Wie man Mittelmaß produziert
Der Fluch der falschen Kundenorientierung
Billig, Mainstream, Mittelmaß … Um zu illustrieren, was Mittelmaß ist, fällt mir als erstes die Bahn ein. Die Bahn will alles, aber kann anscheinend nichts richtig.
Sie will edel sein, mit einem tollen, supermodernen Vorzeigebahnhof in Berlin, den der Stararchitekt Meinhard von Gerkan entwerfen durfte – aber sie ziehen in der unterirdischen Halle statt des geplanten schicken Gewölbes eine billige Flachdecke ein, und zwar gegen den Willen und das Urheberrecht des Architekten. Es geht um einen Vorzeigebau Deutschlands, um 300 000 Fahrgäste am Tag, um ein absolutes Imageobjekt für die nächsten Jahrzehnte, um eine Investition von insgesamt schätzungsweise 10 Milliarden Euro – und die Bahn begründet ihre Umplanung mit einer Einsparung von ein paar Millionen Euro, also ein paar Promille der Gesamtkosten. Das ist Mittelmaß.
Die Bahn will kundenorientiert sein – aber weil die Lufthansa ein »Miles-and-More-Programm« hat, macht die Bahn eben ein »Bahn-comfort-Programm«. Das ist Mittelmaß.
Die Bahn will modern und edel sein und hat neben teuren Bahnhöfen auch modernste Züge angeschafft – aber in vielen Winkeln von vielen Zügen und in vielen Ecken von vielen Bahnhöfen ist es siffig, zugig, speckig, dreckig, staubig und stinkig. Das ist Mittelmaß.
Die Bahn will weltläufig sein – aber sie macht sich bei den Passagieren zum Affen mit ihren hanebüchenen Fluglinie-Durchsagen im Stile von »Gud Morning, Läidiees änd Dschentelmenn, wie wisch ju a plesent träwwel …« – Und der halbe Zug lacht. Das ist Mittelmaß.
Die Bahn könnte stolz sein auf das, was sie kann, und tut stattdessen so, als wäre sie eine Fluglinie auf Rädern, noch halb im Behörden- und Beamtenmief der 60er Jahre hängend, ähnlich wie die Post. Dabei strotzt das Unternehmen vor Kapital, Tradition, Nutzen und Wert. Es ist ein Jammer … Und wenn ich an die Bahn denke, fällt mir als Nächstes Karstadt ein. Au weia, Karstadt ist mittelmäßiger als alles. Gehen Sie hin und schauen Sie es sich an. Karstadt ist unverzichtbar, und zwar als Museum. Dort werden Sachen verkauft, die es sonst nirgendwo mehr gibt: die Süßwarenabteilung, die Kurzwaren, die Übergangsjacke für Herren in Rentner-Beige, das Ganze auf hip geschecktem grauem Linoleumboden. Es spricht ja vieles dafür, Dinge anzubieten, die es sonst nirgendwo mehr gibt. In den meisten deutschen Städten könnten Sie heute ohne den Karstadt ja keinen Knopf mehr kaufen. Aber es geht eben auch darum, wie man es verkauft. Ein Spaziergang im Karstadt ist wie eine Zeitmaschine in die späte Wirtschaftswunderzeit. Natürlich, es gibt die Ausnahmen, die drei in die Karstadt Premium GmbH ausgelagerten Edelhäuser KaDeWe Berlin, Alsterhaus Hamburg und Oberpollinger München, die bieten tatsächlich Einkaufserlebnisse auf dem Stand des 21. Jahrhunderts, aber das durchschnittliche Karstadt-Haus in einer durchschnittlichen Stadt ist Mittelmaß pur.
Der beste Beleg für die Mittelmäßigkeit von Karstadt ist, dass niemandem diese Kaufhäuser wirklich lieb und teuer sind und dass es niemanden gibt, der sie wirklich hasst oder übel findet. Karstadt ist eine Marke, die niemanden aufregt, weder positiv noch negativ. Starke Marken polarisieren. Porsche, Apple oder BMW werden immer Fans und Ablehner haben. Mittelmaß hat eine Marke dann erreicht, wenn sie egal ist.
