Wozu anständig? – Der Marmeladen-Esel in Korsika
Warum glückliche Lieferanten besser sind als gesättigte Investoren
»Mein Mann und ich haben nochmal von vorne angefangen. Wir leben auf Korsika, draußen in den Bergen. Da gibt es nicht viel, aber wir können eine Sache besser als jeder andere: Wir nehmen die wunderbar aromatischen Zitrusfrüchte, die hier wachsen – Zitronen, Orangen, Klementinen und Pampelmusen –, und kochen daraus feine, süße und bittersüße Marmeladen. Weil die Früchte hier von besonderer Qualität sind und weil wir beim Marmeladekochen einfach den Bogen raus haben, glauben wir, dass unsere Marmelade unschlagbar ist. Das jedenfalls haben uns alle, die sie probiert haben, bestätigt.
Darauf sind wir stolz. Und darauf haben wir unser Geschäft aufgebaut: Mein Mann pflegt die Gärten, spricht mit den Obstbauern und erntet die Früchte, ich schmeiße die Marmeladeküche.
Wir waren uns immer sicher, dass es für unsere Marmeladen einen Markt gibt, aber der Vertrieb ist nicht einfach. Zu Beginn hat es mit dem Geld hinten und vorne geklemmt: Wir mussten erstmal die Küche und die Lagerräume einrichten, Werkzeuge und Geräte kaufen, Erntehelfer bezahlen, Gläser einkaufen und so weiter. Es war knapp, aber es ging. Es musste ja auch gehen, denn unsere wirtschaftliche Existenz hing daran.
Ernten und Kochen genügt nicht, verkaufen müssen wir auch noch, und das kostet viel Zeit und Geld, denn zu uns auf den Hof kommen nur wenige Leute. Darum besuchen wir regelmäßig regionale Messen in Italien und Frankreich, wo die Einkäufer von kleinen Feinkostgeschäften den Markt sichten. Wir lassen sie probieren, zeigen ihnen, wie wir arbeiten, und handeln die Lieferungen mit ihnen aus. Auf diesen Messen sind zuweilen richtige Profis unterwegs, die in größerem Stil einkaufen. Das sind Fachleute, die sich gut auskennen, und wenn die unsere Marmeladen loben und für ihre Delikatessengeschäfte einkaufen, sind wir besonders stolz.
›Ihr seid die Besten!‹, hören wir dann oft. Und der Einkaufspreis spielt dann gar keine so große Rolle mehr. Trotzdem sind wir beim Preis nicht abgehoben. Manche sagen uns, wir seien zu billig. Na, jedenfalls: Es funktioniert. Die Rechnung geht auf.
Dann kam eines Tages diese Deutsche zu uns auf den Messestand. Sie kam von Manufactum. Wir hatten schon von diesem Versender gehört, Freunde von uns hatten den Katalog. Manufactum wollte eine kleinere Lieferung mit uns ausprobieren. Wir wurden uns schnell einig und gaben uns darauf die Hand. Wir lieferten, Manufactum bezahlte, alles war bestens.
Kurz darauf bekamen wir einen Anruf: Manufactum war begeistert von unserer Marmelade und wollte uns in den Hauptkatalog aufnehmen. Mein Mann und ich sahen uns an. Wir wussten, was das bedeutete: Wir hatten bisher noch nie einen so starken Vertriebspartner gehabt. Die Mengen, um die es ging, waren für uns Neuland. Es war ein Riesenschritt nach vorne. Zuerst freuten wir uns riesig und fielen uns in die Arme. Dann bekamen wir ein bisschen Angst, ob wir das schaffen würden. Aber wir packten es einfach an. Wir würden einfach unser Bestes geben.
Unser Gut liegt weit außerhalb, bis Ajaccio sind es gut 50 Kilometer über kleine Bergstraßen. Wir haben kein Auto und wollen auch keines. Die erste Lieferung brachten wir mit unserem alten Handwagen zur Post. Manufactum bezahlte prompt, es war alles wunderbar gelaufen.
Kaum war das geschafft, kam der nächste Anruf aus Deutschland: Sie brauchten mehr! Die Nachfrage sei groß. Sie bräuchten die Ware schnell.
Wir verstanden das gut. So ein Versandhandel muss immer lieferfähig sein, sonst kostet das jeden Tag viel Geld. Wir mussten also mehr Marmelade kochen und schneller liefern. Wir setzten uns hin, rechneten, kalkulierten, und begannen, unser Geschäft auszubauen. Wir waren rund um die Uhr bei der Arbeit und lieferten aus, was wir konnten. Dabei überhörten wir offenbar ein paar Mal das Telefon. Jedenfalls war der Disponent von Manufactum beim nächsten Telefonat ein wenig genervt: Er bekäme uns nie an die Strippe, wir sollten uns ein Fax anschaffen, damit er uns die Bestellung einfach durchfaxen könne.
