Siebtes Kapitel
Die Orangen des Präsidenten
1990
An einem der vielen immergleichen Abende in Haft redete der Kapo Adnan kurz mit den Wärtern, kehrte dann zu uns zurück und berichtete mit leuchtenden Augen: »Morgen ist der 28. April. Der Geburtstag!«
»Allahu Akbar, Allahu Akbar!«, jubelte Said. »Darauf habe ich monatelang gewartet!« Er fiel auf die Knie, legte seine Stirn auf den Boden und begann, ein Gebet zu sprechen. Auch die anderen alten Häftlinge sprangen auf, als sei ein Djinn in sie gefahren, und fassten sich an den Händen wie Menschen, die sich zum ersten Mal begegneten. Einige umarmten und küssten sich wie junge Verliebte. Sie liefen und riefen durcheinander wie eine Horde wilder Schimpansen im Dschungel. Selbst der verschwiegene Hasan, der seit Monaten so stumm wie die Wände gewesen war, lachte aus vollem Hals. Seine Stimme klang durch die vielen Monate der Stille brüchig, doch unter Husten und Räuspern sprach er: »Gott hat uns noch nicht vergessen!« Und aus seinen winzigen braunen Augen kullerten Tränen der Überwältigung.
»Was ist mit euch los? Wessen Geburtstag zum Teufel?«, fragte ich, weil ich nicht verstand, warum sich alle plötzlich so freuten.
»Keine Ahnung!«, antwortete Ahmad, der die anderen ebenfalls mit verwirrten Blicken musterte.
»Ja, was glaubst du denn? Sicherlich nicht der von Richard Löwenherz oder Salah Al-Din!«, spottete Dahlal, der es sich auf dem harten Zellenboden bequem gemacht hatte und ihn so zart streichelte, als sei er die Haut seiner Geliebten. »Es ist der Geburtstag unseres Führers!«
»Was? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Saddams Geburtstag?«, stieß ich angewidert hervor.
»Gibt es etwa einen anderen Führer in diesem Lande? Alles Gute, alles, alles Gute, mein Freund!«, beglückwünschte er mich wie von Sinnen.
»Ich kapiere gar nichts mehr! Seid ihr plötzlich übergeschnappt? Habt ihr einen Lagerkoller oder hat euch die Mangelernährung das letzte bisschen Hirn zerstört? Saddam hat unser Leben in eine Hölle verwandelt! Ihr Idioten! Noch ein Wort und ich schlage euch die Fresse ein!«
»Komm, Dahlal, hör auf, ihn zu verarschen und erzähl ihm endlich, was los ist!«, erwiderte Adnan beschwichtigend.
»An diesem Tag öffnen sich alle Pforten des Himmels«, posaunte Dahlal weiter, als habe er Adnans Aufforderung völlig überhört. »Halbnackte Engel, behangen mit Zigeunerschmuck, werden wild und willig durch die Zellen tanzen und sich uns hingeben wie die Jungfrauen im Paradies …«
»Höchstens deine Hirnzellen tanzen wild und willig, du Idiot«, beschimpfte Adnan Dahlal, und alle Mitgefangenen brachen in Gelächter aus. Dann wandte er sich mit einem versöhnlichen Blick an mich und Ahmed: »Dann erkläre ich es euch eben. Also, der 28. April ist tatsächlich Saddams Geburtstag und der wichtigste Tag im Leben jedes politischen Häftlings im Irak. In der Vergangenheit wurde an diesem Tag fast immer eine Amnestie für alle politischen Gefangenen erlassen. Wir sehnen diesen Tag also schon seit Monaten herbei. Er ist unsere Chance, hier lebend rauszukommen …«
Es verschlug mir die Sprache, und ich fühlte mich wie betäubt. Die ganze Nacht saß ich stumm an meinem Platz und starrte ungläubig vor mich hin. Sollte das etwa wahr sein? Sollte ich daran glauben können? Ich wünschte mir, einfach die Augen schließen und mich ohne weiteres Nachdenken wie die anderen an der Freude berauschen zu können, doch obwohl ich glücklich und hoffnungsvoll sein sollte, verkrampfte ich mich vor Angst. Ich hatte jeden aufkeimenden Funken Hoffnung, der mich in den vergangenen Monaten angefallen hatte wie ein tollwütiges Tier, so lange unterdrückt wie möglich. Sie war mir lächerlich und fern und zugleich gefährlich erschienen, sodass ich jeden Gedanken daran mit aller Kraft ignoriert hatte. Jetzt aber war sie mir wie ein Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht geschüttet worden, und ich spürte, wie langsam das Leben in mich zurückkehrte, so sehr ich mich auch dagegen sträubte. Ich begann mich wieder als Mensch zu fühlen, und nachdem mein Herz monatelang nur wie im Winterschlaf geschlagen hatte, pochte es nun stark und pumpte warmes Blut in meine Adern. Mir wurde kotzübel und mein Kopf dröhnte.