So wie Quelle. Als der größte Versender Deutschlands, das dickste Schiff in einem der größten Versandhandelsmärkte der Welt im Jahr 2009 pleiteging, war er einfach weg, sang- und klanglos untergegangen – und niemand regte sich wirklich darüber auf, niemand vermisste ihn, und niemand freute sich, dass er endlich verschwunden ist. Dass nichts so treffsicher an die seligen 50er Jahre erinnert wie eine Waschmaschine mit dem Namen »Privileg«, die es fortan nicht mehr geben sollte, verschmerzte die Republik wie in China umfallende Reissäcke. Keine Fans, keine Gegner, Mittelmaß eben.
Verlorene Träume
Mittelmaß ist ein Synonym für schlechte Arbeit. Die Frage ist: Wie kommt es dazu, dass einstmals stolze Unternehmen, die innovativ, kreativ, revolutionär gestartet sind und Wirtschaft und Gesellschaft geprägt haben, allmählich im Mittelmaß versinken, bis sie nur noch dahinsiechen und irgendwann still verscheiden?
Rudolph Karstadt war ein Revolutionär. Als er 1881 sein erstes Geschäft in Wismar gründete, führte er Festpreise ein. Das war neu, denn bisher war es immer noch üblich, zu handeln und zu feilschen. Genauso kompromisslos ging er beim Einkauf vor, er umging den Zwischenhandel und kaufte zentral und direkt bei den Herstellern ein. Diese Innovationen katapultierten den Einzelhandel in eine neue Ära. Innerhalb von fünfzig Jahren konnte Karstadt fast 90 Kaufhäuser eröffnen. In der Wirtschaftswunderzeit nahm der Konzern so richtig Fahrt auf und wurde bis 1977 mit über 10 Milliarden D-Mark Umsatz das größte Handelsunternehmen Deutschlands. Neckermann wurde geschluckt, die Grimme- und Centrum-Warenhäuser wurden dem Konzern einverleibt, Hertie wurde übernommen und am Ende folgte Quelle – Karstadt wurde immer dicker … und immer mittelmäßiger. Die Innovationskraft aus der Gründerzeit war zwischenzeitlich verloren gegangen, Karstadt war nicht mehr Spitzenklasse, sondern nur noch groß.
Diese Mittelmaßunternehmen sind nicht wirklich billig, aber sie sind Phänomene einer Billigkultur: fehlende Begeisterung und ein Mangel an Exzellenz in jeder Hinsicht. Die Mittelmaß-Wirtschaft geizt mit allem: mit Innovation, mit Kreativität, mit Ästhetik, mit Qualität, mit Wertmaßstäben und mit dem Geld. Wieso nur?
Drei Jahre nach dem Tod des Gründers der Opel-Nähmaschinenfabrik begannen seine fünf Söhne, Autos zu bauen. Die Opel-Gang, bestehend aus Carl, Wilhelm, Heinrich, Fritz und Ludwig, war ein begeisterndes Quintett. Fritz und Ludwig waren Weltklasse-Radsportler und überzeugten ihren Vater Adam, neben den Nähmaschinen auch Fahrräder zu bauen. Opel war eine so hervorragend geführte Fabrik, dass sie Ende des 19. Jahrhunderts zum größten Fahrradhersteller der Welt wurde. Fritz und Wilhelm begannen die Autoproduktion voller Elan mit dem Kauf der Dessauer Motorwagenfabrik, die besonders leichtgängige Motorwagen produzierte, die technisch denen von Daimler und Benz teilweise klar überlegen waren. Fritz, ein begnadeter Konstrukteur, führte die Fließbandproduktion ein – zum ersten Mal in Deutschland –, und das war die entscheidende Innovation: Der Opel »Laubfrosch« konnte kostengünstig in Massenfertigung gebaut werden. Das Auto war klein und grün, statt wie damals üblich groß und schwarz, es war schnell, leicht, verbrauchsgünstig und technisch ausgereift. Im Jahr 1928 ließ Opel 42 771 Automobile vom Band und war damit Deutschlands größter Autobauer. Nebenbei stellte Fritz Opel mit seinem Raketenauto auf der Berliner AVUS mit 238 km/h einen neuen Geschwindigkeitsweltrekord auf und war 1929 der erste Mensch, der mit einer Rakete flog. Die Opel-Brüder waren Teufelskerle, die Fantastic Five der deutschen Industriegeschichte. Sie machten Anfang 1929 den Deal ihres Lebens und verkauften 80 Prozent des Unternehmens an General Motors – für die damals ungeheure Summe von über 33 Millionen Dollar. Das wären nach heutiger Währung knapp eine halbe Milliarde Euro.
