15

 

Kate verließ eilig den Vorlesungssaal und ignorierte die Studenten, die nach vorn gekommen waren, um Fragen zu stellen, ebenso wie die, die sich vor ihrem Büro versammelt hatten. Sie rief sofort Reed an.

»Ich bin auf eine Miss Sabbel gestoßen – du weißt doch, dieses Mädchen, das mit der schrillen Jackie geredet hat, als Seife im Brunnen war. Sie sagt, er sieht aus wie Cary Grant. Kann ich übrigens offen reden?«

»Mein liebes Mädchen, falls uns jemand abhören sollte, dann hoffe ich, der Lauscher versteht dich besser als ich. Ob wir ein bißchen mehr Verständlichkeit riskieren? Wer hat gesabbert?«

»Das ist ihr Name. Sabbel, Ann Sabbel. Du hast gesagt, sie hätte den Schlüssel zu dem ganzen Fall in der Hand. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich erinnere mich nicht, jemals in meinem ganzen Leben diesen Namen in den Mund genommen zu haben. Hat sie Janet Harrison gekannt? Wenn ja, wird sie wohl in die Geschichte eingehen, obwohl es ein Jammer wäre, solch einen Namen unsterblich zu machen.«

»Sie hat Janet Harrison nur oberflächlich gekannt. Sie hat auch in dem Wohnheim gewohnt – die Sabbel, meine ich. Jackie Miller erinnerte sich plötzlich daran, daß sie, die Sabbel, Janet mit einem Mann gesehen hat. Das fiel Jackie ein, als in ihrer Gegenwart jemand beim Frühstück zu sabbern anfing – es kann also auch ein Vorteil sein, wenn man so einen Namen hat –, und das hat sie dann Miss Lindsay weitererzählt, und die wiederum hat mich angerufen. Darauf habe ich Miss Sabbel angerufen, und die sagte mir nun, sie glaube, den Mann wiedererkennen zu können, aber wenn ich ihn kurz beschrieben haben wolle, dann sehe er eben aus wie Cary Grant, gutaussehend und zuvorkommend. So, Sie haben jetzt zwanzig Minuten Zeit, das alles in geordneter Folge und einem passablen Englisch niederzuschreiben.«

»Kate, ich weiß ja, daß wir unbedingt Verdächtige brauchen, aber meinst du wirklich, Cary Grant könnte sie umgebracht haben? Ich könnte natürlich mal in Hollywood anrufen und…«

»Reed – welcher von unseren Verdächtigen schaut wie Cary Grant aus?«

»Du vergißt, daß ich keinen unserer Verdächtigen zu Gesicht bekommen habe.«

»Du selbst hast gesagt, der junge Mann auf dem Foto sehe aus wie Cary Grant.«

»Habe ich das?«

»Ja, und Barrister sieht noch immer so aus, gewissermaßen. Ich meine, er ist älter, aber das ist Cary Grant inzwischen auch.«

»Es geht ihm wie mir. Ich altere minütlich. Und was kann ich jetzt für dich tun? Barrister eine Rolle beim Film anbieten?«

»Film ist das Stichwort. Ich brauche ein paar Fotos. Die möchte ich dann Miss Sabbel zeigen, und wenn sie Barrister erkennt, dann haben wir einen Beweis, einen handfesten Beweis, daß Barrister sie gekannt hat. Natürlich könnten es auch Sparks oder Horan gewesen sein. Emanuel sieht jedenfalls nicht wie Cary Grant aus.«

»Ob du es glaubst oder nicht, aber ich fange an zu begreifen, worauf du hinaus willst. Ich marschiere also zur Mordkommission und gebe denen zu verstehen, daß Barrister wie Cary Grant aussieht. Wahrscheinlich bekomme ich dann endlich den Urlaub, den ich so dringend brauche. Hast du die Adresse von Miss Sabbel?«

Kate gab sie ihm. »Und eins noch, Kate«, fuhr Reed fort, »erwähne Miss Sabbel oder ihre Adresse keinem Menschen gegenüber, sei so gut.«

