Es waren Bussarde. Mindestens drei Dutzend auf einmal, ein nie gesehener Anblick. Sie kreisten über dem kleinen Hügel, der nicht größer war als ein Vorgarten und kaum einen Meter aus dem Wasser ragte. Auf dem Hügel wuselte es. Mäuse. Tausende. Sie rannten auf dem winzigen Eiland umher und suchten verzweifelt Schutz, den es dort aber nicht mehr gab. Die Bussarde stießen immer wieder in das Gewimmel. Sie fraßen sich satt. Maus für Maus.

So erzählte es uns der Mann im Hawaiihemd, der sich uns Forststudenten als der Revierförster vorgestellt hatte. Es muss ein grausamer Anblick gewesen sein, selbst für ihn, der einen ziemlich hartgesottenen Eindruck machte. Er erzählte seine Geschichte sarkastisch, beinahe zynisch. Und dabei stand er genau dort, wo vor sechs Jahren noch ein Wald und vor fünf Jahren noch dieser See gewesen war. Ja, er stand genau auf dem kleinen Hügel, wo die Mäuse sich auf der Flucht vor den Fluten gesammelt hatten und den Bussarden schutzlos ausgeliefert gewesen waren.

Fünfzig Jahre ohne Ertrag

Ein Jahr vor dem Mäusemassaker war sein kompletter Wald in nur wenigen Stunden umgerissen worden, die Bäume entwurzelt, umgeknickt wie Streichhölzer, zu aberwitzigen Gebilden verdreht, durcheinandergewirbelt, verbogen, gespannt, gesplittert. Es war der Februar 1990, als zwei gewaltige Stürme über Deutschland hinwegtobten, die Orkane Vivian und Wiebke. Sie warfen mit bis dahin unvorstellbarer Kraft die Wälder zu Boden, über 70 Millionen Kubikmeter Holz in ganz Deutschland, etwa 2 Millionen Lastzüge voll, eine Lkw-Schlange, die rund um den Äquator reichen würde. Alleine in Bayern wechselten in diesen zwei Tagen 23 Millionen Kubikmeter Holz ihre Position in der Bilanz der Waldeigentümer. Sie verwandelten sich von einem werthaltigen Vorrat schlagartig zu Sturmholz, zu Schadensmasse, zu einem Milliardenschaden.

Der See, aus dem dieser kleine Hügel geragt hatte, war eigentlich das Forstrevier gewesen. Gut 1500 Hektar groß war es, vergleichbar mit der Größe der Insel Hiddensee. Ein ertragsstarker Standort im bayrischen Schwaben, ein richtiges Top-Revier, das einen Holzzuwachs von rund 30 000 Kubikmeter im Jahr produziert hatte. Das sind je nach Holzpreis etwa 3 Millionen Euro. Aber dann war hier nur noch Wasser, das Revier produzierte gar nichts mehr. Was war geschehen?

Der Mann im Hawaiihemd erzählte uns, dass sein Wald eine Fichtenmonokultur gewesen war, die er von seinem Vorgänger geerbt hatte. Dieser hatte sie von seinem Vorgänger geerbt, und der hatte die Monokultur wahrscheinlich noch mitbegründet, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in der Blütezeit der sogenannten Bodenreinertragslehre.

Der Boden war lehmig und nährstoffreich, aber wenig wasserdurchlässig. Wir Studenten wussten längst, was das bedeutete: eine Goldgrube. Hier wächst super Fichtenholz in Massen, hier verdienst du richtig Geld. Aber: Wie überall war auch hier der Fichtenreinbestand völlig instabil gewesen. Und als die Bäume im Orkan umfielen und den Boden nicht mehr durchwurzelten, entstand in kurzer Zeit ein See.

Der Mann war ausgebildet, einen Wald zu bewirtschaften. Das war es, was er liebte. Aber in diesen verkorksten sechs Jahren war er nur noch Krisenmanager. Zuerst die Sturmholzaufarbeitung: ein lebensgefährlicher Job. Viele Bäume standen so unter Spannung, dass ein Bagger sie festhalten musste, während ein Forstarbeiter sie absägte. Und das tausendfach und in einem völlig undurchdringlichen Verhau. Man kam sich darin vor wie ein Zwerg, sagte er.

