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Reed Amhurst war stellvertretender Bezirksstaatsanwalt, doch Kate hatte nie begriffen, welche Aufgaben und Funktionen sich hinter diesem Titel verbargen. Offensichtlich saß er oft in Gerichtsverhandlungen und fand seine Arbeit aufregend und aufreibend. Er und Kate waren einander vor Jahren über den Weg gelaufen, während der kurzen Spanne, in der Kate politische Aktivitäten entwickelt und in einem politischen Zirkel für Reformprogramme mitgearbeitet hatte. Für Reed war Politik ein Dauerthema gewesen, aber nachdem Kate sich nach ihrem ersten und einzigen Vorwahlen-Einsatz erschöpft zurückgezogen hatte, trafen Reed und sie sich weiterhin, eher freundschaftlich. Sie gingen gemeinsam zum Dinner oder von Zeit zu Zeit ins Theater, und es gab vieles, worüber sie gemeinsam lachen konnten. Wenn einer von ihnen einmal für einen gesellschaftlichen Anlaß einen Partner brauchte und deswegen nicht gleich in eine Beziehungsgeschichte stolpern wollte, dann ging Kate eben mit Reed oder umgekehrt. Da beide nicht verheiratet waren, und da keiner von ihnen auch nur einen Moment lang auf die einfach unerhörte Idee kam, sie könnten einander heiraten, wurde ihre lockere Bekanntschaft eine feste Einrichtung in ihren sonst durchaus unterschiedlichen Gesellschaftsaktivitäten.

So hätten sie womöglich in alle Ewigkeit weitergemacht, bis sie am Ende tatterig und gelegentlich gemeinsam in das gesegnete Alter gekommen wären, wenn Reed sich nicht durch eine Serie von impulsiven Handlungen und Fehleinschätzungen einmal tief in die Tinte gesetzt hätte. Die Einzelheiten hatte Kate längst vergessen, und sie war auch der Meinung, daß die Fähigkeit, zu vergessen, zu den wichtigsten Voraussetzungen einer Freundschaft gehörten, aber keiner von beiden konnte vergessen, daß es Kate gewesen war, die ihn aus dem Schlamassel wieder herausgeholt, ihn kurz vor der Katastrophe gerettet hatte. Dadurch stand er nun für immer in ihrer Schuld, und Reed war nett genug, Hilfe anzunehmen, ohne sie dem Helfenden zum Vorwurf zu machen. Einen Gegendienst zu erbitten, war für Kate eine gräßliche Vorstellung, und wenn sie ihn jetzt anrief, dann tat sie das dennoch genau mit dem Hintergedanken, wie sie sich eingestehen mußte. Deshalb brütete sie am nächsten Morgen, trotz ihrer Vorsätze tags zuvor, volle zwei Stunden darüber, ehe sie endlich zum Hörer griff. Auf der anderen Seite, und ebenso unabweisbar war die Notwendigkeit, Emanuel zu helfen. Niemand, davon war Kate überzeugt, konnte Emanuel helfen, solange er nicht ihren Glauben an Emanuels Unschuld verband mit dem Wissen der Polizei. Der einzige mögliche Weg, an diese Informationen heranzukommen, schien über Reed zu führen. Sie verfluchte ihr Gewissen, weil es in solchen Fragen, die vernünftigere Menschen glatt ignorierten, zu empfindlich reagierte, und sie verfluchte Reed, weil er einmal auf ihre Hilfe angewiesen war. Nach zwei Aspirin-Tabletten, acht Tassen Kaffee und ausgedehnten Märschen durch ihr Wohnzimmer, beschloß sie, ihn um Hilfe zu bitten. Wenigstens war es ein Donnerstag, also ein vorlesungsfreier Tag. Sehnsüchtig dachte sie an ihren unschuldigen Dienstagmorgen im Büchermagazin – würde sie jemals zu Thomas Carlyle zurückkehren, den sie mitten in einem seiner früheren Redeschlüsse im Stich gelassen hatte? –, während sie den Telefonhörer abhob.

