3

 

»Das Essen wird wohl gleich serviert«, sagte Emanuel, als er ins Schlafzimmer trat. »Hallo, Kate. Pandora hat auch für dich gedeckt. Wie diese Frau einfach so weitermacht, ist mir ein Rätsel, aber sie hat ja noch nie etwas für die Polizei übrig gehabt.«

»Du hältst dich auch ganz gut«, sagte Kate.

»Heute war es ja im Grunde noch so wie sonst. Die Patienten wußten noch nichts, bis auf den letzten um sechs Uhr. Der hatte eine Abendzeitung bei sich.«

»Wird es schon in der Zeitung erwähnt?« fragte Nicola.

»Erwähnt? Ich fürchte, im Augenblick sind wir der Aufmacher. Psychiatrie, Couch, Patientin, männlicher Doktor, Messer – man kann es ihnen kaum verübeln. Laß uns den Jungen gute Nacht sagen und dann zu Abend essen.«

Doch es dauerte bis nach dem Dinner – sie waren inzwischen im Wohnzimmer –, ehe wieder von dem Mord die Rede war. Kate hatte halbwegs erwartet, daß Emanuel gleich verschwinden würde, aber anscheinend wollte er darüber reden. Normalerweise trieb ihn ein inneres Bedürfnis, »etwas zu tun«, »die Zeit zu nutzen«, von gesellschaftlichen Anlässen fort, und wenn er blieb, stand er unter dem Druck einer sich steigernden inneren Spannung. Aber heute abend, da von draußen ein wirkliches Problem drohte, schien Emanuel sich fast dankbar und ganz entspannt in die Betrachtung einer Sache zu vertiefen, die sich außerhalb seiner Kontrolle befand. Daß der Mord etwas war, was von außen zu ihm eingedrungen war, verschaffte ihm so etwas wie Erleichterung. Kate bemerkte das und wußte, die Polizei würde seine Ruhe als ein Symptom mißdeuten, als ein Zeichen von Schuld, obwohl es – wenn sie es nur wüßten – gerade Ausdruck seiner Unschuld war. Hätte er das Mädchen ermordet, dann wäre das Ganze natürlich kein Problem, das quasi draußen, vor der Tür, blieb. Aber welchen Polizisten auf der Welt könnte man von alledem überzeugen? Stern? Kate zwang sich, ihre Gedanken wieder auf die Fakten zu konzentrieren.

»Emanuel«, fragte sie, »wo bist du zwischen zehn vor elf und halb eins gewesen? Erzähle mir jetzt nicht, du hättest einen Schlag auf den Kopf bekommen und seist umhergeirrt, ohne zu wissen, wer du bist.«

Emanuel sah sie an, dann Nicola und sagte schließlich zu Kate: »Wieviel hat sie dir erzählt?«

»Nur, wie der normale Tag verlief, und natürlich ein, zwei Worte darüber, wie sie die Leiche gefunden hat. Die magische Stunde selber haben wir für den Augenblick mal übersprungen.«

»Magisch ist das richtige Wort«, sagte Emanuel. »Das Ganze ist derart schlau eingefädelt, daß ich der Polizei wirklich keinen Vorwurf machen kann, wenn sie mich verdächtigt. Fast verdächtige ich mich selbst. Wenn du zu dem durchaus berechtigten Verdacht der Polizei den geheimnisumwobenen und noch immer, wie ich fürchte, nicht wirklich als amerikanisch akzeptierten Beruf des Psychiaters dazurechnest, ist es kein Wunder, wenn sie annehmen, daß ich durchgedreht sei und das Mädchen auf meiner Couch erdolcht hätte. Ich glaube, sie haben da keinerlei Zweifel.«