Uff, wir waren ganz schön unter Druck. Am nächsten Tag machte ich ein schönes Foto von unserem neuen Esel, vollgepackt mit Marmelade. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb den Leuten von Manufactum einen Brief:
»Liebe Manufactum-Einkäufer,
leider brauchen wir das Geld, das wir von euch bekommen haben, bisher hauptsächlich, um neue Früchte zu kaufen und die Marmelade zu kochen, die ihr bestellt habt. Für ein Faxgerät hat es noch nicht gereicht.
Aber immerhin haben wir uns schon einen neuen Esel anschaffen können, wie ihr auf dem Foto seht. Außerdem Packtaschen und einen kleinen Wagen, den wir hinten an den Esel spannen können. Damit können wir viel mehr Gläser auf einmal liefern und viel schneller in die Stadt bringen. Das sollte ein erster Schritt zu einer noch besseren Zusammenarbeit sein.
Mit vielen Grüßen aus den sonnigen Bergen von Korsika,
Eure Marmeladenkocher«
Was heißt schon professionell?
Diesen Brief und dieses Foto und diesen Esel gab es wirklich, die Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, auch wenn ich sie nun aus meiner Erinnerung und aus korsischer Perspektive nacherzählt habe.
Einem Category-Manager in einem Lebensmittelkonzern entlockt so eine Geschichte vermutlich nur ein müdes Grinsen, und es schießen zwei Wörter durch seinen Kopf: naiv und unprofessionell. Aber ist diese Art, Geschäfte zu machen, wirklich naiv? Ist sie wirklich unprofessionell?
Zumindest ist sie unbürokratisch. Und sie ist fair. Auch bei Manufactum ist die Situation oft so, dass der Händler viel, viel größer ist als der Lieferant, ganz ähnlich wie bei Edeka & Co. Auch im Falle der Korsika-Geschichte tritt der Händler fordernd auf und stellt Ansprüche an den Produzenten. Aber es gibt trotzdem zwei gravierende Unterschiede. Erstens: Manufactum ist dazu fähig, zum Endkunden hin High-End-Service zu bieten, wie man ihn von einem Versandhaus erwartet, und dennoch mit Lieferanten zu arbeiten, die sehr klein sind, die nicht ihre Produktstammdaten direkt ans SAP-System übermitteln können und die vielleicht auch nicht immer typische Managementqualitäten besitzen, sondern eher gute Handwerker sind. Anders gesagt: Wenn jemand eine wirklich tolle Marmelade kochen kann und bereit ist, sich wenigstens an ein paar Spielregeln der Zusammenarbeit zu halten, dann kriegt Manufactum den Rest schon hin. Zweitens: Manufactum hilft den Marmeladekochern, ihr Geschäft aufzubauen, und versucht nicht, sie auszusaugen, über den Tisch zu ziehen, zu erpressen.
Aber warum eigentlich nicht?, denkt der Category-Manager. Sind diese Manufactum-Spinner so menschenfreundlich, naiv, unprofessionell, ideologisch verbrämt, dass sie nicht kapieren, dass das Geschäft mit dieser Eselklitsche unprofitabel ist? Die Machtverhältnisse sind doch ganz klar: hier der große Händler aus Deutschland, da die kleine Bude in Korsika. Es ist logisch, wer in diesem Geschäft von wem abhängig ist, oder? Warum drehen die nicht wenigstens an der Preisschraube? Korsika ist doch quasi Dritte Welt, da kann man doch viel billiger produzieren, die Marmelade muss doch nicht so teuer sein, dann würde sie sich auch besser verkaufen …
Nun, wer verstanden hat, wie Nachhaltigkeit in der Wirtschaft funktioniert, der weiß, dass das alles nicht stimmt. Es ist überhaupt nicht wahr, dass die Beziehung zwischen dem kleinen Produzenten und dem großen Händler notwendigerweise eine einseitige Abhängigkeitsbeziehung ist. Es stimmt dann nicht, wenn man den entscheidenden Faktor berücksichtigt, der aus einem Geschäft ein nachhaltiges Geschäft macht. Und dieser Faktor heißt: Qualität.
