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»Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Messenger. Jerry folgte ihm mit einem gewissen Schwindelgefühl den Gang hinunter. Heute früh hatte er noch mit Kate geredet; jetzt, eine lächerlich kurze Zeit danach (obwohl das Zurückstellen der Uhr dafür auch ein Stück verantwortlich war), stand ihm das Gespräch mit Messenger bevor, obwohl er nicht die leiseste Idee hatte, was er eigentlich sagen wollte. Sich die Geschichte für die Sprechstundenhilfe auszudenken, war eine Sache gewesen, sein täppisches Herantasten an Horan eine zweite, aber für Messenger eigneten sich beide Techniken nicht. Jerry hätte das Besondere an Messengers Persönlichkeit nicht nennen können, aber er spürte es. Die Natur hatte Messenger mit keinem ihrer oberflächlichen Reize ausgestattet. Er sah nach nichts aus, hatte weder Wuchs noch Witz, nicht einmal eine gewisse Schlauheit. Er war nur schlicht er selber. Jerry würde es später Kate so zu erklären versuchen, aber ohne großen Erfolg. Alles, was ihm zu sagen einfiel, war, daß Messenger einfach da war. Die meisten Menschen hatten dieses oder jenes Gehabe an sich, waren aber nie einfach nur da, ganz sie selbst. Jedenfalls hatte Kates Instinkt nicht getrogen: Nur die Wahrheit war hier möglich.

Also erzählte er von Emanuel und Kate, von sich selbst und dem Auftrag, den er übernommen hatte, von den Lastwagen, die er gefahren hatte, und von der Law School, auf die er gehen wollte. »Wir bitten Sie um Ihre Hilfe«, sagte Jerry, »weil Sie der einzige Mensch zu sein scheinen, der möglicherweise eine Verbindung zwischen den unzusammenhängenden Teilchen herstellen kann. Janet Harrison hat Ihnen ihr Geld hinterlassen – da ist also eine Verbindung zwischen Ihnen und ihr, selbst wenn Sie sie nicht gekannt haben. Und Sie haben Barrister gekannt. Ansonsten besteht in diesem Durcheinander keine Beziehung zwischen zwei Personen, außer Kate und Emanuel natürlich, und keiner von beiden hat Janet Harrison getötet. Wenn Sie mir vielleicht etwas über Barrister erzählen könnten…«

»Ich fürchte, die wenigen Dinge, die ich Ihnen von ihm erzählen könnte, dürften nicht gerade Ihrem Zweck dienen, und der ist doch wohl, Mike die Rolle des Mörders zu verpassen. Natürlich hat er sich wahrscheinlich etwas verändert, wie die meisten Menschen. Ich hätte nie gedacht, daß Mike einmal als Arzt für reiche, kränkelnde Frauen enden würde, aber ich bin, nachdem ich es nun erfahren habe, nicht überrascht. Heutzutage ist es für Ärzte sehr leicht, eine Menge Geld zu machen, und die meisten tun das auch. Ich halte Ärzte nicht für geldgieriger als andere Leute – es gibt nur zu wenig Ärzte und zu viele Gelegenheiten, reich zu werden. Und die meisten Ärzte haben das Gefühl«, sagte Messenger lächelnd, »daß ihnen eine Gegenleistung für ihre so besonders lange und teure Ausbildung zusteht. Eine meiner Töchter denkt auch gerade daran, Ärztin zu werden, und ich habe mir ausgerechnet, daß das rund 32.000 Dollar kosten wird. Was ich mit alldem sagen will: Der Barrister, hinter dem Sie her sind, ist nicht mehr der Mike, den ich gekannt habe – und so genau habe ich ihn ohnehin nicht gekannt. Er war ein eher zurückhaltender Mensch.«

»Sie sind nicht reich?« Jerry wußte wohl, daß das nicht zum Thema gehörte, aber Messenger interessierte ihn.

