Zehntes Kapitel

Flügel

1989

Im Taubencafé, dessen Einrichtung nur aus ein paar Stühlen, drei Tischen, einem kleinen Taubenschlag und einer winzigen Küche mit Gasherd und Teekocher bestand, trafen sich die wichtigsten Taubenzüchter der Stadt. Von Anfang an bemerkte ich, wie alle Sami mit unendlichem Respekt begegneten. Er soll früher ein Rätsel gelöst haben, das keiner der Taubenzüchter durchschaut hatte.

Mein lieber Mahdi, das war in den achtziger Jahren. Ein Jahr nach dem Beginn des Iran-Krieges, 1981, stellten die Taubenzüchter fest, dass ihre Tauben sich immer seltsamer benahmen. Sie waren plötzlich außerordentlich wild und stritten ohne Grund miteinander. Sie saßen auf den Dächern und zitterten, als erschüttere ein Orkan oder ein Erdbeben die Häuser. Keiner hatte auch nur die leiseste Ahnung, wieso sie sich so verhielten. Eigentlich sind Tauben doch ruhige und ausgeglichene Wesen.

Nun aber hatten sie sich vollkommen verändert. Natürlich waren die Tauben nicht zornig auf die Menschen wegen des Krieges. Das gibt es nur in Märchen und Zeichentrickserien. Es musste etwas anderes dahinterstecken.

Ich habe sie täglich beobachtet. Die Taubenzüchter berichteten über ungewöhnlich hohe Verluste unter ihren Tauben. Immer wieder kam einer und klagte, er habe eine Taube oder gar mehrere verloren, oft zuverlässige Tiere, die ihrem eigenen Dach treu waren. Einige berichteten, ihre Tauben wollten abends nicht in den Käfig. Sie blieben auf der Dachmauer und wurden von Katzen gejagt oder gefressen. Oder sie verflogen sich im Dunkeln und tauchten nie wieder auf.

Derlei Merkwürdigkeiten habe ich auch bei meinen eigenen Tauben erlebt. Ich saß täglich bei ihnen auf dem Dach. Jede neue Auffälligkeit schrieb ich sorgfältig auf. Und eines Tages konnte ich das Geheimnis aufklären.

Es war, als der Sarg eines Gefallenen eintraf. Es war unser Nachbar, ein Friseur. Sekunden nach der Ankunft des Sarges flatterten meine Tauben verschreckt in den Himmel. Das war an sich nicht ungewöhnlich, denn als der Sarg abgeladen wurde, schrien die trauernden Frauen aus voller Kehle, und die Männer feuerten Geschosse in den Himmel ab. Man verabschiedete den Gefallenen mit einem gewaltigen Getöse.

In diesem Moment fiel mir auf, worin das Taubenproblem bestehen musste. Ich stand auf dem Dach des obersten Zimmers und blickte über die Häuser des Viertels. Und schlagartig bemerkte ich: Alles war schwarz. Beinahe an jedem Haus hingen schwarze Trauerplakate an den Wänden über der Haustür, mit dem Geburtsort und dem Todesdatum der Märtyrer. Die Menschen trugen fast ausnahmslos schwarze Trauerkleider. Natürlich mussten die Tauben verstört sein. Sie haben von Natur aus Angst vor schwarzer Farbe. Aber damit noch nicht genug. Da waren auch die Flugzeuge, die täglich über uns hinweg Richtung Iran flogen und wieder zurückkehrten. Sie sahen aus wie große Adler. Und Tauben fürchten Adler. Schließlich gab es neben der schwarzen Farbe, den Metalladlern und dem Lärm einen weiteren Grund: die Wolle. Ja, die Schafwolle. Als ich so von oben das Viertel betrachtete, wurde mir erst bewusst, wie viel Wolle es hier gab. Sie lag auf der Mehrzahl der Hausdächer zum Trocknen. Damals kam fast wöchentlich ein Sarg von der Front. Also musste ein Schaf geschlachtet werden, um die Gäste an den Trauertagen zu verpflegen. Nach der Schlachtung wird die Wolle auf Dächer gelegt, um sie nach der Trocknung verarbeiten zu können. Und so vermehrte sich die Schafwolle im Viertel ebenso schnell wie die Zahl der Märtyrer. Der Geruch der Wolle wirkt aber auf Tauben wie Rauschgift. Er betäubt sie oder regt sie zumindest auf. Sie fürchten die Wolle. Wegen des Wollegeruchs kann eine Taube einen Herzinfarkt bekommen. Das weiß jeder Taubenzüchter auf der ganzen Welt.