Wer als Händler auf Dauer herausragende Qualität und besondere Produkte verkaufen will, der ist davon abhängig, dass es solche Produzenten gibt, die Qualität über Masse stellen, die klein sind, aber existieren können, die auch in zehn Jahren noch auf dem gleichen Niveau liefern werden. Die Abhängigkeit in einer nachhaltigen Geschäftsbeziehung ist immer gegenseitig. Und immer freiwillig. Und sie ist eine Beziehung unter Menschen, eine Beziehung, die auf beiderseitigem Vertrauen gründet.
Eine nachhaltige Geschäftsbeziehung funktioniert wie eine Symbiose. Anders als in einer parasitären Beziehung sind in einer Symbiose beide Partner mit der gegenseitigen Abhängigkeit zufrieden und profitieren voneinander. Die Beziehung ist auf Dauer angelegt. Und darum hilft man sich auch gegenseitig, man tut etwas füreinander, wenn man darum gebeten wird.
Das muss man sich klarmachen: Die Marmeladekocher aus Korsika freuen sich in genau dem gleichen Maße über den Erfolg von Manufactum wie die Manufactum-Leute sich über den Erfolg der Marmeladekocher freuen. Denn der Erfolg des jeweils Anderen bedeutet, dass beide weiter miteinander arbeiten und den einzigartigen Nutzen – nämlich eine ganz besondere Marmelade anzubieten – für ihre Kunden weiterhin erbringen können. Es ist eine beiderseitige Erfahrung, gemeinsam etwas Sinnvolles zu tun, das keiner von beiden alleine so tun könnte.
Der Produzent wird dafür sorgen, dass der Händler nicht zu viel bezahlt, und ein guter Händler wird zulassen, dass der Produzent genügend bekommt. Denn beide setzen auf Vertrauen und Langfristigkeit. Und wenn der Punkt erreicht ist, dass der Produzent einen Großteil seines Umsatzes mit dem Händler macht, dann ändert das gar nichts. Das übliche Signal, dass der Händler jetzt so mächtig geworden ist, dass er eine Preisrunde einläuten und die Schrauben anziehen kann, so wie das sonst in unserer Billigkultur üblich ist, bleibt schlicht und ergreifend aus. So etwas gibt es nicht in einer nachhaltigen Geschäftsbeziehung, denn so etwas fänden beide Partner einfach unanständig.
Eine nachhaltige Geschäftsbeziehung hat immer einen geschäftlichen und einen menschlichen Teil, und beide sind gleich wichtig. Das hat handfeste Vorteile. Insbesondere dann, wenn nicht alles glattläuft, und eigentlich läuft nie alles glatt. Eitel Sonnenschein gibt es auch in nachhaltigen Geschäftsbeziehungen nur höchst selten.
Wie läuft das dann? Bei einer rein geschäftlichen Beziehung wird immer dann, wenn es ein Problem gibt, der Anwalt ins Spiel gebracht. Zuerst wird das Juristische geprüft, alles geht schriftlich, damit es gerichtsfest beweisbar ist, und dann werden die Machtverhältnisse durchgesetzt.
Bei einer Geschäftsbeziehung, die auch eine menschliche Seite hat, gibt es einen anderen Weg, und der ist der viel bessere – man greift zum Äußersten und spricht miteinander: »Hey, das gefällt mir nicht, lass uns reden. Ich habe eine Idee, wie wir das besser machen können. Ich will deine Meinung dazu hören. Kannst du dir das vorstellen?«
Wenn es eine Vertrauensbasis gibt, kann ich offen mit meinem Geschäftspartner reden: Was braucht ihr? Wie viel müsst ihr investieren? Wie groß ist euer Risiko? Können wir das gemeinsam stemmen? Bist du bereit, mit mir ins Risiko zu gehen?
So denken Anwälte nicht. Ein Jurist ist gewohnt, sein Terrain sauber zu halten. Es geht um klare Grenzen und ihre Verteidigung. Bei einer nachhaltigen, menschlichen Geschäftsbeziehung geht es um das Gegenteil davon: um die Schnittmenge. Um das gemeinsame Terrain. Damit haben Juristen größte Schwierigkeiten. Sie sind sehr gut darin, die Interessen ihres Mandanten zu vertreten. Aber sie können nicht die gemischten und verquickten Interessen ihres Mandanten und eines Dritten vertreten. So können und wollen sie nicht denken. Aber genau das wird in einer nachhaltigen Wirtschaft gebraucht.