Später begannen die anderen, mich mit ihrer anhaltenden guten Laune anzustecken. Sie verhielten sich, als befänden wir uns auf einem Kreuzfahrtschiff und würden nur einige Tage Urlaub machen. Sie wurden übermütig, die noch vage Aussicht auf Freiheit war wie ein Irrlicht, dem sie blind hinterherrannten. Sie wurden unvorsichtig und vergaßen, was auf dem Spiel stand: unser letzter Rest an Würde. Unser letztes Quäntchen Geisteskraft, die Kraft, die unsere geschwächten Körper überhaupt noch funktionieren ließ. Wenn alles nur ein Trick war, so würde sie uns herausgerissen wie ein lebenswichtiges Organ, und Saddam würde sie als Perlenkette des Todes um seinen Hals tragen können. Es gab in Gefangenschaft nichts Schlimmeres als Hoffnung, da sie die Gleichgültigkeit, die man sich wie einen Panzer übergestülpt hatte, zunichte machte und alles Leid, alle Misshandlungen einen wieder schmerzten. Enttäuschte Hoffnung – sie wäre der Todesstoß für jeden von uns gewesen, viel schlimmer als die Nachricht, dass wir den Rest unseres vermutlich kurzen Lebens weiter hier verbringen müssten; denn davon gingen wir ohnehin aus.
Doch ich konnte nicht länger widerstehen: Meine Gefühle waren ein leichtes Opfer der Hoffnung und gaben sich ihr in völliger Naivität hin. Hätte mir vor diesem Tag jemand gesagt, dass ich mich einmal auf Saddams Geburtstag freuen würde, hätte ich ihn wahrscheinlich für wahnsinnig erklärt oder ihn verprügelt.
Früher, als ich noch ein Kind gewesen war, mussten wir Schüler am 28. April nicht lernen, sondern durften singen und spielen. Die Lehrer köderten uns mit Süßigkeiten und Spielzeug, und am Mittag wurde eine große Feier zu Ehren Saddams auf dem Pausenhof der Schule abgehalten. Heute, als Erwachsener im Knast, freute ich mich tatsächlich wieder auf diesen Tag und konnte die ganze Nacht nicht richtig schlafen. Ich träumte von den vielen Dingen, die ich in meinem Leben nach der Entlassung tun würde …
Als mich die bellenden Stimmen der Wärter aus dem Schlaf rissen, fühlte es sich an, als sei eine Schönheit aus meinen Armen gerissen und unser gemeinsames Leben von Bomben in die Luft gesprengt worden. Ich hatte anders als sonst geschlafen, friedlicher, ruhiger, und war nicht so leicht erwacht. Die bloße Möglichkeit einer Amnestie hatte mich verändert. Sie verlangten von uns, lautlos stehen zu bleiben. Der Befehl war eigentlich unnötig, weil wir alle vor Freude und Spannung bereits so gehorsam wie Soldaten beim Appell bereit standen. Nach einigen Minuten erschienen einige Verhörpolizisten und ein Mann, der viele Sterne und Auszeichnungen an Schultern und Brust trug. Vielleicht war es ein General aus dem Präsidentenpalast? Ich hielt den Atem an. Solch hoher Besuch in diesem unbedeutenden Loch musste der Beweis sein. Ich starrte sehnsüchtig auf die Lippen des Generals und wartete darauf, dass er das Wort aussprechen würde, das für uns gleichbedeutend mit Paradies, Leben, Wunder oder Messias war: »Amnestie«, wiederholte ich vorsichtig im Innern. Dieses Wort war unsere Arche, unsere letzte Zuflucht, die uns vor der Sintflut retten würde!