So habe ich das Rätsel gelöst. Ich erzähle es stolz den anderen, und ich bin der Pate der Taubenzüchter geworden. Ein Heilmittel gegen die Angst der Tauben habe ich aber leider nicht gefunden. Anfangs dachte ich, sie würden sich daran gewöhnen, genau wie die Menschen. Aber das geschah nicht. Wir Menschen haben uns daran gewöhnt, dass Männer an der Front sterben und im Sarg zu uns zurückkehren. Das wurde im Laufe des Krieges zur Normalität. Es gehörte zum Alltag. Das Leben musste weitergehen. Die Tauben verstanden das aber nicht. Erst als der Krieg endlich vorbei war und kein Sarg mehr kam, fanden sie wieder richtig zu sich selbst.

Ich konnte Tauben schon seit meiner Kindheit gut leiden. Aber seit ich das Rätsel ihres merkwürdigen Verhaltens gelöst hatte, war ich wirklich in sie verliebt.

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Der Ägypter, so hieß ein großer Täuber, war Samis Lieblingstier. Er war groß wie ein Rabe und ebenso schwarz, aber mit weißen Pünktchen auf Kopf und Flügeln. Er hatte lange Beine, einen langen Hals, rote Augenränder und einen langen, kräftigen Schnabel. Er gehörte zur Rasse der Warzentauben. Diese Rasse habe jeder Taubenzüchter gern, erklärte Sami.

»Sie sind die treuesten Tauben der Welt. Sie vergessen nie ihren ersten Platz, genau wie der Mensch, der die erste Liebe nie vergisst. Sie fliegen weg, kehren aber immer wieder zu dem Ort zurück, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Deswegen werden sie gern gezüchtet. Man muss sie nur einmal fliegen lassen. Wenn sie zurückkehren, kennen sie ihr Dach für immer und ewig.«

Sami brachte mir die Regeln des Fliegens und Züchtens bei. Er lehrte mich alles, was man braucht, um ein wahrer Taubenkenner zu sein.

Es dauerte nur einige Monate, bis ich das Wichtigste beherrschte. Ich erkannte bald, welche Rasse, welches Geschlecht, welches Alter, welchen Charakter oder welchen Wert eine Taube hatte, sogar im Flug konnte ich das ausmachen. Und mein Meister, Sami? Er stand freitagnachmittags neben dem Taubenschlag und erzählte:

In der ersten Phase der Taubenzucht bringt man den Tauben bei, ihre neue Heimat, den Käfig, das Dach und die Mauer kennenzulernen, wo man Futter und Wasser für sie bereithält. Die Tauben müssen zunächst auf der Dachfläche bleiben. Dann dürfen sie auf die Dachmauer. Innerhalb dieser Dachphase, die zwischen sieben und zehn Tagen dauert, werden den Tauben die Flügel gefesselt. Man nimmt eine Sicherheitsnadel und fixiert einen Flügel, wodurch man die Bewegungsfähigkeit der Hand- und Armschwingen unterbindet. Solange sie das neue Heim noch nicht kennen, versuchen sie nämlich wegzufliegen, um zu ihrem alten Heim zurückzukehren. Und wenn sie wegfliegen, können sie nicht zu ihrem neuen Schlag zurückkehren, weil sie den Weg nicht finden. Also muss man sie fesseln.

