Drittes Kapitel

Qluq

1989–1990

Fast vierhundert Jahre haben die Osmanen den Irak regiert, von 1534 bis 1920. Trotzdem ist in der irakischen Umgangssprache nicht viel Türkisch übrig geblieben, außer Tutukluluk, oder Qluq, wie man es im Irak ausspricht. Es bedeutet Gefängnis. »Was für ein interessanter Kulturaustausch«, feixte einmal ein Mitgefangener namens Dhalal.

Das Gefängnis, in dem ich einsaß, war ein ehemaliges osmanisches Gebäude. Die Zellen lagen irgendwo unter der Erde, wie mir die anderen Gefangenen berichteten. Am Rand der Stadt, in der Nasrijah-Wüste. Ohne das kleinste Loch oder Fenster in den Wänden. Ein dunkles Qluq, trotz des schwachen Lichts der milchfarbenen Glühbirnen.

Einige Insassen behaupteten, es gäbe drei Abteilungen: Einzelzellen für diejenigen, die sich in Untersuchungshaft befanden, und für diejenigen, die auf ihre Verhandlung warteten. Es sollte noch eine dritte geben, von der ich jedoch nicht wusste, ob sie tatsächlich existierte. Unsere Abteilung jedenfalls glich einem alten Haus. Drei Zellen auf der linken und drei auf der rechten Seite. In der Mitte ein Flur, drei Meter breit, an seinem Ende ein Klo. Ein einziger Quadratmeter mit vier Wänden, einer Tür und einem Loch in der Erde, das zur Hölle stank. Daneben ein Wasserhahn. Dem Klo gegenüber die Haupttür der Abteilung. Dahinter nur ein kleiner Vorraum. Zwei oder drei Wärter an einem niedrigen weißen Tisch. Um sie herum nichts als kahle Wände und das grelle Licht einer Glühbirne.

Die sechs alten, nach verdorbenem Fleisch stinkenden, feuchten Zellen sahen alle gleich aus. Vier Wände und eine Tür, ein Eimer mit Wasser zum Trinken, ein weiterer für die Notdurft, weil wir das Klo nur während unseres zweistündigen Flurspaziergangs benutzen durften. Ein ramponierter Fußboden. An den Wänden alle möglichen Sprüche. Insgesamt sechzehn Quadratmeter, darin zwanzig Häftlinge zusammengepfercht. Für jeden weniger als ein Quadratmeter Platz. Ich war in der Mittelzelle, auf der linken Seite.

Am ersten Tag wollten alle Gefangenen mit mir reden. Jeder versuchte von mir zu erfahren, weswegen ich hier war und was draußen vorging. Ob die Welt immer noch dieselbe war wie diejenige, die sie von früher kannten. Ich wollte aber nicht viel reden, lieber nur dahocken, den Raum und die Gesichter anschauen und von meiner Entlassung träumen. Oder die Augen schließen, um nach Hause zu fliegen. So redete ich nicht viel und beendete alle Gespräche mit dem Satz: »Ich werde bald entlassen.« Sie grinsten alle. Einer schüttelte skeptisch den Kopf: »Darauf warte ich schon seit Jahren!«

Aber mein Schweigen war eigentlich Ausdruck der Trauer. Auch wegen Ali. Das letzte, was ich über ihn gehört habe, erzählte mir einer meiner Zellengenossen, Said. Er kannte Ali näher, weil er einer seiner Parteigenossen war. Im Verhörraum musste Said Alis Ende miterleben. »Ali ist in den Himmel aufgestiegen«, meinte Said. »Er konnte nicht mehr richtig atmen. Nur noch stöhnen. Sein völlig geschwächter Körper schaukelte an der Decke. Zuvor haben sie uns drei Tage lang in einer Zelle hungern lassen und dann mit Strom gequält. Die verhörenden Polizisten wollten mehr Namen von Parteimitgliedern. Zuletzt hat mir einer von ihnen die Augenbinde abgenommen und angefangen, Ali mit dem Stock zu schlagen, damit ich dabei zuschaue, schwach werde und alles verrate. Ali bewegte sich wie jemand, der von einer Schlange gebissen worden ist. Stöhnte noch einmal, und dann kam nichts mehr. Als die Schergen ihn vom Haken holten, war er bereits im Jenseits.«

Ich weinte tagelang über Alis Tod. Habe sogar gebetet und Gott mehrere Male gefragt, welchen Sinn dieses Elend haben sollte.

