Vierzehntes Kapitel
Revolutionäre
1991
Ich lag den ganzen Vormittag auf der Couch, weniger von Trauer bedrückt, als vielmehr voller Wut. Vor mir lagen Razaqs Briefe auf dem Tisch. Daneben stand ein leeres Teeglas. Ich fegte es mit der Hand herunter und schaute zu, wie es auf dem Boden zersplitterte. Mehrmals wollte ich aufstehen und die Faust gegen die Wand schlagen. Tat es dann aber doch nicht. Weinen konnte ich nicht. Aber mein Herz blutete.
Ich blieb stundenlang im Zimmer sitzen. Ich tat nichts, starrte die Wände an. Nahm dann eine Schlaftablette. In der Abenddämmerung wachte ich trotzdem auf, weil Salven von Schüssen die Stille im Zimmer zerrissen. Männerstimmen jubelten draußen im Chor: »Gott ist groß. Der Diktator ist tot.« Lautes Gejohle der Frauen. Shaker öffnete schwungvoll die Tür meines Zimmers und jauchzte glücklich: »Saddam ist tot.« Und lief rasch nach draußen.
Ich atmete schwer. »So viel auf einmal! Gute Menschen sterben und schlechte, und ich fühle gar nichts«, murmelte ich verwirrt. Der Lärm draußen wurde stärker. Immer mehr Schüsse und Jubelgebrüll. Ich schloss die Augen und stopfte mir die Finger in die Ohren. Wieder öffnete jemand die Tür. Jasim trat ein. Er beugte sich zu mir und küsste mich auf den Scheitel. »Ich weiß, was Sami für dich bedeutet hat. Trauer bringt ihn aber nicht zurück.«
»Ich weiß!«
»Keiner von uns hat sich getraut, dir das zu erzählen. Razaq kam auf die Idee, dir von Samis Tod zu schreiben. Es tut mir leid!«
Ich schwieg.
»Wenn Sami jetzt da wäre, würde er sich sicher über Saddams Tod freuen. Alle Leute freuen sich und feiern auf den Straßen. Komm mit! Lass uns feiern! Es gibt auch einige Aufständische, die mit dir reden wollen. Sie sind im Wohnzimmer. Du bist jetzt ein wichtiger Mann.«
»Wer sind sie?«
»Ich kenne sie alle nicht.«
»Ich will jetzt keinen sehen. Morgen vielleicht. Ich kann jetzt nicht.«
Jasim verließ das Zimmer. Ich schloss meine Augen und versuchte, wieder einzuschlafen.
Später gehe ich auf die Straße. Doch da ist nichts. Keiner mehr da. Um mich herum nur Nebel. In der Ferne erblicke ich die grüne Taube. Sie nähert sich. Und verschwindet. Wieder Leere. Dann Totenstille …
Ich wachte auf. Es war stockdunkel.
Als ich hinunterkam, schaute mich Jasim an. »Und?«
»Es geht mir gut! Warum höre ich draußen nichts mehr?«
»Die Nachricht war nur ein Gerücht. Saddam ist gar nicht tot. Irgendein Hundesohn hat das verbreitet. Und alle haben ihm geglaubt. Ein Aufständischer hat mir erzählt, er habe heute alle seine Kugeln abgefeuert, vor Freude. Und jetzt hat er keine Munition mehr. Seine Kameraden haben wohl auch nicht mehr viel übrig.«
»Das heißt, wenn Saddam mit seiner Armee kommt, können wir mit Steinen gegen ihn kämpfen, oder wie?«
»Was weiß ich! Keine Ahnung!«
Ich verließ das Haus und ging nach draußen. Es war völlig finster und ziemlich kalt. Ich warf einen flüchtigen Blick auf Samis unbeleuchtetes Haus und ging weiter. An der Straßenecke rief mir einer hinterher: »Mahdi! Warte mal!«
Ich drehte mich um und sah Aloan. Ein gläubiger Bursche aus dem Viertel, der ein Jahr in der größten schiitischen Schule Al-Hawzah in der Stadt Nadschaf gelernt hatte. Er wurde meist nach dem Namen dieser Schule gerufen, Aloan Hawzah.
