Wozu mutig? Männer, die auf Kurven starren

Warum unternehmerische Tatkraft besser ist als Marktforschung

Burchardt: »Ich würde gerne einen ersten Manufactum-Laden eröffnen. In München.«

Hoof: »Warum?«

Burchardt: »München braucht das.«

Hoof: »Was wollen Sie da verkaufen?«

Burchardt: (skizziert kurz)

Hoof: »Was kostet mich das im schlimmsten Fall?«

Burchardt: »1,7 Millionen.«

Hoof: »In Ordnung. Machen Sie. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Markt ohne Forschung

Um die Manufactum-Ladengeschäfte zu starten, war keine Marktforschung nötig, keine Expertenanalysen, keine Meetings und keine Konferenzen. Einfach nur: »In Ordnung. Machen Sie.« Heute steuern die Manufactum-Warenhäuser mit acht Standorten in Deutschland wohl bald die Hälfte zum Umsatz von Manufactum bei.

So schnell die unternehmerische Entscheidung fiel, so tiefgreifend waren die Auswirkungen für das Unternehmen. Denn Manufactum betrat damit absolutes Neuland. So ein Versandhandel ist ein gut kontrollierbares Geschäft. Das Management kann jederzeit anhand der aktuellen Zahlen die Auswirkungen von Maßnahmen messen, die Reaktion auf jedes geschäftliche Zucken kommt sofort. Das Geschäft lässt sich steuern wie ein Düsenjäger vom Cockpit aus. Ein stationäres Geschäft dagegen ist ein vergleichsweise schwer kontrollierbares Geschäft. Da kommen anonyme Menschen rein und gehen wieder … ein Kulturschock für Versender! Denn die sind es gewohnt, von jedem Kunden automatisch einen kompletten Stammdatensatz zu haben. Ein Ladengeschäft zu betreiben fühlt sich demgegenüber an wie ein Blindflug im Nebel bei ausgefallenen Instrumenten. Plötzlich weiß niemand mehr, wer kauft und warum. Hat der Kunde den Katalog? Ist er in unserer Datenbank? Ist es ein Stammkunde? Ein Neukunde? Ein Online-Kunde? Was hat er bereits gekauft? Du gibst jedes Wissen über deinen Kunden auf. Der totale Kontrollverlust.

Und die ganze Sache wird deutlich komplexer. Als Versender hat man den Katalog und eine Website als Absatzwege, aber sobald Ladengeschäfte dazukommen, wird daraus ein Multi-Channel-System mit vielfältigen Wechselbeziehungen und enorm vielen Variablen. Wie wirkt sich die Weiterentwicklung des Katalogs auf die Ladengeschäfte aus? Und umgekehrt: Wie viele neue Katalogkunden werden durch das Ladengeschäft angezogen? Wie viel Umsatz wandert vom Versandgeschäft ins Ladengeschäft? Wie viel vom Umsatz ist umgeschichteter Umsatz und wie viel ist zusätzlicher Umsatz? Und wie wirkt der Online-Shop auf das ganze Zusammenspiel ein?

Auch die Kultur wird eine andere. Als reiner Versender hat man alle Mitarbeiter unter einem Dach. Aber plötzlich gibt es auch eine Truppe in München, eine in Stuttgart, eine in Hamburg, eine in Berlin. Die Leute kennen sich kaum untereinander. Sie haben alle ihre eigenen Kundenbeziehungen, sie bilden als Team eine ganz eigene Mischung, die sich unterscheidet von denen der anderen Standorte und vom Versender-Team. Wie schafft man es, diesem bunten Haufen eine gemeinsame Identität zu geben? Wie geht man mit divergierenden Meinungen, Tendenzen und Reaktionen an den verschiedenen Standorten um?

Plötzlich wird alles für den Kunden viel sichtbarer: Das Unternehmen bekommt ein Gesicht, eine Adresse, eine Fassade, Schaufenster, einen Bodenbelag, eine Kasse, Beleuchtung, echte Menschen, die man persönlich treffen kann. Die Kommunikation, die sich bis dahin auf den Katalog und die Website beschränkt hatte, bekommt auf einen Schlag zig neue Kommunikationsebenen dazu.