»Warum hat man dich nicht festgenommen?«

»Das habe ich mich auch gefragt und bin zu dem Schluß gekommen, daß es einfach noch nicht genug Beweise gegen mich gibt. Ich weiß nicht genau, was für eine Verhaftung alles erforderlich ist, aber ich denke mir, die Staatsanwaltschaft muß erst einmal überzeugt werden, daß die Beweise für eine Verurteilung ausreichen, bevor sie einer Verhaftung und einem Verfahren zustimmt. Ein wirklich kluger Anwalt (und sie nehmen an, daß ich mir den ohne Probleme leisten kann) würde das, was sie bisher gegen mich haben, praktisch in der Luft zerreißen. Für mich entstehen daraus folgende Probleme: Welche Auswirkungen wird die Sache für mich beruflich haben – ich ziehe vor, das vorerst zu ignorieren. Und: Solange sie glauben, daß ich es war, werden sie wenig tun, um den wahren Täter zu finden. In dem Fall ist dann so oder so das Urteil über mich schon gesprochen.«

Eine große Welle der Bewunderung und Zuneigung erfaßte Kate für diesen zutiefst intelligenten und ehrlichen Mann. Niemand wußte besser als sie (oder vielleicht auch Nicola?), wie sehr es ihm an dem mangelte, was die kleinen alltäglichen Anforderungen an eine persönliche Beziehung anging, aber tief in seinem Innern spürte sie eine jeder Krise standhaltende Wahrhaftigkeit, eine Integrität, die nichts und niemand würde zerbrechen können. Sie war alt genug, um zu wissen: Wenn man jemandem begegnet, der über Intelligenz und Integrität gleichermaßen verfügte, dann hat man das große Los gezogen.

»Mich wundert, daß sie dich weiter deine Patienten empfangen lassen, sogar heute«, sagte Nicola mit sarkastischem Unterton. »Es könnte dich doch wieder überkommen, da wir das offensichtlich als Symptom deines Berufes ansehen sollen, und du könntest ein weiteres Opfer erdolchen. Würden sie dann nicht schön dumm dastehen?«

»Im Gegenteil«, sagte Kate unbeschwert. »Dann hätten sie den Fall doch im Kasten. Ich könnte mir vorstellen, daß sie sogar darauf hoffen und damit der letzte Zweifel weggewischt wäre, denn auch sie haben, auf ihre bläßliche methodische Art, wohl tief in sich die Vermutung, daß Emanuel es vielleicht nicht gewesen sein könnte.« Emanuels Blick traf den ihren, dann schlug sie die Augen nieder, aber er hatte das Vertrauen in ihnen gesehen, und das hatte ihn gestärkt.

»Die Ironie der Geschichte, die selbst einen Shakespeare zum Heulen brächte«, sagte Emanuel, »ist, daß das Mädchen vor kurzem sehr wütend wurde, es fand also eine Übertragung statt. Als sie die heutige Stunde absagte, nahm ich an, daß es deswegen sei, und war nicht weiter überrascht. Wie schlau wir uns manchmal vorkommen!«

»Hat sie dich angerufen, um den Termin abzusagen?«

»Ich habe nicht mit ihr selbst gesprochen, aber das ist bei normalem Verlauf der Dinge auch nicht verwunderlich. Jedenfalls erfuhr ich um fünf vor elf, daß beide, sie und der Zwölf-Uhr-Patient – der dann später doch auftauchte und Nicki in die Situation brachte, die Leiche zu finden –, ihre Termine abgesagt hatten.«

»Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«

»Eigentlich nicht. Normalerweise passiert es zwar selten, daß gleich zwei Patienten hintereinander absagen, aber es kann vorkommen. Manchmal treffen Patienten auf solch eine Masse schwieriger Probleme, daß sie ihnen für eine Weile ausweichen. Das kommt im Verlauf jeder Analyse vor. Oder sie reden sich ein, daß sie sich zu müde fühlen, daß sie zu beschäftigt sind oder zu aufgeregt. Freud hat das schon sehr früh erkannt. Das ist einer der Gründe, warum wir unseren Patienten die verabredeten Stunden berechnen, auch wenn sie scheinbar – oder wirklich – eine ganz und gar einleuchtende Entschuldigung haben. Leute, die von der Psychiatrie nichts wissen, sind immer ganz schockiert und glauben, wir wollten nur Geld scheffeln, aber dieser ganze Mechanismus des Bezahlens und sogar der finanziellen Opfer, die für eine Analyse zu bringen sind, bilden einen wichtigen Teil der Therapie.«