Die zweite Phase ist die Flugphase. Wenn man merkt, dass die Tauben nicht mehr aufgeregt sind, sich gut auf dem Dach auskennen und ihren Platz im Käfig haben, befreit man sie von ihren Fesseln. Dabei muss man auf die Jahreszeit achten. Am besten eignet sich ein Sommermittag. Die Tauben fliegen in dieser Zeit nicht weit weg. Sie kreisen nah über dem Haus, weil es heiß ist und sie schnell Durst und Hunger bekommen. Sehr schlecht ist der Herbst, wegen des starken Windes, der die Tauben weit mitnimmt. Auch der Winter ist problematisch. Wegen der Kälte bekommen die Tauben kaum Durst. Der Frühling ist auch nicht gut, weil das Wetter wechselhaft ist.

Außerdem muss man Nistzellen im Zuchtschlag bauen, damit die älteren Tauben Eier legen und brüten. So werden sie träger und schwerer und fliegen nicht zu hoch oder zu weit weg. Auch lassen die Männchen ihr Weibchen in dieser Situation nicht allein. Sie wechseln sich mit den Weibchen beim Brüten ab. Sie fliegen mit den anderen Tauben, bleiben aber über dem Haus. Man muss immer einige weibliche Tauben auf die Dachmauer legen, deren Flügel gefesselt oder gestutzt worden sind, und ihre Männchen mit der Gruppe fliegen lassen. Die anderen Tauben bemerken das und bleiben über ihnen. Die Tauben haben nämlich gute Augen.

Man verliert immer ein paar Tauben in der ersten Woche der Flugphase. Einige fliegen einfach zu weit weg und finden den Rückweg nicht mehr. Das ist normal. Nach einigen Wochen beginnt dann die Weit-fort-Variante. Dazu erschreckt man die Gruppe mit einem Stock oder einem schwarzen Tuch. So fliegen sie schnell hoch.

Im sechsten oder siebten Lebensmonat kommt die Pubertätsoder Paarungsphase. Jetzt verliert man viele Tiere, wenn man nicht aufpasst. Die Geschlechtsreife tritt ein. Die Balz des Täubers erkennt man am Aufplustern, Gurren und Vor-dem-Weibchen-Herumstolzieren, am Einkreisen der Täubin und am Halsnicken. Einige Tauben finden schnell einen Partner. Die Mehrheit schafft das aber nicht, und das ist ein Problem. Wenn eine Taube in ihrer Gruppe keinen Partner findet, sucht sie einen bei den anderen Gruppen. Also muss man einen Partner für sie finden, indem man eine Hochzeits-Nistzelle einrichtet. Man nimmt einen Täuber und eine Täubin und sperrt die beiden die ganze Nacht in eine Nistzelle. Wenn der Täuber am Morgen auf die Täubin steigt, ist die Gefahr vorbei. Wenn nicht, muss man einen neuen Partner suchen und beide eine Nacht zusammensperren.

Am Anfang dachte ich, ich würde niemals lernen, mit den Tauben umzugehen. Aber Sami spornte mich an: »Übung macht den Meister.« Und so übte und übte ich, und Sami war mein Meister. Er war mit mir zufrieden und schenkte mir sogar mehrere Tauben. Von seinem Dach aus ließ ich sie fliegen und schaute zu, wie sie am Himmel tanzten. Und manchmal dachte ich, mein Kopf, mein Herz und meine Seele tanzten mit ihnen. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, wieso Ikaros und Abbas Bin Firnas unbedingt fliegen wollten. Ich fragte mich oft, ob sie es kurz vor der Abenddämmerung versucht hatten. Diese Zeit hatte nämlich etwas Magisches. Ich liebte diese Zeit, um meine Tauben fliegen zu lassen und sie zu betrachten.