Und es erfordert neue Entscheidungen: Wie soll ein Manufactum-Geschäft denn überhaupt aussehen? Welche Mitarbeiter brauchen wir und wie finden wir die? Was für Kleidung sollen die Mitarbeiter tragen? Wie viel wird uns gestohlen werden, und bauen wir einen Diebstahlschutz an die Tür – oder denken dann unsere Kunden, wir stellen sie unter Generalverdacht? Wie gehen wir mit den Schaufenstern um?

Kurz: Der kleine Dialog zwischen Thomas Hoof und mir zog riesige Auswirkungen nach sich. Es war, als müssten wir unser komplettes Geschäftsmodell in eine fremde Sprache übersetzen. Alles wurde schwieriger. Schon die Wahl der Ladenadresse des ersten Geschäfts war eine enorm wichtige und darum schwierige Entscheidung: Sie würde festlegen, in welcher Schublade wir künftig steckten.

In München verläuft einer der Hauptströme zahlungskräftiger Kundschaft entlang der Theatinerstraße. Sie verbindet den Odeonsplatz mit dem Marienplatz und ist eine elegante Einkaufsstraße. Im Fachjargon: 1a-Lage. Jeder Unternehmensberater, jeder Konzernmanager, jeder Einzelhandelsexperte hätte Manufactum geraten, das erste Ladengeschäft von Manufactum dort in 1a-Lage zu eröffnen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn du im Einzelhandel Erfolg haben willst, musst du in die besten Lagen. Erst recht mit einem eher hochpreisigen Konzept wie Manufactum. Deshalb sind dort Mieten von manchmal über 200 Euro pro Quadratmeter und Monat auch gerechtfertigt: Da, wo jeder hinwill, weil dort so viele Geldbeutel herumgetragen werden, erzeugt der Markt eben entsprechend hohe Mieten. Würden die Ladengeschäfte diese Mieten nicht erwirtschaften, wären sie auch nicht so hoch. Eindeutige Fachmeinung: Mit deinem Laden musst du vorne sein! Da, wo die Laufkundschaft ist. Du machst einen Riesenfehler, wenn du nicht vorne bist! 50 Meter hin oder her entscheiden über Wohl und Wehe! Sagt die vereinte Weisheit der Experten.

Wir bei Manufactum scherten uns nicht um diese Experten. Und wir wollten außerdem grundsätzlich nie in eine Schublade passen – nicht in die edle, teure, aber auch nicht in die Öko-Schublade, nicht in die links-alternative, nicht in die konservative und auch nicht in sonst irgendeine Schublade. Wir haben wie immer von allem etwas gebraucht. So auch bei der Wahl der Lage für das neue Geschäft: Wir wollten nicht vorne sein. Wir wollten eine Lage ohne Image.

Wir eröffneten etwa 100 Meter weiter hinten, in den Fünf Höfen, am Ende der unscheinbaren Prannerpassage ein 500-Quadratmeter-Geschäft. Wer nicht wusste, dass dort Manufactum war, der fand es nicht. (Heute werden Sie Manufactum dort erst recht nicht finden, denn inzwischen ist das Ladengeschäft in deutlich größere Räume in der Dienerstraße umgezogen und den ehemaligen Laden in der Prannerpassage bewohnt nun die Manufactum-Tochter Magazin.)

Während also neben unserem neuen Laden Ermenegildo Zegna feine italienische Mode dekorierte, stellten wir zur Eröffnung Wurzelbürsten, Kernseife und verzinkte Blecheimer ins Schaufenster. Wir dachten uns: Die Münchner gehen shoppen, schauen bei Armani, Gucci und Zegna ins Schaufenster, trinken einen Espresso Macchiato und kommen dann bei uns vorbei und schauen auf Wurzelbürsten und Zinkeimer. Das wird sie aus den Schuhen hauen.