»Wie hast du denn um fünf vor elf erfahren, daß beide abgesagt hatten?«

»Ich habe das Fernsprechamt angerufen, und sie haben es mir gesagt.«

»Das Fernsprechamt macht für dich den Auftragsdienst? Rufst du jede Stunde dort an?«

»Nein, nur wenn ich weiß, daß ein Anruf eingegangen ist.«

»Du meinst, während du mit einem Patienten sprachst, hat das Telefon geläutet, und du bist nicht drangegangen?«

»Das Telefon läutet nicht; es hat ein gelbes Lämpchen, das statt dessen aufleuchtet. Der Patient kann das von der Couch aus nicht sehen. Wenn ich nach dreimal Läuten bzw. Aufleuchten nicht abhebe, meldet sich der Auftragsdienst. Natürlich unterbreche ich nie einen Patienten, um ans Telefon zu gehen.«

»Konntest du erfahren, wer mit dem Auftragsdienst gesprochen und die Termine abgesagt hat? Waren es ein Mann und eine Frau, oder war es einer für beide oder was?«

»Ich habe natürlich als erstes daran gedacht, aber als ich mit dem Auftragsdienst sprach, hatte jemand anders Dienst, und sie zeichnen die Anrufe nicht auf, sondern notieren nur die Nachricht und die Zeit. Zweifellos wird die Polizei dem noch genauer nachgehen.«

Nicola, die während dieses Wortwechsels schweigend dagesessen hatte, drehte sich mit einem Ruck zu Kate und sah sie an. »Bevor du deine nächste Frage stellst, möchte ich dich etwas fragen. Das ist es nämlich, woran sich die Polizei festbeißt; ich weiß es, aber vielleicht hat Emanuel ja mit genügend Leuten darüber gesprochen, daß sie herausfinden, es ist wahrscheinlich die Wahrheit, und zudem kennen wir andere Psychiater, die genau das gleiche machen, weil sie sich so eingeschlossen fühlen.«

»Nicki, Liebes«, sagte Kate, »mal abgesehen davon, daß du in unvollständigen Sätzen redest, habe ich nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.«

»Natürlich nicht, ich habe dir ja auch meine Frage noch gar nicht gestellt: Wenn ein Patient von Emanuel abgesagt hat, was, meinst du, macht Emanuel dann in dieser Stunde?«

»Er geht hinaus. Egal wohin, nur hinaus.«

»Siehst du«, sagte Nicola. »Jeder weiß das. Ich schätze, er würde zu Brentano’s gehen und dort in den Taschenbüchern stöbern, und meine Mutter meinte, als ich ihr die Frage stellte, er würde eine Besorgung machen, irgendwo, aber der entscheidende Punkt ist, daß die Polizei nicht versteht, wie ein Psychiater, der den ganzen Tag stillsitzen und zuhören muß, sich erholt, indem er sich bewegt. Sie glauben, wenn er nicht irgendwelche ruchlosen Pläne gehegt hätte, dann wäre er schlicht und einfach in seiner Praxis geblieben, wie jeder andere normale Mensch, und hätte sich um seine Korrespondenz gekümmert. Und um es ganz verwerflich zu machen, sind sie auch noch überzeugt, daß er dann eben eine Freundin angerufen und sich mit ihr zum Lunch verabredet hätte, mit zwei Wodka-Cocktails vorneweg. Es ist zwecklos, ihnen zu erzählen, daß Emanuel nie mittags ißt und ganz sicher niemals mit jemand anderem, und daß er in keinem Fall darauf eingestellt ist, Leute anzurufen und sich mit ihnen zum Lunch zu verabreden, weil er niemals – es sei denn, durch solch einen Zufall –, und jetzt, da ich darüber nachdenke, war das gar kein Zufall, sondern geplant – über Mittag die Zeit hätte, zum Lunch zu gehen.«

»Was hast du also unternommen, Emanuel?« fragte Kate.

