5

 

Kate und Emanuel waren sich begegnet, als beiden ihr Leben schal erschien und die Welt matt und nutzlos, wenn nicht gar aus den Fugen. Der Zufall wollte es, daß sie sich an diesem identischen Punkt in ihrem Leben trafen, als beide sich für eine berufliche Laufbahn entschieden hatten, sich dessen aber noch nicht bewußt waren. Ihre Begegnung war der romantische Augenblick in ihrer beider Leben (wie man ihn aus dem Kino kennt), und obwohl Kate da, wie Emanuel es später ausdrückte, etwas »projiziert« haben mochte – ihr kam es immer so vor, als sei beiden bewußt gewesen, welch dramatischen Charakter ihre Begegnung hatte: Es war ihnen bestimmt, sich zu begegnen, es war ihnen aber auch bestimmt, niemals zu heiraten, ohne sich jemals ganz zu trennen.

Sie waren buchstäblich zusammengestoßen, und zwar an einer Ausfahrt des Merritt Parkway. Kate – und das ließ sie ihn dann auch gleich wissen – verließ den Parkplatz so, wie sich das gehörte. Emanuel aber kam ihr im Rückwärtsgang entgegen, weil er falsch abgebogen war. Es herrschte Dämmerung, und Kates Konzentration war auf das Problem gerichtet, welche Richtung sie einschlagen sollte; Emanuel, noch wütend über seinen Fehler, war vollkommen abgelenkt. Es wurde ein sehr hübscher Zusammenstoß.

Nach dem Austausch einiger Vorwürfe, die bald in Gelächter übergingen, fuhren sie in Emanuels Wagen zu einem Restaurant und riefen von dort aus eine Werkstatt an, die sich um Kates Wagen kümmern sollte. Sie vergaßen beide, daß sie eigentlich anderswo erwartet wurden, Emanuel, weil, wie Nicola später zu sagen pflegte, Vergessen seine Lieblingsbeschäftigung war, und Kate, weil sie nicht wollte, daß ihre Gastgeber kämen, um sie abzuholen. Sie hatte sich nicht »auf den ersten Blick« in ihn verliebt, sie würde nie in Emanuel »verliebt« sein. Aber sie wollte an diesem Abend mit ihm zusammenbleiben.

Als sie jetzt auf dem Weg zu Emanuels Wohnung war, Reeds Ermahnung vom Abend zuvor noch im Ohr, dachte Kate darüber nach, wie schwierig es werden würde, einem Polizisten diese Art von Beziehung zu erklären. Sie ging vom Riverside Drive zu Fuß zur Fifth Avenue in der Hoffnung, daß der Marsch und die frische Luft für einen klaren Kopf sorgen würden, und ihr ging durch den Kopf, wie gerade dies bestimmten Leuten unerklärlich sein würde. Angenommen, in ihrer Wohnung würde jetzt jemand ermordet – was für ein Alibi wäre die schlichte Erklärung, daß sie sich entschlossen hätte, zu Fuß die halbe Stadt zu durchqueren? Zwar stimmte, daß Emanuel und Nicola, deren Alibis ja genauso aussahen, kein Ziel gehabt hatten, sondern von einem unerklärlichen Wandertrieb erfaßt worden waren; und es stimmte auch, daß man in ihre Wohnung nicht so leicht hineinkam; und gar nicht vorstellbar war, daß es jemanden geben sollte, der dort Opfer eines Mordes werden könnte. Blieb noch die Tatsache, daß sie, wie die Bauers, ein Leben führte, das zu begreifen kein Polizist während seiner Ausbildung gelernt hatte.

Der Rückhalt, den sie und Emanuel aneinander in dem Jahr nach ihrer Begegnung fanden, erwuchs aus einer Beziehung, für die sogar die englische Sprache kein treffendes Wort hat. Es war keine Freundschaft, weil sie ein Mann und eine Frau waren, es war keine Liebesaffäre, weil sie sich eher auf geistiger denn auf leidenschaftlicher Ebene trafen. Ihre Beziehung (ein ungenauer und lebloser Begriff) verhalf beiden zu einer günstigeren Sichtweise, unter der sie ihr Leben betrachteten, und sie hatte ihnen eine Zeitlang das Geschenk gemacht, miteinander lachen und heftige Diskussionen führen zu können, deren Vertrauensgrundlage für immer unerschütterlich bleiben würde. Sie hatten eine Zeitlang auch miteinander geschlafen – sie mußten auf niemand anderen als sich selber Rücksicht nehmen –, aber das war nie der Kernpunkt ihres Verhältnisses. Nach diesem ersten Jahr dachten sie an körperliche Liebe genausowenig wie daran, gemeinsam eine Nerzfarm zu eröffnen, doch wer in der Welt, außer einer Handvoll Leuten, hätte das verstanden?

