Sechstes Kapitel

Abschied von Babylon

1988

Es gibt Tage und Nächte, in denen nichts passiert, rein gar nichts außer der Normalität. Und es gibt andere, in denen so viel geschieht, dass man sie niemals mehr vergessen wird. Und der Tag der Party war einer dieser unvergesslichen Tage.

Es war August. Mutter wollte nach Bagdad, um die Al-Kadhum-Moschee zu besuchen. Sie fragte mich, ob ich es schaffen könne, allein zu Hause zu bleiben. Ich antwortete selbstbewusst: »Sicher. Ich bin siebzehn. Ein erwachsener Mann.«

Sie lächelte: »Dann bin ich glücklich! Ich bleibe nur drei Tage.«

Am Tag ihrer Abreise beschloss ich, meine Freunde zu einer Geburtstagsparty bei mir zu Hause einzuladen. Eigentlich lag mein Geburtstag bereits drei Monate zurück. Aber ich wollte die Abwesenheit meiner Mutter ausnutzen. Die Party sollte am nächsten Abend stattfinden. Alle Gäste waren Christen aus unserem Viertel, die ich durch Jack kennengelernt hatte.

Am Tag der Party kamen noch vier Jungen und zwei Mädchen dazu, die alle unsere Schule besuchten. Es sollte eine Party mit Alkohol werden. Zumindest hatte ich mir das vorgenommen. Deswegen lud ich auch keine muslimischen Freunde ein. Jack und Rosa brachten vier Flaschen Wein und mehrere Dosen Bier mit. Ich besorgte Snacks und Knabberzeug. Rosa schob eine Kassette in den Rekorder. Rockmusik. Ich hatte damals das Wort Rock noch nicht gehört.

»Es heißt eigentlich Rock ’n’ Roll«, erklärte Rosa. »Total beliebt im Westen.«

Ich kannte eigentlich nur arabische Musik, englische hörte ich bloß bei Rosa und Jack. Diese Musik ist sehr hektisch, dachte ich zuerst. Nach zwei Dosen Bier aber stand ich mitten im Wohnzimmer und imitierte die Tanzfiguren der anderen: Kopf hin und her schütteln und mit den Füßen auf den Boden stampfen.

Das Bier schmeckte zuerst ziemlich bitter, fast ungenießbar. Die zweite Dose war aber schon erträglicher. Die drei Mädels fingen mit dem Wein an. Dann landeten sie bei uns auf dem Sofa und tranken ebenfalls Bier. Eigentlich hatte ich gar nicht sonderlich viel getrunken, ich glaube, nur vier oder fünf Dosen Bier. Trotzdem drehten sich die Zimmerwände um mich herum. Immer schneller, wie in einem Karussell. Die anderen hatten noch mehr getrunken als ich, aber sie wirkten irgendwie ruhiger. Sie lachten jedes Mal, wenn ich mit einem von ihnen redete. Trotzdem war ich gut drauf, als Rosa mich ins Bad mitnahm, meinen Kopf über das Waschbecken beugte und mir Wasser über den Kopf laufen ließ. Danach wollte ich nur noch tanzen.

Dann erinnere ich mich an nichts mehr. Ein vollkommener Blackout. Am nächsten Morgen erwachte ich mit schwerem Kopf, streckte die Arme aus und spürte etwas Weiches neben mir. Ich schlug die Augen auf und fand mich auf dem Fußboden, neben mir Rosa. Ein Traum? Ich schüttelte meinen Kopf, schloss die Augen und öffnete sie noch einmal. Aber Rosa lag tatsächlich neben mir, mit ihrem wunderbaren, nackten goldenen Busen. Verstohlen ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Außer uns beiden sah ich niemanden. Wir waren nicht völlig nackt, die Unterhosen hatten wir noch an. Haben wir es getan?, versuchte ich mich zu erinnern. Ich glaubte nicht. Rosa schlief tief und fest. Ich betrachtete ihren Körper. Oh Gott! Damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich legte meinen Kopf vorsichtig auf ihren Busen. Sie bewegte sich, schlang ihre Arme um meinen Hals und hielt mich fest. Mein Körper fing an zu zittern. Mein Glied wurde steif. Ich wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Mein Körper zitterte immer stärker. Auf einmal spürte ich etwas Nasses und Klebriges in meiner Unterhose.