»Ich bin um den See im Park gegangen, immer rundherum, eine Art Trab.«

»Ich weiß. Ich habe dich dort einmal gesehen. Ich bin auch getrabt.« Das war lange her, noch vor Nicolas Zeit, als sie noch jung genug war, für nichts und wieder nichts herumzurennen.

»Es war Frühling. Ich hatte den Frühling im Blut.« Kate fiel der Schriftzug aus Kreide ein. Es kam ihr vor, als hätte sie ihn in einem anderen Leben gesehen. Plötzlich fühlte sie sich hundemüde, als fiele sie in sich zusammen wie eine von diesen Comic-Figuren aus ihrer Kindheit, die auf einmal bemerkten, daß sie auf gar nichts saßen und dann zu Boden plumpsten. Vom ersten Schock, den die Bemerkung des Kriminalbeamten Stern ausgelöst hatte – Sie ist ermordet worden – , bis zu diesem Moment hatte sie sich nicht gestattet, ihre Gedanken um Emanuels Situation kreisen zu lassen. Vor allem hatte sie die Frage noch ausgeklammert, wer für diese Situation verantwortlich sein könnte. Sie dachte noch logisch genug, sogar jetzt in diesem Zustand physischer und psychischer Erschöpfung, um sich nicht die ganze Schuld zu geben. Sie konnte nicht wissen, daß das Mädchen ermordet werden würde, konnte nicht gedacht – nein, nicht einmal sich vorgestellt – haben, daß der Mord in Emanuels Praxis geschehen würde. Wenn ihr solch ein Gedanke durch den Kopf gegangen wäre, hätte Kate ihn, um mit Nicolas Worten zu sprechen, für eine »Halluzination« gehalten.

Auch wenn Kate nicht mehr war als ein Glied in der Kette von Ereignissen, die zu dieser Katastrophe geführt hatten, so hatte sie dennoch eine Verantwortung nicht nur Emanuel und Nicola gegenüber, sondern auch sich selbst und vielleicht auch Janet Harrison gegenüber.

»Erinnert ihr euch an diesen Witz vor ein paar Jahren?« sagte sie zu ihnen. »Über die beiden Psychiater auf der Treppe, und der eine fällt über den anderen her und macht ihn fertig. Der Unterlegene ist zuerst ziemlich wütend, aber dann zuckt er mit den Schultern und tut den Vorfall ab. ›Im Grunde‹ soll er gesagt haben, ›ist es sein Problem‹. Aber ich kann es nicht so machen wie er. Es ist auch mein Problem, selbst wenn ihr nicht meine Freunde wärt.«

An der Art, wie Emanuel und Nicola es vermieden, sich oder sie anzuschauen, merkte sie, daß dieser Punkt zwischen ihnen zumindest erwähnt worden war. »In der Tat«, fuhr sie fort, »bin ich, aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen, sagen wir, aus dem der Polizei, selbst ziemlich verdächtig. Der Kriminalbeamte, der bei mir war, hat mich gefragt, wo ich gestern vormittag war. Das konnte reine ›Routine‹ sein, wie sie es nennen; vielleicht aber auch nicht.«

Emanuel und Nicola starrten sie an. »Das ist absoluter Unsinn«, sagte Emanuel.