Als sie in Nicolas Zimmer stand, körperlich erschöpft und innerlich entsprechend weniger unruhig, entdeckte Kate, daß Nicolas Gedanken sich in der gleichen Richtung bewegt hatten. Sie hatte nicht an Emanuel und Kate gedacht, sondern daran, wie wenige Menschen es gab, die Moral nicht mit Konvention gleichsetzten.

»Wir haben den Vormittag und den größten Teil des gestrigen Tages mit der Polizei verbracht«, sagte Nicola. »Wir sind jeder einzeln verhört worden und ein wenig gemeinsam, und obwohl sie nicht wirklich offensiv sind, so wie ein Berlitz-Lehrer auch nicht englisch spricht, wenn er einem Französisch beibringt, lassen sie uns doch in tausenderlei Arten merken, daß wir beide Lügner sind, oder zumindest einer von uns, und wenn wir jetzt zusammenbrächen und alles zugeben würden, dann würden wir unsere Würde bewahren und ihnen unendlich viel Ärger ersparen. Natürlich ist Emanuel trotzig geworden und hat sich geweigert, ihnen irgend etwas über Janet Harrison zu erzählen. Er behauptet, daß er das nicht einmal aus der edlen Gesinnung heraus tut, ihm anvertraute Dinge geheimhalten zu müssen, sondern er sieht einfach nicht ein, wozu das gut wäre, wahrscheinlich würden wir dadurch nur noch tiefer hineingeraten. Weißt du nicht irgendwas niederschmetternd Besonderes über sie, aus deinem College zum Beispiel? Warum bist du übrigens nicht dort? Ist heute nicht Freitag?« Nicolas Fähigkeit, sich die Zeitpläne aller Leute genau zu merken, gehörte zu ihren besonders bemerkenswerten Eigenschaften. (»Ich habe angerufen, weil ich weiß, daß du jetzt gerade vom Ausführen deines Hundes zurückgekommen bist«, sagte sie einmal zu einer erstaunten neuen Bekannten.)

»Ich habe jemanden gefunden, der meine Vorlesungen übernimmt«, sagte Kate. »Ich war heute einfach nicht in der Lage dazu.« Tatsächlich plagten sie deswegen heftige Schuldgefühle, und sie erinnerte sich an den Satz von irgend jemandem, ein Profi sei der, der auch dann seinen Auftritt absolvieren könne, wenn er sich eigentlich nicht in der Lage dazu fühle.

»Das Schreckliche daran ist«, fuhr Nicola fort, »daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung hat, was für Menschen wir sind. Sie glauben alle, wir wären eine besondere Spezies von Verrückten, die sich der Psychiatrie zugewandt hätten, weil wir zu gesunden Zielen nicht fähig sind. Ich meine nicht, daß sie in der Theorie keine Ahnung von Psychiatrie haben – ich nehme an, sie sind an Gutachten von Psychiatern und all diese Dinge gewöhnt –, aber Leute wie wir, die plötzlich Spaziergänge machen, die offen über Eifersucht und Aggression reden und zugleich darauf beharren, daß wir sie, eben weil wir darüber reden, kaum ausagieren werden; also, das einzige an mir, das einem der Kriminalbeamten etwas zu sagen schien, war, daß mein Vater die Yale Law School besucht hat. Sie haben übrigens aus mir herausgeholt, daß ihr, du und Emanuel, einmal ein Verhältnis hattet, und daraus haben sie sicherlich geschlossen, daß wir ein phantastisches Leben à la Noël Coward führen müssen, weil wir jetzt Freunde sind und ich dir Zutritt zu meinem Haus gewähre. Weißt du, Kate, sie haben Verständnis, wenn ein Mensch bei seiner Steuererklärung mogelt oder sich mit Callgirls trifft, während seine Frau glaubt, er ist auf Geschäftsreise, aber ich glaube, wir erschrecken sie, weil wir behaupten, im Grunde ehrlich zu sein, wenn auch nach außen hin ein bißchen schlampig, während sie Verständnis für heimliche Unregelmäßigkeiten haben, Hauptsache, der Schein wird gewahrt. Wahrscheinlich sind sie davon überzeugt, daß etwas Unsittliches daran ist, wenn ein Mann einer Frau zwanzig Dollar dafür abnimmt, daß sie sich bei ihm auf eine Couch legen und reden darf.«