Er umarmte mich und erkundigte sich nach meiner Gesundheit, nach Ali und dem Leben im Gefängnis. Ich antwortete knapp: »Ich will zu Samis Café!«
»Aber …!«
»Ich weiß. Ich will trotzdem dorthin.«
»Ich begleite dich.«
Unterwegs fing Aloan an, über den Aufstand zu berichten. »Vierzehn Städte haben wir unter Kontrolle. Bleiben nur noch vier. Mit Gottes Hilfe werden wir bald alle kontrollieren. Danach sind wir richtig frei.«
»Und Bagdad?«
»Noch nicht. Aber die Männer sind schon unterwegs. Eine Armee von Aufständischen, die außer Gott niemanden fürchten, ist aufgebrochen, um den Widerstandskämpfern in Bagdad zu helfen. Wenn die Kurden auch nach Bagdad marschieren, ist unsere Aufgabe bald erledigt.«
»Habt ihr Kontakt zu den Kurden?«
»Leider nicht. Wir wissen nur, dass sie die Stadt Kirkuk erreicht haben. Sie sind aber nicht weiter vorgestoßen. Wir haben einen Radiosender eingerichtet. Ab morgen werden unsere Nachrichten übertragen. Dann werden die Leute auf uns hören.«
»Und die Amerikaner?«
»Die sind schon im Land. In der Wüste. Doch bis jetzt kam keine Reaktion. Wir haben aber im Radio gehört, dass sie Saddam verboten hätten, bewaffnete Hubschrauber oder Raketen gegen uns einzusetzen. Wenn das stimmt, dann schnappen wir diesen Mörder. Er kann uns ohne seine Flugzeuge und Raketen niemals entkommen. Und wenn das nicht stimmt, dann kämpfen wir, und der liebe Gott ist auf unserer Seite. Er wird uns nicht im Stich lassen.«
Wir erreichten das Café. Es war geschlossen. Auch alle anderen Cafés und Geschäfte hatten zu. Aloan legte seine Hand auf meine Schulter. »Die Aufständischen wollen mit dir reden. Wir kommen morgen oder übermorgen zu dir. Einverstanden?«
Ich sagte kein Wort, drehte mich um und kehrte nach Hause zurück. Er folgte mir. Wir gingen schweigend nebeneinander her.
Zuhause im Wohnzimmer traf ich nur Hamida und die Kinder an. »Möchtest du etwas essen?«, fragte Hamida.
»Nein, danke! Ich gehe schlafen.«
Als ich die Tür meines Dachzimmers aufsperren wollte, bemerkte ich, dass sie gar nicht verschlossen war. Das Licht einer Kerze flackerte im Raum. Vorsichtig trat ich ein, blickte mich aufmerksam um und erkannte eine Gestalt, die auf der Couch saß, ihr Schatten gespenstisch an die Wand geworfen. Die Gestalt bewegte sich. Ich kniff die Augen zusammen. Doch ich konnte nichts erkennen.

In den Augen der Viertelbewohner, die mich früher als Hamama kannten, der außer den Tauben und ihren Geschichten nichts im Kopf hatte, war ich plötzlich eine Berühmtheit. Im Grunde konnte sich keiner erklären, wieso ich zwei Jahre meines Lebens in Haft verbracht hatte. Jeder wusste nur, dass es wegen der Politik war. Offenbar genügte das den meisten, um mich zum Helden zu erheben. Was mich persönlich betraf, hasste ich ihr überschwängliches Lob. Ich hasste es, über die Haft sprechen zu müssen. Was sollte ich auch davon erzählen? Wer konnte denn nachvollziehen, was ich durchgestanden hatte?
Freilich, die Leute waren verständnisvoll. Wenn ich es wieder einmal ablehnte, ausführlicher über das Gefängnisleben zu reden, antwortete jeder: »Vergessen ist eine Gnade! Vergiss es einfach! Wir sind die Kinder von heute!«
Aber ich konnte wenigstens den anderen zuhören. Ich ließ mir von ihnen erzählen, was sich während meiner Haft zugetragen hatte. Und musste feststellen, dass mir wirklich eine ganze Menge entgangen war.
Hamida berichtete mir von den Bewohnern des Viertels. Wer gestorben war, von Hochzeiten, wer von der Polizei festgenommen worden, wer von der Front geflohen oder gefallen war. Und auch, wen die Aufständischen erwischt hatten.