Mit anderen Worten: Für juristisch Kompliziertes und für große Volumina braucht man Anwälte, keine Frage. Aber wenn es darum geht, auf Dauer und mit Produkten von hoher Qualität Geschäfte machen zu wollen, dann müssen die Partner einen anderen Weg einschlagen als den juristischen. Dann müssen sie fähig und in der Lage sein, gemeinsam auf die Jagd zu gehen, den Bären zu erlegen und dann dessen Fell gerecht zu verteilen. Ohne Schiedsrichter!
Wer so eine Beziehung erst einmal aufgebaut, sich auch mal etwas mit dem anderen gestritten und dann gelernt hat, ihm zu vertrauen, der braucht keinen ausgefuchsten Vertrag. Der schaut dem anderen in die Augen, spricht mit ihm – und fertig.
Es gibt viele erfolgreiche Unternehmer, echte Profis, die das Herz am rechten Fleck haben, die wollen nur so und nicht anders Geschäfte machen. Sobald da bei einem Geschäft die Anwälte ins Spiel kommen, werfen sie die Brocken sofort hin, denn sie wissen genau: Jetzt wird der Pfad der Nachhaltigkeit verlassen. Jetzt wird es unprofessionell im eigentlichen Sinne. Und da gehen sie nicht mit.
Hallo, Ubu
Dieter Gaissmayer hat in den 80er Jahren in Illertissen eine Bioland-Staudengärtnerei gegründet. Kollegen haben ihn gefragt, ob er eigentlich bescheuert sei. Schließlich ist Bioland ein Anbauverband ökologisch produzierender Lebensmittelerzeuger. Und Stauden sind Zierpflanzen, man kann sie nicht essen!
Dieter war das egal. »Ich finde das geil«, hat er gesagt. »Bei uns muss niemand mit Gift hantieren.« Und mehr Begründung war für ihn nicht nötig. Heute ist er einer der angesehensten und bekanntesten Staudengärtner Deutschlands. Über 3000 Arten und Sorten zieht er in seiner Gärtnerei auf, hegt und pflegt sie. Laufenten halten die Schnecken ohne Einsatz von Gift im Zaum. Die Pflanzen für den Verkauf werden als Ableger von den Mutterpflanzen entnommen. Sein Mutterpflanzenquartier ist ein wunderschöner Ort. Wer Blumen und Gärten liebt, muss das mal gesehen haben: so eine Vielfalt, so eine geballte Schönheit, so ein inspirierender Ort, an dem mit so viel Liebe und Hingabe gearbeitet wird. Fantastisch!
Dieter war nie Betriebswirt. Und es wird auch keiner mehr aus ihm werden. Stattdessen liebt er einfach Stauden und glaubt an das, was er tut. Und sein solider kaufmännischer Grundverstand reicht auf jeden Fall aus, damit er seinen Betrieb mit 20, 30 Leuten gut führen kann.
Als ich zu Manufactum kam, war meine erste Aufgabe, den Pflanzenkatalog aufzubauen. Das war ein schwieriges Terrain, das Projekt war schon einmal gescheitert. Es gab logistische Probleme, es gab das vermaledeite Sortenrecht, es war nicht einfach, die Pflanzen zuverlässig zu beschaffen und lieferfähig zu halten. Aber ich hatte den fachlichen Background und das Vertrauen von Thomas Hoof, und ich legte los.
Dass Dieter Gaissmayer einer meiner wichtigsten Lieferanten werden würde, war mir schnell klar. Mir war auch bewusst: Von Stauden versteht der zehnmal mehr als ich. Der wird mir so manches Problem lösen können. Also bat ich meine Sekretärin, einen Brief an ihn aufzusetzen: ob wir uns mal sprechen könnten. Oben rechts stand auf dem Brief: »Unser Zeichen: UBu«
Er rief an, sagte zu, ich fuhr hin. In der Einfahrt begrüßte er mich breit grinsend: »Ah, hallo Ubu! Ich hab mich ja schlapp gelacht über euren formellen Brief. Ich bin der Dieter.«
Seitdem nennt er mich Ubu.
Unser Gespräch war herzlich und sachlich zugleich. Wir wollten zusammenarbeiten. Er nannte frei von der Leber weg seine Bedingungen: Ja, ich mach das, aber es muss so und so laufen. Er brauche eine Vorwarnzeit, es müsse eine Obergrenze geben, das sei der Preis, das seien die Konditionen. Wir haben gleich beim ersten Gespräch alles Wesentliche besprochen und festgezurrt. Ich fuhr wieder zurück ins Büro und schob bei uns alles Notwendige an.
Irgendeine Torfnase aus dem Einkauf hat ihm dann, ohne mich vorher zu fragen, mit einem formellen Brief unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen geschickt: Unterschreiben Sie hier und hier. Das war ein Fehler.