»Ich glaube«, sagte Kate, »die Polizei ähnelt diesen Engländern, wie Mrs. Patrick Campbell sie gesehen hat. Sie sagte, den Engländern ist egal, was die Leute tun, solange sie es nicht auf der Straße tun und damit die Pferde scheu machen. Ich unterstelle gar nicht, daß die Polizei bewußt und aktiv gegen Emanuel oder dich, gegen mich oder gegen die Psychiatrie eingestellt ist. Es sind nur leider die Pferde scheu geworden, und unglücklicherweise weiß die Polizei zu wenig von der Integrität der Psychiater – dort, wo sie integer praktiziert wird, und wir müssen wohl zugeben, daß das nicht immer geschieht –, um sich klar zu sein, daß Emanuel der letzte wäre, der das Mädchen ermordet haben könnte. Übrigens, wo warst du denn gestern morgen, und warum, zum Teufel, hast du, als du deinen Tagesablauf geschildert hast, unterschlagen, daß du nicht bei deinem Analytiker warst?«

»Woher weißt du, daß ich nicht bei ihm gewesen bin!«

»Ich habe meine Methoden. Beantworte meine Frage.«

»Ich weiß nicht, warum ich es dir nicht erzählt habe, Kate. Ich hatte es vor, jedesmal, wenn die Sprache darauf kam, aber keiner benimmt sich gern wie ein Feigling, und darüber zu reden, ist noch unangenehmer. Glaube mir oder glaube mir nicht – und die Polizei tut es nicht –, ich bin im Park spazierengegangen, am Schloß und am See, dort, wo die japanischen Kirschbäume stehen. Es war immer schon mein Lieblingsplatz, seit meiner Kindheit, als ich dort den Atem anhielt und ganz blau im Gesicht wurde, wenn meine Kinderschwester versuchte, mit mir irgendwo anders hinzugehen.«

»Aber warum, warum nur mußtest du dir gerade diesen Vormittag aussuchen, um deinen Kindheitserinnerungen nachzuhängen, wenn du das doch auch auf Dr. Sanders’ Couch hättest tun können und damit gleichzeitig ein hervorragendes Alibi gehabt hättest?«

»Niemand hat mir gesagt, daß Janet Harrison zu der Zeit auf Emanuels Couch ermordet werden würde. Aber wie dem auch sei, ich glaube, es ist sogar besser so; hätte ich ein Alibi, dann wäre Emanuel als einziger und Hauptverdächtiger übrig. So aber ist die Polizei noch nicht weit genug, um ihn verhaften zu können. Jedenfalls haben sie jetzt genausoviel gegen mich in der Hand wie gegen Emanuel.«

»Kommt denn normalerweise die Frau des Psychiaters mir nichts, dir nichts in die Praxis marschiert und setzt sich hinter einen Patienten? Wohl kaum. Ich möchte immer noch wissen, warum du nicht zu deinem Termin mit Dr. Sanders gegangen bist.«

»Kate, du benimmst dich wie die Polizei, forderst ordentliche, vernünftige Antworten auf alles und jedes. Es gibt Leute, die halten jeden Termin mit ihrem Analytiker ein und kommen immer pünktlich – ich bin sicher, die gibt es –, doch mehr Leute neigen, so wie ich, zum Kneifen. Dafür gibt es verschiedene Strategien: Man kommt zu spät, sagt kein Wort, redet über dies und das und umgeht das wirkliche Problem – in diesem Fall kommt man natürlich so lange immer wieder darauf zurück, bis man es endlich anzupacken wagt. Ich bediene mich meistens der Methode des Intellektualisierens, aber an dem Tag fühlte ich, daß es Frühling war, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich kam bis zur Madison Avenue, und dann beschloß ich umzukehren und ging statt dessen in den Park. Ich hatte keine Ahnung, daß Emanuel zur selben Zeit auch im Park unterwegs war.«