»Maroan, der Langfinger. Du kennst ihn. Der als Maroan Dolch bekannt ist, weil er niemals ohne Dolch unterwegs war.«
»Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Was ist mit ihm?«
»Der war ein Dieb. Kräftig und mit vielen Kratzern und Narben auf der rechten Wange. Er ist ein Diener Gottes geworden. Ein Führer in unserer Armee, die an der Grenze der Stadt lagert. Er kämpfte richtig gegen die Hurensöhne, die Baathisten. Zu Beginn des Aufstandes ermordete er eine ganze Menge von ihnen. Er tötete auch Salam Fluss und kreuzigte seine Leiche an einem Baum.«
»Wer ist Salam?«
»Salam Fluss. Der Sänger.«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Der ist aber bekannt geworden. Du kennst ihn wirklich nicht? Seltsam! Sein Lied über den Tigris, Fluss der Liebe, war nach dem Iran-Krieg sehr beliebt. Seitdem nannte man ihn nicht nur Salam, sondern Salam Fluss. Er hat mit diesem Lied nicht schlecht verdient. Er konnte ein hübsches Mädchen heiraten und einen Volkswagen kaufen. Als du im Gefängnis warst, war Salam noch mal im Fernsehen. Er hat wieder getanzt und gesungen. Aber dieses Mal ein Geburtstagslied für Saddam. Seitdem lebte er eigentlich in Bagdad. Als der Aufstand begann, war er zufällig hier im Haus der Familie seiner Frau. Ja. So wurde er erwischt.«
»Und weißt du, was mit Hasnaa, unserer Nachbarin, passiert ist?«
»Nein. Erzähl!«
»Ihr Verlobter, der mit ihrem Vater verwandt ist, kommt aus Basra. Ein Bäcker, der eine eigene Bäckerei im Stadtzentrum besitzt. Eine sehr große Bäckerei. Viele Mädchen waren deswegen neidisch auf Hasnaa. Na klar! Jede wollte einen so wohlhabenden Mann. Und noch dazu war er gar nicht mal hässlich und nur acht Jahre älter als sie. Hatte einen schönen großen Bauch. Ja, die Reichen haben immer schöne Bäuche. Und eine Glatze hatte er auch. Wohl ein Zeichen für seine Weisheit, oder? Leider hat die arme Hasnaa sich nicht lange über die gute Partie freuen können. Eines Tages, genau vier Wochen vor der Hochzeit, ist er verschwunden. Ganz genau vier Wochen nach der Eroberung von Kuwait. Man sagte, er habe seine Schwester besuchen wollen, die in Kuwait verheiratet ist. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht. Seine Familie befürchtete, dass er in Kuwait auf der Straße erschossen worden ist. Der Täter soll ein irakischer Soldat oder ein kuwaitischer Regierungsgegner gewesen sein. Seine Schwester, die mit einem Kuwaiti verheiratet ist, ist auch nicht mehr aufgetaucht. Und Hasnaa heult seitdem und wartet darauf, dass ihr Verlobter auf einem weißen Pferd zu ihr zurückkehrt.«
»Gibt es auch gute Nachrichten?«
»Ja. Du bist aus dem Gefängnis befreit worden.«
Einige Leute berichteten vom Krieg. Darüber wollte ich anfangs alles erfahren, später immer weniger. Jasim erzählte gern davon. Er wusste über alles Bescheid: den Hintergrund des Konflikts, den Kriegsverlauf, einschließlich der Zahl der Soldaten. Alle Daten, egal ob es um den Luftoder den Bodenkrieg ging. Er sprach sogar vom sogenannten Medienkrieg, der besonders heftig getobt haben soll, und über die militärische Technik, die vor allem von den Alliierten eingesetzt wurde. Als er einmal über die Zahl der irakischen Opfer redete, konnte ich es nicht mehr ertragen.
»Die Amerikaner nennen eine Zahl gefallener Soldaten auf unserer Seite und die Iraker eine andere. Im iranischen Radiosender habe ich die Zahl 40 000 bis 75 000 gehört, dazu 35 000 zivile Todesopfer, 71 000 Kriegsgefangene bei den Amerikanern. Und dazu die Zahl der Invaliden …«
»Onkel! Ich will keine Zahlen mehr, bitte! Genug! Und erzähl mir nie mehr davon!«
Die Berichte über den Krieg waren schrecklich. Er hatte viele unterschiedliche Namen. Die amerikanischen lauteten »Operation Desert Shield« und »Operation Desert Storm«. Für die irakischen Machthaber hieß er »Um-Al-Maarek – Mutter aller Kriege«. Für die Kuwaitis: »Krieg der Befreiung Kuwaits«. Und für den Rest der Welt »Golfkrieg«.
Ich hörte auch neue Namen von Flugzeugen, Bomben oder Raketen, die sogar die Kinder auf der Straße kannten und in ihren Spielen verwendeten. Shaker war begeistert, mir einige aufzählen zu können: »B-52, BLU-82B, Patriot, SCUD … Schwerter wurden aber nicht benutzt!«
Im Laufe der Zeit, obwohl ich nachts noch von Albträumen gequält wurde, spürte ich eine Art Beruhigung, die sich allmählich in meinem ganzen Körper ausbreitete. Seit dem Ausbruch des Aufstands merkte ich, wie die Menschen wieder zu ihrem gewohnten Alltagsleben zurückkehrten. Keine Baathisten. Keine Grausamkeiten mehr. Kein Fernsehterror und keine Regierungspropaganda. Wie in einem Märchen, in dem das Böse besiegt worden ist, in dem die Sonne scheint, die Vögel singen und die Blumen blühen. Das war wirklich ein gutes Gefühl. Und viele hatten nur eines im Kopf: den Aufstand weiter auszudehnen und eine neue Regierung zu bilden, damit sich dieses neue Leben weiter entwickeln und stabilisieren konnte.
Die einfachen Leute hatten keine Angst zu sagen, was sie sagen wollten, und zu tun, was sie tun wollten. Sie wünschten sich, diesen Zustand für immer zu bewahren. Die Aufständischen gewährleisteten ein sicheres Leben für alle. Essen gab es genug. Die Leute hatten einfach sämtliche Lebensmittel aus den staatlichen Lagern mitgenommen. Alles war billig und überall erhältlich. Geldmangel existierte fast nicht mehr, außer beim Kauf größerer Waren. Für die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens bevorzugte man den Tauschhandel. Es war wie in einer Geschichte aus Tausendundeine Nacht. Als hätten die Menschen das Losungswort »Sesam, öffne dich« tatsächlich gefunden und das Felsentor der Schatzkammer weit geöffnet.