Sie erwischte Reed gerade auf dem Sprung zu einem dringenden Termin. Natürlich hatte er von der »Leiche auf der Couch« gehört, wie der Fall bei ihnen offenbar hieß (Kate unterdrückte ein Stöhnen). Als er begriff, was sie von ihm wollte – immerhin das komplette Dossier (falls sie diesen Ausdruck gebrauchten) über den Fall –, verfiel er für rund zwanzig Sekunden in tiefes Schweigen; ihr kam es vor wie eine Stunde. »Ein guter Freund von dir?« fragte er.

»Ja«, antwortete Kate, »und in der denkbar scheußlichsten Klemme«, und verwünschte sich dann selbst, weil es so schien, als erinnere sie ihn an seine »Schuld«. Aber zum Teufel, dachte sie, dann erinnere ich ihn eben; es hat keinen Sinn, darum herumzureden.

»Ich tue, was ich kann«, sagte er. (Offensichtlich war er nicht allein.) »Es paßt heute zwar schlecht, aber ich sehe mir die Sache an und rufe dich gegen halb acht bei dir zu Hause an. Reicht das?« Schließlich, dachte Kate, muß er auch noch seinen Lebensunterhalt verdienen. Hast du denn erwartet, er läßt alles stehen und liegen und stürzt her, sobald er den Hörer wieder aufgelegt hat? Wahrscheinlich kostet ihn das Ganze sowieso ziemlich viel Mühe.

»Ich werde auf dich warten, Reed, tausend Dank.« Sie hängte ein. Zum ersten Mal seit Jahren stand Kate da und hatte nichts zu tun, aber es war nicht dieses vergnügliche Nichtstun, bei dem man sich sagt: Ehe ich mir noch so eine Seminararbeit antue und krank werde, schleiche ich mich lieber auf leisen Sohlen davon und ins Kino; das hier war eher die schrecklichere Variante des Nichtstuns, die manche Menschen (Kate hörte es stets mit einem Schaudern) als »Zeittotschlagen« bezeichneten. Sie selbst kannte so etwas nicht, denn ihr Leben war so angefüllt von verschiedenen Aktivitäten, daß freie Zeit ihr als Segen und nicht etwa als Last erschien. Doch jetzt sah sie sich plötzlich vor dem Problem, was um alles in der Welt sie bis halb acht unternehmen sollte. Edel bekämpfte sie den Drang, Emanuel und Nicola anzurufen; am besten wartete sie, bis sie etwas Aufbauendes zu sagen hatte. An Arbeit war nicht zu denken – sie stellte fest, daß sie weder die nächste Vorlesung vorbereiten noch Arbeiten korrigieren konnte. Nach einigem ziellosen Hin- und Hergewandere in ihrer Wohnung – wobei sie völlig unbegründet das Gefühl hatte, sie müsse eine Festung halten und dürfe diese auf gar keinen Fall verlassen – griff sie zu dem Mittel, das ihre Mutter immer gebraucht hatte, wenn sie unter Anspannung stand – damals, als Kate noch ein Kind war: Sie räumte Schränke auf.

Diese Aufgabe, die harte, schmutzige Arbeit und erstaunliche Entdeckungen miteinander verband, gab ihr bis zwei Uhr zu tun. Erschöpft mußte sie den Flurschrank in seinem Staub und mit seinem seltsamen Innenleben stehen lassen und fiel in einen Sessel, Freuds ›Studien über Hysterie‹ auf den Knien, die ein Weihnachtsgeschenk von Nicola gewesen waren. Das war eine Reihe Jahre her. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, aber ein Satz fiel ihr ins Auge, eine Bemerkung Freuds gegenüber einer Patientin: »Viel ist erreicht, wenn es uns gelingt, Ihre hysterische Not in ein normales Unglücklichsein zu transformieren.« Sie wünschte, sie hätte den Satz für Emanuel parat gehabt, als beide noch frei und ohne bestimmten Zweck über Freud hatten diskutieren können. Kein Wunder, daß sie so eine schwere Aufgabe zu bewältigen hatten, diese modernen Psychoanalytiker: Selten genug begegneten sie einer wirklich hysterischen Not und mußten sich statt dessen mit gewöhnlichem Unglücklichsein befassen, für das es, wie Freud offensichtlich wußte, keine klinische Heilung gibt. Ihr wurde klar, daß es jetzt ihr Ziel war, Emanuel aus der Katastrophe, die sich da anzukündigen schien, dem normalen Unglücklichsein zurückzugewinnen. Ein beunruhigender Gedanke, der sie in müßige Tagträume verfallen ließ.