»Hast du Dr. Sanders angerufen und ihm abgesagt?«

»Natürlich. Es wäre höchst unfair, ihn einfach sitzenzulassen, statt ihm eine freie Stunde zu gönnen. Vielleicht läuft ja auch er gern um den See. Schade, daß er es nicht getan hat, vielleicht wäre er Emanuel begegnet.«

»Kennt Emanuel ihn?«

»Sicher, sie sind am selben Institut.«

»Nicki, hat dich jemand gesehen, als du das Haus verließest, um eigentlich zu deinem Psychiater zu gehen? Hat dich jemand gesehen, als du von der Madison Avenue aus bei ihm angerufen hast?«

»Niemand hat mich beim Telefonieren beobachtet. Aber Dr. Barrister hat gesehen, wie ich das Haus verließ. Um die Zeit ist er fast immer mit seinen Patienten beschäftigt, aber diesmal stand er aus irgendeinem Grund in der Tür, um eine Patientin hinauszubegleiten oder so etwas. Er hat mich weggehen sehen, aber was beweist das schon? Ich hätte ohne weiteres wieder umkehren und das Mädchen erdolchen können.«

»Was für ein Arzt ist er?«

»Frauen. Ich meine, er behandelt Frauen.«

»Gynäkologe? Geburtshelfer?«

»Nein, er scheint nicht sehr viel zu operieren, und bestimmt macht er keine Geburtshilfe. Er kommt mir nicht vor wie einer, der sich aus dem Theater oder aus dem Bett holen läßt, um Babys auf die Welt zu helfen. Emanuel hat sich tatsächlich über ihn erkundigt, auf mein Drängen, und er hat einen hervorragenden Leumund. Emanuel mag ihn nicht.«

»Warum nicht?«

»Nun ja, teils, weil Emanuel die meisten Leute nicht mag, vor allem die nicht, die eine glatte Art haben, aber hauptsächlich, nehme ich an, weil er und Barrister sich einmal im Flur begegnet sind und Barrister bei der Gelegenheit die Bemerkung fallen ließ, sie täten beide die gleiche Art von Arbeit, zumindest hätten beide noch keinen Patienten zu Grabe getragen. Das war wohl eine Variante zu dem Medizinerwitz über den Dermatologen, der nie jemanden heilt und nie jemanden umbringt, aber Emanuel ärgerte sich darüber und sagte, Barrister höre sich an wie ein Arzt im Kino.«

»Tja, die Natur imitiert die Kunst; Oscar Wilde hat schon recht.«

»Ich habe Emanuel gesagt, das sei der blanke Neid. Dr. Barrister sieht nämlich sehr gut aus.«

»Von Minute zu Minute kommt er mir verdächtiger vor. Gestern abend habe ich schon fast entschieden, daß er es getan haben muß.«

»Ist mir klar. Ich habe selber wie verrückt nach Verdächtigen gesucht, und eines unserer Probleme ist eben, daß die Gegend nicht gerade von Verdächtigen überquillt. Außer dir, mir und Emanuel, die wir von vornherein unschuldig sind, sozusagen, gibt es nur noch den Fahrstuhlführer, Dr. Barrister, seine Patientinnen und die Sprechstundenhilfe, außerdem die beiden Patienten vor und nach Janet Harrison – oder den Triebmörder. Nicht gerade ermutigend. Für Dr. Barrister ist das eine schreckliche Sache, auch wenn er sich ganz nett uns gegenüber verhält. Die Polizei verhört ihn, und ein Polizist ist draußen vor seiner Praxis postiert – könnte sein, daß seine Patientinnen das nicht mögen –, und dann habe ich ihn ja auch noch hereingeschleppt, damit er sich die Leiche anschaut. Tatsache ist doch, daß er, wenn er vorhat, jemanden zu ermorden, das so weit von seiner Praxis entfernt wie nur möglich erledigen wird.«