Und so war es. Wenige Stunden nach der Eröffnung heuerten wir einen Sicherheitsdienst an, denn die Menschenmassen waren kaum mehr zu kontrollieren. Die Wachleute bugsierten die Leute kontrolliert aus dem Laden, denn wir hatten Angst, dass es bei einem Stromausfall Tote geben würde. So voll war der Laden. Auch ohne 1a-Lage, auch ohne 200 Euro pro Quadratmeter.

Die Manufactum-Ladengeschäfte waren ein großartiger Erfolg (und sind es immer noch). Ohne Marktforschung und ohne Expertenrat. Vermutlich gerade deshalb, weil wir darauf verzichtet, ja nicht mal daran gedacht hatten. Stattdessen entsprang der Erfolg rein aus unternehmerischem Wagemut, solidem Bauchgefühl und Tatkraft.

Nirgendwo ist Haßloch

Haßloch im Landkreis Bad Dürkheim hat mehr als 10 000 Einwohner und weniger als 50 000 Einwohner und ist mit seiner ausgeprägten Infrastruktur mit Bildungs- und Einkaufsmöglichkeiten ein Anlaufpunkt auch für die umliegenden Gemeinden. Nach den Kriterien der deutschen Raumordnung gilt es aus diesen Gründen daher als sogenanntes Mittelzentrum. Die Gemeinde hält die Mitte zwischen dörflicher und städtischer Struktur, und ihre Bevölkerungsstruktur kommt dem deutschen Durchschnitt so nahe wie keine andere Kommune. Mittlerer geht es nicht.

Deshalb ist Haßloch, was kaum bekannt ist, ein sogenannter Testmarkt der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Hier werden sechs- und siebenstellige Summen ausgegeben, um ein neues Eis, ein Toilettenpapier oder ein neues Kartoffelchips-Produkt zu testen. Es wird einfach in den Supermärkten unter die Produkte gemischt, und die Haßlocher wissen nicht, dass es dieses Produkt nur bei ihnen zu kaufen gibt. In den etwa 3000 Testhaushalten wird sogar die Fernsehwerbung für die Zuschauer unmerklich manipuliert. Ja, Haßloch hat eigene Werbespots. Die zu den Produkten gehörende Werbung wird also gleich mitgetestet. Die Ergebnisse, die die GfK bei diesen Tests sammelt, stimmen angeblich zu 90 Prozent mit den späteren realen Marktdaten überein. Aha, und warum braucht man so was?

Man braucht so was, weil einer alten Marketingregel zufolge über 70 Prozent aller neu eingeführten Produkte floppen. Da will man natürlich sichergehen: Cover your Ass! Denn 90 Prozent der Marketingleute glauben heute, es gäbe keine Mängel mehr. Jedenfalls behaupten sie das so. Schaut nach Haßloch! Alles ist schon da. Sie erzählen Ihnen von den gesättigten Märkten und dem Verdrängungswettbewerb, der automatisch Preis- und Anpassungsdruck erzeugt.

Ich glaube diese Geschichten nicht. Ja, die Märkte sind da gesättigt, wo man versucht, auch noch die 103. Sorte eines völlig austauschbaren Produkts ins Regal zu stopfen. Der Ursprung eines jeden Erfolges ist aber nicht Haßloch, sondern ein Mangel, der beseitigt werden soll. Und es gibt unendlich viele Mängel. Auch und gerade heute. Es gibt auch viele neue Mängel, vor allem einen riesengroßen Mangel an Qualitätsprodukten. Und ein Mangel ist immer eine Chance für Unternehmer!

Also, liebe Unternehmer: Es gibt einen Mangel an guten Schuhen, an schönen Hemden, an hochwertigen T-Shirts. Handwerklich gut gemachte Bekleidung von langlebiger Qualität und in entsprechend gutem Design ist definitiv Mangelware.