»Und auch nicht von Adel. Zufällig bin ich an den meisten Dingen, die teuer sind, nicht interessiert, und ich bin mit einer Frau verheiratet, die es als tolle Herausforderung empfindet, mit dem auszukommen, was da ist. Sie liebt es, zu planen, Kleider zu nähen, vieles selber zu machen – auf die alte Art. Sie arbeitet gern. Und die Arbeit, die ich tue, ist für mich das Interessanteste und Wichtigste, was es gibt. Offen gesagt, bedaure ich jeden, der nicht solch eine Arbeit macht. Aber ich mache sie nicht, weil sie nicht gut bezahlt wird. Ich würde sie auch machen, wenn ich davon zufällig ein Krösus würde.«

»War Mike auch so ein Mensch, als Sie ihn kannten?«

»Wer weiß das schon? Als junger Mensch hat man seine Vorstellungen und Theorien, aber man weiß nicht, wer man ist, solange man sie nicht umsetzt und lebt. Haben Sie C. P. Snow gelesen?« Jerry schüttelte den Kopf. »Interessanter Schriftsteller, jedenfalls in meinen Augen; ob Ihr Professor Fansler zustimmen würde, weiß ich nicht. In einem seiner Bücher läßt er seinen Erzähler sagen, daß es nur eine Methode gibt, herauszubekommen, was man wirklich will: und die besteht in dem, was man hat. Aber Mike war damals zu jung, um diesen Test zu machen. Sie sind auch noch zu jung.«

»Ich will Ihnen mal folgendes erzählen«, fuhr Messenger fort, »obwohl ich fürchte, daß es Ihnen nicht sehr viel hilft – eher umgekehrt. Mike war nicht der Typ, der irgendwen hätte töten können. Einfach nicht fähig dazu, meiner Meinung nach. Um einen Mord auszuführen, braucht der Mensch zumindest zwei Eigenschaften, denke ich mir. Die eine könnte man eine Anlage zum Sadismus nennen, jedenfalls fällt mir kein besseres Wort ein, und die andere ist die Fähigkeit, sich ausschließlich auf das zu konzentrieren, was man erreichen will. Menschen nicht als Menschen anzusehen, sondern als Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen.«

»Sie meinen, er liebte die Menschen und die Tiere und konnte niemanden leiden sehen?«

Messenger lächelte. »Das klingt sentimental. Jeder Mensch, der Arzt werden will, weiß, daß Menschen etwas angetan werden muß, daß sie leiden. Menschen, die niemals jemandem Schmerz bereiten, bewegen auch nichts; und Mike wollte zumindest damals eine Menge bewegen. Ich weiß nicht mehr, was er gegenüber Tieren fühlte – jedenfalls besaß er keines, als ich ihn kannte. Was ich meine, klingt übertrieben, wenn man es in Worte faßt: Er hat um nichts in der Welt jemanden verletzen können – ich meine, zum Beispiel mit einem Witz oder mit einer schlauen Bemerkung. Und er war immer freundlich. Ich lese keine Gedichte, aber ich mußte mir einige damals im College anhören, und an eine Verszeile erinnere ich mich noch heute. Sie sagt viel über das heutige Leben, vielleicht überhaupt über das Leben, »greetings where no kindness is«. Mike hatte immer solch einen Gruß parat. Sie müssen jetzt nicht glauben, ich beschriebe Ihnen einen Heiligen. Mike sah sehr gut aus und wirkte auf Frauen. Er hatte viel Spaß.«

Jerry sah ihn deprimiert an. Es schien furchtbar, daß ihr Hauptverdächtiger sich als keines Mordes fähig entpuppen sollte. Aber schließlich war das hier nur Messengers Meinung, und hatte Messenger so ganz den Durchblick?

Er, Jerry, war einmal im College (um ein Beispiel zu nehmen) an einem Ulk beteiligt gewesen, den sie sich mit einem linkischen, ziemlich weichlichen Jüngling und einer äußerst raffinierten und erfahrenen jungen Frau gemacht hatten. Die Erinnerung daran machte ihm noch heute spürbaren Spaß. Und bestimmt war Freundlichkeit etwas, über das es sich bisher noch nicht viele Gedanken gemacht hatte – und das galt auch für diesen Quatsch mit den Grüßen… Und er war deswegen doch nicht gleich fähig, einen Mord zu begehen. Selbst dann nicht, wenn… also, genau wußte man es nie -; darauf lief es hinaus. Wenn man es nämlich wüßte, dann gäbe es weniger ungelöste Mordfälle.