»Wir haben noch einen möglichen Verdächtigen ausgelassen: Jemand könnte Janet Harrison in eine Falle gelockt haben. Derjenige sagte die Termine für die anderen Patienten ab, sah, daß alle gegangen waren, bugsierte sie in die Praxis und brachte sie um.«

»Kate, du bist genial! Genau so muß es passiert sein.«

»Zweifellos. Alles, was wir jetzt noch zu tun haben, ist, diesen Mann zu finden – wenn er existiert.«

Trotzdem ging Kate dieser wahrscheinlich gar nicht existierende Mann nicht aus dem Kopf, als sie etwas später Emanuel in seiner Praxis aufsuchte. Sie hatte sich natürlich vorher erkundigt, ob er frei war und angeklopft, bevor sie hineinging und die Tür hinter sich schloß.

»Emanuel, es tut mir so leid, oder habe ich das schon gesagt? Mir kommt das alles vor wie in einem griechischen Drama: als wäre von dem Augenblick an, als wir am Merritt Parkway unseren Zusammenstoß hatten, alles auf diese Krise zugelaufen. Ich glaube, es liegt einiger Trost in dem Gedanken, daß sich das Schicksal, wie bildlich auch immer, um unser Los kümmert.«

»Ziemlich das gleiche ist mir auch durch den Kopf gegangen. Du warst damals nicht sicher, ob du Lehrerin an einem College werden wolltest, und ich hatte ambivalente Gefühle, was die Psychiatrie betraf. Und jetzt stehen wir da, du als die Professorin, die mir, dem Psychiater, eine ihrer Studentinnen als Patientin geschickt hat. Es scheint, als verliefe das nach einem Muster, aber das stimmt natürlich nicht. Wenn wir nur zeigen könnten, daß es kein solches Muster gibt oder daß wir das Muster falsch interpretieren, dann wären wir aus dem Schneider.«

»Emanuel! Ich glaube, du hast gerade etwas sehr Wichtiges und Grundlegendes gesagt.«

»Habe ich das? Mir scheint es überhaupt keinen Sinn zu ergeben.«

»Macht nichts, ich bin sicher, der Grund für die Wichtigkeit wird mir noch klarwerden. Was ich mir jetzt wünsche, ist, daß du dich an deinen Schreibtisch setzt und mir alles erzählst, was du über Janet Harrison weißt. Vielleicht erinnert mich das, was du sagst, an etwas, das ich selber weiß und nur vergessen habe. Von einem bin ich fest überzeugt: Falls wir den Mörder finden sollten, immer angenommen, es handelt sich nicht um den Triebmörder, der zufällig von der Straße hereingekommen ist, dann finden wir ihn durch Informationen über das Mädchen. Wirst du mir helfen?«

Zu Kates großem Erstaunen wies er das Ansinnen nicht glatt zurück; er zuckte nur mit den Schultern und sah weiter aus dem Fenster in den Hof hinaus, wo es sicher nichts zu sehen gab. Kate setzte sich mit einer gewissen einstudierten Unbekümmertheit auf die Couch. Einer der Sessel wäre gewiß bequemer gewesen, aber nicht auf der Couch zu sitzen hätte bedeutet, ihr auszuweichen.

»Was kann ich dir erzählen? Der Tonbandmitschnitt einer Analyse bietet jemandem, der nicht gelernt hat, das Gesagte zu interpretieren, so gut wie nichts. Es steckt nicht voller versteckter Hinweise wie in einer Detektivgeschichte à la Sherlock Holmes, zumindest nicht solcher Hinweise, die für einen Polizisten von irgendeinem Nutzen wären. Sie hat mir ja nicht eines Tages erzählt, daß sie wahrscheinlich ermordet werden würde, und wenn das passiere, der und der wahrscheinlich der Täter war. Glaube mir, wenn sie etwas so Eindeutiges gesagt hätte, dann würde ich nicht zögern, das zu enthüllen, bestimmt nicht aus einem irgendwie mißverstandenen Grundsatz heraus. Der andere wesentliche Aspekt, den man nicht vergessen darf: Für den Analytiker ist es nicht entscheidend, ob etwas tatsächlich passiert ist oder ob das Ereignis bloß in der Phantasie des Patienten stattgefunden hat. Für den Analytiker gibt es da keinen wesentlichen Unterschied, wohl aber für den Polizisten: Für ihn ist es der Unterschied per se.«