Einige Tage nach dieser Wiedergeburt nahmen die Aufständischen Kontakt mit mir auf. Sie besuchten mich zu Hause. Vier bewaffnete Männer, begleitet von Aloan. Sie beschworen mich, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Aufgrund meiner geschwächten Konstitution bekam ich eine einfache Aufgabe im Viertel und nicht an der Stadtgrenze, wie die meisten anderen Aufständischen.
Sie gaben mir eine Pistole und einen Zettel, der als Ausweis galt, mit dem Stempel »Freie Irakische Republik« und meinem Namen neben dem Titel »Schützer der Revolution«. Meine Aufgabe war es, mit Aloan und drei weiteren Männern die Al-Habubi-Gegend zu kontrollieren. Die Leute genau zu beobachten und herauszufinden, ob nicht ein Spitzel, ein Saddamist oder gar der Teufel selbst etwas Schmähliches im Schilde führte.
Es war eine angenehme Aufgabe. Ich bekam ständig Tee und Sandwichs von den Leuten geschenkt. Immer wieder trat eine Dame aus ihrem Haus und reichte uns eine Kostprobe ihrer kulinarischen Künste. Zudem wurden wir unaufhörlich gelobt und gepriesen, von jedem auf der Straße. »Gott schütze euch!« Oder: »Ihr seid die Zukunft des Landes.« Festgenommen habe ich keinen, weil es keinen mehr gab, der mir verdächtig erschien.
Einmal, es war am dritten Tag meiner Wache, musste ich wieder ins Gefängnis. Nicht als Gefangener, sondern beinahe als Wärter. Aloan erzählte mir, die Kommandierenden hätten den General, der zu Beginn des Aufstands die irakischen Südtruppen geführt hatte, festgenommen. Er sei im Krankenhaus und müsse operiert werden, weil er verletzt sei. Sein Sohn, der ein Polizist gewesen sein soll, sei auch festgenommen worden, ebenso der Bürgermeister. Außerdem noch viele andere Baathisten. Als Gefängnis diene eine Schule, die Córdoba-Grundschule im Stadtzentrum, die man für die Unterbringung von Gefangenen hergerichtet habe.
Als ich das hörte, wollte ich unbedingt hin. Eigentlich interessierte mich weder der Bürgermeister noch der General. Dessen Sohn allerdings umso mehr. Ich glaubte ihn zu kennen. »Ich vergesse die Gesichter der Polizisten im Verhör nicht. Wie könnte man seine Folterer je vergessen?«, dachte ich und folgte Aloan in die Schule.
Wir betraten das provisorische Gefängnis. Eine Gruppe bewaffneter Männer begrüßte uns und fragte nach dem Ausweis und dem Grund unseres Besuchs. Aloan erklärte, ich sei ein ehemaliger Gefangener und könne einige Folterer identifizieren. Der Wärter erwiderte: »Es gibt nur einen ehemaligen Verhörpolizisten. Und ein paar frühere Wärter. Sie sind alle in der Klasse fünf.«
Als der Wärter die Tür der Klasse fünf öffnete, standen neun Gefangene auf. Alle in Handschellen. Ihr Zustand war miserabel. Ich musterte sie eingehend. Von den Wärtern erkannte ich keinen. Aber ein Gesicht musste ich genauer prüfen. Es war ein recht hübsches. Ich erinnerte mich sofort. Es war der gut aussehende Verhörpolizist, der am Erziehungstag aus dem »Mafatih Al-Dschinaan« – Schlüssel des Paradieses – vorgelesen hatte. Ich flüsterte in Aloans Ohr: »Den kenne ich!« Aloan trat auf den Gefangenen zu.
»Wie heißt du?«
»Omer!«, antwortete er und schaute mit trüben Augen zu Boden.
»Polizist!«
»Was für einer?«
»Sicherheit.«
»Kennst du den da?«
Seine Augen schienen in meinem Gesicht irgendetwas zu suchen. »Nein!«
»Schau genau hin!«
»Ich habe Nein gesagt!«
»Ich heiße Mahdi!«, sagte ich. »Hast du mich vergessen?«
Seine Augen zeigten keinerlei Regung. Keine Überraschung oder Verwunderung, als erkenne er mich tatsächlich nicht. »Nein!«, antwortete er einsilbig.
»Erziehungstag? Bittgebet von Kumail? Schlüssel des Paradieses? Mahdi, der endlich nicht verborgen ist?!«
»Keine Ahnung!«
In mir brannte kalte Wut. Ich fühlte ein Beben in meinem Körper, das einem Vulkan glich. Ich wollte blindlings auf ihn einschlagen und ihm seine eigenen Zähne wie Münzen in die Hand legen. Mich an diesem einen für all die Grausamkeiten rächen, die alle Wärter und Verhörpolizisten mir angetan hatten. Für die Verbrechen, begangen an Ali, Abu-Saluan, Shruq, Mohamed, Ahmed und all den anderen. Doch etwas in meinem Inneren befahl mir, es nicht zu tun. Eine Hand wollte ihn greifen, aber die andere hielt sie fest. »Er ist es nicht wert, er ist nur ein kleines Rädchen«, murmelte ich und ging schnell nach draußen.