»Reed! Du glaubst also wirklich, daß etwas daran ist.«

»Ich rufe dich heute abend zu Hause an. Geh heim und bleib dort auch. Das meine ich im Ernst, das ist ein Befehl. Lauf nicht herum und folge keinen weiteren Hinweisen. Versprochen?«

»Bist du denn einverstanden, wenn ich hier noch meine Sprechstunde und die Nachmittagsvorlesung halte?«

»Geh nach Hause, sobald die Vorlesung vorbei ist. Bleib zu Hause. Lauf nicht herum oder zur Tür hinaus. Setz dich hin. Du hörst von mir.« Und damit mußte Kate sich zufrieden geben.

Nach der Nachmittagsvorlesung ging Kate noch einmal in ihr Büro, wo das Telefon läutete. Emanuel war am anderen Ende.

»Kate, kann ich dich kurz sehen?« fragte er.

»Ist irgend etwas passiert?«

»Das ist es, worüber ich mit dir reden möchte. Wo können wir uns auf eine Tasse Kaffee treffen?«

»Wie wäre es bei Schrafft’s? Das ist ein guter Ort, um sich davon zu überzeugen, daß das Leben weitergeht.«

»Sehr schön. Also in zwanzig Minuten bei Schrafft’s.«

Aber beide waren schon in fünfzehn Minuten da. Es war ruhig, bis auf ein paar Damen, die an der Theke geräuschvoll ihre Nachmittagskalorien zu sich nahmen.

»Kate«, sage Emanuel, »ich fange an, mir Sorgen zu machen.«

»Das brauchst du nicht. Wenn sie genügend Beweise gegen dich hätten, hätten sie dich festgenommen. Ich glaube, es geht gut, wir müssen nur noch ein wenig durchhalten.«

»Wo hast du gelernt, so zu reden? Du redest wie die Leute in diesen halbdokumentarischen Kriminalromanen. Außerdem mache ich mir nicht meinetwegen Sorgen, sondern deinetwegen. Ich mußte heute noch einmal zur Polizei, zusammen mit Nicola war ich dort, aber sie wollten über dich sprechen. Früher hast du immer Eiscreme mit so einer klebrigen Sauce und Nüssen darüber gegessen«, fügte er hinzu, als die Kellnerin sich näherte. »Möchtest du das jetzt auch?«

»Nur Kaffee.« Emanuel bestellte bei der Kellnerin. »Hör mal, Emanuel, ich erzähle es dir, obwohl ich offiziell noch gar nichts davon weiß, und du sollst eigentlich auch nichts davon wissen, also laß dir gegenüber der Polizei oder Nicola nichts anmerken. Sie haben einen anonymen Brief bekommen, in dem ich beschuldigt werde. Ich soll sie ermordet haben, weil ich meine Arbeit über Henry James bei ihr abgeschrieben haben soll und weil ich dich liebe und eifersüchtig auf Nicola bin. Die Polizei muß dem nachgehen. Würde sich nämlich am Ende herausstellen, daß ich es getan habe, dann stünde sie ganz schön dumm da, wenn sie die Spur nicht verfolgt hätte. Und um die Wahrheit zu sagen: Ich bin ganz gut geeignet als Verdächtige.«

»Das alles ist nur passiert, weil du versucht hast, mir zu helfen.«

»Das alles ist passiert, weil ich dir das Mädchen geschickt habe, das dann ermordet wurde. Mir geht die Frage durch den Kopf, Emanuel: Warum hat sie mich nach einem Psychiater gefragt? Der Gedanke läßt mich nicht los, daß das etwas zu bedeuten hatte.«

»Darüber habe ich immer wieder nachgedacht. Aber irgendwen mußte sie schließlich fragen. Du würdest dich wundern, mit welcher Hingabe sich die Leute der Suche nach dem richtigen Psychiater widmen – ohne sich darum zu kümmern, ob er auch qualifiziert ist, einen Doktortitel hat oder sonst etwas. Sich von einem intelligenten Menschen mit einer gewissen Bildung einen Psychiater empfehlen zu lassen, ist nicht die schlechteste Methode, einen zu finden.«