»Ich würde denken, daß es für den Patienten von größter Bedeutung ist, ob etwas wirklich passiert ist oder nicht. Ich würde denken, das ist der wichtigste Punkt.«

»Genau. Aber das wäre eben der Fehler. Ich kann das nicht einfach erklären, ohne es zu verdrehen, und mache ich es zu einfach, dann wird es falsch. Aber wenn du willst, gebe ich dir, wenn auch zögernd, ein Beispiel. Als Freud mit der Behandlung seiner Patienten begann, entdeckte er erstaunt, wie viele Frauen in Wien als Kinder mit ihren Vätern sexuelle Beziehungen gehabt hatten. Eine Zeitlang schien es so, als seien zumindest eine Handvoll Väter in Wien wahre Sexualmonster gewesen. Dann wurde Freud klar, daß keiner dieser sexuellen Erfahrungen tatsächlich stattgefunden hatte, es waren reine Phantasieprodukte. Aber seine wichtige Entdeckung bestand in der Erkenntnis, daß es für die psychische Entwicklung der Patientin (wenn auch nicht für die sexuelle Moral in Wien) keinerlei Bedeutung hatte, ob diese Dinge nun wirklich passiert waren oder nicht. Die Phantasien waren für sich genommen von enormer Bedeutung. Kate, hast du jemals einem selbstzufriedenen Menschen, der Lloyd Douglas für einen großen Romancier hält, den ›Ulysses‹ zu erklären versucht?«

»In Ordnung, ich weiß, worauf du hinauswillst, ehrlich. Aber laß mich noch etwas den Quälgeist spielen, ja? Ich habe zum Beispiel nie erfahren, warum sie glaubte, sie brauchte einen Analytiker. Was hat sie gesagt, als sie zum erstenmal bei dir war?«

»Der Anfang ist immer eher Routine. Ich frage natürlich, was für ein Problem sie hat. Ihre Antwort war nicht ungewöhnlich. Sie schlief schlecht, hatte Schwierigkeiten im Studium, war unfähig, länger zu lesen, und sie hatte Schwierigkeiten, wie sie es in bedauerlichem Sozialarbeiter-Jargon ausdrückte, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Der Gebrauch dieses Ausdrucks war das Bezeichnendste, was sie an diesem Tag sagte; es zeigte, wie sie das Problem intellektualisiert hatte und in welchem Ausmaße ihre Gefühle unbewußt davon abgezogen waren. Das meiste davon hat auch die Polizei schon herausbekommen, als sie mit mir darüber sprach; das übrige schien ihr für ihre Zwecke überflüssig.

Ich habe sie gebeten, mir von sich zu erzählen; das ist auch Routine. Die Fakten sind gewöhnlich nicht wichtig, aber das, was weggelassen wird, um so mehr. Sie war das einzige Kind von strengen, pflichtbewußten Eltern, beide sind mittlerweile tot. Beide waren bereits ziemlich alt, als sie geboren wurde – wenn du Einzelheiten wissen willst, kann ich nachschauen. Sie erwähnte zu Anfang keinerlei Liebesaffären, auch keine ganz nebensächlichen, wiewohl sich später herausstellte, daß sie eine Affäre erlebt hatte, in die sie tief verstrickt war. Gelegentliche Assoziationen brachten sie auf diese Geschichte und brachen ihren Widerstand auf, aber sie wich jedesmal wieder sofort vor dem Thema zurück. Wir kamen gerade dem wahren Material etwas näher, als es passierte.«

»Emanuel, merkst du nicht, wie wichtig das ist? Übrigens, hatte sie – war sie noch Jungfrau?« Er wandte sich zu ihr um, überrascht von der Frage und der Tatsache, daß Kate sie stellte. Kate zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich meine wollüstige Phantasie, aber ich habe das komische Gefühl, daß es wichtig sein könnte.«

»Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht mit absoluter Sicherheit. Aber wenn du nach meiner professionellen Einschätzung fragst, würde ich sagen, die Liebe wurde auch physisch vollzogen. Aber das ist nur eine Vermutung.«