Unser Förster brauchte damals Bagger, ganz schnell viele Bagger, und er brauchte Erntemaschinen und Forstarbeiter. Das war alles schwer zu bekommen, denn die anderen Förster brauchten ja auf einmal auch viele Bagger, Erntemaschinen und Forstarbeiter. Bagger brauchen Sprit, viele Bagger brauchen viel Sprit, also brauchte er Tanklastzüge voll Sprit. Tanklastzüge brauchen Straßen, also musste er Schneisen durch den Verhau schlagen und Forststraßen bauen – und das alles nur, um ausreichend Treibstoff zum Aufräumen ins Sturmholzchaos zu bringen.

Am Ende des Katastropheneinsatzes, nach Zigtausenden von Arbeitsstunden, nach Hunderttausenden Kubikmetern Sturmholz, nach diesem Millionenschaden, nach all der lebensgefährlichen Arbeit, war da plötzlich der See. Er stand auf der nun geräumten Fläche, nicht tief, aber sehr groß.

Mit dem See begann der zweite Teil seines ganz persönlichen Horrorstücks. Arbeiter in Tauchanzügen pflanzten mühsam, zum großen Teil im und unter Wasser, neue Bäume. Bäume, die in einigen Jahren den Boden durchwurzeln und dann das Wasser wieder aufnehmen würden, Bäume, die die ganze Fläche langsam wieder in ihren Urzustand versetzen würden, also in einen Wald. Diese Bäume, ein standortgerechter Mischbestand, sind heute eine etwa zwanzig Jahre alte Dickung. In dreißig Jahren, also fünfzig Jahre nach dem Sturm, werden sie vielleicht zum ersten Mal wieder so etwas wie einen ersten kleinen Ertrag erzielen. Fünfzig Jahre ohne Umsatz. Der Mann lächelte zynisch, desillusioniert. Das also war sein Forstrevier.

Instabile Monokulturen

Wir Förster wissen seit diesen Stürmen, wie es sich anfühlt, wenn einem das bisher glänzend funktionierende Wirtschaftsprinzip in einer einzigen Nacht um die Ohren fliegt. Ein Wirtschaftsprinzip, das man erforscht, gelehrt, studiert und gelebt hat, an das man geglaubt hat, von dem man überzeugt war: das Wirtschaftsprinzip der Reinertragslehre. Das Prinzip, mit dem man Holz in großen Mengen in möglichst kurzer Zeit zu möglichst viel Geld machen konnte. Theoretisch zumindest.

Es ist nicht nur für uns Förster, sondern für uns alle an der Zeit, die Augen zu öffnen. Es ist an der Zeit zu verstehen, dass unsere Gier und unser Geiz eine Wirtschaft geformt haben, die umzufallen droht wie eine Fichtenmonokultur im Orkan. Zu verstehen, wie unser Billigkonsum, der Kostenfetischismus der Unternehmen und die blinde Profitmaximierung in der Wirtschaft sich gegenseitig verstärken. Wie der Mainstream unserer Gesellschaft in einer langsamen, lethargischen Abwärtsspirale der Mittelmäßigkeit die lebenswichtige Mitte unserer Märkte in armselige Wüsten verwandelt hat. Es hat alles mit uns zu tun.

Wir denken, wir konsumieren und wir wirtschaften nämlich genau so, wie die Förster es im letzten Jahrhundert getan haben. Wir sind die schnellste, konzentrierteste, effizienteste und ertragsstärkste Gesellschaft, die es je auf der Erde gab. Und die instabilste. Wir unterliegen genau den gleichen Naturgesetzen, denen die Forstwirtschaft auch unterliegt. Wenn wir so weitermachen, dann wird sich unsere Lebenswirklichkeit schon bald schlagartig in einen See verwandeln – einen See, in dessen Mitte sich ein kleiner Hügel erhebt, auf dem wir uns panisch wie wuselnde Mäuse versammeln, um Schutz vor den Fluten zu suchen, während wir in Wahrheit schutzlos ausgeliefert sind. Dann ist es mit dem Geiz, der uns dahin gebracht hat, zu Ende.