»Kein größerer Unsinn als der Gedanke, daß du sie in deiner eigenen Praxis ermordet haben solltest, oder vielleicht Nicola. Sieh dir das doch einmal vom Standpunkt des Kriminalbeamten Stern an: Ich weiß mehr oder weniger genau, wie bei euch der Tag abläuft, im Haushalt und in der Praxis. Wie sich herausgestellt hat, wußte ich nicht, wie das mit deinem Telefon geht, den Lichtsignalen statt des Läutens, oder darüber, daß du nicht antwortest, wenn du mit einem Patienten sprichst, aber dafür steht nur meine Aussage. Ich habe das Mädchen zu Emanuel geschickt. Vielleicht war ich ihretwegen eifersüchtig bis zum Wahnsinn, oder ich hatte ihr Geld gestohlen oder eine ihrer literarischen Ideen und packte deshalb die Gelegenheit beim Schopf und brachte sie um.«

»Aber du standest in keinerlei persönlicher Beziehung zu ihr, oder?« fragte Nicola.

»Natürlich nicht. Aber ich nehme an, Emanuel genausowenig. Doch die Polizei muß unterstellen, daß es da eine Verbindung gab, eine verrückte Leidenschaft oder etwas Ähnliches, wenn er sogar so weit ging, sie in seiner eigenen Praxis umzubringen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie annehmen, er habe plötzlich den Verstand verloren und sie während einer ihrer interessanteren freien Assoziationen erdolcht.«

»Sie war eine Schönheit«, sagte Nicola. Sie ließ den Satz fallen, wie ein Kind einem ein Geschenk ungeschickt in den Schoß fallen läßt. Emanuel und Kate wollten beide zugleich sagen: »Woher weißt du das?« Aber keiner sprach es aus. Konnte Nicki das in dem Augenblick aufgefallen sein, als sie das Mädchen tot fand? Mit einem Schlag erinnerte sich auch Kate an die Schönheit des Mädchens. Es war keine von jener strahlenden Art gewesen, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehen und die sie auf Parties umringen. Diese Art von Schönheit war nicht mehr und nicht weniger als das Resultat von Farbe und Make-up auf einem ansprechenden, ebenmäßigen Gesicht. Janet Harrison hatte etwas gehabt, das Kate als »Schönheit durch und durch« bezeichnete. Die fein ausgeprägten Züge, die Flächen ihres Gesichts, die tiefliegenden Augen, die breite klare Stirn – das machte ihre Schönheit aus, die sich auf den zweiten oder dritten Blick plötzlich erschloß, als habe sie sich bis dahin verborgen gehalten. Mein Gott, dachte Kate, mußte das noch dazukommen. »Worauf ich hinauswollte, ist«, fuhr sie nach kurzer Pause fort, »daß ich eine Verantwortlichkeit für all dies spüre, eine Schuld, wenn ihr so wollt, und es wird mir ganz sicher helfen, wenn ihr mir alles sagt, was ihr wißt, ganz ausführlich. Ich habe jetzt schon ziemlich gut den Tagesablauf vor mir. Um zehn Uhr dreißig hat Nicola die Wohnung verlassen, und Emanuel befand sich mit dem Zehn-Uhr-Patienten in der Praxis, als das Telefonlämpchen einen Anruf signalisierte. Hat es einmal aufgeleuchtet, ich meine, für einen Anruf, oder waren es zwei?«

»Es waren zwei. Wahrscheinlich würde die Person, wenn es dieselbe war – sagen wir: der Mörder – sich die Mühe machen und zweimal anrufen, wenn sie für beide den Termin absagen würde. Es würde gleich Verdacht erregen, wenn einer das für beide Patienten erledigen würde. Die Patienten kennen sich untereinander ja nicht.«

»Weißt du sicher, daß sie das nicht tun?«

»Laß es mich so ausdrücken: Sie könnten sich schon einmal im Wartezimmer begegnet sein, das kommt bisweilen vor. Aber wenn sie sich wirklich gut gekannt hätten, dann hätte ich wohl davon gewußt.«