Wie der Rest des Nachmittags verging, konnte sie später nicht mehr sagen. Sie brachte die Wohnung in Ordnung, ging unter die Dusche – und legte währenddessen mit Schuldgefühlen den Hörer neben das Telefon, so daß ein möglicher Anrufer (Nicola, Reed, die Polizei?) das Besetztzeichen hören und noch einmal wählen würde – bestellte ein paar Dinge zu essen, falls Reed Hunger haben sollte, und dann marschierte sie wieder auf und ab. Ein paar Telefongespräche mit Leuten, die kein Wort über den Mord verloren und damit auch nichts zu tun hatten, waren eine große Hilfe…

Reed kam um fünf nach halb acht. Kate mußte sich zurückhalten, ihn nicht wie den lange vermißten Erben aus Übersee zu begrüßen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und akzeptierte dankbar den angebotenen Scotch mit Soda. »Ich nehme an, du glaubst nicht, daß es der Psychiater war?«

»Natürlich war er es nicht«, sagte Kate. »Das ist eine absurde Vorstellung.«

»Die Vorstellung, meine Liebe, daß einer deiner Freunde einen Mord begangen haben könnte, mag absurd sein. Ich bin der erste, der das zugesteht oder deinem Wort in jedem Fall glaubt. Aber für die Polizei, die ja netterweise ganz ohne jedes persönliche Vorurteil an die Sache herangeht, sieht er so schuldig aus, wie nur möglich. Ja, ja, fang noch nicht an, mit mir zu streiten, ich nenne dir erst einmal die Tatsachen, und dann kannst du mir erzählen, was für ein reizender Mensch er ist und wer der wahre Verbrecher ist, so es ihn gibt.«

»Reed! Besteht die Möglichkeit, daß sie es selbst getan haben könnte?«

»Eigentlich nicht, wenn ich auch zugeben will, daß ein guter Verteidiger vor Gericht aus dieser Vorstellung etwas machen könnte, und sei es nur, um die Geschworenen konfus zu machen. Wer sich ein Messer tief ins Innere sticht, der tut das nicht von unten nach oben, und ganz bestimmt tut er es nicht auf dem Rücken liegend; er wirft sich in die Klinge hinein, wie Dido. Und wenn er sich ein Messer in den Leib rennt, dann entblößt er die Stelle seines Körpers – frag mich nicht, warum, so machen sie es eben, jedenfalls steht es so in den schlauen Büchern –, und, ein weniger anfechtbarer Punkt, es bleiben unvermeidlicherweise Fingerabdrücke immer zurück.«