Allah sieht, was in der Nacht auf dem Land und auf See geschieht.

Nichts auf Erden und in den Himmeln bleibt Ihm verborgen!

Oh Allah, sende uns Deine Gnade!

Aber Gott schwieg, und Ali kam nicht aus dem Folterreich zurück.

Was hatte Ali getan? Er war plötzlich eine Legende geworden. Jeder behauptete irgendetwas anderes über ihn. Für mich war das alles unvorstellbar. Ich verstand überhaupt nicht, worum es ging. Während der Untersuchungshaft wusste ich nicht einmal, welche Anklage gegen mich bzw. ihn erhoben worden war. Oder bei welcher Partei Ali gewesen sein sollte. Ich wusste gar nichts. Außer, dass wir in politischer Haft waren. Im Verhörraum erfuhr ich später von einem Polizisten, ich hätte einige Mitglieder der Kommunistischen Partei gekannt, ohne davon zu wissen. In der Gefängniszelle erfuhr ich von einem Gefangenen, Ali sei bei der Kommunistischen Arbeiterpartei gewesen. Bei den Kommunisten oder bei den Kommunistischen Arbeitern war ich definitiv nicht. Ich hatte nicht einmal von ihrer Existenz gewusst. Said dagegen behauptete, Ali sei in der Islamischen Dawa-Partei gewesen, habe aber auch Kontakte zu anderen Parteien gehabt. Ich konnte mir das wirklich nicht vorstellen. Ali politisch aktiv? Er war mein bester Freund. Wie hatte er es fertig gebracht, mir nichts davon zu erzählen? So viel sollte er verbrochen haben, und ich hatte nicht das Geringste davon mitgekriegt?

Es gab noch andere Geschichten über Ali. Man erzählte, er habe Autos gestohlen und zur iranischen Grenze gebracht, um sie Partisanen, die in den Palmwäldern des Al-Ahoaz-Gebiets Unterschlupf gefunden hatten, billig zu verkaufen. Ob er das aus Überzeugung gemacht hat oder nur des Geldes wegen, wusste keiner so genau. Einer behauptete, Ali sei ein Sklave Gottes gewesen. Mir wurde er plötzlich ganz fremd.

Als ich erfuhr, dass meine Verhaftung nur auf einem Missverständnis beruhte, war Ali noch am Leben. Er hatte mich durch seine Aussage gerettet. Es gab keine Anklage mehr gegen mich. Der Grauhaarige bestätigte mir meine Unschuld, er müsse mich aber trotzdem im Gefängnis lassen, bis die »Akte der Angelegenheit der Organisation« geschlossen sei. »Es geht um Sicherheitsmaßnahmen«, tat er sich wichtig. Meine Untersuchungshaft dauerte nur einige Tage. Ich hätte Glück gehabt, sagten meine Zellengenossen. Einige von ihnen hatten bleibende Schäden zurückbehalten, wegen des langen Aufhängens.

Täglich wartete ich darauf, dass endlich einer käme und »Verschwinde!« zu mir sagte. Aber keiner kam.

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Ich war der Jüngste unter den Gefangenen. Der Älteste von ihnen hieß Adnan und war vielleicht 60 Jahre alt. Die Zeit hatte ihm viele Falten ins Gesicht gegraben, die wie Narben aussahen. Er hatte kein schwarzes Haar mehr am ganzen Körper, alles grau. Sogar seine Haut glänzte wie schmutziger Schnee. Nur die Augen waren immer noch schwarz und versteckten sich hinter einer großen braunen Hornbrille. Wir wurden schnell Freunde, weil wir beide und noch ein anderer Gefangener namens Dhalal die Einzigen in der Zelle waren, die die Ritualgebete nicht vollzogen. Alle anderen standen jeden Morgen, Mittag, Nachmittag, Abend und jede Nacht zur selben Zeit beisammen, um die täglichen Gebete zu verrichten. Dabei wandten sie sich Richtung Mekka, gesteuert von Ahmed, dem Gebetsrufer der Zellen, der eine besonders ausdrucksvolle Stimme besaß. Wenn ich Ahmeds Stimme hörte, dachte ich, dass die Wörter geradezu aus der Tiefe seiner Seele heraufdrängten. Adnan, Dhalal und ich ignorierten die Gebetszeiten. Wir blieben in einer Ecke sitzen und beobachteten die anderen, bis die Abschlussformel gesprochen wurde: »Salamu Aleikum wa Rahmatullah – Friede sei mit Euch und die Gnade Gottes.«