Und heute? Heute steht Opel für schlechtes Management, für Finanzierungsprobleme, für Umsatzrückgang, für Milliardenverluste, für Stellenabbau, für Werksschließungsgerüchte, für ständig wechselnde Chefs, an die sich kein Mensch erinnern kann, für immer neue Firmen-Slogans, an die man sich noch weniger erinnern kann (war da nicht mal was mit »Wir haben verstanden«?), mit vier Logo-Neugestaltungen in zehn Jahren, was kaum jemandem aufgefallen ist.
Einstmals baute Opel Traumwagen wie den Kapitän, innovative Neuentwicklungen wie den Olympia mit seiner selbsttragenden Karosserie, imposante Autos wie den Admiral, Kassenschlager wie den Rekord, Autos für die Massen wie den Kadett, zuverlässige Lastesel wie den Blitz, markante Sportwagen wie den GT, Kultautos wie den Manta. Opel konnte einfach alles. Heute langweilt Opel mit einem Astra, einem Corsa und einem Meriva und steht kurz vor dem Tod durch Charaktermangel.
Also, wo geht die Kreativität und Innovationskraft eines Unternehmens verloren, wodurch versinkt es im Mittelmaß, wie zerstört man den Stolz der Mitarbeiter, wann beginnt das Billigvirus sich einzunisten, wann startet der Abstieg eines Unternehmens, einer Marke, eines Produkts?
Es beginnt, wenn man sich den Schneid abkaufen lässt. Den Schneid, der billigste zu sein, lässt man sich von den Discountern oder von Dacia abkaufen. Den Schneid, der beste zu sein, lässt man sich von Breuninger oder von BMW abkaufen. Den Schneid, selbstbewusst aufzutreten, lässt man sich vom Misserfolg abkaufen. Es ist ein orientierungsloses und ratloses Taumeln in der Mitte zwischen wachsenden Premiummärkten einerseits und wachsenden Billigmärkten andererseits. Der Abstieg ist eine Funktion des Opportunismus: Mittelmäßig wird ein Unternehmen genau in dem Moment, in dem es mutlos wird. Mutlos! Man nennt das auch: kundenorientiert.
Abwärtspreise
Wenn das Management eines Unternehmens der Meinung ist, dass es das tun muss, was die Kunden wollen, ist der Abstieg besiegelt. Aus einem Unternehmen, das einstmals das beste Produkt, die beste Dienstleistung, die besten Produktionsverfahren, das beste Design oder die besten Mitarbeiter haben wollte, wird ein Unternehmen, das Marktforschung betreibt. Es befragt die Kunden, was sie haben wollen, und beginnt, dem Geschmack der Massen hinterherzulaufen.
Die Richtung der Ideen kehrt sich um: Einstmals hatten die Gründer herausragende Ideen, die anschließend umgesetzt und dann vermarktet wurden. Die Kunden wurden überrascht mit noch nie gesehenen Neuerungen. Und kauften. Das ist das Erfolgsrezept sämtlicher herausragender Produkte der letzten hundert Jahre: Die Ideenrichtung verlief vom Unternehmen hin zu den Kunden.
Aber dann kam die Kundenorientierung in Gestalt einer neuen Generation von Managern, und die begannen, die Kunden zu fragen, was sie kaufen wollten. Bloß nichts riskieren! Die Ideenrichtung kehrte sich um, vom Kunden zurück ins Unternehmen. Woher aber sollen die armen Kunden denn die guten Ideen haben? Die Profis fragen die Amateure um Rat? Kunden können sagen, was ihnen an den Produkten der letzten Jahre gefallen oder nicht gefallen hat. Sie bieten dem Unternehmen einen interessanten Blick in den Rückspiegel. Sie schildern die Vergangenheit. Mehr nicht. Hätten wir im Kerzenzeitalter gefordert, dass wir künftig bitte Glühbirnen haben möchten? Nein, es brauchte jemanden, der sie einfach gemacht hat. Hätten wir im Festnetzzeitalter gesagt, dass wir künftig auf einer Minitastatur SMS schreiben und verschicken möchten? Nein, es brauchte jemanden, der die Technologie einfach gemacht hat. Können wir heute sagen, dass wir nächstes Jahr …? Nein, können wir nicht. Wirtschaft braucht Mut!
