Viertes Kapitel

Babylonier

1984–1987

Im vierten Kriegsjahr musste ich wie alle Schüler der vierten bis sechsten Klasse zu den Jungpionieren. Jeden Donnerstag hatten wir in unserer Militäruniform anzutreten, die uns die Regierung kostenlos zur Verfügung stellte. Der Sportlehrer und Schutzpolizist der Führer-Grundschule – so hieß die Schule, die ich besuchte – begleitete uns zum Pionierlager, wo bereits eine Menge anderer Schüler aus verschiedenen Schulen versammelt waren. Auf dem großen Platz des Lagers sollten wir dann militärisches Marschieren und Exerzieren lernen: »Haltung annehmen! Hinsetzen! Vortreten! Seid bereit! – Immer bereit!«, auch den Umgang mit Pistolen und anderen Waffen.

Ich ging aber nur drei Mal hin und dann nie wieder, weil einige ältere Schüler mich dort nach allen Regeln der Kunst vermöbelt hatten. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich einem großen, kräftigen Schüler auf den Fuß getreten war. Ich wusste auch nicht, dass er ein großer Anführer an seiner Schule war. Nach der Tracht Prügel weigerte ich mich, in der folgenden Woche wieder zu dieser Veranstaltung zu gehen. Der Sportlehrer bestrafte mich deshalb sehr hart. Ich musste vor allen Schülern und Schülerinnen auf dem Hauptplatz der Schule stehen und erhielt von ihm zehn Stockschläge auf die Hand. Anschließend befahl er den anderen, mich abzuklatschen. Aber nicht mit den Händen, sondern mit den Füßen. Zuletzt durften sie mich auch noch »Mädchen« nennen.

An diesem Tag weinte ich sehr viel, meine Hände schmerzten. Als meine Mutter von der Bestrafung erfuhr, war sie aufgebracht. Leider aber hatte sie nicht die geringste Chance, irgendetwas gegen den Sportlehrer zu unternehmen, weil er der Regierungspartei angehörte.

Einige Zeit später störte es mich überhaupt nicht mehr, ein »Mädchen« geworden zu sein, denn viele andere Schüler wurden ebenfalls »Mädchen«. Es war angenehm, die Zeit mit den Schülerinnen zu verbringen, denn sie hatten amüsantere Spiele. Und was mich am meisten freute, war die Tatsache, dass ich auf diese Weise viel Zeit mit Rosa, der Schwester meines Freundes Jack, verbringen konnte.

Rosa, Die-mit-den-goldenen-Brüsten, wie Jack und ich sie immer nannten, war drei Jahre älter als wir. Ein schönes, freches Mädchen. Mit ihrem roten Haar und ihren großen blauen Augen sah sie wirklich aus wie die schönen Frauen in den englischsprachigen Filmen, die im Fernsehen gezeigt wurden. Sie hatte aber einen schlechten Ruf, weil viele behaupteten, sie hätte ständig Beziehungen zu Jungen. Aber keiner konnte genau sagen zu wem oder welcher Art diese Beziehungen waren.

Rosa verbrachte viel Zeit mit mir und ihrem Bruder. Sie benahm sich wie ein Junge. Sie spielte mit uns alle unsere Spiele mit, sogar Fußball. Einmal gingen wir zu dritt zum Schwimmen, an einem Ufer direkt am Palmwald, weit entfernt von der Straße und den Häusern, wo keiner uns sehen konnte. Es war verboten, dort zu schwimmen, besonders für Mädchen. Sie zog sich trotzdem ungeniert die Kleider aus, warf sich nur mit einer weißen Unterhose bekleidet ins Wasser und begann, uns nass zu spritzen. Seitdem war ich in ihre goldenen Brüste verknallt. Und nicht nur ich, sondern auch ihr Bruder Jack. Der gestand mir sogar, er würde gern einmal auf ihrem Busen schlafen. Doch als er es wagte, sie darum zu bitten, antwortete sie ihm mit einer schallenden Ohrfeige. Ich habe Rosa niemals darum gebeten. Aus Angst, sie könne mir ins Gesicht spucken, so dass ich mich für immer in sie verliebt hätte.

image

Jack kam aus einer reichen Familie mit einem großen Haus am Flussufer. Seine Eltern waren nette Leute, die mich sehr mochten. Obwohl ich aus einer armen Familie stammte, dachte keiner von uns an diese gesellschaftlichen Unterschiede.

Jack war schmal, aber ein kräftiger Junge. Er trug oft ein gestreiftes T-Shirt und eine ebenfalls gestreifte Hose. Er behauptete, die Kleider seien aus England. Die Burschen im Viertel nannten ihn der Streifen wegen »Zebra«. Er war der Einzige von ihnen, der mit einer Steinschleuder ein Ziel genau treffen konnte. Manchmal spielte er damit die ganze Nacht und jagte Fledermäuse.