Alle Taubenzüchter ließen um diese Zeit ihre Tauben noch einmal fliegen. Wenn es dann dunkel wurde, mussten die Vögel in den Taubenschlag. Der Himmel sah dann zauberhaft aus. Mit den vielen Taubenschwärmen stieg schwarzer Rauch aus den Schornsteinen. Die Frauen buken immer zur selben Zeit Brot in ihren Steinöfen. Die Farben der Tauben, die Röte des Himmels und der schwarze Rauch, der sich in Grau auflöste, malten ein unbeschreibliches Bild über die Stadt. Ein fast magischer Moment. Sami behauptete, ein solches Gemälde könne man nirgendwo in der Welt finden außer im Südirak.

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Hamida und Jasim waren wütend auf mich. Nicht etwa, weil ich, seit ich Sami kannte, kaum mehr bei ihnen zu Hause war, sondern weil ich nichts anderes im Sinn hatte, als mich mit meinen Tauben zu beschäftigen. Für sie war das eine Schande. Taubenzüchter genossen keinen guten Ruf.

»Der Prophet sagt: ›Taubenzüchter werden das Paradies niemals sehen‹«, behauptete Hamida.

»Wie kommst du denn darauf? Wer hat dir denn so was erzählt?«

»Der Gebetsrufer. Er hat gesagt, dass die Taubenzucht eine Sünde ist. Die Menschen, die sich mit Tauben beschäftigen, verlieben sich in sie und dadurch vergessen sie ihre Mitmenschen und sogar ihren Gott.«

Ich wollte es nicht glauben. Doch als ich Sami und seinen Freund Razaq danach fragte, gaben sie mir ein paar Bücher: »Schau selber nach!«

Hamida und Jasim hatten in der Tat recht. Ich fand mehrere historische Texte, die eine sehr schlechte Meinung über Tauben und Taubenzüchter belegten. Fast alle stammten aus dem Mittelalter und aus Bagdad. Damals waren viele der dortigen Bewohner Taubenzüchter, und die Taubenzucht war offenbar ein religiöses Problem geworden. Deshalb versuchten einige islamische Schulen, eine religiöse Vorschrift zu finden, die das Züchten von Tauben verbot. Die Aussage eines Taubenzüchters vor Gericht soll sogar ungültig gewesen sein. Der Prophet hatte angeblich erklärt: »Das Zeugnis eines Taubenzüchters wird vor Gott nicht anerkannt.«

Ich war wirklich überrascht. Ich hätte niemals gedacht, dass die Taubenzucht so schlecht angesehen war. Noch heute verheiraten viele Eltern ihre Töchter nicht gern mit einem Taubenzüchter.

»Man sagt, die Taubenzüchter lügen, wenn es um eine Taube geht«, erklärte mir Razaq. »Sie streiten wegen einer Taube. Sie sind bereit, alles zu riskieren wegen einer Taube. Und ein Taubenzüchter zu sein, sei für die Taubenliebhaber nicht Hobby, sondern Beruf. Sie jagen fremde Tauben und verkaufen sie und verdienen Geld damit, auch wenn sie genau wissen, wem die gefangene Taube gehört. Sie verkaufen die erjagten Tauben sogar an ihre Besitzer zurück. Außerdem waren gerade die Taubenzüchter früher als Straßenräuber bekannt.«

»Ist das tatsächlich so?«

»Hör mal zu!«, versicherte Sami. »Mit einem Messer kann man töten oder Obst schneiden. Jedes Ding in dieser Welt hat zwei Gesichter. Und ein Taubenzüchter eben auch. Man muss selbst das Gesicht wählen, das einem gefällt! Ich gebe zu, ein Taubenzüchter kann viele schlechte Eigenschaften haben. Aber nur aus der Sicht eines Menschen, der niemals vom Fliegen geträumt hat. Es gibt überall schlechte und gute Menschen.«