Denn sonst bluten die Unternehmen aus. Der Blick in den Rückspiegel interessiert Spitzenkräfte nicht, die gehen dann woanders hin, zu einem Unternehmen, das ihre Ideen und ihren scharfen Blick durch die Windschutzscheibe nach vorne schätzt. Mittelmäßige Chefs stellen erwiesenermaßen mittelmäßige Mitarbeiter ein. Geniale Konstrukteure, wagemutige Designer oder kompromisslose Verkäufer finden dann kein Habitat mehr, in dem sie gedeihen können, sie langweilen sich im kundenorientierten Ideenmatsch zu Tode.
Mittelmäßige Chefs sind überzeugt, dass die unbequemen, unbeugsamen, sperrigen und verqueren Mitarbeiter entweder gezähmt oder rausgeschmissen werden müssen, damit der Laden effizient funktioniert. Intelligenz und Kreativität schmelzen in solchen Unternehmen dahin wie die Gletscher im Klimawandel.
In Mittelmaßunternehmen werden auf diese Weise die Wachstumsaugen, die Knospen, aus denen künftig neue Äste und Früchte sprießen können, systematisch beseitigt. Sie werden mit spitzen Instrumenten weggekniffen, sie werden im Zuge der Vermassung und Kostenreduktion abgestreift oder sie verkümmern vor Nährstoffmangel.
All das macht das Unternehmen nach und nach immer dümmer, immer gewöhnlicher, immer mittelmäßiger. Und dann kommt noch die Gravitation des Schwellenpreises hinzu …
Um zu verstehen, wie Billigkultur und Mittelmäßigkeit zusammenhängen, muss man verstehen, wie das mit dem Schwellenpreis funktioniert. Wir Verbraucher haben Preisschwellen im Kopf: Wein über 10 Euro, Wein unter 10 Euro. Milch über 1 Euro, Milch unter 1 Euro. So sortieren wir meist unbewusst Produkte in »Preislagen« ein, um uns zu orientieren. Die Flasche Wein wandert in unserem Kopf in die nächstteurere »Schublade«, und zwar genau in dem Moment, in dem sie teurer als 10 Euro ist. 9,99 ist eine andere Kategorie als 10,09 Euro. Dieser Effekt ist real und wurde schon oft eindeutig nachgewiesen.
Klar, dass sich die Überschreitung einer Preisschwelle auf den Umsatz auswirkt – was teurer ist, wird in der Regel weniger gekauft. Dementsprechend kostet das Taschenbuch 9,90 Euro, der Billig-PC 499 Euro oder die Finanzierungsrate für den VW Up, der im Grundpreis 9850 Euro kostet, 95 Euro. Wer als Anbieter eine Preisschwelle überschreiten möchte, der muss besser verkaufen können als die anderen, er braucht mehr Selbstbewusstsein. Oder er greift zu einem Trick: Nespresso zum Beispiel hebelte den Kaffee-Schwellenpreis in unseren Köpfen einfach aus – Kaffee wird jetzt nicht mehr als Pfund oder Kilo, sondern als Kapsel verkauft. Ein Kilo Nespresso kostet umgerechnet mindestens 60 Euro. Das funktioniert auch.
Es gibt Unternehmen, die missachten den Schwellenpreis absichtlich. Ein Porsche Carrera Targa 4 kostet beispielsweise 100 770 Euro – das ist frech. Das psychologische Signal ist: Dieses Produkt ist teuer. Und das ist so gewollt. Auch Manufactum hat sich nie um Schwellenpreise geschert – 12 Euro sind 12 Euro und eben nicht 11,99 – und wird deshalb als teurer wahrgenommen, als es ist. Aber das passt, denn der glatte Preis strahlt dann eine Wertigkeit und Ehrlichkeit aus und spricht damit die Kunden an, die etwas Wertiges und Ehrliches wollen.
Stolze, preisfeste Unternehmen geben auch keinen Rabatt. Wendelin Wiedeking hat, als er die Führung bei Porsche übernahm, die Preisnachlässe abgeschafft und damit dem kränkelnden Unternehmen sofort neuen Stolz eingehaucht. Kundenorientierte Billigheimer dagegen wollen es dem Kunden recht machen, und wenn der weniger bezahlen will … ist doch besser als gar nichts verkaufen, oder?