Eines Tages jagte Jack mit seiner Schleuder einen Menschen: Zaid, bekannt als »Tarzan«. Er war der Boss der wilden Jungen in der Schule, ein sehr gefährlicher kräftiger Junge, groß wie ein Gorilla. Einmal hatte er mit seiner Bande mich und Jack erwischt und verlangte Geld. Wir weigerten uns. Sie drohten, uns zu verdreschen. Tarzan legte sogar seine Hand auf Jacks Hintern und sagte: »Du, Blondy, musst mit was anderem bezahlen!« Als ich das sah und hörte, gab ich ihm alles, was ich in der Tasche hatte. Drei oder vier Mal hat Zaid uns so das gesamte Taschengeld abgeknöpft. Eines Tages brachte er uns sogar um das Geld, das wir von meiner Mutter zum Opferfest bekommen hatten. Deswegen wurde Jack mit seiner Schleuder zum Menschenjäger. Er traf Tarzan am Kopf. Der fing an zu bluten und fiel zu Boden. Nur ein paar Tage später rächte er sich aber auf dem Schulhof an Jack vor allen Schülern. Er schlug und trat auf ihn ein. Immer und immer wieder, richtig brutal. Ich wollte Jack helfen. Aber Zaid war sehr stark. Er hatte einen Körper wie aus Stein, schubste mich spielend zu Boden, und seine Bande hielt mich fest.

Nach diesem Vorfall besuchte Jack einen Karate-Kurs, um einige Monate später Tarzan fachgerecht zu verprügeln, ebenfalls vor allen Schülern. Er flog durch die Luft und trat zu, landete auf dem Boden und flog noch mal, wie ein Tänzer. Ich traute meinen Augen nicht. Wie stark mein schmaler Freund war! Zaid konnte nichts gegen ihn ausrichten. Er kassierte nur einen Tritt nach dem anderen, bis er schließlich aufgab. Danach stellte er sich uns nie mehr in den Weg, und Jack wurde als Held gefeiert. Für mich war das ein großer Vorteil. Seitdem wagte es keiner der Burschen mehr, uns zu ärgern.

Mit Jack ging ich Fußball spielen, ließ Drachen steigen, wir rannten um die Wette bis zur Mauer der Schule, spielten Karten … Mittags, wenn die anderen in der Sommerhitze schliefen, machten wir immer einen Spaziergang, von einem Schatten zum andern, bis zum Fluss beim Palmenhainufer. Oft schwammen wir oder jagten die armen Vögel, die sich in den Bäumen versteckten. Oder wir gingen in die Altstadt, manchmal begleitet von Rosa. Dort schauten wir die Touristen an, merkwürdige Männer mit kurzen Hosen und seltsame Frauen mit ebenso kurzen Kleidern. Aber sie sahen Jack und Rosa ähnlich. Rosa vermutete, sie seien Europäer. Wir beobachteten sie, wie sie stundenlang die herumliegenden Steine und die Überreste des alten Babylon beäugten. Trotz unserer kindlichen Neugier blieben wir aber immer in einer gewissen Entfernung, weil Kinder allein nicht dorthin durften, wie uns die Wache einmal zurief, als wir, mutiger geworden, tiefer in die historischen Stätten vorgedrungen waren.

Rosa, Jack und ich konnten relativ gut Englisch. Ich habe diese Sprache nicht nur in der Schule gelernt, sondern auch von Jack und Rosa. Schließlich sprachen sie das ja zu Hause. Ihre Mutter hatte die beiden unterrichtet. Sie war oft in England gewesen. Ihr Bruder wohnte und arbeitete dort. Außerdem hatte sie die Absicht, ihre Kinder später in England studieren zu lassen. Deswegen bestand sie auch darauf, dass zu Hause nur Englisch gesprochen wurde. Meine Mutter konnte kein Englisch. Die meisten Leute im KurdenViertel konnten das nicht, nur die Christen. Meine Mutter behauptete, es sei ganz normal, dass die Christen Englisch sprächen. Sie sähen ja schließlich genauso blass aus wie die Christen in Europa, die man im Fernsehen zu Gesicht bekam. »Ich glaube, alle blassen Leute können Englisch«, schloss meine Mutter ihre Erklärungen ab, und sie hatte recht damit. Jack, Rosa und ihre ganze Familie sahen allesamt wirklich blass aus, wie der Kraft-Käse, der seit Kriegsbeginn der einzige im Land erhältliche Käse war. Ich dagegen sah »braun und staubig« aus, wie Jack zu sagen pflegte. Aber trotzdem fanden sie mich schön und ich sie auch. Rosa mit ihrem rötlich-braunen Haar vergötterte ich, als sei sie das schönste wilde Reh in ganz Babylon, so wie Jack, den ich als das charmanteste blonde Zebra des ganzen Irak bewunderte.

image

Mein Leben im Kurdenviertel war angenehm: arbeiten im Gemüsegeschäft, mit Jack oder mit Rosa herumstreunen, Schule, und mehr gab es nicht. Ich war zufrieden. Und stolz war ich auch, als Jack und ich es geschafft hatten, unsere beiden Familien zu befreunden. Seine Mutter besuchte meine und umgekehrt.