Butter: Mangelware. Natürlich: Es gibt zwölf Sorten sterilisierte Butter im Supermarkt, aber keine einzige handgefertigte Butter, keine Butter, die nach Butter schmeckt. Der Mangel ist so groß, dass wir heute nicht einmal mehr wissen, wie richtige Butter schmeckt.

Bier: Mangelware. Es gibt wahrscheinlich tausend Sorten Pils in Deutschland, die selbst eingefleischte Fachleute kaum voneinander unterscheiden können. Aber sehen Sie sich bitte einmal an, was es zum Beispiel in den USA inzwischen an großartigen Bieren gibt! Reine Handwerksprodukte, die es in ihrer Aromenvielfalt mit jedem Wein aufnehmen und die man in jeder deutschen Brauerei streng nach dem deutschen Reinheitsgebot herstellen könnte.

Konserven: Es gibt nur Bonduelle, Hengstenberg & Co., also industrielle Einheitsprodukte, aber kaum irgendwo finden Sie regional hergestellte Einmach- und Einweckware, nach landesüblichen Rezepten und mit vor Ort produzierten Zutaten. Mangelware!

Backwaren: Sie können überall Brot und Brötchen kaufen, in ganz Deutschland die gleichen Sorten: Bauernbrot, Joggingbrot, Körnerbrot, Roggenmischbrot, Dreikornbrot, Glücklichbrot und wie sie alle heißen. Dabei war Deutschland einmal das Land der Welt, in dem die meisten unterschiedlichen Brotsorten gebacken wurden. Nur wird heute eben fast nirgends mehr richtig Brot gebacken, denn dazu müsste man aufwändig einen Teig herstellen. Und was das kostet! In Deutschland werden fast nur noch Fertigmischungen und Teiglinge verwendet. Richtiges Brot, das handwerklich hergestellt wird, ist … Mangelware.

Möbel: In jeder Stadt gibt es die Preislage Student, dann die Gelsenkirchener Barockecke im Möbelhaus und außerdem die superteuren Designermöbel. Aber wo gibt es Möbel, die designmäßig mit Ikea und qualitativ mit dem Schreiner mithalten können? Ich wollte einmal für mein Büro ein schlichtes Massivholzregal haben, das so aussieht wie ein Billy-Regal von Ikea. Das war eine Sonderanfertigung beim Schreiner und hat mich 1000 Euro gekostet! Ein Billy kostet 69 Euro. Wo ist die gute Mitte? Wo gibt es ein ordentliches, wertvolles, preiswertes Regal für 300 oder 400 Euro, das ein Leben lang hält? Da können Sie lange suchen. Mangelware!

Reisen: Pauschalreisen nach Palma, Antalya und Phuket gibt es wie Sand am Meer. Aber zeitgemäße, originelle, nahräumliche Urlaubskonzepte sind … Mangelware.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. In jedem Teilmarkt regiert der Mainstream. An der preislichen Obergrenze gedeiht das Luxus- und Premiumsegment prächtig: Ferrari, Elbchaussee, Manolo Blahnik, Jaeger-LeCoultre, Chopard, Dom Pérignon, Brenner’s Park-Hotel Baden-Baden, Gaultier – die Margen sind so traumhaft wie die Kundschaft elitär. Und an der preislichen Unterkante grasen die Discounter die Weide ab bis auf die Wurzeln und generieren Rendite durch unglaubliche Absatzmengen. An beiden Polen des Marktes gibt es glasklare, funktionierende Geschäftsmodelle. Dort gibt es Unternehmen, die ihr Geschäft beherrschen und genau wissen, was sie tun, egal wie man das im Einzelnen moralisch bewertet.

Aber in der Mitte, im Massenmarkt, in den preislichen Mittellagen, dort, wo das Publikum am größten ist, da herrscht in unseren Breiten Tristesse. In den mittleren Preissegmenten gibt es kaum mehr Qualitätsprodukte, sondern nur noch Mittelmaß niederster und immer noch fallender Qualität. Aber wer hat denn behauptet, dass die meisten Menschen am liebsten schlechtes Design, schlechte Verarbeitungsqualität, schlechte Materialbeschaffenheit, schlechten Geschmack, schlechte Gesundheitsverträglichkeit und schlechte Ökobilanzen haben möchten?

Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum es so gut wie keine Anbieter von guten, soliden, qualitativ wertvollen Produkten für die breite Mitte der Bevölkerung mehr gibt.

Der Mangel an erschwinglichen Qualitätsprodukten ist so groß wie der Mangel an Coolness im Vatikan. Und der Grund dafür ist der größte Mangel: der Mangel an unternehmerischer Tatkraft. Die gute Nachricht ist also: Wer sich mit Mut und unternehmerischer Tatkraft an die Beseitigung eines der oben genannten Mängel macht, der findet in Deutschland ein Paradies vor.

Ausgegoren

Denn es geht. Es funktioniert. Manufactum ist das beste Beispiel. Oder nehmen Sie Bionade: Aus dem Nichts hat die Familie Leipold/ Kowalsky im unterfränkischen Ostheim vor der Rhön ein Millionengeschäft aufgebaut. Der Braumeister Dieter Leipold entwickelte 1995 nach achtjährigem Experimentieren das Verfahren, mit dem aus Wasser und Malz mittels Fermentation der Grundstoff für seine Biolimonade hergestellt wird. Das Bakterium Gluconobacter oxydans vergärt dabei den Malzzucker nicht zu Alkohol wie beim Bier, sondern zu Gluconsäure, die als natürlicher, auch beispielsweise in Honig oder Wein vorkommender Konservierungsstoff dient. Verwendet werden alleine landwirtschaftliche Rohstoffe aus kontrolliert biologischem Anbau.

Bionade war eine tolle Erfolgsstory, auch wenn es in den letzten Jahren Vermarktungsprobleme gab. Der Mangel im von Coca-Cola dominierten und unter dieser Herrschaft verödeten Limonademarkt war drastisch. Ein zuckerarmes, wohlschmeckendes und unter vernünftigen Bedingungen produziertes Erfrischungsgetränk für die breite Bevölkerung gab es schlichtweg nicht. Die Rekultivierung dieser Wüste erforderte aber Erfindergeist, Mut und Durchhaltevermögen, denn zu Beginn operierten die Leipolds/Kowalskys an der Insolvenzgrenze, die Entwicklungskosten des Verfahrens betrugen über 1,5 Millionen Euro. Selbstverständlich riet ihnen jeder von dem Vorhaben ab, und natürlich wollte zuerst niemand die Produktion finanzieren, denn gegen den Getränkegiganten Coca-Cola traute sich niemand anzutreten.

Am Ende aber setzte sich der geschäftsführende Gesellschafter Peter Kowalsky, der Stiefsohn des Erfinders, trotz aller Startschwierigkeiten durch. Der Absatz konnte auf zeitweise bis zu 200 Millionen Flaschen im Jahr gesteigert werden. Kowalsky hatte später sogar die Genugtuung, ein Übernahmeangebot von Coca-Cola ausschlagen zu können, er wurde von der Zeitschrift Capital zum Ökomanager des Jahres und von der Presse zum Miraculix von der Rhön gekürt, und zu guter Letzt stieg die zum Oetker-Konzern gehörende Brauereigruppe Radeberger ein.

Oder vielleicht nicht zu guter Letzt, sondern zu schlechter Letzt. Denn leider ist damit auch der Schwung und der authentische Charme der Marke verloren gegangen. Marketing und Vertrieb werden nicht mehr von Kowalsky, sondern von dem Managern des Lebensmittelriesen gemacht, und seitdem geht es steil bergab. Vielleicht passiert gerade dasselbe wie bei Apple, als der Gründer Steve Jobs von 08/15-Managern 1985 aus dem Unternehmen gedrängt wurde. Bergauf ging es erst wieder, als Jobs 1996 zurückkehrte. Bionade ist zu wünschen, dass Peter Kowalsky Ähnliches gelingt.