Dieter rief an. Nein, er schrie an. Er tobte. Ob wir einen an der Waffel hätten. Ob wir etwa nicht gerade ein gutes Gespräch geführt hätten. Dass er keinen Bock auf unseren juristischen Quatsch hätte. Dass wir uns unsere Knebelverträge sonst wohin stecken sollten. Was wir eigentlich denken würden, ihm so einen Scheiß zu schicken. Wozu er sich eigentlich mit mir getroffen hätte.
Dieter war tief enttäuscht von mir. Er wertete die Zusendung der AGB als Vertrauensbruch in unserer noch ganz unerprobten, jungen Geschäftsbeziehung. Diese Kuh habe ich nur noch ganz mühsam vom Eis bekommen. Es dauerte mehrere Telefonate und forderte mein Sprachzentrum bis zum Äußersten. Natürlich musste er am Ende nichts unterschreiben. Er kriegte sich wieder ein. Und von da an wurde unsere Beziehung Schritt für Schritt immer besser.
Früh im Jahr trafen wir uns immer, um zu besprechen, was wir in den folgenden Monaten zusammen machen wollten. Wir legten alles offen auf den Tisch. Wie ging es ihm, wie ging es uns, wie ist es zuletzt gelaufen, was brauchen wir voneinander in der nächsten Zeit.
Wenn es mal Probleme gab – und die gibt es ständig, wenn man ernsthaft miteinander arbeitet –, dann riefen wir uns kurzerhand an, gingen miteinander essen und lösten das Problem gemeinsam. Das hat immer geklappt. Auf der gewachsenen Vertrauensbasis war jedes Problem schnell lösbar. Und auf dieser Basis waren wir in der Lage, das beste Staudensortiment anzubieten, das wir uns überhaupt vorstellen konnten.
Welten dazwischen
Wenn das Vertrauen größer ist als die Rechtsabteilung, dann läuft die Zusammenarbeit schnell, einfach und unbürokratisch. Und vor allem: stabil. Beide Partner verlassen sich aufeinander und können ihre Energie anstatt in die Verteidigungsanlagen in das produktive Geschäft stecken. In das, was sie am liebsten tun und am besten können. Und beide verdienen Geld.
Mit den guten alten Kaufmannstugenden, mit gegenseitiger Wertschätzung kommt man im Geschäftsleben weiter als mit Anwälten. Das ist meine Erfahrung. Das heißt nicht, dass jeder Geschäftspartner gleich der beste Freund werden muss. Das geht auch ganz kühl und hanseatisch. Aber es geht nur mit gegenseitigem Respekt.
Dabei kommt es auf die zwischenmenschlichen Kleinigkeiten an. Die aber sind im Controlling, im margengetriebenen Einkauf und in der Rechtsabteilung nicht abbildbar. Sie sind das erste, was gekillt wird, wenn die Investoren ihre Renditeziele hochschrauben.
Wird aber anstelle einer richtig verstandenen Professionalität, die Ehre, Tugenden, Anstand und Respekt voraussetzt, bloß auf eine kurzfristige Gewinnmaximierer-Professionalität gesetzt, die nur mit Paragraphen, Kleingedrucktem, Machtspielen und Drohungen funktioniert, dann ist vieles nicht mehr möglich: Dann sind auf Dauer keine außergewöhnlich guten Ergebnisse für den Kunden mehr möglich. Dann ist die besondere Innovationsfähigkeit, die nur aus Gemeinsamkeit entspringt, nicht mehr möglich. Dann ist eine dauerhafte Zusammenarbeit von großen und kleinen Firmen nicht mehr möglich.
Ich hatte es einmal mit einem globalen Glaskonzern zu tun. Einer meiner Einkäufer wollte für das Hartwarensortiment bei Manufactum ein bestimmtes Trinkglas, nämlich den sogenannten Willybecher kaufen. Jeder kennt das, das war lange das deutsche Standardglas, halber Liter, in vielen Wirtschaften wird das Bier darin ausgeschenkt. Es hat eine Zylinderform mit so einem leicht gewölbten Bauch in der Mitte, und unten einen recht massiven Boden.
Dieses einfache Glas hat sich millionenfach bewährt, ein echter Klassiker. Seit 1954 wurde es jahrzehntelang unverändert hergestellt, seinen Namen hat es nach seinem Erfinder, dem damaligen Vertriebsleiter der Glaswerke Ruhrglas in Essen-Karnap, Willy Steinmeier. Bei der Recherche fand der Einkäufer dann heraus, dass die Rechte an dem Glas bei irgendeinem internationalen Riesenkonzern gelandet sind. Mist. Er bestellte Muster, bat um ein Angebot für soundso viel tausend Stück und legte unsere Einkaufsbedingungen bei. Auch Manufactum ist ja ein bisschen bürokratisch. Zumindest damals musste, wer liefern wollte, diese Einkaufsbedingungen anerkennen.