Das Problem jedes Schwellenpreis-Unternehmens ist: Es muss immer billiger werden. Es gibt nun mal eine schleichende Geldentwertung, die Inflation. Sie schwankt in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ungefähr zwischen 0,5 und 3 Prozent. Zwar leben wir damit in einer der geldstabilsten Regionen der Welt, aber trotzdem kostet heute rein rechnerisch ein Produkt mehr als viermal so viel wie in den 50er Jahren, alleine aufgrund der Geldentwertung. Das bedeutet: Ein Unternehmen, das sich nicht traut, ein Produkt über einen bestimmten Schwellenpreis zu heben, steckt in einer Sackgasse. Es nimmt mit diesem fixierten Preis, der nicht mehr weiter steigen kann, weil ja sonst die Schwelle überschritten würde, ständig weniger Geld ein, denn 9,99 Euro Umsatz sind im Jahr 2010 mehrere Prozent weniger wert als die 9,99 Euro Umsatz aus dem Jahr 2007.
Also muss sich das Unternehmen die schwindende Spanne woanders beschaffen. Wo? Da gibt es nur eins: bei den Mitarbeitern und bei den Zulieferern. Die Kosten müssen gedrückt werden, und zwar jedes Jahr, damit der Inflationsverlust am Schwellenpreis ausgeglichen werden kann. Die Folge: immer schlechtere Leistungen und immer billiger hergestellte Produkte.
Die Schokoküsse müssen genau so aussehen wie im Jahr zuvor, sie müssen auch immer noch knacken beim Reinbeißen, aber der Überzug muss dünner werden, damit weniger Schokolade verwendet werden kann – eine typische Aufgabe für einen Produktmanager in der Lebensmittelindustrie. Vergleichen Sie mal bei Gelegenheit einen Schweizer Qualitäts-Schaumkuss mit einem deutschen discount-gestählten Billig-Schaumkuss, dann sehen, schmecken und hören Sie den Schwellenpreis-Inflations-Effekt sofort.
Mit dem Schwellenpreis wird der Preis nach dem Geschmack des Kunden gestaltet, nicht nach den Bedürfnissen des Unternehmens, die sich aus der Herstellung ergeben. Das ist genau so eine kundenorientierte Ideenumkehr. Und schon befindet sich das Unternehmen auf der Rutsche nach unten.
Mitten auf der Weide
Außerhalb des Rasters der Schwellenpreise und der Zahlen der Vergangenheit wird es schwer, denn dort muss man herausragende Leistungen bringen, um nachhaltig Erfolg zu haben.
Innerhalb läuft alles wie immer. Wir brauchen vor Weihnachten wieder irgendwelche Filzhausschuhe für 9,95 Euro, sagt der Händler. Denn die sind letztes Jahr gut gelaufen. Und das Jahr davor. Und so weiter.
Souverän mit viel Erfahrung und mit wenig Mut handeln diese Unternehmen mit ihrer Kundenorientierung innerhalb der Komfortzone, innerhalb der Üblichkeiten, der Regeln, der ungeschriebenen Marktgesetze.
Diese Unternehmen, ein Großteil unserer Wirtschaft, ein Großteil unserer Arbeitsplätze, sind wie Kühe auf einer Weide, deren Zaun unter Strom steht. Also immer schön weg vom Zaun grasen! Immer schön in der Mitte der Weide bleiben! Der Zaun ist ja da, es kann zwar keiner raus, aber es kommt bestimmt auch kein Böser rein. Nur kleine freche Kälber zwängen sich unterm Zaun durch und hauen ab, dorthin wo das Gras noch nicht abgefressen ist. Aber das macht dem riesigen, fetten, trägen Brocken von Kuh nichts aus. Sie ist sicher, denn sie ist doch kundenorientiert.
Was gefallen hat, macht sie wieder. Man ändert nichts. Das war doch schon immer so.
Die stursten Jobs dieser Welt gibt es beispielsweise bei den großen Energieversorgern. Die bleiben immer schön in der Mitte der Weide, es ändert sich null und nichts am Geschäftsmodell oder den Produkten, es gibt keine Notwendigkeit irgendetwas zu ändern. Dahinter stehen Beinahe-Monopole, sicheres Terrain, die Dickschiffe sind riesengroß und verdienen konstant Geld. Aber gaaaanz langsam, wie bei Karstadt oder Opel, geht es bergab. Und irgendwann ändern sich die Bedingungen. Plötzlich will die Bevölkerung in der Breite keinen Atomstrom mehr. Plötzlich interessiert sich alle Welt für den CO2-Ausstoß. Plötzlich gerät alles ins Rutschen, die Zäune sind weg, die Kuh steht plötzlich mitten im Freien und wird angegriffen.