»Reden Patienten anfangs eher über die Vergangenheit oder über die Gegenwart?«

»Über die Gegenwart. Die Vergangenheit gerät natürlich immer stärker hinein im Laufe der Zeit. Ich hatte so eine Vorahnung – aber hüte dich, deren Bedeutung zu überschätzen –, daß es etwas in der Gegenwart gab, das sie nicht erwähnte, irgend etwas, das mit der Liebesgeschichte zusammenhing, wenn auch vielleicht nur im Sinne ein und derselben Schuld. Oh, ich bewundere dich besonders, wenn du dieses Glänzen in den Augen hast – wie ein Falke, bevor er sich hinabstürzt. Glaubst du, sie war die Schlüsselfigur in einem Drogenring?«

»Lachen kannst du später, ich habe noch eine Frage. Du erwähntest gestern abend, sie sei wütend geworden, die Übertragung hätte also begonnen. Wie ist das mit der Übertragung, wenn sie am Ziel ist, wie Molly Bloom sagen würde?«

»Ich verabscheue vereinfachte Erklärungen in der Psychiatrie. Laß es mich so ausdrücken: Die Wut, die sich in einer bestimmten Situation verbarg, wird freigesetzt und auf den Analytiker gerichtet. Er wird zum Objekt dieser Gefühle.«

»Merkst du es nicht, Emanuel? Das paßt. Setze nur zwei Dinge zusammen, die du mir zufällig erzählt hast. Erstens, daß sie wahrscheinlich etwas aus der Gegenwart, etwas, das vielleicht mit ihrer Vergangenheit zusammenhing, vor dir verbarg. Zweitens hatte die Beziehung zu dir emotionalen Charakter angenommen. Schlußfolgerung: Sie könnte dir erzählt oder deinem geschulten, sensiblen Ohr etwas enthüllt haben, das jemand auf jeden Fall geheimhalten wollte. Vielleicht gab es jemanden, mit dem sie über ihre Analyse geredet hat – ganz beiläufig wie sie meinte, halt so, wie Leute über ihre Analyse reden – ich weiß das, ich habe sie gehört –, und wer immer dieser Mensch war, er wußte, daß sie sterben mußte. Es war nicht weiter schwer, ihren Tagesablauf herauszubekommen, und so kam er, brachte sie um und hinterließ dir ihre Leiche. Quod erat demonstrandum. «

»Kate, Kate, eine derart drastisch übertriebene Simplifizierung habe ich noch nie erlebt.«

»Unsinn, Emanuel. Was dir fehlt, was allen Psychiatern fehlt, falls du mir verzeihst, daß ich das sage, ist der feste Zugriff auf das Naheliegende. Gut, ich will dich damit nicht aufhalten. Aber versprich mir wenigstens, daß du mir jede Frage beantwortest, die ich dir stelle, so idiotisch sie dir auch erscheinen mag.«

»Ich verspreche dir, mit dir zu kooperieren bei deinem tapferen Versuch, mich vor einer Katastrophe zu bewahren. Aber du weißt, meine Liebe, um beim Offensichtlichen zu bleiben, die Polizei hat hier einen recht eindeutigen Fall vor sich.«

»Die kennt dich nicht, und das ist der Vorteil, den ich ihr gegenüber habe. Sie wissen nicht, was für ein Mensch du bist.«

»Oder was für ein Mensch Nicola ist?«

»Nein«, sagte Kate, »auch das nicht. Es wird alles gutgehen, du wirst sehen.«

Dennoch fühlte sie sich, als sie entschlußlos draußen im Flur stand, wie ein Ritter, der aufgebrochen war, den Drachen zu töten, aber vergessen hatte zu fragen, in welchem Teil der Welt denn der Drache zu finden sei. Sich zum Handeln zu entschließen, war das eine, aber was sollte sie denn nun unternehmen? Wie es ihre Art war, zog sie Notizbuch und Stift heraus und fing an, eine Liste aufzustellen: Janet Harrisons Zimmer ansehen und mit den Leuten reden, die sie vom Wohnheim her kannten; über Zehn- und Zwölf-Uhr-Patienten erkundigen; herausfinden, wer Mensch auf Foto in Janet Harrisons Besitz ist (Listen hatten immer eine verheerende Auswirkung auf Kates Syntax).