Ich war schon im Hof der Schule, als Aloan seine Hand auf meine Schulter legte. »Was ist los?«
»Ich will allein bleiben. Bitte!«
»Wie du möchtest!«
Ich ging eilig davon, verließ die Schule und marschierte einfach drauflos. Ich lief fast fünf Minuten, wie ein Besessener. Nur Wut in mir und eine unendliche Verwirrung. Dann blieb ich auf einem kleinen Platz stehen, mit einer Kinderschaukel in der Mitte. Am Straßenrand entdeckte ich einen Stein und setzte mich darauf. Ich legte meine Pistole, die ich gar nicht richtig benutzen konnte, neben mich und betrachtete den menschenleeren Platz.
Alles war ruhig. Und ich spürte zwei Wesen in mir.
»Was für eine absurde Welt! Dein Folterer ist im Gefängnis. Du kannst ihn nun foltern, genau wie er dich. Sein Wärter oder Richter werden«, überlegte der eine Mahdi.
»Ein Fall von schicksalhaftem Rollentausch.«
»Du würdest ihn gern schlagen, bis er nicht mehr aufstehen kann. Oder?«
»Aber ich habe die Gewalt doch immer gehasst«, wandte der andere ein.
»Dieses Mal aber nicht. Du willst es wirklich. Hassen. Aus der Tiefe deines Herzens.«
»Trotzdem bin ich froh, dass ich es nicht getan habe. Oder?«
»Du wolltest es aber. Kehre zurück und verprügle den hübschen Hurensohn!«
»Mahdi! Ich muss an was anderes denken. Nicht an Rache.«
»Aber wieso? Warum nicht? Wieso solltest du immer die Rolle eines Engels spielen? Du bist kein Engel mehr. Den Engel in dir haben sie längst getötet. Räche deine Unschuld an denen, die sie umgebracht haben!«
»Denk nicht so viel daran! Das ist Vergangenheit! Sei du, wie du bist, und leb dein Leben!«
»Geh und mach das Arschloch fertig! Hast du Shruq schon vergessen?«
»Dieser junge Polizist ist genauso zufällig in seine Position und Situation hineingeraten, wie ich ins Gefängnis geworfen wurde. Es ist nur ein Zufall, wohin wir im Leben geraten. Geh nach Hause! Oder such deinen Freund Adnan! Er kann dich bestimmt gut verstehen …«

Adnan zu finden, war nicht einfach. Ich wusste nur, dass er in der Zwanzigerstraße wohnte, aber die bestand aus einer langen Häuserreihe. Ich fragte an einer Haustür. Ein alter Mann kannte ihn, aber er behauptete, Adnan sei schon seit Tagen nicht mehr zu Hause aufgetaucht. Ich solle im Büro der Kommunistischen Partei nach ihm fragen. Der Mann wusste aber nicht, wo sich dieses Büro befand.
Den ganzen Nachmittag forschte ich in der Stadt nach irgendeinem Schild von Adnans Partei. Aber ich sah keines. Alle religiösen Parteien hatten ein eigenes Büro eingerichtet, in einer Schule, in einem alten Verwaltungsgebäude oder in einem einfachen Geschäft. Einige hatten die Häuser der ehemaligen Generäle und Polizisten umfunktioniert. Adnan und seine Kommunisten waren nirgends zu finden. Erst am Abend erzählte mir Jasim, sie seien im Großen Basar.
Als ich am nächsten Tag dorthin kam, konnte ich kaum glauben, wie die Parteien und Organisationen den Basar aufgeteilt hatten. Er bestand aus drei Gängen: die Fleischabteilung, die Lebensmittel- und Gemischtwarenabteilung sowie die Obst- und Gemüseabteilung. Die Kommunisten waren in einem Geschäft der letzteren zu finden. Verschiedene schiitische Parteien hatten einige Stände in der Fleischabteilung okkupiert. Die anderen, kleineren Gruppierungen sammelten sich in der Lebensmittel- und Gemischtwarenabteilung. Und trotzdem gab es immer noch jede Menge Geschäfte, die wie eh und je ihre Waren verkauften. Scharenweise waren Leute unterwegs, um einzukaufen oder die Parteibüros aufzusuchen.
Als ich das Büro der Kommunisten erreichte, saßen zwei Männer an einem Tisch. Sie beachteten mich überhaupt nicht. Ich klopfte an die Tür und war schon versucht zu sagen: »Entschuldigen Sie, ich hätte gern zwei Kilo kommunistische Tomaten und sozialistische Frühlingszwiebeln!«, verkniff es mir aber dann doch.