»Aber du glaubst, alles dies wäre nicht passiert, wenn du nicht auf dem Merritt Parkway rückwärts gefahren wärst, oder?«

»Unsinn. Das einzige, was ein Psychiater sicher weiß, ist, daß Dinge nicht einfach ›passieren‹.«

»Ach ja, das hatte ich vergessen. Wenn du dir ein Bein brichst, dann bedeutet das, du hast es irgendwie gewollt, tief in deinem Innern.«

»Was mir Sorgen macht, Kate: Die Fragen, die mir der Kriminalbeamte gestellt hat, haben mich so verwirrt, daß ich mehr geredet habe als bisher. In bezug auf meine Patienten bin ich ziemlich verschwiegen, aber was dich betrifft, so war ich es zu wenig. Ich habe versucht, ihnen unsere Beziehung zu erklären. Ich habe ihnen gesagt, wenn sie die Meinung eines Psychiaters hören wollten, so seist du zu einem Mord gar nicht fähig und auch nicht fähig, einen Artikel über Henry James zu plagiieren. Jetzt geht mir auf, wohl um einiges zu spät, daß sie wahrscheinlich die Vehemenz als Leidenschaft für einen Menschen mißverstanden haben und nun zu dem Schluß gekommen sind, wir hätten die Sache gemeinsam geplant.«

»Und wenn sie uns jetzt hier beobachten, dann ist das für sie die Bestätigung, daß wir gerade unsere nächsten Schritte planen.«

Emanuel sah sie entsetzt an. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wollte doch nur…«

»Es war nur ein Scherz, Emanuel. Als ich hörte, daß man nun auch mich beschuldigte, war ich geschockt und in Panik wie ein kleines Kind, das seine Eltern in der Menge verloren hat. Aber das Gefühl habe ich jetzt nicht mehr. Ich habe es nicht getan, und die Verdachtsmomente, die gegen mich sprechen, sind Unsinn. Ehrlich gesagt glaube ich, wir nähern uns langsam dem Ende des Schreckens. Ich habe das Gefühl, der Kreis schließt sich. Aber ich möchte jetzt nichts mehr sagen, für den Fall, daß es nicht klappt.«

»Kate. Bring dich nicht in Schwierigkeiten.«

»Zumindest weißt du, daß, falls mir das passiert, mein Inneres, meine Psyche es so gewollt hat. Noch ein Scherz. Versuch zu lächeln.«

»Nicola fängt an, die Anspannung zu spüren. Eine Zeitlang hat ihr natürlicher Überschwang sie über Wasser gehalten, aber jetzt beginnt sie zu versinken. Und meine Patienten fangen an, sich Fragen zu stellen. Wenn ich es nicht getan habe, dann scheint es doch merkwürdig, daß sie den Täter nicht finden. Ich habe Angst, echte Angst, wie ein kleiner Junge. Warum können sie sich nicht anderswo umsehen? Warum kreisen sie immer nur um uns?«

»Die Polizei hat dich, beziehungsweise dich und Nicola, beziehungsweise dich und mich, und das ist die Konstellation, für die sie nun Beweise sammeln. Für sie ist die Tatsache, daß es auf deiner Couch passiert ist, ein nettes, schlichtes, unanfechtbares Faktum. Du kannst von ihnen nicht erwarten, daß sie nach Beweisen dafür suchen, daß ihre Theorie falsch ist. Aber wenn wir ihnen den Beweis direkt unter die Nase halten, dann müssen sie sich ihn auch ansehen. Das ist es, worauf ich aus bin, so verwegen und so verschwommen das klingen mag. Statt dir Sorgen zu machen: Warum versuchst du nicht, dich an alles zu erinnern, was Janet Harrison gesagt hat?«