Ich blieb ganz ruhig liegen und versuchte, meine Augen geschlossen zu halten. Plötzlich hörte ich jemanden an die Tür klopfen. Ich riss die Augen auf. Keine Rosa neben mir. War das nur ein Traum? Ich spähte auf die Uhr an der Wand. Es war bereits Mittag. Schnell streifte ich meine Klamotten über und verließ das Zimmer.

»Wer ist da?« Die Antwort kam rasch: »Dein Onkel!« Was für eine Überraschung! Ausgerechnet jetzt. Ich dachte nur an die Dosen und Flaschen, die überall im Wohnzimmer verstreut lagen. »Moment! Ich komme gleich!« Ich hastete ins Wohnzimmer, versteckte die Dosen und Flaschen im Schrank und kehrte zur Haustür zurück. Ich öffnete sie. Mein Onkel nahm mich in die Arme.

Ich wusste sofort, dass etwas passiert war. Onkel Jasim, der Bruder meines Vaters. Was machte er hier? Allein?

»Wo ist meine Mutter?«

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Meine Mutter war nicht nach Bagdad gefahren, wie sie mir gesagt hatte, sondern ins Krankenhaus von Babylon. Sie war schwer krank. Alle wussten, dass sie Krebs hatte. Alle wussten es, nur ich nicht.

Auch mein Onkel war schon seit gestern hier. Mutter wusste genau, wann sie sterben würde. Der Arzt hatte sie schon sehr früh aufgeklärt. Deswegen hatte sie den Verwandten Bescheid gegeben. Sie starb in derselben Nacht, in der ich meine erste wirklich wilde Party gefeiert hatte, in der ich zum ersten Mal Alkohol getrunken hatte, in der ich wahrscheinlich auf einem goldenen Busen geschlafen hatte, in der ich möglicherweise meiner Jungfräulichkeit beraubt und zum Mann geworden war und in der ich mich vielleicht zum ersten Mal in eine Frau verliebt hatte. Gleichzeitig hatte ich meine Mutter für immer verloren.

Es war schwer zu begreifen, dass sie nicht mehr da war. Ihr Tod kam völlig unerwartet. Sie hatte mir kein Wort davon gesagt, dass sie Krebs hatte. Sie sah auch gar nicht krank aus. Seit dem Tod meines Vaters wirkte sie schon immer ein wenig bleich. Ich dachte aber, es sei nur wegen der Müdigkeit. Sie arbeitete sehr viel, um uns beide durchzubringen. Ihr Tod traf mich härter als der meines Vaters.

Die Trauerzeit fand in unserem Haus statt. Am letzten der drei Trauertage sagte mein Onkel, dass ich mit ihm in Nasrijah wohnen solle. Er hatte zwar drei Kinder, konnte aber, wie er betonte, für mich ein Zimmer auf dem Dach seines Hauses bauen lassen.

Nach der Trauerzeit musste ich also rasch mit meinem Onkel weg. Ich konnte mich gar nicht richtig von meinen Freunden und Nachbarn im Kurden-Viertel verabschieden. Es war einfach keine Zeit. Während der Trauertage habe ich Jacks Familie ein letztes Mal gesehen. Rosa und ihre Mutter weinten. Wir sprachen nicht viel miteinander. Rosa erschien mir wie eine erwachsene Frau in ihrem langen schwarzen Trauerkleid. Ich sah sie nur kurz. Ich war niedergedrückt und wusste nichts zu sagen. Ich wollte auch nicht wahrhaben, dass auf einmal alles vorbei sein sollte: Mutter, Freunde und Babylon. Von allem musste ich mich verabschieden.

Der Tag, an dem ich völlig niedergeschlagen ins Auto stieg und mit Onkel Jasim nach Nasrijah fuhr, war der 8. August 1988, genau vier Tage nach Mutters Tod. An diesem Tag tanzten und jubelten die Iraker auf den Straßen. Sie freuten sich, weil der Irak-Iran-Krieg nach acht langen Jahren endlich zu Ende war.