Aber die Anfangszeit von Bionade war eines der Beispiele, die mich ganz sicher machen: Gute Qualität kann man sehr wohl in großen Mengen verkaufen. Der Bedarf und die Nachfrage sind da, der Wunsch danach und das Bewusstsein dafür steigen in der Mitte der Gesellschaft stark an und die Ideen und Produkte gibt es überall. Das einzige, was fehlt: Mut.

Diese Qualitätspioniere der jüngeren Zeit – Händler wie Manufactum und Hess Natur, wie Alnatura, Denn’s und Co., Produzenten wie Bionade, die Recycling-Label Freitag-Taschen und Zirkeltraining, das Mode-Label Bleed, die Schlafsackmanufaktur Yeti aus Görlitz, Mymuesli.com, Hersteller von Laufsportbekleidung wie Kossmann und Thoni Mara, Bio-Weinschorle von 8 grad, Percussion von Schlagwerk, die London Tea Company, Laufschuhe von Lunge, Cases von Germanmade, Schuhe von Snipe aus Spanien und viele, viele andere – haben bereits begonnen, die Kultur des Konsums in Deutschland massiv zu verändern. Die großen Billigheimer stehen mehr und mehr unter Druck, ihr Geschäftsmodell anzupassen. Seit Manufactum hat sich beispielsweise in Kaufhäusern und Haushaltswarenläden verblüffend viel getan. Gute Qualität findet sich auch dort wieder immer häufiger.

Der Startpunkt dieser Rekultivierungstendenzen ist aber immer ein einzelner Unternehmer, der den Mut hat, es trotzdem zu tun, auch wenn ihm von den Banken, den Geschäftspartnern, den Beratern, den Freunden, der Familie jeder abrät. Hilfe und Unterstützung bekommen die Pioniere nirgends, am allerwenigsten von der Marktforschung. Marktforschung und Innovation verhalten sich in etwa wie Nacktschnecken zu aktiven Vulkanen. Bringt man beides zusammen, hört man maximal ein kurzes Zischen …

Wenn Qualität in Deutschlands Mitte wieder Einzug hält, dann deshalb, weil tatkräftige Unternehmer ihrem eigenen Urteil vertrauen und sich darum das Vertrauen der Konsumenten verdienen.

Führungsbedarf

Liebe Politiker, in Ihrer Zunft ist es genau das Gleiche.

Nun gehöre ich zu den wenigen Menschen, die Ihren Berufsstand jederzeit verteidigen. Ich kenne viele von Ihnen, ich weiß, dass Sie sehr hart arbeiten, und ich weiß, dass unter Ihnen viele wirklich kompetente Leute sind. Aber: Sie reden den Menschen nach dem Mund, Ihre Marktforschung sind die Umfragen und Wahlergebnisse. Sie glauben, dass Sie Erfolg haben werden, wenn Sie den Wählern das geben, von dem alle glauben, dass die Wähler es haben wollen. Ihre Reden bestehen aus den Worthülsen, die alle verwenden, und Ihre Versprechungen vor den Wahlen sind die allgegenwärtigen Versprechungen aller Ihrer Zunftgenossen, die sich nur in Nuancen unterscheiden: Letztlich geht es Ihnen darum, die Menschen in der Mitte der Gesellschaft abzuspeisen mit Instantlösungen, kurzfristig nett ausschauenden politischen Wegwerfprogrammen und gut verkäuflichen Billigmaßnahmen, die eine Halbwertszeit von Monaten haben.

Sie betreiben im Durchschnitt Politik auf Discount-Niveau: Sie hangeln sich von Wahl zu Wahl, indem Sie ad hoc die Symptome behandeln, die jeweils gerade hochpoppen, während Sie um die Wurzeln unserer gesellschaftlichen Probleme einen großen Bogen schlagen. Grundsätzliche Fragen sind unbequem. Sie sind Meister darin geworden, diese grundsätzlichen Probleme auszusitzen, denn bis zur nächsten Wahl wird es für Sie vielleicht noch reichen, bevor das Ungelöste, Unbearbeitete, Unangenehme aus dem Schatten hervortritt wie ein Lebensmittelskandal in der Fleischwirtschaft.