»Ja, bitte«, sagte der eine mit einem fröhlichen Gesicht.
»Ich suche Adnan. Ist er da?«
Als der Mann mich nach meinem Namen fragte und ich mit »Mahdi« antwortete, erkannte er mich sofort. »Mahdi Hamama! Adnan hat viel von dir erzählt. Er hat sich schon gedacht, dass du nach ihm suchen würdest. Ich bin Abu-Walid, sein Freund.«
Abu-Walid ließ mich am Tisch Platz nehmen und bat seinen Genossen, uns aus dem Teehaus im Basar Tee zu bringen. Er erzählte mir, Adnan sei mit einigen Männern, die Englisch sprachen, zu den Amerikanern gegangen, um sie davon zu überzeugen, den Aufstand zu unterstützen. Bevor er weitererzählte, tauchte ein Junge mit zwei Gläsern Tee auf und stellte sie auf den Tisch. »Der Parteigenosse ist in die Stadt gegangen. Er hat mich gebeten, dir das zu bringen.«
»Danke!«, sagte Abu-Walid, schlürfte langsam seinen Tee und schaute mich interessiert an.
»Wie fühlst du dich jetzt?!«
»Es geht.«
»Mit wem arbeitest du?«
»Arbeit?«
»Ich meine, mit welcher Partei?«
»Mit keiner.«
»Dann brauchst du einen Ausweis!«
»Ich habe einen.«
»Von wem?«
»Freunde aus meinem Viertel.«
»Darf ich ihn sehen?«
Als Abu-Walid ihn anschaute, fing er an zu lachen. »Adnan hat mir erzählt, dass du nicht religiös bist.«
»Stimmt!«
»Aber dein Ausweis ist von einer islamischen Partei ausgestellt worden.«
»Woran siehst du das?«
»Der Stempel. Schau genau hin! Es ist kaum zu lesen: die Islamische Dawa Partei.«
Ich musterte den Stempel gründlich, konnte aber die Schrift nicht richtig entziffern.
»Mir scheißegal. Hauptsache, der Aufstand wird unterstützt. Später kann man sich ja immer noch entscheiden, ob mit dieser Partei oder mit einer anderen. Oder auch mit gar keiner.«
»Wenn du meinst! Was sagen denn deine Freunde zur momentanen Lage? Ich meine diejenigen, die dir den Ausweis gegeben haben.«
»Es gibt nichts als Gerüchte. Täglich hört man Hunderte davon. Ich glaube, es gibt kein anderes Volk, das Gerüchte so leidenschaftlich verbreitet wie die Iraker. Eine schier märchenhafte Kommunikation.«
Abu-Walid lächelte verschmitzt: »Da hast du völlig recht. Trotzdem, was sagen sie?«
»Seit ich da bin, höre ich jeden Tag etwas anderes. Die Amerikaner und die anderen westlichen Staaten sagen dieses, die Araber und Iraner jenes. Das letzte Gerücht besagt, ein großer Saudi-Minister habe im Radio verkündet, sie würden niemals Schiiten im Irak regieren lassen. Ein Feind, den sie kennen, sei immer noch besser als ein Freund, den sie nicht kennen.«
Abu-Walid lachte, als er diesen Satz hörte: »Das ist eine interessante politische Weisheit! Aber kein Gerücht. Ich habe es selbst im Radio gehört. Die Saudis sind bereit, Saddam zu unterstützen, gegen das ganze irakische Volk.«
»Wieso?«
»Schwer zu erklären, ich versteh das auch nicht. Dieser Hass zwischen Iranern und Arabern verhindert jede vernünftige Lösung. Das ist immer schon so gewesen. Das Problem ist nur: Wir Iraker stehen genau dazwischen. Auf der einen Seite die sunnitischen Araber, auf der anderen die schiitischen Iraner. Im Verlauf der Geschichte mussten wir ständig in diesem Zwist leben. Früher, im Osmanischen Reich, haben wir ein ähnliches Dilemma erlebt: sunnitische Türken und Araber gegen schiitische Perser. Ich weiß wirklich keine Lösung für dieses Problem.«
»Aber…«
»Man denkt, weil viele Iraker Schiiten sind wie die Iraner, regieren die Iraner nun im Irak. Es ist ein irakischer Aufstand! Und was heißt da schon Schiiten oder Sunniten? Ich bin Schiit, Adnan Sunnit. Und beide sind wir Kommunisten.«
»Ich würde sagen …«
»Glaub mir! Solche Behauptungen von Politikern der Nachbarländer oder des Westens können alles zerstören. Und wenn die Amerikaner so neutral reagieren, wie sie sagen, dann heißt das, dass sie kein Problem damit haben, wenn Saddam an der Macht bliebe.«
»Und was wäre, wenn die Saudis und die Amerikaner Saddam nicht unterstützten? Wenn Saddam keine Erlaubnis der Amerikaner hätte, würde er seine Armee niemals zu uns schicken können. Oder?«
»Das ist Politik! Alles ist möglich! Wir werden sehen.«
Wir tranken unseren Tee und redeten sehr viel, nur über Politik. Mittags wollte ich nach Hause und verabschiedete mich von Abu-Walid. Als ich das Büro verließ, rief er mir nach: »Wenn du Lust hast, kannst du bei uns mitarbeiten.«
»Danke! Ich werde es mir überlegen. Bis bald!«
Auf dem Heimweg spürte ich die lähmende Angst in mir, alle Hoffnungen könnten untergehen.