»Vielleicht hatte sie Handschuhe an.«

»Dann muß sie sie ausgezogen haben, nachdem sie tot war. «

»Vielleicht hat jemand anders sie ihr ausgezogen.«

»Meine liebe Kate, ich mache dir besser erst einmal einen Drink. Vielleicht solltest du auch gleich mehrere Beruhigungsmittel nehmen. Es heißt, Alkohol hebe ihre Wirkung wieder auf. Halten wir uns einen Moment lang an die Fakten?« Kate holte sich einen Drink und eine Zigarette, verzichtete aber auf das Beruhigungsmittel und nickte gehorsam. »Gut. Sie wurde ermordet zwischen zehn vor elf, als der Zehn-Uhr-Patient ging, und zwölf Uhr fünfunddreißig, als sie von Mrs. Bauer entdeckt wurde, und dies wiederum beobachteten, mehr oder weniger, Mr. Michael Barrister, Pandora Jackson und Frederick Sparks, der Zwölf-Uhr-Patient. Der Gerichtsmediziner konnte den Todeszeitpunkt noch nicht genauer feststellen – sie schätzen immer in einer Zeitspanne von zwei Stunden –, aber er hat gesagt, wenn auch absolut inoffiziell, und das bedeutet, vor Gericht wird er das nicht bestätigen, daß sie wahrscheinlich schon seit einer Stunde tot war, als sie gefunden wurde. Es gab keine äußeren Blutungen, weil das Heft des Messers ihre Kleidung in die Einstichwunde hineingedrückt und verhindert hatte, daß Blut austrat. Das ist Pech, denn ein blutbefleckter Verbrecher mit blutbespritzten Kleidern ist schließlich leichter zu finden.« Reeds Stimme klang ganz neutral und unbewegt, wie die Stimme eines Stenographen, der aus seinen Notizen vorlas. Kate war ihm dafür dankbar.

»Sie ist mit einem langen, schmalen Tranchiermesser aus der Küche der Bauers umgebracht worden«, fuhr er fort, »es gehört zu einem Satz, der in einem hölzernen Gestell an der Wand hängt. Die Bauers leugnen nicht, daß ihnen das Messer gehört. Es hätte auch gar keinen Zweck, denn die Fingerabdrücke von ihnen beiden sind darauf.« Kate seufzte unwillkürlich. Reed unterbrach sich und sah sie an. »Wie ich sehe«, sagte er mit gezwungenem Lächeln, »ist deine Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Qualitäten von Beweismitteln zu unterscheiden, nicht sehr entwickelt. Das hier ist für sie das Hauptbeweismittel. Nachdem heutzutage aber jedes Kind über Fingerabdrücke Bescheid weiß, ist zu erwarten, daß jeder, wenn er ein Messer als Waffe benutzt, auch soviel Hirn hat, die Abdrücke wegzuwischen. Natürlich könnte ein gewiefter Psychiater schlau genug sein, sich auszurechnen, daß die Polizei genauso denken würde. Unterbrich mich nicht. Dr. Bauer und seine Frau sagen, die Fingerabdrücke seien am Abend zuvor darauf gekommen, als sie einen kleinen Streit darüber gehabt hätten, wie man am besten einen Braten in Alufolie aufschneidet, und beide es versucht hätten. Da sie zu den Leuten gehören, die sich auskennen, tauchen sie ein Messer nicht ins Wasser, sondern wischen die Klinge mit einem feuchten Lappen ab und danach mit einem trockenen. Die Fingerabdrücke sind also, wenn sie überhaupt eine Bedeutung haben, ein Beweis zu ihren Gunsten, da sie zum Teil verwischt sind, so, als hätte jemand das Messer mit Handschuhen angefaßt. Aber das ist eine Annahme ohne Beweiskraft.«