Und wenn Ihnen dann doch etwas vor die Füße fällt, eine kleine Lüge, ein dubioses Geschäft, eine platzende Schuldenblase, eine Landesbank oder ein todgeweihter Staatsvertrag, dann wissen Sie genau, wie Sie sich da rauslavieren können, hier ein Bauernopfer, da eine neue kleine Lüge, dort ein Ablenkungsmanöver, sodass Sie nach kurzem Wirbel Ihren Stiefel weiterfahren können wie Rewe, Edeka, Lidl und Aldi nach BSE.

Wir, das Wahlvolk, sind bereit, für Qualität zu bezahlen, wenn man sie uns erklärt, und genauso sind wir bereit, gute und sinnvolle Politik zu akzeptieren, wenn man sie uns erklärt, auch wenn sie vielleicht einen Preis erfordert, wenn sie zunächst unbequem ist und nicht süß schmeckt. Wir mögen Politiker, die konsequent sind, aufrichtig und mutig, wir wollen Politiker, die geradestehen für ihre Politik, die auch mal einen Standpunkt abseits der Mehrheit vertreten, einfach weil sie ihn für richtig halten, und die das Durchhaltevermögen haben, eine Vision zu verfolgen, auch wenn ihnen zunächst nur die wenigsten zustimmen.

So wie Werner von Siemens, Robert Bosch, Rudolph Karstadt, die Opel-Brüder früher oder in jüngerer Zeit Wendelin Wiedeking, Reinhold Würth, Alfred Herrhausen und Thomas Hoof Menschen und Mitarbeiter begeistern konnten und gleichzeitig ihr Ding eisern durchgezogen haben, auch gegen größte Widerstände, und auch dann noch, wenn die eigene Existenz auf dem Spiel stand, so wünschen wir uns eine neue Elite in der Politik, die uns begeistern kann, die aber vor allem prinzipientreu, aufrichtig, konsequent und visionär ist. Qualität kommt nicht von Opportunismus, weder in der Wirtschaft noch in der Politik. Qualität kommt von Mut, Stolz, Tatkraft und Anstand, von Nachhaltigkeit, nicht von Kurzfrist-Stoppelei.

Es würde genau diese Eigenschaften erfordern, um beispielsweise unser marodes Rentensystem grundlegend zu reformieren und die Gesellschaft auf die künftige Altersstruktur vorzubereiten, ohne weder die Alten zu diskriminieren noch die Jungen zu überfordern. Es würde genau diese Eigenschaften erfordern, um beispielsweise die außer Rand und Band geratene Finanzwirtschaft an die Leine zu legen.

Die Masse der Bevölkerung würde hinter Ihnen stehen, wenn Sie den Mut hätten, den Renditejongleuren die Stirn zu bieten, wenn Sie sich trauen würden zu sagen: Die Finanztransaktionssteuer kommt! Wenn andere Länder nicht mitmachen, dann machen wir’s eben alleine, die anderen werden schon folgen. Nächstes Jahr ist es so weit. Das Casino wird geschlossen! Zockt, wo ihr wollt, aber nicht mehr bei uns! Werdet anständig oder macht euch vom Acker! 25 Prozent Renditeforderung ist gaga und wird hier nicht mehr geduldet! Setzt euer Kapital produktiv ein oder haut ab!

Wir wissen, dass das etwas kostet. Es würde uns Milliarden kosten, jawohl. Aber, na und? Wir können uns das leisten! Es ist in Wahrheit doch genau andersherum. Die Finanzakrobaten sind diejenigen, die es sich nicht leisten könnten, dauerhaft um Deutschland einen Bogen zu machen.