»Weißt du was, Mahdi?«, fuhr Sami fort. »Die Menschen werden niemals aufhören zu schwatzen. Sie sind so und bleiben so. Aber ich erzähle dir jetzt etwas, was du für dein ganzes Leben bewahren kannst. Es ist eine kleine Geschichte von Imam Jafer Al-Sadiq. Einmal kam jemand und sagte zu ihm, die Leute würden ihn beschimpfen, weil er Schiit sei und Al-Sadiq folge. Der Imam antwortete: ›Wenn du eine Perle in der Hand hast und die Menschen sagen, es sei nur ein Stein, schadet dir das? Und wenn du einen Stein hast und die Menschen behaupten, er sei eine Perle, hilft dir das? Glaub an das, was du in der Hand hast.‹ Das hat Al-Sadiq vor Jahrhunderten gesagt, und ich sage dir das heute: Glaub an dich und an das, was du hast, und lass die anderen sagen, was sie wollen.«

Also blieb ich bei meinen Tauben. Ich liebte sie. Eine braune Taube, die sehr hübsch aussah, habe ich Haiat genannt. Eine andere, weiße, hieß Rosa. Wieder andere Muhsin, Jack, Hamida, Sami und Razaq … Ich besaß alle meine geliebten Menschen als Tauben. Wie hätte ich sie also nicht lieben können? Mein Onkel und seine Frau mussten mich eben so nehmen, wie ich war.

Ich begann schließlich mit jedem über Taubenzucht zu reden, überall verbreitete ich nur Gutes über Tauben und ihre Kenner, sogar in der Schule. Die Tauben seien schön, die edelsten Wesen der Welt und hätten einen geheimnisvollen Duft. Weil ich von nichts anderem mehr redete, haben mir die Leute im Viertel einen neuen Namen gegeben, den ich sehr mochte, obwohl sie mich eigentlich damit hatten ärgern wollen. Seither heiße ich nicht mehr Mahdi Muhsin, sondern Mahdi Hamama – Mahdi Taube.

Sami fand meinen neuen Namen auch sehr schön. Er nannte mich gern so. Und wenn man mich suchte, hatte man mit meinem alten Namen bald kaum mehr eine Chance. Aber wenn man in der Al-Habubi-Straße nach Mahdi Taube fragte, zeigte jeder mit dem Finger auf Jasims oder auf Samis Haus, auf das Dach mit den Tauben oder auf das Taubencafé.

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Er ist ein Iraker sumerischer Abstammung, der von einem assyrischen Pferd auf einen babylonischen Stein fiel und daraufhin einen mesopotamischen Vogel bekam. So hat Razaq Sami einmal beschrieben. Alle im Taubencafé lachten darüber. Sami selbst hat sogar so laut gelacht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Razaq hatte recht. Sami war ein einzigartiger Mensch. Razaq, Samis wahrer Freund, war aber auch ein besonderes Geschöpf. Er war genauso alt wie Sami. Auch zwischen uns entstand eine tiefe Freundschaft, durch Sami und die Tauben.

Razaq war ursprünglich Inder, lebte aber im Irak wie ein Iraker. Immer hatte ich das Gefühl, er sei mehr Iraker als viele Iraker selbst. Keiner kannte die irakische Geschichte so gut wie er. Als Geschichtslehrer war das natürlich auch sein Job. Sami sagte oft: »Wenn alle Inder wie Razaq wären, dann würde ich mir wünschen, Inder zu sein. Und wenn alle Iraker wie Razaq wären, dann würde dieses Land eine neue mesopotamische Legende erleben.«

Mustafa, Razaqs Vater, soll eine irakische Legende gewesen sein. Und das, obwohl er Inder war. Mustafa kam Anfang des 20. Jahrhunderts als Soldat der britischen Armee in den Irak, als die Briten die Türken verjagt hatten und den Irak regierten. Er war damals achtzehn Jahre alt. Er blieb aber nicht lange in der britischen Armee, sondern wechselte die Seite und ging zu den irakischen Partisanen, um mit ihnen gegen die Engländer zu kämpfen. Vielleicht weil er Muslim war, aber die Briten waren auch in Indien Besatzungsmacht. Er kämpfte also gegen dieselben Besatzer, ob im Irak oder in Indien.