Der Einkäufer erhielt die Muster des Glases und einen Packen Papier. Jetzt kam ich ins Spiel: Denn mit dem Packen Papier stand er in meinem Büro und bat um Hilfe. Es war ein Dokument von vielleicht 50 Seiten, eng bedruckt, voll mit juristischen Termini – die Verkaufsbedingungen des Konzerns. Ausreichend Stoff für eine juristische Dissertation. Ein Blick, und es war klar: Da geht etwas ganz und gar nicht zusammen. Ich würde das niemals unterschreiben. Falls nämlich doch, dann würden sich bei der erstbesten Schwierigkeit in irgendwelchen repräsentativ eingerichteten Kanzleien ganze Horden von Anwälten die Hände reiben und beginnen, sich mit Schriftsätzen zu bewerfen. Wir würden beiderseits Tausende von Euros verbrennen, bis klar würde, wer mehr juristisch legitimierte Macht würde durchsetzen können.
Umgekehrt war auch klar: Nie im Leben würden diese Leute unsere Einkaufsbedingungen unterschreiben, die waren ja so ungefähr das juristische Gegenteil ihrer Verkaufsbedingungen. Ich dachte, das wird nie was, das können wir vergessen. Aber einen Versuch war es wert: Ich rief den Vertriebsleiter an. Und ich stellte fest, was die Brand eins viele Jahre später titeln sollte: Es gibt intelligentes Leben im Konzern.
Wir grinsten uns durchs Telefon quasi an und waren uns schnell einig: Mit diesen Einkaufs- und Verkaufsbedingungen haben wir uns jetzt wohl eben mal gegenseitig ordentlich was vor den Bug geballert. Jetzt können wir es aber auch wieder gut sein lassen und überlegen, ob und wie wir weitermachen. Wir wollten das Geschäft schließlich beide. Die paar Tausend Gläser, um die es ging, waren ihm zwar egal – aber in den Manufactum-Katalog wollte er auf jeden Fall. Also einigten wir uns darauf, dass wir gegenseitig die erforderlichen Bedingungen einfach nicht unterschreiben würden. Wir würden sie einfach beide ununterschrieben in die Akten versenken. Manufactum würde einfach trotzdem bestellen und der Glaskonzern würde einfach trotzdem liefern. Das sollte reichen. Wir versprachen uns gegenseitig, dass das so gilt. Hand drauf (durchs Telefon). Fertig. Und so geschah es. Wir kauften die gewünschten Gläser (allerdings letztendlich ein anderes Modell als den original Willybecher, wenn ich mich recht erinnere), und unsere Geschäftsbeziehung mit dem Konzern lief viele Jahre erfolgreich.
Wer macht den Weg frei?
Fairness bedeutet auch manchmal, dass man sich über den Gesetzgeber hinwegsetzt. Das Vertrauen der Geschäftspartner oder der Kunden hat Vorrang. Das ist etwas, was in die Köpfe von Konzernmenschen meistens einfach nicht hineingeht.
Ein Beispiel: Die Rücksendung von Retouren wurde vom Gesetzgeber im Jahr 2000 im Namen des Verbraucherschutzes neu geregelt. Auf gar keinen Fall soll der Kunde, der etwas bei einem Versender bestellt hat, für die Kosten der Rücksendungen aufkommen müssen, wenn der Wert der Rücksendung über 40 Euro liegt. Wenn Sie also etwas bestellen, dessen Farbe Ihnen in natura dann doch nicht so gut gefällt und es darum wieder zurücksenden, dann muss das laut Gesetz der Versandhändler bezahlen, obwohl er überhaupt keinen Umsatz machen konnte.