Reed holte tief Luft. »Jetzt kommen wir zum vernichtenderen Teil. Sie wurde im Liegen erstochen, wenn man dem Bericht des Mediziners folgt, und zwar von jemandem, der sich vom Kopfende der Couch her über sie gebeugt und das Messer zwischen ihren Rippen hochgestoßen hat. Das muß also, nebenbei bemerkt, jemand gewesen sein, der recht genau in der Anatomie Bescheid weiß, id est ein Arzt. Aber auch damit befinden wir uns wieder auf schwankendem Boden. Dieser von hinten angesetzte und dann nach oben geführte Stich wurde (wenn auch nicht bei liegenden Opfern) im Zweiten Weltkrieg in Frankreich und auch anderswo allen Einheimischen der Resistance beigebracht. Die entscheidende Frage lautet: Wer hat das Mädchen dazu gebracht, sich hinzulegen? Wer kann sich hinter sie gestellt haben? Wer könnte sie schließlich erstochen haben, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt eine Gegenwehr, gleich welcher Art, auszulösen? Du kannst dir vorstellen, daß die Polizei sich sagt: ›Wo sitzt ein Psychoanalytiker? Auf einem Stuhl hinter dem Kopfende des Patienten.‹ Fragt also der Kriminalbeamte: ›Warum sitzt der Psychoanalytiker an dieser Stelle, Dr. Bauer?‹ Darauf Dr. Bauer: ›Damit der Patient den Doktor nicht sieht.‹ Kriminalbeamter: ›Warum soll der Patient den Doktor nicht sehen?‹ Dr. Bauer: ›Das ist eine sehr interessante Frage, auf die mehrere Antworten möglich sind, zum Beispiel, daß das dem Patienten hilft, die Anonymität des Doktors zu wahren, und daß so die Möglichkeiten für eine Übertragung verbessert werden. Aber der wirkliche Grund scheint zu sein, daß Freud diese Position eingeführt hat, weil er nicht ertragen konnte, von seinen Patienten den ganzen Tag lang angesehen zu werden.‹ Kriminalbeamter: ›Liegen alle Ihre Patienten auf der Couch?‹ Dr. Bauer: ›Nur die, die bei mir eine Analyse machen. Patienten, die in Therapie sind, sitzen auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs.‹ Kriminalbeamter: ›Sitzen Sie hinter ihnen?‹ Dr. Bauer: ›Nein.‹ Das Schulterzucken des Kriminalbeamten ist hier nicht verzeichnet.«

»Reed, meinst du, daß die Polizei ihren ganzen Verdacht auf die Tatsache stützt, daß niemand anders hätte hinter sie treten können, während sie auf der Couch lag?«

»Nicht ausschließlich, aber es ist auf jeden Fall ein heikler Punkt. Falls Dr. Bauer nicht da war, warum legte sie sich dann überhaupt auf die Couch? Nehmen wir einmal an, sie ging in das Zimmer und legte sich hin, als niemand sonst da war – und Dr. Bauer hat dem Kriminalbeamten versichert, kein Patient würde so etwas von sich aus tun, sie warten vielmehr draußen, bis ihr Analytiker sie hereinruft –, würde sie denn liegen geblieben sein, wenn ein anderer als der Analytiker hereingekommen wäre, sich hinter sie gesetzt und sich dann mit dem Messer über sie gebeugt hätte?«

»Mal angenommen, sie hat das Messer nicht gesehen, als er sich über sie beugte.«

»Selbst dann bleibt die Frage: Warum legte sie sich auf die Couch, wenn der Analytiker nicht da war? Warum legen sich Frauen auf eine Couch? In Ordnung, drauf brauchst du nicht zu antworten.«

»Augenblick mal, Reed. Vielleicht wollte sie ein Nickerchen machen.«

»Nun mach mal einen Punkt, Kate.«

»Gut, aber nehmen wir einmal an, sie hatte eine Affäre mit einem der Patienten vor oder nach ihr – wir wissen ja so gut wie nichts über die –, und sie oder einer von denen, ja sagen wir, dieser andere Patient sorgte dafür, daß Emanuel aus der Praxis verschwand, damit er und das Mädchen sich auf der Couch lieben konnten. Jedenfalls brauchte der Zehn-Uhr-Patient einfach nur dazubleiben, und der Zwölf-Uhr-Patient ist ja ziemlich früh gekommen…«

»Die beiden telefonischen Absagen fanden während der Sitzung mit dem Zehn-Uhr-Patienten statt, er konnte sie also kaum selber gemacht haben.«

»Genau. Er hat jemanden beauftragt, für ihn anzurufen. Das verschaffte ihm ein Alibi, und weil er zu der Zeit selber vor Ort war, konnte er sich davon überzeugen, daß die Anrufe ankamen oder daß wenigstens ein paar Anrufe ankamen.«