Adnan war der Kapo, der Boss sozusagen, verantwortlich für seine Mitgefangenen in Bezug auf Essensausgabe, Disziplin und Organisation der Abteilung. Für diese Aufgabe bekam er zwei Brotfladen zusätzlich am Tag. Im Gegensatz zu Adnan stand jedem von uns nur ein Fladen täglich zu. Das Essen kam immer nachmittags, und er musste es nur aufteilen, die Türen der Zellen für zwei Stunden öffnen, damit die Gefangenen sich im Flur die Beine vertreten konnten, hinterher wieder zuschließen und die Schlüssel dem Wärter zurückgeben. Außerdem musste er die Kloeimer leeren und die anderen mit Wasser füllen. Diese Aufgabe erledigte er aber nicht selbst, sondern bestimmte aus jeder Zelle den Jüngsten dafür. In meiner Zelle war ich das. Als Lohn gab er mir täglich einen viertel Fladen. Jeder meiner Zellengenossen hätte diese Arbeit nur zu gern verrichtet, um das Stück Brot zu bekommen.

Der Hunger kennt keine Gnade, sagte mir Adnan, er ist ein herzloses Ding, das man hier täglich umarmt. Am Anfang, als ich noch keine Ahnung hatte, wie man sich im Gefängnisalltag durchschlägt, aß ich meinen Brotfladen auf einmal und blieb dann den ganzen Tag ohne Essen. Ich musste richtig hungern. Die erfahrenen Häftlinge dagegen teilten sich das Brot für drei Mahlzeiten ein. Jeder brach sein Brot in drei Teile und jeden Teil noch einmal in kleine Brocken, wie Hühnerfutter. Das wurde dann in einer kleinen Plastiktüte aufbewahrt, die wir mit dem Brot von den Wärtern bekamen. Die kleinen Brocken musste man trocknen lassen, um später einen richtigen Bissen zwischen den Zähnen zu spüren. Es dauerte lange, bis ich mich an dieses Vorgehen gewöhnte. Ich nahm eine kleine Brotkugel und ließ sie langsam auf meiner Zunge zergehen. Mit viel Wasser, um das Gefühl des Sattseins zu verstärken. Im Laufe der Zeit und des Hungers wurde mein Körper schwach. Wir sahen alle abgemagert und blass aus, wie Vogelscheuchen.

Jeden Tag wartete ich sehnsüchtig auf das Brot. In Wahrheit tat ich nichts anderes. Die Stunden krochen dahin, langsam wie eine Schildkröte. Der Hunger wurde messerscharf, Gaumen, Zunge und Kehle brannten, alles brannte. Und wenn das Brot kam, freute ich mich und schaute es zufrieden an, als wäre das alles, was ich mir wünschen konnte. Ich vergaß sogar nach einigen Monaten meinen Traum von der Entlassung und träumte nur noch von einer üppigen Mahlzeit. Es waren schöne Träume, die in Albträumen endeten: Gemüse, Obst, Brot, Getreide, rotes und weißes Fleisch, Säfte und Süßigkeiten fielen mich fast in jeder Nacht an. Sie spielten mit mir, wie man mit einem Ball spielt. Das Obst warf mich zum Brot und das Brot zu anderen Köstlichkeiten, bis ich in einem Teller voller Suppe landete. Ich badete darin. Versank. Der Duft des gekochten Basmati-Reises holte mich aus der Tiefe der sämigen Suppe heraus, umklammerte mich wie ein Monster und presste mich zusammen, bis ich in Ohnmacht fiel. Einmal träumte ich, meine Haare seien Spaghetti, und ich lutschte meine Spaghetti-Haare genüsslich ab, eines nach dem anderen.