»So etwas kommt bei der Analyse heraus?«

Emanuel nickte und war offensichtlich nicht bereit, das im einzelnen zu diskutieren. »Aber«, fragte Kate, »wenn der Zwölf-Uhr-Patient, ein Mann, aus irgendeinem Grund ihre Anziehungskraft auf ihn und ihre Verbindung zu ihm geheimhalten wollte, würde er sich dann nicht so verhalten?«

»Das würde ich nicht erwarten.«

»Und«, fügte Kate hinzu, »es würde darauf hindeuten, daß er den Mord an ihr geplant hatte.« Darauf hatte keiner etwas zu erwidern. »Gut, fahren wir fort. Um zehn vor elf hast du den Auftragsdienst angerufen, und da erfuhrst du von den beiden Absagen. Darauf hast du sofort die Praxis verlassen und bist rund um den See getrabt.«

»Du siehst«, unterbrach Nicola sie, »obwohl du glaubst, daß es so war, klingt es doch verrückt, sogar aus deinem Mund.«

Emanuel lächelte sein helles Lächeln. Hinweis darauf, daß er sich in das Unvermeidliche schickte. Kate wurde klar, daß Emanuel mehr als jeder andere, den sie kannte, die Fähigkeit besaß, sich in das Unvermeidliche zu schicken. Es war etwas, zu dem vielleicht die Psychiatrie erzog, ein Beruf, der dem, der ihn länger und gut ausübte, nur noch wenige Überraschungen bot. Konnte der Mord an Janet Harrison als solch eine berufliche Überraschung angesehen werden? Kate schob den Knochen erst einmal beiseite, um später an ihm weiterzunagen. »Ich bin nicht direkt aus meinem Sessel zum See gesprungen«, sagte Emanuel. »Ich brauche zwar mein Training, aber so dringend ist es nicht. Ich bin also erst nach hinten in die Wohnung gegangen und habe mich umgezogen. Und dann bin ich in einem Aufzug hinausgewandert, den man als Freizeitkleidung bezeichnen könnte.«

»Hat dich jemand hinausgehen sehen? Bist du jemandem begegnet?«

»Niemandem, der das beschwören könnte. Flur und Halle waren leer.«

Nicola setzte sich auf. »Vielleicht hat ihn einer von Dr. Barristers Patientinnen am Fenster vorbeigehen sehen in Richtung Fifth Avenue. Ich bin sicher, wenn wir ihn bitten, dann fragt er sie, bei einer so wichtigen Angelegenheit. Vielleicht hat er dich auch selber von seiner Praxis aus gesehen.«

»Das ist unwahrscheinlich. Aber gleichgültig, ob sie oder er mich gesehen haben – aus Sicht der Polizei hätte ich mich auch wieder zurückschleichen können. Und auf dem Weg rund um den See bin ich niemandem begegnet. Ich bin zwar an einigen Leuten vorbeigekommen, aber an die kann wiederum ich mich nicht erinnern. Wie sollten die dann auch einen Mann identifizieren, der in schmutziger Hose und alter Jacke schnell an ihnen vorbeizog?«

»Diese Sachen hattest du an, als du zurückkamst«, sagte Nicola. »Ganz sicher hättest du so etwas nicht während ihrer Analysestunde getragen. Beweist das nicht, daß du sie nicht ermordet hast?«

»Er könnte sich umgezogen haben, nachdem er sie erstochen hat«, sagte Kate. »Aber einen Moment. Wenn man von dir annimmt, du hättest dein Alibi geplant, falls man ein paar Runden um den See ein Alibi nennen kann, wer soll dann die beiden Anrufe mit den Absagen für die Patienten gemacht haben? Du sagtest, der Auftragsdienst notiere die Zeiten. Wenn du mit einem Patienten beschäftigt warst, und das warst du, kannst du die Anrufe nicht selber gemacht haben. Selbst wenn der Patient das Lämpchen nicht gesehen hat – und der Mörder kann das ja gewußt haben –, weiß der Auftragsdienst, wann die Anrufe angekommen sind.«

