html