»Aber warum hat er dann für den Zwölf-Uhr-Patienten absagen lassen, diesen selbst aber nicht benachrichtigt, daß die Stunde ausfiele? Sicher, vielleicht kannte er seine Telefonnummer nicht. Aber warum wollte er Dr. Bauer los sein, wenn der Zwölf-Uhr-Patient auf alle Fälle erscheinen wird?«

»Für Verliebte ist auch eine Stunde miteinander wie eine Ewigkeit«, sagte Kate mit Grabesstimme. »Übrigens hatte er ja nicht wirklich vor, sie zu lieben; er wollte sie ermorden.«

»Zugegeben: Du hast auf alles eine Antwort. Darf ich dennoch darauf hinweisen, daß du deine ganze Geschichte auf reichlich tönerne Füße gestellt hast? Es gibt nicht den geringsten Beweis für irgend etwas, was du behauptet hast, obwohl die Polizei, da bin ich sicher, sich ihre Beweise holen wird, egal woher.«

»Wenn ich dessen nur so sicher wäre, wie du es bist. Auch gegen Emanuel gibt es im Grunde nicht den Fetzen eines Beweises.«

»Kate, Liebes, ich bewundere deine Loyalität gegenüber Emanuel, aber benutze bitte deine außerordentliche Fähigkeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Das Mädchen ist in Emanuels Praxis ermordet worden, mit Emanuels Messer, in einer Lage, die Emanuel jede Möglichkeit eröffnete, das Verbrechen zu begehen. Er kann kein Alibi vorbringen; die Anrufe mit den Absagen der Patienten haben zweifellos stattgefunden, aber er könnte sie, genauso wie jeder andere, gegen Bezahlung bestellt haben. Der Mord geschah, als sonst niemand in der Wohnung war, aber wer, außer Emanuel und seiner Frau, wußte denn, daß niemand in der Wohnung sein würde? Bei all deiner entzückend beflügelten Phantasie – wir wissen nicht, ob das Mädchen einen einzigen Menschen gekannt hat, der in Verbindung zu Emanuels Praxis zu bringen wäre. Tatsächlich ist besonders seltsam an diesem Fall, wie wenig offenbar über dieses Mädchen herauszukriegen ist.«

»War sie Jungfrau?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls hatte sie keine Kinder.«

»Reed! Willst du etwa behaupten, sie können, wenn sie so eine Autopsie machen, nicht feststellen, ob ein Mädchen noch jungfräulich war? Ich dachte, das wäre eines der ersten Dinge, auf die sie achten.«

»Es ist schon erstaunlich, wie lang sich diese Ammenmärchen halten, selbst bei sonst recht intelligenten Menschen. Der Sinn dieser Geschichten ist, nehme ich an, die Mädchen rein und unberührt zu erhalten. Wie kommst du darauf, daß das feststellbar ist? Wenn du an das denkst, was man zu Urgroßmutters Zeiten einfühlsam als ›Jungfernschaft‹ zu umschreiben pflegte, dann muß ich dir leider erklären: Heutzutage ist die Zahl derer, die ihre vom Sport geprägte Mädchenzeit auf die Weise ›intakt‹ überstehen, so winzig, daß die alten Damen von damals nur erröten würden. Davon mal abgesehen, was für Befunde erwartest du? Wenn Spermaspuren gefunden werden, beweißt uns das nur, daß eine Frau sexuelle Beziehungen hatte; weist ihr Körper Quetschungen oder Kratzspuren auf, vermuten wir Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung. Natürlich wurde in unserem Fall nichts dergleichen gefunden. Aber ob sie nun noch Jungfrau war oder nicht, das erfährst du besser von Leuten, die sie gekannt haben, falls du sie findest.«

»Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Schock wie diesen erlebt zu haben. Die Welt, wie ich sie bisher gekannt habe, geht unter.«