Noch zwei weitere Wärter betraten den engen Flur und legten vorsichtig zwei große Kartons zu Füßen des Generals auf den Boden. Vielleicht sind die Dokumente der Amnestie darin, fragte ich mich. »Ruhe! Und hört zu!«, befahl ein Aufseher. Der General begann zu reden: »An diesem Tag, an dem unser Präsident, unser heiliger Führer, Saddam Hussein, Gott schütze ihn, geboren wurde« – alle Anwesenden klatschten –, »gibt es aufgrund seiner unendlichen Güte ein großzügiges Geschenk für alle Gefangenen. Das Geschenk stammt vom Präsidenten höchstpersönlich, Gott schütze ihn« – noch einmal klatschten alle Anwesenden. »Ich werde es Ihnen nun feierlich überreichen lassen und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute für die Zukunft!«
Der General warf einen erhabenen Blick auf Wärter und Polizisten, machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und ging nach draußen. Sie folgten ihm wie Ameisen ihrer Königin. Es blieben nur die Wärter mit den beiden geheimnisvollen Kisten zurück. Einer von ihnen trug einen Karton so vorsichtig wie ein Neugeborenes vor unsere Zelle und befahl uns allen, auf dem Boden Platz zu nehmen. Nachdem wir Folge geleistet hatten, fragte er: »Wie viele seid ihr?«
»Zwanzig«, antwortete Adnan.
Der Wärter öffnete die Schachtel, während wir uns alle so eng wie möglich an die Gitterstäbe drängten – jeder von uns wollte als Erster seine »zweite Geburtsurkunde« in Augenschein nehmen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Der Deckel klappte zurück und die Welt, ja das gesamte Universum schrumpfte für uns auf die kleine quadratische Öffnung des Kartons zusammen, in die wir wie Wachsfiguren starrten. Es war, als hätte sich das Tor zur Hölle geöffnet und wir direkt in die feurige Verdammnis geblickt. Es dauerte einen Moment, bis ich wirklich begriff, was ich dort sah. In der Kiste lagen, ordentlich aufgereiht, leuchtende, kräftige, saftige Blutorangen.

Am Tag der Orangen, als die Erkenntnis auch den letzten getroffen hatte, brach die Hölle los. Wir gebärdeten uns wie wilde Tiere. Einige rissen sich an den Haaren, schrien, heulten oder schlugen ihre Hände gegen die Wand, einer krümmte sich wie unter Krämpfen auf dem Boden, unsere schwachen Hände und Arme griffen zu, um die Wärter zu packen. Diese schlugen mit ihren Schlagstöcken nach uns, und schon nach wenigen Sekunden war unsere Kraft aufgebraucht, da wir körperlich zu schwach waren, um den unbändigen Hass, die unbändige Enttäuschung in unserem Inneren noch ausleben zu können. Ich taumelte und sackte in mich zusammen wie ein nasses Wäschebündel.