Normalerweise feierten die Christen ihre Feste und wir unsere. Ich freute mich sehr, wenn Weihnachten vor der Tür stand. Zwei Mal war ich bereits bei meinen christlichen Freunden eingeladen gewesen und hatte auch Geschenke erhalten. Jack und Rosa freuten sich ihrerseits auf das Fastenoder Opferfest, weil auch sie Geschenke und leckeres Essen von meiner Mutter bekamen.

Auf meiner ersten Weihnachtsfeier war ich zwölf Jahre alt. Jacks Familie aß an diesem Abend Schwein. Für mich hatte Jacks Mutter extra Rindfleisch gebraten, denn Schwein durfte ich ja nicht essen. Meine Mutter erklärte mir, einem Muslim sei das verboten, weil Schweine unrein und deshalb von Gott verachtet seien. Eigentlich seien Schweine einmal Menschen gewesen, die Gott in Schweine verwandelt hatte, weil sie in ihrem Inneren unrein gewesen seien, und wenn man Schwein esse, verliere man sein Eifersuchtsgefühl. Ich dachte damals, meine Mutter habe bestimmt recht, weil Jacks Vater nie eifersüchtig war, wenn seine Frau ein ärmelloses, tief ausgeschnittenes Kleid trug. Meine Mutter dagegen trug niemals solche Kleider, sondern immer ein langes Gewand und einen Schleier, wodurch alle Körperteile lückenlos bedeckt wurden. Ich aber hatte kein Problem damit, dass Jacks Mutter wie ein kleines Mädchen mit einem ärmellosen Kleid herumlief. Im Gegenteil, ich fand das sogar hübsch. Am Anfang brachte es mich schon in Verlegenheit, wenn ich sie in solchen Kleidern sah, aber im Laufe der Zeit gewöhnte ich mich daran und schämte mich nicht mehr.

Am Heiligen Abend las Jacks Vater aus der Bibel vor. Danach begannen wir mit dem Essen. Der Vater und die Mutter tranken Rotwein. Ich saß neben Rosa, die Fleisch nicht mochte und deswegen nur Reis und Salat bekam. Als ihr Vater sich Wein in sein Glas goss, flüsterte sie mir verschwörerisch zu: »Ihr trinkt keinen Wein, ich weiß. Aber weißt du, was wir in der Kirche sagen?«

»Was?«

»Wein ist das Blut von Christus.«

»Machst du Witze!?«

»Nein. Echt. Glaub mir! Stell dir mal vor! Meine Eltern trinken jetzt Blut!«

Ich schaute sie völlig entgeistert an.

»Ja. Erinnerst du dich an den Film, der vor Kurzem im Fernsehen lief? Dracula? Meine Eltern sind von dieser Sorte. Einfach Blutsauger. Ich glaube, sie werden heute, wenn ihre Flasche leer ist, aus deinem Blut Wein machen.«

Erschrocken dachte ich, Rosa habe das wirklich ernst gemeint. Aber sie prustete plötzlich lachend los: »Er hat Angst! Sein Gesicht ist blass geworden!« Als ihre Eltern mitbekamen, worum es ging, schimpften sie Rosa ordentlich aus.

Blutsauger waren Jacks Eltern nun wahrhaftig nicht. Sein Vater, ein angesehener Geschäftsmann, verkaufte Autos. Er besaß ein großes Autohaus im Zentrum der Stadt. Die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Ihr Haus war nicht so bescheiden wie unseres. Es war genauso groß wie das Autohaus, mit einem noch größeren Garten. Mitten in diesem Garten stand eine Hollywoodschaukel. Oft schaukelte ich dort mit Rosa oder Jack. Manchmal überkam mich der Neid, weil Jack ein Fahrrad besaß, einen eleganten Anzug und ein eigenes Zimmer mit allen möglichen Spielen. Ich dagegen verfügte über keinerlei außergewöhnlichen oder gar beneidenswerten Besitz. Doch diese Weihnachten entdeckte ich einen ganz individuellen Reichtum an mir. Einen Reichtum, den Jack nicht hatte und niemals haben würde: eine Mutter, die noch nie in ihrem Leben Blut getrunken hatte.