Messenger schien seine Gedanken zu lesen. »Also, ich bin da keine Autorität, ich habe die menschliche Natur nicht studiert. Das sind nur meine Eindrücke.«

»Sie haben sich als Studenten ein Zimmer geteilt, Sie und Barrister. Kannten Sie ihn schon vorher?«

»Nein. Das Hospital half bei der Suche nach Zimmern und Zimmergenossen. Wenn wir Dienst hatten, schliefen wir natürlich im Hospital, so daß unser Zuhause wirklich nur zum Schlafen zwischendurch da war. Außer einer gebrauchten Kühlbox für unser Bier gab es dort nichts.«

»Haben Sie jemals Barristers Familie kennengelernt?«

»Er hatte keine, die der Rede wert wäre. Die Polizei hat das sicher alles schon geklärt. Der Kriminalbeamte, der hier mit mir gesprochen hat, hat das auch erwähnt. Mike war Waise, wie er allzu gerne mit einem Grinsen sagte. Er war das einzige Kind eines Einzelkindes und bei seinen Großeltern aufgewachsen. Sie waren beide schon tot, als ich ihn kennenlernte. Soviel ich weiß, hatte er eine glückliche Kindheit. Ich erinnere mich, daß er mal über Lawrence gesprochen hat, ich meine den Schriftsteller. Mike war eine Leseratte.«

»Die Literatur scheint mich in diesem Fall zu verfolgen.«

»Seltsam, nicht? Ich habe von einem Gedicht geredet und von Snow, dabei habe ich mich, glaube ich, seit Jahren nicht mehr eines literarischen Vergleichs schuldig gemacht. Vielleicht ist das der Einfluß Ihrer Professorin Fansler. Ich weiß nicht, warum ich im Zusammenhang mit Mike unbedingt auf Bücher komme. Aber das einzige, was er mir aus seiner Kindheit erzählt hat, hatte mit D. H. Lawrence zu tun.«

»Mit ›Lady Chatterley’s Lover‹?« fragte Jerry.

»Ich glaube nicht. Kommen da irgendwelche Kinder vor?«

»Nein«, sagte Jerry. »Jedenfalls keine schon geborenen.«

»Dann war es nicht das. In diesem Buch kam ein kleines Mädchen vor, das aus irgendeinem Grund Angst hatte, und ihr Stiefvater trug sie mit sich herum, während er die Kühe fütterte. Ich weiß wirklich nicht, wo da der Zusammenhang ist, denn Mikes Großvater hatte keine Kühe. Aber die Art, wie sein Großvater ihn tröstete, nachdem seine Eltern umgekommen waren – die habe Lawrence eingefangen, sagte Mike. Das klingt alles nicht sehr wichtig. Ich weiß nicht, warum ich es erwähne. Wie dem auch sei, Mike hatte kaum Verwandte; es gab aber eine alte Dame, der er regelmäßig schrieb.«

»Hatte er damals ein Verhältnis zu einer bestimmten Frau?«

»Nicht, daß ich wüßte. Wahrscheinlich glauben Sie, Janet Harrison kannte ihn aus dieser Zeit, und ich wußte nichts davon. Das ist natürlich denkbar. Mike hat nie über seine Freundinnen geredet, aber sicher weiß die Polizei, wo Janet Harrison zu der Zeit gelebt hat.«

»Ging er oft aus?«

»Nein. Wenn wir mal einen Augenblick Pause hatten, dann schliefen wir.«

»Wie lange waren Sie zusammen?«

»Ungefähr ein Jahr. Praktisch, solange unsere Ausbildung am Hospital dauerte. Dann ging ich nach Chicago. Mike dachte auch daran, hat es dann aber nicht getan.«

»Wohin ging er?«

»Nach New York. Das wissen Sie ja.«

»Haben Sie von ihm aus New York gehört?«

»Nein. Ich glaube, er ist nicht gleich nach New York gegangen. Er hat erst einmal Urlaub gemacht, Camping. Wir lieben beide Camping. Ich hatte eigentlich vor, mit ihm zu fahren, aber das zerschlug sich in letzter Minute. Er fuhr nach Kanada – ich habe eine Karte von ihm bekommen. Das habe ich auch alles dem Kriminalbeamten gesagt. Es war das letzte, was ich von ihm gehört habe, bis auf die üblichen Weihnachtsgrüße. Die haben wir uns noch ein paar Jahre lang geschickt.«

»Eigentümlich, daß Sie ihn nie in New York getroffen haben.«

»Ich bin nur ein paarmal dort gewesen, auf medizinischen Kongressen. Ich nahm immer meine Familie mit und verbrachte jede freie Minute mit ihr. Einmal bin ich Mike begegnet, aber wir hatten eigentlich keine Zeit, uns zu unterhalten. Es gab auch keinen besonderen Grund dafür.«

»Ich weiß jetzt ganz gut Bescheid. Bleibt die Frage, warum sie Ihnen das Geld hinterließ. Sie haben ihr nicht mal zufällig das Leben gerettet und es dann vergessen?«