»Daran habe ich auch gedacht«, sagte Emanuel. »Ich bin sogar so weit gegangen, es der Polizei gegenüber zu betonen, obwohl das vielleicht nicht gerade klug von mir war. Sie sagten nichts dazu, aber zweifellos wollen sie darauf hinaus, daß ich jemanden dafür bezahlt haben könnte, an meiner Stelle anzurufen, oder daß ich Nicki oder dich dazu benutzt habe.«

»Das ist noch eine schwache Stelle in ihrer Rechnung. Ich persönlich werde das fest in meinem Busen bewahren. Warum nimmst du übrigens an, daß der Mörder genau zu der Zeit angerufen hat und nicht, als du allein in deiner Praxis warst? Dann gäbe es nämlich nur deine Aussage.«

»Vielleicht konnte er zu keinem anderen Zeitpunkt.

Wahrscheinlicher klingt aber: Er wollte sichergehen, daß ich nicht ans Telefon gehe und die Nachricht selber entgegennehme. Ich hätte ja erkennen können, daß das gar nicht die Stimme eines meiner Patienten war, oder ich hätte – doch das erscheint mir unwahrscheinlich – die Stimme am Telefon erkennen können.«

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte Nicola. »Wenn er früher angerufen hätte, dann hättest sogar du, bei all deinem Drang, draußen herumzurennen, dir möglicherweise noch etwas anderes vorgenommen. Du hättet es zum Beispiel mir gegenüber erwähnen können, und ich hätte gesagt: Wunderbar, dann können wir uns zusammensetzen und unsere Haushaltspläne durchgehen, oder wir können uns lieben – natürlich nur, wenn ich auch meine Analysesitzung abgesagt hätte. Ich weiß, das klingt unwahrscheinlich, aber jeder, der uns so gut kennt wie dieser Mörder, konnte möglicherweise auch wissen, daß ich genau der Typ bin, der so etwas macht. Pandora war aus, und da hätte ich doch auf die Idee kommen können, wie nett es zur Abwechslung einmal wäre, am Vormittag miteinander ins Bett zu gehen – also, ich glaube, der Mörder oder die Mörderin wollte verhindern, daß Emanuel über Alternativen nachdachte, und er wollte sichergehen, daß ich aus dem Haus war.«

»Wie dem auch sei«, sagte Kate, »es ist vielleicht eine Schwachstelle, die dem Mörder noch zu schaffen machen könnte. Hoffen wir es. Als du nach Hause kamst, Emanuel, war da der Vorhang sozusagen schon aufgegangen?«

»Besser gesagt, das Chaos war ausgebrochen. Wenn es einen nicht selbst betroffen hätte, hätte man es sogar interessant finden können.«

»Dr. Barrister sagte zu mir, ich sollte besser die Polizei anrufen«, sagte Nicola. »Er schien sogar die Nummer zu wissen, Spring sowieso, aber ich war offenbar nicht einmal fähig zu wählen, hob nur den Hörer ab und rief das Amt an, so daß er mir den Hörer abnahm und die Nummer selber wählte. Dann drückte er ihn mir wieder in die Hand. Eine Männerstimme sagte: ›Polizeirevier‹, und ich dachte: Das alles hier ist nichts als Einbildung; ich werde morgen gleich mit Dr. Sanders darüber reden. Was bedeutet das alles? Dann kann es, nehme ich an, keine Minute gedauert haben, bis sie einen dieser Streifenwagen, die dauernd unterwegs sind, angerufen hatten – erinnert ihr euch, als wir Kinder waren, da gingen die Polizisten noch zu Fuß.«

»Als wir Kinder waren«, warf Emanuel ein, »waren die Polizisten gewöhnlich alte Männer. Wie hieß das noch? Sie sind alt genug, dein Vater zu sein, und plötzlich sind sie jung genug, dein Sohn zu sein.«