Was ist nur los, sind plötzlich alle verrückt geworden? Die Energiekonzerne wachen plötzlich aus ihrem Dämmerschlaf auf und reiben sich die Augen: Hoppla, die Welt hat sich verändert, ihr Geschäftsmodell steht vor dem Aus! Wenn es jetzt noch hip wird, in jeder Kommune ein Blockheizkraftwerk zu bauen, wenn die Leute anfangen, dezentrale Energiekonzepte in Eigenregie umzusetzen, wenn jeder im Baumarkt Solarzellendachziegel, Batterien und Wechselrichter kaufen kann, dann stehen die großen Energiekonzerne plötzlich vor einem existenziellen Problem. Wie kam das nur?
Mittelmaß-und-Billig-Unternehmen und ihre Konsumenten handeln so, wie sie handeln, weil sie sich in Sicherheit wähnen und weil sie nichts mehr scheuen als das Risiko. Was sie alle miteinander nicht verstanden haben, ist, dass die Sicherheitszone, in der sie sich wähnen, nur temporär ist. Das größte Risiko, das sie langfristig eingehen, ist die Risikoscheu. Denn das macht sie träge, blind und billig, sie vermindert die Innovationsfähigkeit, die Veränderungsbereitschaft, die Kreativität und sie knabbert Jahr um Jahr an der Wertschöpfung – bis am Ende alles zusammenbricht.
Massenmarkt-Mittelmaß-Billig-Konzepte in der Wirtschaft sind nicht nachhaltig, sie sind auf Sand gebaut, sie haben einen eingebauten Konstruktionsfehler, nämlich den schleichenden Substanzverlust und die Trägheit, die sie aus der nächsten großen Kurve trägt.
Was Kunden wollen
Aber die Konzerne sind doch nicht doof. Die haben lauter Elite-Uni-Absolventen in der Führungsetage, und die können alle rechnen. Sie sehen ja die Zahlen und sie wissen genau, wie der Kunde tickt. Stimmt’s?
Ein Marketing-Professor kam eines Tages in den Hörsaal, stellte sich hin, hielt ein Buch hoch und sagte: »Das ist mein Buch. Was hier drin steht, sollten Sie wissen. Es kostet 20 Euro. Ich weiß aber nicht, ob das ein guter Preis ist. Ich möchte deshalb etwas über diesen Preis herausfinden: Was meinen Sie, wenn ich Ihnen sagen würde, Sie bekämen das Buch hier und heute für 15 Euro, nur hier und heute! Wie viele von Ihnen würden es dann jetzt und hier kaufen wollen? Bitte Hände hoch.« Fast alle Hände der vielleicht hundert Studenten gingen hoch.
»In Ordnung«, sagte er. Er ging zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Kurz darauf kam er mit einem Hubwagen wieder herein. Darauf lag eine Palette voller Bücher.
»Ich habe 100 Stück dabei. Das Angebot gilt: 15 Euro. Der Verkauf beginnt jetzt.« – Stille. Fünf Studenten gingen nach vorne und nestelten in ihren Geldbeuteln. Fünf.
Der Prof: »Sie sehen, die Absicht, etwas kaufen zu wollen, und es dann auch tatsächlich zu kaufen, das sind zwei verschiedene Dinge. Und damit sind wir beim Thema Marktforschung …«
Marktforschung boomt. Von 1986 bis 2010 stieg in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt um rund 80 Prozent, die Nachfrage nach Konsumgütern um 47 Prozent, die Ausgaben für Marktforschung um 520 Prozent. Dabei ist Marktforschung oft nichts anderes als ein verrücktes Selbsttäuschungssystem für Manager. Sie glauben, sie erfahren etwas über die Welt, dabei erfahren sie nur, was sie ohnehin schon wissen, nämlich die Halmstärke und Graslänge innerhalb der Umzäunung ihrer Weide. Kunden werden befragt, und von ihren Antworten wird auf ihr Kaufverhalten geschlossen – was ein Trugschluss ist. Es ist beileibe nicht falsch, Kunden zu befragen, aber man muss auch wissen, zu was das nütze ist und welche Schlüsse man aus den Ergebnissen ziehen kann. Nämlich nur sehr wenige.
Bei Manufactum haben wir auch immer wieder Kundenbefragungen durchgeführt. Einmal im Jahr haben wir den »Qualitätsmonitor« erstellt. So erfuhren wir, ob sich in der Wahrnehmung der Kunden etwas verändert hatte, wie es um den Grad der Zufriedenheit stand, ob der Service ordentlich war und so weiter.