Dann lebte er in Qlat-Sukr beim Al-Hamid-Stamm. Man sagte, er habe die arabische Sprache sehr schnell gelernt und beherrsche sogar die Umgangssprache. Keiner hielt ihn für einen Inder, wenn er sprach. Der Al-Hamid-Stammesführer gab ihm seine einzige Tochter zur Frau. Die beiden lebten lange dort und bekamen viele Kinder. Später zogen sie nach Nasrijah.

Dort lernte Mustafa den jungen Fahad kennen. Mit ihm und einigen anderen hat er die erste Partei im Irak gegründet: die Irakische Kommunistische Partei. Mustafa soll das erste Manifest der Partei geschrieben haben, das Fahad dann unterzeichnete und veröffentlichte. Offiziell hieß es immer, Fahad sei der Verfasser. Razaq aber behauptete, das sei eine Geschichtsfälschung. Sein Vater habe es geschrieben, weil er der älteste unter den Parteigründern war. Und das sei im Irak Tradition. Dem Ältesten gehöre immer der erste Schluck oder Bissen.

Mustafa kämpfte dann lange mit der Partei gegen das irakische Königreich und dessen britische Verbündete. Als die erste irakische Republik gegründet wurde, bekam er eine Ehrenmedaille. Der erste irakische Präsident, Abdel Karim Qasim, hat ihn 1959 ausgezeichnet. Danach wurde er Diplomat in Pakistan. Nicht in Indien, weil er aus einem Gebiet stammte, das nach der Teilung Indiens zu Pakistan gehörte.

Sein späteres Leben verlief dann nicht mehr so schön. Nach dem Putsch der irakischen Nationalisten, der Baath-Partei und der Militärgeneräle wurde Präsident Qasim am 9. Februar 1963 gehängt und Mustafa ins Gefängnis gesperrt. Er wurde zwar nach einem Jahr wieder entlassen, war jedoch sehr krank. Er soll im Gefängnis gefoltert worden sein und war einige Jahre ans Bett gefesselt, bis er 1967 starb. Als 1968 die Baath-Partei an die Macht kam, musste Mustafas Familie unterschreiben, dass kein Familienmitglied in irgendeiner Weise politisch tätig werden würde. Falls doch, würden sie nach Indien oder Pakistan abgeschoben. Diese Verzichtserklärung musste die Familie 1980 noch einmal unterzeichnen, als Saddam Hussein Führer der Baath-Partei und des ganzen Landes wurde.

Mustafas Kinder sind alle zwischen 1969 und 1980 ins Ausland gegangen, auch seine Frau. Sie wanderte mit einer ihrer Töchter nach England aus. Nur Razaq blieb, weil er in eine Krankenschwester verliebt war, Laila, die hübsch und liebenswürdig war. Er heiratete sie und bekam zwei Kinder mit ihr. Die Leute nannten ihn und seine Familie »die kommunistische« oder auch oft »die indische Familie«.