In der Summe der Eigenschaften gibt es für ein Wirtschaftsunternehmen doch kaum ein besseres Land auf der Welt als Deutschland. Unsere Märkte sind attraktiv ohne Ende. Unsere Lage mitten in Europa, mitten im größten Wirtschaftsraum der Welt, umgeben von guten Absatzmärkten, die beste Infrastruktur an Transportwegen, die es gibt, die günstigsten klimatischen Verhältnisse, die auf diesem Planeten zu finden sind, erdbebensicher, tsunamisicher, tornadosicher, vulkansicher, keine gefährlichen Tiere, keine Malaria, größte Rechtssicherheit, stabiles Gesundheitswesen, niedrige Kriminalität, Investitionssicherheit – wir leben im internationalen Vergleich noch immer auf einer Insel der Seligen und gehören weltweit zu den Top Ten aller Wirtschaftsstandorte, wie auch das Weltwirtschaftsforum uns attestierte.

Unsere Voraussetzungen sind (noch) glänzend. Richtig wäre, wenn Sie sich hinstellen würden und mit breiter Brust eine klare, streitbare Position vertreten würden. Zum Beispiel so: Dies ist ein wunderbares Land, und wir sind angetreten, um es konsequent weiter zu verbessern. Und dazu brauchen wir kompetente Unternehmer, visionäre Gründer, Pioniergeist und Qualitätsprodukte, wir brauchen eine blühende Realwirtschaft. Wir brauchen keine Zocker!

Jede Wette, eine solche Haltung wäre hochgradig mehrheitsfähig, genauso wie es hochgradig mehrheitsfähig ist, gesunde, schöne, praktische, nachhaltig produzierte Produkte zu fairen Preisen anzubieten. Wir Deutschen wären in der Mehrheit bereit zu verzichten, wenn man uns das ordentlich verkauft und wir dann verstehen, dass der Kurs der richtige ist.

Legen Sie sich mit den Dicken an, mit Goldman Sachs & Konsorten. Brechen Sie mit denen. Sagen Sie: Wir brauchen euch nicht, Deutschland hat die Power, ohne euch auszukommen. Wir sind kein gespaltenes Land wie die USA, wir sind auch nicht abhängig von der dunklen Seite der Macht einer City of London wie England, wir stehen auch nicht am Rande des Abgrundes wie Portugal, Spanien oder Italien, deren Probleme viel, viel größer sind als unsere.

Wir würden es locker wegstecken, wenn Frankfurt einige schlechte Jahre hätte und die Bankentürme auf Mietersuche wären – wir haben das mit Berlin auch hinbekommen. Wir würden liebend gerne Care-Pakete für notleidende Ex-Banker aus der ganzen Republik nach Frankfurt schicken. Und das sogar ohne eine Rendite dafür zu erwarten. Ehrlich.

Liebe Politiker, wir würden zu den Wahlurnen strömen, wenn da ein Politiker käme, der das Rückgrat eines Helmut Schmidt oder eines Alfred Herrhausen hätte. Herrhausen hatte als Chef der Deutschen Bank den Mut, sich mit der Finanzwirtschaft der ganzen Welt anzulegen, als er noch am Tag vor seiner Ermordung vor der Weltbank forderte, die Länder der Dritten Welt zu entschulden, alle Schulden einfach abzuschreiben, weil diese Länder prinzipiell zahlungsunfähig sind und weitere Kredite sie nur noch abhängiger und noch weniger kapitaldienstfähig machen würden. Er vertrat diese Position allein auf weiter Flur, nicht weil sie populär oder mehrheitsfähig war oder ihm irgendeinen Vorteil verschaffte. Er vertrat sie, weil er sie richtig fand.

Wer auch immer ihn ermordet hat, hat auch eine Stimme der Vernunft ermordet, die den Mut zu Aufrichtigkeit und Anstand besaß. An diesem Mut herrscht in unserem Land der größte Mangel. In der Wirtschaft genauso wie in der Politik.

Ausgegeizt!: Wertvoll ist besser - Das Manufactum-Prinzip
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