Im ersten Jahr legten die Mafo-Jungs die Charts auf den Tisch und waren ganz aufgeregt: »Herr Hoof, die Ergebnisse sind eindeutig. Ihre Kunden finden, dass Manufactum teuer ist!«
Thomas Hoof hat sich halb totgelacht. Die Mafo-Jungs schauten sich an, als wären sie in einem Irrenhaus gelandet. Was sie noch nicht verstanden hatten: Es wäre ja auch schlimm, wenn die Kunden Manufactum nicht teuer fänden! Das Ergebnis »teuer« ist doch sowieso klar, denn Manufactum tut im Marketing alles dafür, dass die Wertigkeit der Produkte betont wird. Schauen Sie sich nur alleine an, wie der Katalog produziert wird. Da schreit jeder Buchstabe, jedes Detail des Layouts: Diese Produkte sind hochwertig. Wie sollte da ein anderes Befragungsergebnis herauskommen? Wäre es anders, dann würde es nur wenige Jahre dauern, bis Manufactum auch nichts anderes wäre als das, was Quelle geworden war: zuerst mittelmäßig, dann pleite.
Der mutlose Mittelmaß-Manager denkt angesichts solcher Marktforschungsergebnisse: Oh mein Gott, wir werden als teuer wahrgenommen! Wir müssen die Preise senken. Also müssen wir sparen. Also müssen wir billiger einkaufen. Im Einkauf wird das Geld verdient, alte Handelsweisheit! Und schon geht’s abwärts.
Nicht nur die Interpretation der Ergebnisse, auch die Ergebnisse selbst stehen bei Befragungen meist auf tönernen Füßen. Wenn die Leute per Telefon befragt werden oder wenn sie in der Fußgängerzone angequatscht werden, um an einer Befragung teilzunehmen: Welche Leute lassen sich darauf ein und welche legen einfach auf oder gehen weiter? Kann so ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung zustande kommen? Es ist doch so: Je interessanter das Klientel, also je intelligenter, gebildeter, wohlhabender, beschäftigter die Leute, desto geringer ist die Bereitschaft, sich für einen Kaffee-Gutschein einer Befragung zu unterziehen.
Was sagte Thomas Hoof zur Marktforschung? Er sagte sinngemäß: »Wenn es für uns selbst schon schwierig ist, zu wissen, was wir in Zukunft tun sollen – wie sollen es dann unsere Kunden wissen? Es ist doch eine Zumutung, sie das zu fragen!«
Was sagte das größte Marketing-Genie unserer Zeit, Steve Jobs, über Marktforschung? Er sagte: »Die Leute wissen erst, was sie wollen, wenn man es ihnen zeigt.«
Die großen Unternehmensführer, die Würths und Wiedekings, die haben sich nie an Meinungsforschung orientiert, sondern immer ihrer eigenen Meinung vertraut. Sie haben sogar gewusst: Wenn wir genau das nicht tun, was die Marktforschung nahelegen würde, dann haben wir einen besseren Markt, denn dann sind wir konkurrenzlos unterwegs. Übrigens haben auch die Albrecht-Brüder nie Geld für Marktforschung ausgegeben.
Wenn nun aber so eindeutig ist, dass Marktforschung für die wichtigen Entscheidungen in Unternehmen häufig nichts bringt oder sogar in die Irre führt, warum wird sie dann so exzessiv betrieben?
Auf einem Markenkongress sprach nach mir der Chef einer sehr großen Werbeagentur. Er sagte sinngemäß Folgendes: »Wenn du heute ein Agentur-Briefing von einem großen Unternehmen bekommst, um eine kreative Werbeidee zu entwickeln, dann ist das ein dicker Ordner voll mit Marktforschungsergebnissen und mit Informationen darüber, was die Agentur bitte alles auf gar keinen Fall tun darf. All diese Marktforschung dient im Grunde nur einem Ziel.«
Dann erschienen hinter ihm an der riesigen Leinwand drei Buchstaben: CYA.