Der Hunger war für uns schlimmer als jede Naturkatastrophe. Schlimmer als die Folter. Seinetwegen verloren viele nicht nur ihre Kraft, sondern auch ihre Moral. Wie Abu-Saluan, der für Essen fast dreißig seiner Parteifreunde verraten hat. Er war der Führer einer schiitischen Splitterpartei. Eigentlich hatte er in Nadschaf Religionswissenschaft studiert, war überzeugt von dem, was er glaubte und tat. Während der Untersuchungshaft sperrten ihn die Verhörpolizisten fünf Tage lang in eine Einzelzelle und ließen ihn hungern. Dann holten sie ihn ins Verhörbüro, legten ein Schisch-Kebab, gegrillte Zwiebeln und Tomaten sowie ein noch dampfendes großes Stück Brot vor ihm auf den Tisch. Sie sagten, er könne das alles haben, aber nur unter der Bedingung, dass er die Namen der Mitglieder seiner Organisation nenne. Er weigerte sich. Sie folterten ihn nicht, sondern schickten ihn in die Zelle zurück. Der vierzigjährige Abu-Saluan, der vorher drei Wochen lang unter Folter keinen einzigen Namen preisgegeben hatte, konnte bei dem Gedanken an das Essen nicht mehr durchhalten. Er verlor jegliche Vernunft. Das Bild der Speisen beherrschte sein Gehirn. Der Geruch des Kebabs machte ihn wie besessen. Das frische Fladenbrot tauchte vor ihm auf, rund und flammend wie die Sonne im Sommer. Die Erde taumelte. Er konnte den Schmerz im Bauch einfach nicht mehr ertragen. Sein ganzer Körper zitterte. Er blieb nur wenige Minuten in der Zelle. Dann hämmerte er wie verrückt an die Tür und schrie, er wolle zum Verhör. Er verriet alle Namen und bekam das Essen. Später, als einige seiner Freunde festgenommen worden waren und sich mit ihm in der Zelle befanden, gingen sie heftig auf ihn los. Einer wollte ihn sogar umbringen. Da erst begriff Abu-Saluan, was er angerichtet hatte. Seitdem weinte er täglich bei jedem Gebet. Oft aß er sein Brot gar nicht selbst, sondern brach es in kleine Stücke und verteilte sie an die anderen Gefangenen. Er unterzog sich einer Art Hunger-Strafe. Einen Monat später bewegte sich Abu-Saluan morgens nicht mehr. Sein Körper war ausgetrocknet wie ein Holzscheit. Er war tot. Einfach tot.

Obwohl Abu-Saluan starb, nachdem er seine Freunde verraten hatte, gaben auch andere Häftlinge auf und waren bereit, alles zu tun, um ein Stück Brot zu bekommen. Der dreißigjährige Abu-Zainb, Mitglied einer demokratischen Partei, wurde ein ernsthaftes Problem für die Gefangenen, nachdem er plötzlich unser Kapo geworden war. Eigentlich sah er ganz nett aus, kräftig, mit kurzen Beinen und einem kleinen Bauch. Er schien überhaupt nicht bösartig, denn er lächelte oft.

Er überraschte uns alle am Durchsuchungstag. An einem solchen Tag, der einmal in der Woche stattfand, kamen normalerweise ein Verhörpolizist und mehrere Wärter in unseren Trakt, um nachzuforschen, ob es irgendetwas Verbotenes in den Zellen gab. Dabei wurden nicht nur wir selbst und unsere Klamotten durchsucht, sondern die ganze Zelle wurde regelrecht auf den Kopf gestellt. Sogar die Wände klopften sie nach möglichen Hohlräumen ab, in denen die Häftlinge verbotene Texte oder Gegenstände hätten verstecken können. Als der blonde Verhörpolizist fragte, ob ihm jemand etwas zu sagen habe, meldete sich Abu-Zainb. Er wollte das allerdings nicht vor uns erzählen und wurde deswegen von dem Blonden mit hinaus in den Vorraum genommen. Der stürmte kurz darauf mit dämonisch funkelnden Augen zu uns zurück. Er packte Adnan und schlug ihn ins Gesicht. Adnan fiel auf den Boden. Der Blonde brüllte ihn wütend an: »Hurensohn!«

Dann befahl er den Wärtern, Adnan mitzunehmen. Er rief schließlich vom Flur aus zurück: »Jetzt ist Abu-Zainb euer Kapo.« Adnan wurde bestraft. Wir hörten seine Schreie, die bis in unsere Zelle drangen. Halbtot kehrte er zu uns zurück, übersät mit blauen Flecken. Er erzählte uns, die Wärter hätten kein Wort gesagt und ihn nur gefoltert.