Mehr als eine Woche war vergangen. Ich tat kaum etwas, außer tagsüber meiner Aufgabe im Viertel nachzugehen. Innerhalb einer Woche schaute ich nur kurz bei Laila und einmal bei Abu-Walid vorbei. Mit meinen Wachkameraden zu plaudern, hatte ich nicht viel Lust, weil sie nur über die zukünftige islamische Regierung redeten. Was aber unerträglich war in dieser Zeit, waren die Gerüchte, die sich tagtäglich vermehrten. Die Armee sei da und die Alliierten hätten dies und das gesagt. Täglich hörte ich etwa zehn unterschiedliche Versionen desselben Themas.
Aber eines Tages wurden die Leute plötzlich aufgeregt. Und nach diesem Tag hatten wir 48 Stunden nichts anderes zu tun, als jeden auf der Straße zu kontrollieren, den wir nicht kannten. Wir mussten ja Verräter und Spitzel herausfischen, die sich angeblich unter uns befanden.
Es war Freitagmittag. Zum Zeitpunkt des Freitagsgebets hatten sich viele Aufständische in der großen Imam-AliMoschee eingefunden. Als der Gebetsrufer durch den Lautsprecher verkündete: »Gott ist groß«, hockte ich gerade am Tisch eines Teehauses gegenüber der Moschee und überwachte die Straße. Zeitgleich mit dem Beginn des Gebetsrufs erblickte ich einen Kampfhubschrauber am Himmel. Er flog ungewöhnlich schnell und auffällig niedrig. Ich hielt ihn für einen der Alliierten, die ab und zu über die Stadt flogen. Erst später habe ich erfahren, dass er der irakischen Regierung gehörte. Aus diesem Hubschrauber, hieß es, sollte sich ein Sondereinsatzkommando auf das Dach des Krankenhauses abseilen und den Kommandierenden General der irakischen Südtruppen befreien, den die Aufständischen zu Beginn der Revolte verwundet und festgenommen hatten. Die Soldaten des Sondereinsatzkommandos töteten zwei Wärter und verletzten einige andere. Letztlich gelang ihnen mitsamt dem General die Flucht über den Luftweg.
Deswegen also mussten wir nun die Augen besonders gut offen halten. Jeder sprach nur noch von Verrätern und Spitzeln, die sich unter uns befänden und die Regierung in Bagdad über den Aufenthaltsort des Generals informiert hätten.
Am Tag der Befreiungsaktion herrschte ein unüberschaubares Chaos in der Stadt. Die Aufständischen forderten die Leute auf, daheim zu bleiben. Nach Einbruch der Dunkelheit durften nur noch die Aufständischen auf den Straßen sein. Jeden, der sich noch draußen herumtrieb, mussten wir verhaften und in die zum Gefängnis umfunktionierte Grundschule bringen. Doch keiner der Verräter wurde festgenommen.
Meine Aufgabe, die ich vorher nur tagsüber zu erfüllen hatte, wurde auf die Nacht ausgedehnt. Folglich verbrachte ich Tage und Nächte auf der Straße und schlief nur sehr wenig, höchstens zwei Stunden am Tag.
Nach zwei Nächten nahm die Aufregung deutlich ab, die Gerüchte allerdings im gleichen Maß zu. Saddams Armee sollte bereits auf dem Weg zu uns sein. Trotzdem freute ich mich in dieser Nacht auf mein Bett.
Als ich abends völlig erschöpft das Haus betrat, rannte Shaker auf mich zu. »Die irakische Armee marschiert gegen uns auf. Das hat Radio Monte-Carlo gemeldet. Und Radio London.«
Ich ging ins Wohnzimmer. Jasim lag auf der Couch, in den Händen einen Radioapparat, und versuchte einen vernünftigen Sender einzustellen.
»Stimmt das? Die Armee ist unterwegs?«
»Ja«, murmelte er, ohne mich anzuschauen.
»Wo sind sie genau?«
»Bald werden sie in Kut sein.«
Ich ging ins Dachzimmer und dachte: Kut liegt nur fünfzig Kilometer von Nasrijah entfernt.

Zufällig wird man erwachsen, hatte ich festgestellt, als ich den ersten Tag des Verhörs im Knast erlebte. Aber im März des unbeschreiblichen Jahres 1991 musste ich meine Erkenntnis erweitern: »Zufällig wird man erwachsen oder ein Fremder.« Zufällig wurde ich Anfang März von den Aufständischen aus der Haft befreit und schon am Ende desselben Monats war ich von einer Sekunde auf die andere ein Fremder im eigenen Land. Nicht nur ich, sondern Tausende von Menschen. Erstaunlich, wie schnell das ging.