»Freud war an Wortspielen interessiert.«

»War er das? Ich habe immer die Einschätzung geteilt, daß sie die niedrigste Form des Witzes sind. Ich erinnere mich, daß ich einmal als Kind ›Ich bin durstig‹ sagte, und so ein ekelhafter Freund meines Vaters darauf antwortete: ›Ich bin Joe.‹ Oder ist das gar kein Wortspiel?«

»Janet Harrison hatte zweimal einen verwirrenden Traum über einen Mann, der Anwalt war.«

»Ein Anwalt. Das einzige, was wir in diesem Fall nicht haben, ist ein Anwalt. Hatte sie keine anderen Träume? Vielleicht ist es der Anwalt, der ihr Testament aufgesetzt hat…«

»Du siehst, der Zensor ist sogar an der Arbeit, wenn du träumst. Ein Gedanke darf nicht allzu verwirrend sein, weil du sonst vielleicht davon aufwachst oder weil dein Unterbewußtsein ihn nicht durchließe.«

»Ach ja, das berühmte Beispiel mit den Brooks-Brüdern und dem schrecklichen Anzug, nicht wahr? Tut mir leid, sprich weiter.«

»Wir machen Wortspiele in unseren Träumen, aber auch, wenn wir wach sind. Manchmal sogar in verschiedenen Sprachen.«

»Das klingt nach Joyce.«

»Sehr nach Joyce. Der hat das alles ganz genau verstanden. Ich frage mich, ob Janet Harrison nicht solche Assoziationen in ihren Träumen erlebt hat, nicht in einer anderen Sprache, sondern in der gleichen, aber Lichtjahre entfernt. Wie nennt man in England einen Anwalt?«

»Bei uns heißt er lawyer, im britischen Rechtssystem gibt es den solicitor und den… Emanuel! den barrister.«

»Barrister. Natürlich braucht sie seinen Namen auch nur drüben auf der anderen Seite des Ganges gesehen zu haben. Als Beweis für die Polizei ist das ohne jeden Wert, und für einen Psychiater bringt es auch nicht viel, zumindest für sich gesehen. Er mag nur wie ihr Vater ausgesehen haben oder wie jemand anders, den sie kannte. Träume sind oft sehr verwickelt, und direkte lineare Beziehungen gibt es nicht oft…«

»Ich glaube, sie kannte ihn. Ich bin sicher, und das werde ich in Kürze auch beweisen. Emanuel, ich liebe dich. Hoffentlich hört mich kein Polizist.«

»Du bist dir bewußt, daß auch der Name Messenger eine ganze Menge Möglichkeiten enthält, um…«

»Was für Gefühle brachte sie dem Anwalt in ihren Träumen entgegen?«

»Ich habe in meinen Notizen nachgesehen. In der Hauptsache Angst. Angst, und dazu Haß.«

»Keine Liebe?«

»Die ist im Traum sehr schwer vom Haß zu unterscheiden – häufig auch im Leben. Aber wenn wir gerade von Patienten und ihren Träumen sprechen – ich muß zurück zu meiner nächsten Sitzung.«

»Von Cary Grant hat sie nie geredet, oder?«

»Nein. Kate, du bist vorsichtig, ja?«

»Psychiater sind so unlogisch. Sie erzählen einem, daß nichts aus Zufall geschieht, und dann sagen sie, man soll vorsichtig sein. Nein, du brauchst mich nicht nach Hause zu fahren. Du verspätest dich dadurch nur, und Gott weiß, was das für einen lauernden Detektiv wieder für eine Bedeutung hat.«

An diesem Tag klingelte das Telefon immer, wenn Kate gerade ein Zimmer betrat. Das Läuten, das ihr aus der Wohnung entgegenschallte, hatte den zornigen Klang, der auf häufige Wiederholungen schließen ließ.