Sonnenklar

Doch es gibt Unternehmer, die längst weitergedacht haben, die sich mit Erfolg gegen den Mainstream stemmen, die viel mehr können, als einfach nur billig, kostenoptimiert und renditefokussiert die Märkte auszubeuten. Unternehmer, die Qualität kompetent herstellen oder umfassend bewerten können, die diesen Wert profitabel verkaufen können und die so den Erhalt von sinnvollen Produktionsstrukturen fördern, anstatt immer mehr kaputt zu machen.

Diese Unternehmer tun das nicht deshalb, weil Marktforscher es ihnen geraten haben, sondern deshalb, weil sie überzeugt davon sind, das Richtige zu tun. Diese Leute sind keine verbohrten Ideologen, sondern gestandene und stolze Vollblutunternehmer, die auf ehrliche Weise Geld verdienen wollen. Und sie schaffen das in einer fast aussichtslos scheinenden Marktsituation. Sie sind zuversichtlich, denn sie wissen, dass die Uhr für sie tickt, dass ihnen die Entwicklungen auf der Welt in die Karten spielen, dass die Zukunft ihnen entgegenkommt. Ihnen ist sonnenklar, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr mit billigem Ramsch minderer Qualität zufriedengeben werden und dass mit jedem weiteren Jahr noch mehr Kunden begreifen werden, dass nachhaltige Produkte auch die preiswerteren Produkte sind.

Manufactum ist eines dieser Unternehmen. Manufactum ist ein Versandhaus mit zusätzlichen Ladengeschäften in einigen deutschen Städten. Es wurde im Jahr 1987 von Thomas Hoof, der zuvor Landesgeschäftsführer der Grünen in Nordrhein-Westfalen gewesen war, in Recklinghausen im nördlichen Ruhrgebiet gegründet. Als zwanzig Jahre später die Otto-Gruppe das Unternehmen kaufte, erwirtschaftete es mit etwa 300 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von etwa 75 Millionen Euro.

Ich kam 1997 zu Manufactum, ursprünglich, um dort den Pflanzenkatalog zu entwickeln. Von 1999 bis 2004 war ich Marketing- und Vertriebschef, Prokurist und Mitglied der Geschäftsleitung. Bei Manufactum lernte ich zu verstehen, wie das Prinzip der Nachhaltigkeit, das ich als Landwirt und Förster in der Urproduktion gelernt hatte, in der alltäglichen Praxis auch in der Wirtschaft umgesetzt werden konnte. Ich sah den Beweis dessen, was ich schon immer geahnt hatte, direkt vor meinen Augen: Nachhaltigkeit funktioniert. Nachhaltigkeit ist auf Dauer wirtschaftlich überlegen. Nachhaltigkeit wird von den Märkten angenommen. Nachhaltigkeit ist kein Konzept für die Nische, sondern ein Konzept für unsere gesamte Wirtschaft, für unser ganzes Leben.

Aber damit es funktioniert, müssen wir dem Fluch des niedrigen Preises abschwören, wir müssen dem Fluch der niedrigen Kosten den Garaus machen, wir müssen den Fluch der hohen Renditen austreiben, wir müssen den Fluch des mächtigen Mainstreams eindämmen, wir müssen den Fluch der falschen Kundenorientierung bekämpfen und dem Fluch der großen Konzerne die Stirn bieten.

Wir müssen verstehen, wie diese Flüche miteinander zusammenhängen und welche Folgen sie haben. Wir müssen aufhören mit unserem Geiz und uns stattdessen besinnen auf sechs altehrwürdige Grundsätze, die uns unser Überleben in Wohlstand im 21. Jahrhundert und auch danach garantieren werden. Das ist kein Plädoyer für eine Revolution, sondern nur für eine entschlossene Trendumkehr: pragmatisch, ideologiefrei – und genussvoll. Es ist möglich, mit dem gleichen Budget besser zu konsumieren, und es ist möglich, die Wirtschaft dadurch zukunftsfähig zu machen.

Anfangen müssen wir beim billigen Preis. Er ist die Wurzel des Übels.

Ausgegeizt!: Wertvoll ist besser - Das Manufactum-Prinzip
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