Das ist zwar geltendes Recht, aber es ist von Fairness und Gerechtigkeit so weit entfernt wie Aldi von nachhaltiger Wirtschaft. Thomas Hoof sah das nicht ein. Er war immer gegen Verbraucherschutzgesetze und für mündige Kunden. Er schrieb persönlich eine neue Passage für die Vertragsbedingungen am Ende des Kataloges:
»Das Gesetz schreibt vor, dass Sie bei Bestellungen bis zu einem Betrag von EUR 40 die Kosten der Rücksendung selbst zu tragen haben. Ansonsten gehen die Rücksendungskosten zu unseren Lasten. (Nach unseren bisherigen Vertragsbedingungen ging die Rücksendung – außer bei Mängeln – zu Ihren Lasten. Trotz gegenteiliger Meinung des Gesetzgebers fänden wir es fair, wenn Sie Ihre Rücksendung wie bisher freimachen würden.)«
Er appellierte an die Fairness der Kunden, und siehe da: Viele Kunden bezahlten freiwillig die Portokosten der Retouren selbst. Allerdings: So etwas geht nur bei einer gewachsenen Vertrauensbeziehung. Vertrauen ermöglicht Fairness.
Was Vertrauen außerdem möglich macht: Unabhängigkeit. Als Manufactum in seiner Anfangszeit stürmisch wuchs, gab es bald ein Finanzierungsproblem. Schnelles Wachstum ist im Geschäftsleben eine der schwierigsten Herausforderungen, denn es erfordert schnell viel Kapital, und von Banken ist da nicht viel zu erwarten. Die vertrauen selten auf das prognostizierte Wachstum eines Unternehmens und geben darum in einer solchen Phase ebenso selten Kredite aus. Wenn dann allerdings das Wachstum tatsächlich stattgefunden und das Unternehmen auf eine neue Stufe gehoben hat, dann rennen die Banken dem Unternehmen die Türen ein und werfen mit Krediten um sich wie Hochzeitsgäste mit Reis am Ausgang der Kirche. Nur: Dann braucht der Unternehmer ja das Geld nicht mehr, er verdient dann ja selbst genug und die Investitionsphase ist bereits vorbei. Banken verleihen Regenschirme – außer wenn es regnet.
So war es auch bei Manufactum. Die Banken sahen sich das Konzept an und winkten ab: Gute Dinge! Das wird nicht funktionieren. Wir finanzieren das Konzept nicht … So etwas braucht doch kein Mensch.
Thomas Hoof war schnell der Meinung, dass er im Gegenzug die Banken nicht brauchte. Aber der Kapitalbedarf war nun mal da. Spätestens als sein Unternehmen zum ersten Mal Gewinn machte und das Finanzamt auf sofortiger Zahlung der Steuern für das abgelaufene Geschäftsjahr plus Vorauszahlung für das folgende Geschäftsjahr bestand (was übrigens so ziemlich das Gegenteil von nachhaltiger Pflege von Steuerquellen ist), war Manufactum einen Moment lang kurz vor dem Aus, erzählte er mir viele Jahre später. Woher sollte jetzt das Geld kommen?
Das konnte nur von Menschen kommen, die erstens Vertrauen in Manufactum hatten, die zweitens das Konzept verstanden hatten und die drittens ein langfristiges Interesse am Unternehmenszweck (und nicht nur an der Rendite) hatten. Man muss nicht lange auf diese drei Punkte starren, um herauszufinden, dass es auf der Welt nur eine Gruppe von Menschen gibt, auf die alle drei Punkte zutreffen: die Manufactum-Kunden.
Also schrieb Hoof in den Hausnachrichten, die den Katalogen stets beiliegen, dass Manufactum Kapital brauchte. Er bot stille Beteiligungen an mit Renditen, die abhängig vom Jahresergebnis, aber jedenfalls deutlich über den marktüblichen Zinsen liegen sollten. Lieber würde er vielen kleinen Teilhabern 2 Prozent mehr als einer Bank bezahlen, als auch nur zu 2 Prozent von einer Bank abhängig zu sein! Er bot außerdem die Prüfung der Bücher durch vereidigte Wirtschaftsprüfer, einen jährlichen Bericht und 10 Prozent Hausrabatt für stille Teilhaber auf das gesamte Sortiment an. Clever. Und schließlich haftete für Risiken zuallererst mal er selbst: Manufactum war eine KG, und Hoof war der »persönlich haftende Gesellschafter«. Die Untergrenze der Einlagen sollte bei 10 000 D-Mark liegen und die Laufzeit bei mindestens einem Jahr, damit die Abwicklung kostenmäßig noch im Rahmen blieb.
Die Rechnung ist aufgegangen. Eine große Zahl von Kunden investierte im Laufe der Zeit in Manufactum, manche 10 000 D-Mark, einzelne sogar über eine Million. Der Andrang war so groß, dass es irgendwann zu viel wurde, das Programm wurde immer wieder gestoppt, weil Manufactum so viel Kapital gar nicht brauchte. Das Unternehmen war über die komplette Phase seines starken Wachstums bombensicher finanziert.