»Es tut mir leid, wenn ich störe. Ist Mrs. Bauer zu Hause?« Kate, die ihre Handtasche als Unterlage für ihr Notizbuch benutzt hatte, ließ Block, Stift und Handtasche fallen. Der Mann bückte sich, um ihr beim Aufheben zu helfen, und als sie sich beide wieder aufrichteten, wurde sich Kate der ausgeprägt männlichen Schönheit ihres Gegenübers bewußt; jede Frau reagiert automatisch darauf, wie flüchtig auch immer. Diese Schönheit reizte Kate nicht direkt, aber irgendwie kam sie sich in seiner Gegenwart mädchenhafter vor. Sie erinnerte sich daran, einmal auf einer Dinner-Party einem hübschen, jungen, bescheidenen Schweden begegnet zu sein. Er hatte perfekte Manieren; kein Hauch von einem Flirtversuch, und doch hatte Kate mit Erschrecken festgestellt, daß er allen Frauen im Raum aufgefallen zu sein schien. Ihr Schreck hatte sich in Belustigung verwandelt, als er mit ihr sprach und sie ziemlich einfältig reagierte, wie sie fand.

Dieser Mann hier war nicht so jung. An den Schläfen waren seine Haare schon grau. »Sie sind Dr. Barrister, nicht wahr?« sagte Kate. Und sie hatte Schwierigkeiten, nicht noch hinzuzufügen »unser Hauptverdächtiger«. »Ich bin Kate Fansler, eine Freundin von Mrs. Bauer. Ich sage ihr Bescheid.«

Als Kate nach hinten ging, bemerkte sie, wie stark in der Tat die Verbindung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit ist. In der Vorstellung hatte gutes Aussehen immer etwas Unheilvolles an sich, doch jetzt, das gute Aussehen direkt vor Augen, strahlte es Unschuld aus. Natürlich war es kein Zufall, daß in der westlichen Literatur, ganz bestimmt im volkstümlichen Teil, Schönheit und Unschuld gewöhnlich als Einheit gesehen wurden.

Alle drei standen sie schließlich, an diesem patientenlosen Tag, im Wohnzimmer. Nicht, daß Nicola sie aufgefordert hätte, Platz zu nehmen; Nicola ignorierte gesellschaftliche Formen nicht so sehr – für sie schienen sie überhaupt nie existiert zu haben.

»Ich wollte nur einmal vorbeischauen und nachfragen, wie Sie zurechtkommen«, sagte Dr. Barrister zu Nicola. »Ich weiß, ich kann nichts für Sie tun, aber ich kann nur schwer dem Impuls widerstehen, mich nachbarschaftlich zu benehmen, sogar in New York, wo Nachbarn sich selten kennen.«

»Sind Sie nicht aus New York?« fragte Kate, um irgend etwas zu sagen.

»Gibt es hier überhaupt New Yorker?« fragte er.

»Ich bin eine New Yorkerin«, sagte Nicola, »und mein Vater war auch von hier. Sein Vater allerdings kam aus Cincinnati. Woher stammen Sie?«

»Einer von diesen oberschlauen Kritikern hat, wenn ich es richtig verstanden habe, eine neue Art von Romanen entdeckt, die von dem jungen Burschen aus der Provinz handeln. Ich war so ein junger Mann aus der Provinz. Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie es Ihnen geht.«

»Emanuel mußte für heute seinen Patienten absagen. Wir hoffen, in ein, zwei Tagen ist er soweit, daß er wieder Patienten empfangen kann.«

»Das hoffe ich auch. Lassen Sie mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann? Ich bin voll guten Willens, mir fehlen bloß die Ideen.«

»Ich weiß«, sagte Nicola. »Wenn es einen Toten oder einen Kranken in einer Familie gibt, dann schickt man Blumen oder etwas zu naschen. In diesem Fall, nehme ich an, können Sie nichts anderes tun, als jedermann erzählen, daß Emanuel und ich es nicht getan haben. Kate ist dagegen voller Ideen und wird den Mörder finden.« Dr. Barrister sah Kate interessiert an.

»Ich werde jetzt etwas ganz anderes tun«, sagte Kate, »nämlich nach Hause gehen.«

»Ich fahre Richtung East Side«, sagte Dr. Barrister. »Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Kate, »aber ich muß in die entgegengesetzte Richtung.«

Kate saß im Taxi und war auf dem Weg nach Hause, als ihr Jerry einfiel.