»Dein Freund Emanuel kann dir wahrscheinlich auch sagen, ob sie sexuelle Beziehungen hatte, das heißt, wenn du ihn dazu bringen kannst, dir überhaupt etwas von ihr zu erzählen.«

»Da die Polizei Emanuels Charakter gar nicht zur Kenntnis nimmt und davon überzeugt ist, daß er es getan hat, was war ihrer Meinung nach denn sein Motiv?«

»Am Motiv ist die Polizei gar nicht so interessiert; wenn die Beweise stimmen und die Umstände zueinanderpassen, genügt ihr das schon. Natürlich zollen sie auch dem Motiv ihre pflichtgemäße Aufmerksamkeit, und falls einer von diesen beiden Patienten nun plötzlich eine Million Dollar von Janet Harrison erbt, dann spitzen sie schon die Ohren. Aber ein Arzt, der sich mit einer schönen Patientin eingelassen hat und plötzlich beschließt, sie wieder loszuwerden, das ist ihnen schon Motiv genug.«

»Aber sie haben keinen Beweis dafür, daß er sich mit ihr ›eingelassen‹ hat, und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie ihn noch nicht verhaftet haben. Dagegen habe ich jede Menge Beweise, daß er sich mit ihr gar nicht eingelassen haben kann, sie nicht ermordet haben kann, und ganz sicher nicht auf seiner Couch.«

»In Ordnung, ich werde sie mir alle anhören. Aber erst laß mich dir den Rest erzählen. Der Stoß mit dem Messer, der sie getötet hat, wurde mit ziemlicher Kraft geführt, aber mit nicht mehr, als auch eine energische Frau hätte aufbringen können – zum Beispiel du oder Mrs. Bauer. Laß mich ausreden. Die Leiche ist nach dem Stich nicht mehr bewegt worden, aber das habe ich dir bereits erzählt. Keine Hinweise auf einen Kampf. Keine Fingerabdrücke, außer denen, die man erwarten konnte. Das übrige ist lauter technisches Zeug, darunter Fotos, die einem auf den Magen gehen können. Und so kommen wir nun zu dem einzig interessanten Punkt.«

Er sah sie an. »Der Mörder – wir nehmen an, es war der Mörder – hat ihre Handtasche durchwühlt, wahrscheinlich nachdem sie tot war. Er hat Gummihandschuhe getragen, die ihre eigene Art von Abdrücken hinterlassen, in unserem Fall auf dem goldfarbenen Schloß ihrer Handtasche. Man nimmt an, daß er, falls er etwas gefunden hat, dies dann herausgenommen hat. Von den Mädchen, die mit ihr zusammen in dem Studentinnenheim lebten, kannte sie keine besonders gut, aber eine sagte auf Fragen der Polizei, sie hätte bemerkt, daß Janet Harrison immer ein Notizbuch in ihrer Handtasche mit sich trug. Doch das Notizbuch wurde nicht gefunden. Auch scheint sie keine Fotos in der Handtasche oder in der Brieftasche gehabt zu haben, obwohl Frauen doch fast immer Fotos von irgendwem mit sich herumtragen. Das sind alles Vermutungen. Aber es hat ein Foto gegeben, das der Mörder offenbar übersehen hat. In der Brieftasche hatte sie einen Führerschein, ausgestellt von den New Yorker Behörden, nicht die neue feste Karte, sondern ein alter aus Papier, den man zusammenfaltet, und da drinnen steckte ein kleines Foto von einem jungen Mann. Die Polizei bemüht sich natürlich herauszubekommen, um wen es sich dabei handelt; ich werde mir umgehend einen Abzug besorgen und ihn dir zeigen, vielleicht klingelt es ja bei dir. Das Wichtigste an der Sache ist, daß sie das Bild so sorgfältig versteckt hatte. Warum?«

»Es hört sich so an, als hätte sie gefürchtet, jemand könnte ihre Tasche durchsuchen, und sie wollte verhindern, daß man es fand. Manche Menschen sind halt von Natur aus verschlossen.«