Das bedeutete aber auch eine enorme Verpflichtung gegenüber den Investoren. Hätte Manufactum Dinge getan, die das Vertrauen erschütterten, wäre es in kürzester Zeit vorbei gewesen, denn die Investoren hätten schnell ihre Beteiligungen aufgelöst und Manufactum nackt im Regen stehen lassen. Andersherum gesehen ist so eine Finanzierung aber bei intaktem Vertrauen nahezu unerschütterlich. Ein Börsenbeben geht an so einem Fels einfach vorbei, ohne einen Kratzer zu hinterlassen.
Kompass für Elefanten
Vertrauen macht so vieles möglich. Aber Vertrauen muss man sich verdienen, man kann es nicht einklagen oder mit Macht erzwingen. Wie verdient man sich als Unternehmen Vertrauen? Indem man dauerhaft und zuverlässig einen konkreten Nutzen für die Gesellschaft liefert. Indem man Qualität liefert und nachhaltig wirtschaftet. Und wie liefert man Qualität und wirtschaftet nachhaltig? Indem man vertrauensvolle Beziehungen mit seinen Lieferanten aufbaut, anstatt sie zugunsten der Investoren auszuweiden. Nachhaltigkeit gibt es nur mit Anstand.
Wenn Vertrauen Vertrauen erzeugt und wenn Vertrauen Vertrauen voraussetzt, dann bedeutet das: Ich muss als Unternehmer oder Manager irgendwann einmal anfangen zu vertrauen, wenn ich an den Vorteilen des nachhaltigen Wirtschaftens teilhaben möchte, und ich muss das Vertrauen der anderen rechtfertigen – ich muss anständig bleiben.
Riesige Konzerne verdienen sich das Vertrauen ihrer Kunden und ihrer Geschäftspartner nur selten, weil sie erstens allzu oft selbst nicht in der Lage sind, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen – sie vertrauen ja oft nicht einmal ihren eigenen Mitarbeitern. Zweitens haben meiner Erfahrung nach selbst Menschen in hohen Konzernpositionen oft gar nicht genug Entscheidungsspielraum, um vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Härter formuliert: Sie haben ein Problem, Wort zu halten, weil ihnen ständig jemand reingrätscht, wenn es ernst wird. Und drittens tauschen Konzerne im Laufe der Jahre einfach allzu oft ihren ursprünglichen Unternehmenszweck gegen die Aufgabe, die unanständige Renditegier ihrer Aktionäre zu stillen.
Aber das bedeutet nicht, dass Größe immer nur unanständig und schlecht ist. Manches können einfach nur Konzerne stemmen. Nur ein Brocken wie VW oder Siemens kann Milliarden in Forschung und Entwicklung investieren und beispielsweise neue, ökologisch sinnvollere Antriebskonzepte entwickeln. Sie können der Gesellschaft großen Nutzen stiften. Beispielsweise ist ein sicheres, umweltschonend fahrbares Auto, das sich so gut wie jeder leisten kann, ein großer Nutzen für die Gesellschaft. Ein mittelständisches Unternehmen kann ein solches Projekt nicht stemmen.
Und genau hier verläuft die Grenze: Wenn ein Konzern seine Größe und seine Macht einsetzt, um seinen Nutzen für die Allgemeinheit noch zu vergrößern, dann ist Größe ein Segen. Wenn aber ein Konzern nur noch groß ist und seine Größe nicht mehr für die Kunden nutzbringend einsetzt, dann setzt er im besten Fall Fett an, wird träge, bürokratisch, steif und sklerotisch und lässt seine Werte und Stärken degenerieren. Er wird mittelmäßig. Oder er setzt im schlimmeren Fall seine gesamte Macht dazu ein, sich immer noch mehr Vorteile im Markt zu verschaffen, um seinen Anteilseignern noch höhere Renditen und seinem Management noch höhere Boni auszuschütten. Er wird gemein und parasitär. Aber er läuft dann auch Gefahr, in nicht mehr allzu ferner Zeit von einer Gesellschaft, die es nicht mehr akzeptiert, ausgenutzt zu werden, einfach hinweggefegt zu werden.
Es ist die Aufgabe der Vorstände der Großunternehmen, dafür zu sorgen, dass ihre Größe nutzbringend eingesetzt wird. Nutzbringend für die Gesellschaft, nicht für die Aktionäre. Denn »die gesellschaftliche Mission des Managers liegt nicht nur in der ökonomischen, sondern in der ganz allgemeinen Verpflichtung des Managers gegenüber den Belangen der res publica«, wie der ehemalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, schon 1972 formulierte.