»Miss Kate Fansler, bitte.«

»Am Apparat.«

»Sie werden aus Chicago verlangt. Einen Augenblick, bitte. Jetzt bitte sprechen. Ihr Teilnehmer.«

»Also, ich habe mit ihm gesprochen«, sagte Jerry, »aber ich fürchte, wir haben dein Geld zum Fenster hinausgeworfen; meine Zeit ist nicht viel wert. Mein Eindruck ist, was immer der wert ist, daß er es nicht war. Und seine Meinung ist, was immer die wiederum wert ist, daß es Barrister nicht gewesen ist. Unsere Unterhaltung wimmelte von literarischen Anspielungen – was er deinem Einfluß zuschrieb –, vielleicht stimmt das ja, was man über… Von wem stammt ›greetings where no kindness is‹?«

»Von Wordsworth.«

»Kate, du solltest mal an so einem Quiz teilnehmen.«

»Geht nicht. Sie wollten, daß ich mit dem Quizmaster halbe-halbe mache und da habe ich abgelehnt.«

»Soll ich dir erzählen, was er gesagt hat? Es ist schließlich dein Geld.«

»Nein, erzähl es mir nicht – schreib es auf. Jede Kleinigkeit, an die du dich erinnerst. Irgendwo und irgendwie gibt es den Tropfen, der das Faß zum Überlaufen und uns auf die richtige Spur bringt, und vielleicht bist du in deinem Gespräch darauf gestoßen. Gut, ich gebe zu, es ist nicht sehr wahrscheinlich. Aber wie du so schön gesagt hast: Es ist mein Geld, und deine Zeit ist nicht so viel wert. Schreib alles auf.«

»Auf kleine Hotel-Briefbögen?«

»Jerry, du darfst nicht den Mut verlieren. Was hast du erwartet? Daß Messenger die Tür abschließt und dir mit flackernden Augen erzählt, er hätte Janet aus der Ferne mittels einer geheimen Strahlenpistole umgebracht, die er gerade entwickelt habe? Wir werden die Antwort finden, die uns diesen Fall löst, aber ich glaube, sie wird anfangs nur als kleine Wolke am Himmel erscheinen, gerade faustgroß. Halte euer Gespräch fest – leih dir eine Schreibmaschine, such dir über einen Verleih eine Stenotypistin, kritzel es auf einen Hotel-Briefbogen und kopier es dann – mir ist das egal. Aber komm mit dem nächsten Flugzeug, das du erwischen kannst, wieder zurück. Wir sehen uns morgen früh.«

Barrister hatte Janet Harrison gekannt – davon war Kate jetzt überzeugt. Daß seine Praxis der von Emanuel direkt gegenüberlag, mochte ein ganz besonders verrückter Zufall sein, aber kein Zufall war es, daß er früher den Mann kannte, dem Janet Harrison ihr Geld hinterlassen hatte. Und es konnte auch kein Zufall sein, daß man ihn mit Janet Harrison in einem Restaurant gesehen hatte (Kate war sich sicher, daß er das war). Schließlich konnte es kein Zufall sein, daß Janet Harrison in ihren Träumen so raffinierte Assoziationen produziert hatte – auch wenn sie sich nicht darum reißen würde, Reed oder gar ein Gericht davon überzeugen zu müssen.

Hatten sie sich in New York kennengelernt? Gewiß gab es keinerlei Hinweise, die das belegten, aber es war doch ziemlich sicher. Wahrscheinlich hatte Barrister einmal Messenger erwähnt und nicht geahnt, daß Janet Harrison sich zu dieser phantastischen Geste hinreißen lassen und zu seinen Gunsten ein Testament machen würde. Kate konnte sich nicht erinnern, woher Barrister stammte, aber sie war sich ziemlich sicher, daß es nicht Michigan war – und plötzlich begann etwas in Kates Hinterkopf zu rumoren. Ein kleines irritierendes Geräusch wie das Kratzen einer Maus hinter der Wandtäfelung.