Wenn ich mich nicht irre, war es ein Montag. Frühmorgens erreichte uns die Nachricht, die irakische Armee bewege sich auf Nasrijah zu. Die Stadt Kut sei bereits gefallen, die kleinen Städte und Gemeinden zwischen Kut und Nasrijah ebenfalls. Die irakische Armee, die Sonderkommandos, der militärische Geheimdienst und die Sicherheitspolizei sollten die Aufständischen festgenommen, ohne Prozess hingerichtet und dann massenweise in der Wüste vergraben haben.
Diese Nachrichten verursachten Panik unter den Widerstandskämpfern, die zu verhindern suchten, dass die Zivilbevölkerung von diesen Vorgängen erfuhr. Aber die Gerüchte schwelten wie Glut unter der Asche und vermehrten sich wie Ratten. Einer behauptete, die Armee sei noch gar nicht unterwegs. Ein anderer, sie sei bereits in wenigen Stunden bei uns. Auch mit Hilfe des Radios konnte man sich nicht zuverlässig informieren. Denn selbst die Nachrichten widersprachen sich.
Abends gegen 20 Uhr unterbrach ich meine Wache für eine kleine Pause. Ich sollte auch diese Nacht auf den Straßen patrouillieren, so lautete der Befehl. Nach dem Abendessen saß ich mit Jasim im Wohnzimmer. Wir tranken Tee und hörten die Nachrichten im Radio. Dem Sprecher von Radio Monte-Carlo wollten wir nicht glauben, dass die irakische Armee tatsächlich schon auf dem Weg zu uns war. Der Tonfall des Berichts klang aber überzeugend und ernst. Onkel Jasim drehte am Senderwahlknopf, richtete die Antenne nach Westen aus und versuchte, eine andere Welle einzufangen. Bestürzt schaute er mich an und konnte den Satz nicht zu Ende sprechen: »Die Medien und ihre Spiele…« Plötzlich begann ein gewaltiges Beben, unter dem die Erde zitterte.
Es folgten ungeheuer starke Explosionen. Wir hörten nur das Geschrei der Menschen und das Krachen der Raketen und Bomben, die auf die Häuser herabfielen. Erst vereinzelte und dann immer mehr.
Jasim reagierte schnell, versammelte die Kinder in der Küche und hockte sich mit ihnen auf den Boden. Ich blieb völlig überrascht im Wohnzimmer stehen. Hamida packte mich am Arm und zog mich ebenfalls in die Küche. Sie setzte sich zwischen die Kinder und begann laut Verse aus dem Koran vorzutragen. Sie versuchte, jedes ihrer Kinder an sich zu ziehen und beschützend die Arme um sie zu legen, und schaute Jasim und mich angsterfüllt an.
»Das ist das Ende!«, flüsterte Jasim mir ins Ohr.
Ich sagte kein Wort. Blickte zu Boden und blieb stumm. Nach mehreren Detonationen hörte ich draußen ein paar Stimmen: »Gott ist groß, holt eure Gewehre und schützt eure Kinder und Frauen!« Eine andere Stimme quäkte aus dem Lautsprecher: »Alle Aufständischen an die Front! Wir haben die Armee gestoppt. An die Front! Kämpft für euren Gott, euer Land und eure Ehre!«
Ich legte meine Hand an die Pistole. Doch Jasims Hand legte sich sofort auf meine: »Sei nicht dumm!« Er sah mich ernst an.
»Sie werden mich umbringen, wenn sie mich festnehmen!«
»Ich weiß, aber du gehst jetzt nicht an unsere Front, sondern zu den ausländischen Truppen. Sie lagern in der Oase. Am südlichen Rand der Stadt. Du kannst nicht mit einer Waffe umgehen. Und selbst wenn du es könntest, würde es dir nichts helfen. Die haben Raketen, Bomben und eine richtige Armee. Hörst du? Ich höre auch Hubschrauber. Es ist vorbei. Rette wenigstens deine Haut!«
Jasim gab Hamida ein Zeichen. Sie stand schnell auf, rannte ins Schlafzimmer, kehrte nach ein paar Sekunden zurück und legte mir eine Menge Geldscheine in die Hand. »Nicht viel. Aber du wirst sie brauchen!« Ihre Stimme zitterte und Tränen liefen über ihre Wangen.
Wortlos stand ich auf, steckte das Geld in die Hosentasche, entsicherte meine Pistole, schaute kurz in die Gesichter, in denen Angst und Verwirrung zu lesen waren, und wollte Jasim umarmen. Er aber klopfte mir mit der Hand auf die Schulter und schob mich zur Tür. »Geh! Kein Abschiedsdrama!« Und klopfte noch einmal, aber fester. »Geh jetzt! Und schau nicht zurück!« Ich drehte mich um, erreichte die Haustür. Öffnete sie vorsichtig und rannte los.