Bei dieser indischen Familie war ich oft zu Besuch. Ich genoss es, mit den Kindern zu spielen und von Laila umsorgt zu werden. Sie freute sich immer, mich zu sehen. Sie schien glücklich zu sein. Bevor sie Razaq kennenlernte, hatte sie ein schweres Leben gehabt und trotzdem niemals ihre Schönheit eingebüßt. Sie kam aus einer großen Familie und war das älteste Kind. Der Vater arbeitete im Basar als Obsthändler und die Mutter war Hausfrau. Laila konnte nach der Mittleren Reife nicht das Gymnasium besuchen und ihren großen Traum verwirklichen, Ärztin zu werden, weil der Vater für ein Jahr ins Gefängnis musste, wegen angeblicher Überteuerung der Ware. In den achtziger Jahren hatte die Regierung für alle Waren im Land einen bestimmten Preis festgesetzt. Lailas Vater verkaufte aber einmal die Orangen in seinem Geschäft über dem staatlichen Richtpreis und wurde von einem Preiskontrollbeamten erwischt. Dafür landete er im Abu-Ghraib-Gefängnis. Laila musste anstelle ihres Vaters im Geschäft arbeiten. Und als er wieder freikam, entschied er, sie müsse ihm weiterhin helfen. Die Familie war groß, und er schaffte es nicht mehr allein, alle durchzufüttern. Er könne, sagte er, seine Tochter nicht unterstützen, bis sie Ärztin sei. Laila besuchte nebenbei eine Krankenschwesternschule, um so schnell wie möglich eine einträgliche Arbeitsstelle zu bekommen. Damals, während des Irak-Iran-Krieges, brauchte das Land Unmengen von Krankenschwestern für die vielen Verletzten und Kriegsinvaliden. Nach der Prüfung arbeitete sie auch tatsächlich als Krankenschwester im Hospital von Nasrijah. Sie half zusätzlich weiter ihrem Vater, der im Laufe der Zeit eine schwere Wirbelsäulenerkrankung bekam. Bald konnte er das Bett nicht mehr verlassen und starb schließlich.

Von da an musste Laila allein für die Familie sorgen. Wegen ihrer außerordentlichen Schönheit zog sie eine Reihe von Verehrern an. Doch sie wies alle ab, bis der braune irakisch-indisch-pakistanische Razaq ihren Weg kreuzte. Er hatte eine schwere Bronchitis und musste zwei Tage im Krankenhaus liegen. Er zeigte aber, im Gegensatz zu allen anderen Männern, keinerlei Interesse an ihr. Später lächelte sie verschwörerisch: »Das war’s, was ich vermisst habe. Einen Mann, der mir keine Beachtung schenkt.«

Sie sprach Razaq an, der nie geglaubt hatte, jemals eine so schöne Frau bekommen zu können. Er hielt um ihre Hand an. Sie sagte zu, aber unter einer Bedingung. »Mein Gehalt gehört nicht uns, sondern meiner Familie, bis meine Geschwister erwachsen sind.« Diese Bedingung ließ Razaq sie noch mehr lieben. Und seitdem lebten sie zusammen.

Wie ich Sami dankbar bin, weil er meine Liebe zu den Tauben entfacht hat, muss ich mich bei Razaq bedanken, weil er mich zum Lesen brachte. Er gab mir fast jede Woche ein Buch. Er war ein echter Bücherwurm und auch Übersetzer, sogar ein ziemlich bekannter, da er viel Prosa und Lyrik aus dem Englischen ins Arabische übersetzte. Vieles davon habe ich gelesen, und am besten gefielen mir die Gedichte von Tagore.

In seiner Dreizimmerwohnung hatte Razaq sich ein Arbeitszimmer eingerichtet. Darin gab es nichts als einen Tisch mit Schreibutensilien, Stühle, Taubenbilder und Kassettenrekorder. Und vier Wände, die man nicht sehen konnte, weil die Bücherregale bis unter die Decke reichten.

Razaq war kein Taubenzüchter. Er liebte die Tauben nur. Durch ihn habe ich herausgefunden, welchen Beruf ich ergreifen wollte. Ich dachte ernsthaft daran, Lehrer zu werden. Wie mein Vater. Aber nicht für Geografie, sondern für das Fach, das Sami ursprünglich studieren wollte: Literatur.

»So würdest du beide, deinen Vater und Sami, beerben«, sagte Razaq.

Ich dachte, ich könne auch Literatur übersetzen und weiterführen, was Razaq begonnen hat. Oder selbst literarische Werke verfassen. »Warum nicht? Du kannst das sicher, aber du müsstest wirklich etwas dafür tun«, ermutigte mich Sami. Ja, ich musste etwas tun. Seit ich Sami, Razaq und die Tauben kannte, hatte ich nämlich nicht mehr viel Zeit auf meine Schularbeiten verwendet.