»Ich rette keine Leben. Ich kann natürlich nicht ausschließen, daß mein Auge einmal auf ihr geruht haben könnte, aber ich glaube es nicht, und ganz bestimmt nicht länger als einen Augenblick. Jedenfalls entdecke ich keinen Sinn hinter der Sache. Sie wissen wirklich nicht, ob Mike ihr jemals begegnet ist? Die Tatsache allein, daß ich Mike einmal gekannt habe, beweist eigentlich nichts. Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«

»Werden Sie das Geld annehmen? Vielleicht habe ich gar nicht das Recht, Sie danach zu fragen.«

»Das ist eine ganz verständliche Frage. Ich weiß gar nicht, ob ich das Geld wirklich bekomme. Das Mädchen wurde ermordet, und sie hat Familie, die das Testament wahrscheinlich anfechten wird. Aber wenn ich das Geld bekäme, würde ich es auch nehmen, vorausgesetzt, es gibt niemanden, der wirklich Anspruch darauf hat. Ich könnte das Geld schon gebrauchen – wer wohl nicht? Das ist das Sonderbare an einem Glücksfall – man erwartet ihn nie, und wenn er dann eintrifft, ist man überzeugt, daß man ihn irgendwie verdient hat.«

»Wußte Mike, daß Sie in die Forschung gehen würden?«

»Oh, ja, das wußten alle. Mike pflegte dazu immer zu bemerken, wenn ich vorhätte, den Rest meines Lebens mit viertausend pro Jahr zu verbringen – soviel zahlten sie damals –, dann sollte ich besser eine reiche Frau heiraten oder eine, die gerne selber arbeitet. Ich habe, wie Sie sehen, seinen Rat befolgt, jedenfalls den zweiten Teil.«

Jerry hätte seine Fragen noch weiter ausspinnen können – ihm fiel noch eine ganze Menge ein, aber er konnte sich die Antworten zum Großteil denken, und sie schienen ihm nicht wichtig. Natürlich könnte Messenger auch gelogen haben. Er könnte mit Barrister seit Jahren unter einer Decke gesteckt haben. Aber selbst wenn sie diesen Mord gemeinsam für die Summe von 25000 Dollar ausgeheckt haben könnten – Messenger sah nicht aus, als sei er dazu fähig. Seine Aufrichtigkeit war so offensichtlich, daß Jerry unmöglich mit ihm zusammen sein und gleichzeitig auch nur an die Möglichkeit seiner Beteiligung an einem solchen Komplott denken konnte. Er mochte schlau genug dafür sein, doch er schien einer der seltenen Menschen zu sein, die sagen, was sie meinen, und meinen, was sie sagen – kaum von der Art, die sich so teuflische Pläne ausdenken können. Jerry erhob sich.

»Da gab es noch etwas«, sagte er, »obwohl ich Sie damit eigentlich nicht belästigen muß. Sie würden mir damit nur ein paar Nachforschungen ersparen. In der Juristerei müssen Sie Ihr Examen in dem Staat ablegen, in dem sie als Anwalt praktizieren wollen. Jedenfalls gilt das für den Osten. Natürlich gibt es gewisse Absprachen, aber wenn man in New York praktiziert, dann muß man auch das New Yorker Examen haben. Mit dem Examen von Jersey geht das nicht. Gilt so etwas auch für die Medizin? Mußte Barrister das New Yorker Examen haben, um dort seine Praxis aufmachen zu können?«

»Nein. Es gibt das sogenannte National Board of Medical Examiners – von dem erhält man ein Zertifikat, das von praktisch allen Bundesstaaten akzeptiert wird. Es gibt ein paar Ausnahmen, an die ich mich nicht mehr im einzelnen erinnere, aber New York gehört nicht dazu. Einige andere Staaten verlangen eine zusätzliche mündliche oder schriftliche Prüfung. Aber Mike mußte keine weitere Prüfung machen, um seine Praxis in New York aufzumachen – wahrscheinlich mußte er sich nur registrieren lassen oder so etwas ähnliches.«

»Danke, Dr. Messenger. Sie waren sehr freundlich.«

»Ich war Ihnen keine große Hilfe, fürchte ich. Melden Sie sich, wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt. Ich denke, Sie werden feststellen, daß Mike es nicht getan hat. Manche Menschen hinterlassen einen Nachgeschmack. Bei Mike war das ein anderer.« Er begleitete Jerry zur Tür. Jerry ging zum Hotel zurück, um von dort ein Ferngespräch mit Kate zu führen, und spürte, daß Messenger zweifellos einen guten Nachgeschmack hinterließ. Aber der Fall als solcher hatte inzwischen einen Geschmack angenommen, den man nur noch als ranzig bezeichnen konnte.