So sehr ich auch durch meinen ausgezehrten Körper gezwungen war, reglos zu liegen, so wild tobte mein Geist: Ich wollte Saddam, dieses Mistschwein, diesen Sohn einer trächtigen Flussratte, foltern, seine Haut langsam aufschneiden und Zentimeter für Zentimeter vom Körper ziehen, um sein verdorbenes Inneres und das Fehlen seines Herzens mit eigenen Augen zu sehen. Ich würde sein Gesicht zu Brei schlagen, ihm jeden Knochen in seinem dämonischen Leib brechen und ihn schließlich in ein Säurebad schmeißen, und zusehen, wie er sich langsam unter Qualen auflöste und ein für alle Mal von diesem Planeten verschwand, sodass keine Leiche, keine körperliche Spur von ihm übrig bliebe. Doch nicht einmal diese Grausamkeiten erschienen mir ausreichend; ich spürte, dass mein Geist nicht fähig war, dem Ausmaß von Saddams Sünden eine entsprechende Strafe entgegenzusetzen. Sie überstiegen meine Vorstellungskraft. Wahrscheinlich müsste man seinem eigenen kranken Gehirn die tödliche Medizin entnehmen, die man ihm verabreichen müsste, wenn es gerecht in der Welt zuginge. Auch seine Getreuen waren vor meinem unheiligen Zorn nicht sicher. Jede dieser Ameisen, jede dieser durch Saddams Propaganda programmierten Foltermaschinen würde ich quälen, indem ich in Gestalt eines unsichtbaren Dämons in ihren Häusern spukte, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Töchter vergewaltigen und schwängern würde, damit diese Arschlöcher ihr ganzes Leben lang mein Gesicht anschauen müssten, in allen zukünftigen Kindern der Familie. Ich würde einen immerwährenden Fluch über sie aussprechen, der sie und ihre Ahnen bis in alle Ewigkeit verfolgte!
Mir dies eine Weile lang auszumalen, beruhigte mich ein wenig. Andererseits erschrak ich über mich selbst. Ich kannte mich als friedfertigen Menschen, der früher höchstens mal daran gedacht hatte, jemanden ordentlich zu verprügeln, jemanden, der mich, wie damals einige der starken Jungs in der Schule, zuerst und grundlos angegriffen hatte. Doch jemanden töten wollen? Es so klar vor sich zu sehen, als sei es die Wirklichkeit, und tiefe Befriedigung dabei zu empfinden? So weit hatten sie mich gebracht; ich war geistig bereits zu dem geworden, das ich am meisten verachtete.
Die Rachegelüste beherrschten nicht nur mich, sondern hatten praktisch jeden von uns befallen, wie eine Krankheit, die seit Monaten in uns geschlummert hatte und nun plötzlich und gewaltig ausgebrochen war. Ich will nichts damit zu tun haben, verdammt noch mal, rief ich mich selbst zur Besinnung. Ich hatte früher nur meine Tauben und mein einfaches Leben gehabt und war vollkommen glücklich damit gewesen. Aber wie sollte ich den guten Engel in mir bewahren, wenn alle um mich herum, die Polizisten, Wärter und sogar meine Mitgefangenen, die Dämonen in mir weckten?