»Offenbar war Miß Harrison von natürlicher Verschlossenheit. Es gibt über sie ein paar Informationen von der Universität, aber die sind reichlich dünn. Niemand scheint sie besonders gut gekannt zu haben. Seltsamerweise ist in ihr Zimmer in dem Wohnheim am Abend vor ihrem Tod eingebrochen worden, aber ob das ein Zufall war oder nicht, das bekommen wir vielleicht nie heraus. Offenbar hatte jemand den Schlüssel, hat alles durchwühlt und ist mit einer 3 5-Millimeter-Kamera im Wert von ungefähr siebzig Dollar verschwunden. Eine brandneue tragbare Royal-Schreibmaschine, die viel wertvoller ist, hat er dagelassen. Ob die dem Einbrecher zu auffällig war oder ob er es nur auf Fotoapparate abgesehen hatte, läßt sich nicht feststellen. Alle Schubladen und ihr Schreibtisch waren gründlich durchsucht, aber offenbar wurde sonst nichts mitgenommen. Die Sache wurde dem zuständigen Polizeirevier angezeigt, aber obwohl sie ein gewissenhaftes Protokoll aufgenommen haben, sind diese Fälle ziemlich hoffnungslos. Als sie ermordet wurde, hatte man ihr Zimmer schon wieder in Ordnung gebracht, so daß jede mögliche Spur inzwischen beseitigt ist.

Was man über Janet Harrison weiß, ist erstaunlich dünn, aber wir haben ihre Spur noch nicht bis in ihre Heimat zurückverfolgt. Die Polizei von North Dakota – dorther stammt sie erstaunlicherweise – tut, was sie kann, um mehr herauszubekommen. Das einzige, was uns die Universität erzählen kann, ist, daß sie dreißig Jahre alt war…«

»Tatsächlich}« sagte Kate. »Danach sah sie nicht aus.«

»Offensichtlich nicht. Sie ist amerikanische Staatsbürgerin und hat ein College in einem Ort namens Collins besucht. Die Universität erklärt, daß die Rubrik ›Bei Notfall bitte benachrichtigen‹ nicht ausgefüllt war, und diese Unterlassung ist im Betrieb der Einschreibung unentdeckt geblieben. Das wäre alles, glaube ich«, schloß Reed, »bis auf eine Kleinigkeit, die ich mir aufbewahrt habe, du kennst ja meine Vorliebe für einen dramatischen Schlußpunkt: Nicola Bauer war an dem Morgen, als der Mord geschah, nicht bei ihrem Analytiker. In letzter Minute hat sie ihn angerufen und abgesagt. Die Polizei hat ihren Analytiker eben erst erreicht. Sie behauptet jetzt, daß sie den Vormittag mit einem Spaziergang im Park verbracht hat, nicht rund um den See, sondern in der Nähe von etwas, das sie das alte Schloß nennt. Gewiß verbringen die Leute bemerkenswert viel Zeit damit, unschuldig umherzuwandern, aber daß beide Bauers, jeder für sich, im Central Park unterwegs gewesen sein sollen, während in ihrer Wohnung jemand ermordet wurde, das ist einem Kriminalinspektor nur sehr schwer begreiflich zu machen. Und beim besten Willen, ich kann das auch nicht anders sehen als er.«

Reed stand auf und goß Kate sehr liebevoll einen neuen Drink ein. »Gewöhne dich bitte an den Gedanken, Kate, daß sie es getan haben könnten. Ich sage nicht, daß sie es getan haben. Ich sage nicht, daß ich mich nicht in deine Überzeugung hineinfühlen kann, die dir sagt, sie waren es nicht. Ich helfe, wo immer ich kann. Aber tu mir bitte den Gefallen und laß in deinem Hinterkopf ein wenig Platz für den Gedanken an die Möglichkeit, daß sie schuldig sein könnten. Janet Harrison war ein sehr schönes Mädchen.«