Eins ist sicher
CYA heißt: Cover your ass. Auf gut Deutsch: Bring deinen Hintern in Sicherheit. Wer sich auf Marktforschungsdaten abstützt, der liegt zwar meistens nicht richtig, aber eigentlich auch nie so ganz falsch. Na klar, er bleibt innerhalb des Weidezauns. Und bei Misserfolg kann er dann immer noch sagen: »Aber die Marktforschung hatte doch ergeben …« – Das ist viel sicherer als: »Ich war aber fest davon überzeugt …«
Das Gegenteil von Kundenorientierung und Marktforschung ist Mut und Autorität. Und die ist in weiten Teilen von Wirtschaft und Gesellschaft verloren gegangen. Als Unternehmer, der nachhaltig erfolgreich sein will, muss ich mich aber trauen, meine Kunden zu bevormunden. Ich muss dem Kunden sagen: Lieber Kunde, du kaufst 1000 verschiedene Sachen am Tag, ich aber mache den ganzen Tag nur eins: Messer! Und deshalb kenne ich mich da besser aus als du. Ich habe das richtige Messer für dich, denn ich weiß, was du brauchst. Wenn du ein gutes Messer haben willst, dann zeige ich dir, wie so etwas aussieht. Qualität ist so, wie ich das sage!
In der Politik ist es nichts anderes. Uns ist in unserer Gesellschaft der Stolz, die Überzeugungskraft und das Selbstbewusstsein abhandengekommen, es fehlt der Mut, in Führung zu gehen und schlicht zu sagen: Schaut her, ich weiß Bescheid, und da geht’s lang.
Sixt, DM-Drogeriemarkt, Apple, Würth, Miele, Hilti, Manufactum – das sind alles autoritär geführte Unternehmen, die dem Kunden vorschreiben, was gut ist. Es sind alles von echten Autoritäten, von Unternehmerpersönlichkeiten geführte Unternehmen. Große Konzerne und Industriegiganten wie Daimler, BMW, Karstadt, Siemens, Bosch, Ford, Bayer, General Electric, SAP, Microsoft, Apple, Hewlett-Packard, McDonald’s, Toyota, Nestlé gehen alle auf den Mut und Erfindungsreichtum einzelner Menschen zurück, die etwas getan haben, was vor ihnen noch niemals jemand getan hatte. Sie alle haben etwas entwickelt, nach dem man niemanden hätte fragen können. Sie haben einfach gemacht, was sie für richtig hielten. Sie taten nicht das, was die Kunden wollten, sondern das, was die Kunden brauchten. Sie waren alle Autoritäten.
Wir haben einen Mangel an Unternehmern, Entscheidern und Führungskräften, die sich trauen, gegen die Sirenengesänge der Marktforscher die eigene Haltung, die eigene Position zu vertreten. Denn Qualität wird jedes Jahr teurer. Wenn man sich aber nicht traut, das den Kunden zuzumuten und es ihnen zu verkaufen, dann muss man eben Abstriche bei der Qualität machen, sonst frisst einen die Inflation auf.
Genau deshalb landen immer wieder so viele Mainstream-Marken im Billig- und Ramschwaren-Segment. Deshalb führt der Mainstream meistens bergab. Deshalb gibt es so viel Schrott und so eine üble Billigkultur. Deshalb werden Produkte immer noch ein bisschen schlechter und billiger. Deshalb kommen die banalsten Dinge von immer noch weiter weg. Deshalb ist Qualität kein Mainstream. Es fehlt der Mut.
Ich bin gespannt und warte darauf, dass endlich in Deutschland ein Unternehmen autoritativ auftritt und den ganzen Ramsch des deutschen Billighandels zur Seite fegt, denn der Markt für Qualität, insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel ist riesig. Da wird über kurz oder lang so etwas passieren, wie es im Mobiltelefonmarkt passierte, als von der Seite plötzlich Apple durch den Zaun gebrochen ist und allen gezeigt hat, wie man ein richtiges Telefon baut.
Wenn so ein Regelbrecher in die Einzelhandelsarena in Deutschland einbricht, dafür richtig viel Kapital in die Hand nimmt und den Leuten großräumig zeigt, wie wunderbar man Lebensmittel inszenieren und präsentieren kann, wie der tägliche Einkauf zu einem angenehmen Erlebnis werden kann, wie gut Qualität schmeckt, wie schön es ist, zu wissen, dass die Lebensmittel fair und ökologisch sauber regional produziert wurden, wie gut es tut, etwas mehr Geld auszugeben für viel mehr Qualität – wenn wir Konsumenten das einmal erleben dürfen, dann knallt es unter den Dickschiffen der Discounter und Supermarktketten. Dann klappen die Giganten der Mittelmäßigkeit zusammen. Und das wäre ein Segen.