»Jedenfalls«, fuhr Nicola fort, »warfen diese Streifenpolizisten nur einen Blick auf die Leiche, als wollten sie sichergehen, daß wir sie nicht auf den Arm nehmen, und dann riefen sie an, und als nächstes sahen wir, wie der Aufmarsch begann: Männer mit allen möglichen Ausrüstungen, Kriminalbeamte, einen nannten sie Inspektor, Leute, die herumfotografierten, ein ulkiger kleiner Mann, den sie alle mächtig vergnügt mit ›Mister Medicus‹ anredeten. Ich habe sie nicht auseinanderhalten können. Wir haben uns hier ins Wohnzimmer gesetzt. Ich weiß nicht, wann Emanuel heimgekommen ist, aber mir scheint, es war lange, bevor sie sie hinausgetragen haben. Das einzige, was ich wirklich bewußt aufgenommen habe, war, daß eine Ambulanz kam mit ein paar Männern in Weiß, und einer von ihnen sagte zu einem der Polizisten: ›Tot bei Eintreffen, in Ordnung.‹ Ich habe mal einen Film gesehen, der hieß ›Tot bei Eintreffen‹. Bei wessen Eintreffen?«

»Sie schienen sehr interessiert, mich zu sprechen, nachdem ich zurückgekehrt war – das muß ich ja nicht extra betonen«, fuhr Emanuel fort. »Aber ich mußte mich erst einmal ans Telefon setzen und meinen Nachmittagspatienten absagen. Ich konnte sie nicht alle erreichen, und eine Patientin wurde von einem Polizisten wieder weggeschickt, was mir nicht besonders gefiel, aber vielleicht war es besser, als wenn ich in dem ganzen Durcheinander aufgetaucht wäre und sie heimgeschickt hätte. Jedenfalls ist ›Durcheinander‹ das richtige Wort. Wie gründlich die Polizei vorgeht, und wie wenig sie dabei begreift!«

Später am Abend gingen Kate seine Worte wie ein Echo durch den Kopf: Wie wenig sie begreift! Kaum hatte Emanuel das gesagt, schon war wieder ein Kriminalbeamter erschienen und hatte noch einmal mit ihnen sprechen wollen. Kate hatte er nach einem langen Blick gehen lassen. Aber die Fakten, dachte Kate, während sie müde ins Bett fiel, die Fakten, wenn es denn welche waren, sahen für Emanuel nicht so aus, daß die Polizisten, die alle einen soliden Untere-Mittelklasse-Hintergrund hatten, sie begreifen würden: daß nämlich ein Psychiater, auch wenn er vielleicht unter größerem Druck stehen mochte als andere Menschen, niemals ein Verbrechen in der eigenen Praxis, sozusagen auf dem Grund und Boden seiner eigenen Profession, begehen würde; daß Emanuel sich niemals mit einer Patientin einlassen würde, so schön sie auch sein mochte; daß Emanuel niemals jemanden ermorden könnte, bestimmt nicht mit einem Messer; daß ein Mann und eine Frau, die sich einmal geliebt hatten, nämlich sie und Emanuel, jetzt Freunde sein konnten. Was würde die Polizei mit so etwas anfangen, eine Polizei, die wahrscheinlich nur Sex auf der einen und Ehe auf der anderen Seite kannte. Und was war mit Nicola? »Sie war sehr schön«, hatte Nicola gesagt. Aber bestimmt war Nicola bei ihrer Analyse gewesen, das perfekte Alibi.

Als die beiden Schlaftabletten, die Kate genommen hatte – und sie hatte keine Schlaftablette mehr genommen seit dieser schrecklichen Geschichte mit dem giftigen Efeu vor sieben Jahren –, zu wirken begannen, konzentrierte sie ihre schwächer werdende Aufmerksamkeit auf den Arzt gegenüber. Offenbar der Mörder. Die Tatsache, und es war eine Tatsache, daß es nicht die geringste Verbindung von ihm zu irgend jemandem in dem Fall gab, schien, je mehr ihr Bewußtsein dahinschwand, immer weniger wichtig.