Abu-Zainb wurde also Kapo, und ich verlor meinen Eimer-Job. Abu-Zainb benahm sich seitdem wie ein Gott, er verwandelte unser höllisches Leben in eine noch höllischere Hölle. Er untersuchte unsere Zellen öfter als die Wärter. Und wenn er etwas Verdächtiges fand, auch wenn es nur ein Wort an der Wand war, informierte er sie sofort, was uns ständige Bestrafungen einbrachte. Mehrere Male ließ er uns einfach nicht im Flur spazieren gehen, weil ihn einer »Arschloch« genannt oder ein anderer ihn nicht freundlich genug angeschaut hatte. Wir litten drei Monate unter seinem Kommando. Manchmal dachte ich, er sei ein neuer irakischer Diktator, sitze aber nicht in Bagdad, sondern im Gefängnis von Nasrijah. Adnan meinte oft: »Wenn der Opposition solche Menschen angehören, dann ist die Zukunft des Landes auch im Arsch!«

Letztlich kam der Tag, an dem Abu-Zainb ins Abu-Ghraib-Gefängnis verschwinden musste. Er wurde von einem Sondergericht zu lebenslänglich verurteilt. Keiner von uns kannte seine Anklage oder seine früheren Taten. Er hatte niemals davon gesprochen. Adnan behauptete, Abu-Zainb sei eine sehr wichtige Persönlichkeit gewesen. Ein Rechtsanwalt, der Unterstützung vom britischen Geheimdienst erhalten hatte, um eine demokratische Partei im Südirak aufzubauen. Er habe es aber nicht geschafft, irgendetwas Nennenswertes auf die Beine zu stellen. Sein eigener Bruder, ein treuer Baathist, habe ihn bei der Polizei angezeigt.

Wir feierten den Tag von Abu-Zainbs Abtransport. Die Wärter kamen am selben Tag zu Adnan und bestellten ihn wieder zum Kapo, auf Befehl des Blonden. Keiner verstand, wieso Adnan abermals beauftragt worden war. Später erfuhr er, dass der Blonde genau gewusst habe, dass Abu-Zainb ein Lügner sei und nur mehr Brot wollte. Er soll dem Blonden von einer Organisation erzählt haben, die Adnan angeblich in der Haft gegründet hatte. Sozusagen eine neue Partei.

Ich meinerseits war froh, dass Adnan wieder Kapo war, weil ich meine alte Arbeit – Kloeimer leeren und Trinkwassereimer füllen – fortsetzen konnte und ein viertel Stück Brot zusätzlich bekam.

»Der Hunger konnte das wahre Wesen eines Menschen an die Oberfläche pressen, ob aus Fäulnisgestank oder wohlriechenden Düften«, schrieb Dahlal einmal an die Zellenwand. Der Hunger verlangte uns eine außergewöhnliche Stärke ab, ihn neben all den anderen Grausamkeiten zu ertragen, über Monate und Jahre hinweg. Er schärfte dafür im Laufe der Zeit unsere Sinne. Bald konnten wir die leisesten Gerüche wahrnehmen und unterscheiden, die aus den Räumen der Wärter in unsere Zellen drangen. Der Gebetsrufer Ahmed lernte sogar, die Teesorte zu erriechen. Er konnte genau bestimmen, was es bei den Wärtern zu essen und zu trinken gab, ob Zwiebeln, Brot oder Eier. Diese neue Fähigkeit entpuppte sich aber als wahrhaftiger Fluch. Wenn ich den Geruch von Essen bemerkte, verkrampfte sich mein Magen. Jedes Mal musste ich fest mit den Händen auf meinen Bauch drücken und mich lange auf den Boden legen, bis mir die Tränen kamen. Letztlich musste ich des Hungers wegen mit einem anderen Problem kämpfen – mit dem Stuhlgang. Am Anfang konnte ich mich fast täglich entleeren. Nach einem Monat reduzierte sich das auf einmal pro Woche. Dann einmal alle zwei Wochen, verbunden mit außerordentlichen Schmerzen. Es war ja nichts im Bauch. Es kamen nur kleine feste Kerne wie Kiesel heraus. Während unserer zweistündigen Spaziergänge im Flur konnte man immer einen auf dem Klo stöhnen hören.