Manchmal bekam ich Angst vor mir und um mich selbst. Wenn einer von uns starb, wenn ich sehr hungrig wurde, wenn ich nicht mehr schlafen konnte, wenn die Wanzen meinen Körper nicht in Ruhe ließen, oder wenn die Wärter wieder einmal Karate an meinem Gesicht trainierten … Manchmal beherrschte mich die Wut sehr lange, wie in den Wochen nach dem verhängnisvollen Tag, den man Umerziehungstag nannte:
Ein oder zwei Mal im Monat kam ein Offizier zu uns, der uns auf eine besondere Art und Weise disziplinierte. Einmal mussten wir im Flur auf dem Boden entlang von der Haupttür bis ans gegenüberliegende Ende des Flures robben. Die Uniformierten stiegen auf die Rücken der Häftlinge, sprangen auf ihnen herum und johlten: »Ihr seid Schafe, und wir sind die Wölfe!« Die Häftlinge quälten sich langsam und fast zu Tode gequetscht weiter, während die Soldaten so taten, als würden sie lästiges Ungeziefer zertreten: »Los, weiter, ihr Würmer!« Wer jedoch nicht mehr weiter konnte und aufhörte, sich zu bewegen, musste »umerzogen« werden. Einmal war es der 25-jährige Mohamed, dessen schwacher Körper der Belastung nicht mehr standhielt und der reglos am Boden erstarrte. Er wurde daraufhin sehr hart erzogen – mit den Fäusten geschlagen und schließlich nackt mit Handschellen an der Haupttür aufgehängt, wo er bis zum nächsten Tag wie Schlachtvieh baumelte. Das war im eiskalten Januar. Die Wärter schütteten mehrere Male Wasser über ihn. Sein magerer und schwacher Körper schlotterte die ganze bittere Nacht hindurch. Wir anderen hatten Tränen in den Augen vor Wut und Hilflosigkeit. Das Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins schnürte uns allen die Kehle zu. Nicht nur Mohamed hing dort, wir alle wurden in unserem Innern gemeinsam gefoltert, wenn einer von uns in den Genuss der Erziehungsmethoden kam. Am nächsten Tag holte ihn Adnan in die Zelle zurück. Er zitterte zwei Tage und lag im Fieber. Am dritten Tag kamen zwei Wärter und nahmen ihn ohne eine Erklärung mit. Adnan meinte leichtgläubig: »Er kommt sicher ins Krankenhaus.« Seitdem haben wir ihn jedoch nie mehr wiedergesehen. Er war entweder in ein anderes Gefängnis verlegt worden oder er ist an der Umerziehung gestorben und irgendwo in der Nasrijah-Wüste verscharrt worden.
Die Erziehungsmethoden waren höchst unterschiedlich und sehr durchdacht und ausgefeilt. Einmal mussten sich einige Kurden auf dem Flur aufstellen und hundertmal mit lauter Stimme die Parole wiederholen: »Nieder mit Kurdistan!« Währenddessen schlugen die Wärter aus Spaß und Langeweile auf sie ein, bis sie völlig außer Atem waren.
An einem anderen dieser Umerziehungstage erschien ein sehr hübscher junger Offizier mit sechs weiteren Wärtern vor unserer Zelle. Er war, wie ich später erfuhr, Sunnit und hieß Omer. Wir standen alle ängstlich auf und starrten auf den Boden, um jeden direkten Augenkontakt zu vermeiden, da dieser bei den Wärtern oftmals dieselbe provozierende Wirkung wie bei tollwütigen Tieren hatte. Er wippte munter in seinen modischen schwarzen Schuhen auf und ab und musterte jeden von uns eingehend, indem er ganz nah an die Gitterstäbe herantrat. Schließlich blieb er vor Adnan stehen.
»Bist du Adnan?«
»Ja, Herr!«
»Wie ergeht es euch hier?«
»Hervorragend, mein Herr!«
»Ich will alle Mitglieder der schiitischen Parteien sofort im Flur sehen. Die anderen, Kurden oder Kommunisten, bleiben in ihren Zellen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Herr.«
Dann warf er uns einen scharfen Blick zu. »Wer ist Mahdi?«
»Ich«, sagte ich schwer schluckend.
»Du bleibst in meiner Nähe.«
»Ja, Herr!«, stammelte ich fast wahnsinnig vor Angst.
Ich stand zitternd neben ihm und wusste nicht, was da vor sich ging. Aber mein Herz klopfte wie ein wild gewordener Specht an einem Baum.
Als sich die schiitischen Häftlinge im Flur versammelt hatten, befahl ihnen ein Wärter, sich auf den Boden zu setzen. Der Offizier ließ sich ebenfalls nieder und bedeutete mir mit der Hand, mich neben ihn zu setzen. Ein Wärter reichte ihm ein dickes grünes Buch. Er hielt es hoch.