Aber was es auch war, es ließ sich nicht fassen. Doch halt – wenn Janet Barrister in New York kennengelernt hatte, dann mußte das sehr bald nach seiner Ankunft gewesen sein, denn das Foto in ihrer Tasche zeigte einen jüngeren Mann. Vielleicht war es auch nur das einzige Foto, das Barrister von sich hatte – vielleicht hatte sie es ihm gestohlen. Aber warum hatte sie es so sorgfältig in ihrem Führerschein verborgen? Also, angenommen, sie hatte es gestohlen. Ich darf mich nicht im Kreis drehen, dachte Kate und war schon dabei. Bleiben wir bei der einzigen Sache, die feststeht – fest genug, jedenfalls für mich: Barrister hat Janet Harrison gekannt. Natürlich mußten sie ihn diesem Sabbel-Mädchen gegenüberstellen, aber für sie, Kate, stand fest, was dabei herauskommen würde.

Kate bereitete sich ihr Abendessen und wartete auf Reeds Anruf. Zweifellos würde er betonen, daß Kate als Detektivin eine exzellente Literaturkritikerin war. Wenn Reed auch stets zu höflich gewesen war, so etwas zu sagen, jedenfalls nicht ausführlich, so wußte Kate doch, daß er Literaturkritiker für Menschen hielt, die in ziemlich dünner Luft einherschwebten, weit über den irdischen Dingen. Intellektuelle eben, würde er wahrscheinlich sagen… Und wieder machte sich die Maus hinter der Wandverkleidung bemerkbar. Es war genau das gleiche Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie – ja, an was? – gedacht hatte. Richtig, woher Barrister stammte.

Was hatte er geantwortet, damals, in Nicolas Wohnung, als Kate ihn gefragt hatte: »Sind Sie nicht aus New York?« Und er hatte mit den Worten irgendeines intellektuellen Kritikers gesagt: Er sei ein junger Kerl aus der Provinz. Mit den Worten eines bestimmten hochgestochenen Kritikers, der über eine bestimmte Art von Romanen redete. Dieser hochgestochene Kritiker hatte einen Namen: Trilling. Aber wußte Barrister das? Las Barrister die ›Partisan Reviews‹ kannte er seine Essay-Sammlung mit dem Titel ›The Opposing Self‹? Unmöglich war es nicht – aber der Ton, in dem er es gesagt hatte, hatte etwas Verächtliches gegenüber diesen Dingen gehabt. Wo hatte er Trillings Satz über eine bestimmte Art von Literatur aufgeschnappt?

Er hatte ihn von ihr, von Kate Fansler, und zwar über den Umweg via Janet Harrison, eine von Kates Studentinnen. Daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Das war zwar wieder nicht die Art von Beweis, die so überzeugend war, daß irgendein Polizist davon offiziell Notiz nahm, aber für Kate stand es fest. Janet Harrison hatte diesen Satz von Kate gehört, er hatte sie beeindruckt, und so hatte sie ihn Barrister gegenüber wiederholt. Das bedeutete nicht nur, daß Barrister Janet Harrison gekannt hatte, sondern auch, daß er mit ihr (wahrscheinlich) zu der Zeit zusammen war, als sie bei Kate Vorlesungen hörte. War Barrister also ein junger Mann aus der Provinz? Für den war es bezeichnend, zumindest in der Literatur, daß es mit ihm oder mit dem Menschen, zu dem er in eine engere Beziehung trat, »ein böses Ende nahm« – ein englischer Freund von Kate hatte das einmal so ausgedrückt. Ein junger Mann aus der Provinz, in der Tat!

Als Reed anrief, war Kate vorbereitet.

»Ich habe dir ein paar Dinge zu erzählen«, sagte Reed. »In ein paar Stunden könnte ich bei dir vorbeikommen. Ist dir das zu spät?«

»Nein. Nur, Reed, bereite dich lieber gleich darauf vor – ich bin jedenfalls von einer Sache fest überzeugt. Und du mußt nicht gleich in schallendes Gelächter ausbrechen. Barrister hat Janet Harrison gekannt.«

»Ich lache gar nicht«, sagte Reed. »Das ist einer der Gründe, warum ich vorbeikommen will. Er hat es gerade zugegeben.«