»Wie heißt dieses Buch?«, fragte er.
Kurzes Schweigen.
»Antwort!«, schrie er zornig.
Alle antworteten: »Mafatih Al-Dschinaan – Schlüssel des Paradieses«.
Ich erinnerte mich sofort an dieses Buch. Meine Mutter hatte es auch zu Hause gehabt. Sie hatte darin fast nach jedem Gebet gelesen. In den Moscheen habe ich es auch gesehen. Es lag immer auf den Fensterbrettern und war eine sehr bekannte schiitische Sammlung von Bittgebeten.
Er schlug es auf. »Wir lesen heute gemeinsam das Bittgebet von Kumail. Wer kennt es?«
Er schaute Ahmed streng an. »Du vielleicht?«
»Ja, Herr! Ich kenne es.«
»Erzähl uns, wie es entstand und wann man es lesen soll.«
»Ja, Herr! Es ist von Imam Ali. Er hat es seinem Gefährten und Schüler Kumail beigebracht, und dieser hat es an uns weitergegeben. Daher wird es das Bittgebet von Kumail genannt. Es wird von den Gläubigen bei vielen Anlässen gemeinsam gelesen, insbesondere in der Nacht von Donnerstag auf Freitag.«
»Dann werden wir jetzt gemeinsam lesen! Heute ist schließlich Donnerstag. «
Der Offizier begann zu lesen. Das Gebet war sehr lang. Er las so versunken wie ein tief religiöser Mensch. Oft wiederholte er Abschnitte mehrere Male. Seine Stimme bebte vor Leidenschaft. Einige Zeilen las er sogar mit fast geschlossenen Augen, so als könne er den gesamten Text auswendig.
Oh Licht, Oh Heiligster der Heiligen!
Oh Erster der Ersten und Letzter der Letzten.
Oh Gott, vergib
mir die Sünden, die die schützenden
Verhüllungen zerreißen!
Oh Gott, vergib mir die Sünden, die Strafen nach sich ziehen!
Oh Gott, vergib mir die Sünden, die Bittgebete zurückhalten!
Oh Gott, vergib mir die Sünden, die Hoffnungen zerschlagen!
Oh Gott, vergib mir die Sünden, die Drangsal nach sich ziehen!
Oh Gott, vergib mir jede Sünde, die ich begangen, und jeden Fehler, den ich gemacht habe!
Als er aufgehört hatte, reichte er mir seine Hand. »Gott segne dich!«, sprach er theatralisch. Er stand auf, schaute alle an und befahl salbungsvoll: »Meine Brüder. Nun begrüßen wir unseren verborgenen Imam, der endlich nicht mehr verborgen ist: Imam Al-Mahdi.« Er zeigte mit der Hand auf mich. Dann kniete er vor mir nieder, legte sich meine linke Hand an den Kopf, nahm meine rechte Hand mit seiner Rechten und küsste sie. Schließlich drehte er sich zu den anderen um und sagte spöttisch: »Bitteschön!«
Die Wärter griffen blitzartig zu den Stöcken und begannen auf die Gefangenen einzuschlagen. »Los! Küsst die Hand von Al-Mahdi!« Einer nach dem anderen legte sich meine vor Abscheu starre Hand an den Kopf, verbeugte sich vor mir und küsste meine Rechte. Die Wärter schlugen jeden, der zögerte oder sich weigerte. Als alle meine Hand geküsst hatten und weinend wieder in die Zellen gegangen waren, quollen auch mir bittere Tränen aus den Augen. Der Offizier, aus dessen fratzenhaftem Antlitz jeder Anschein von Schönheit und Jugend verschwunden war, wandte sich zynisch an mich: »Seine Heiligkeit kann nun in die Zelle gehen«, und schüttelte sich wie ein Pferd vor Lachen.