9

 

Jerry war nicht im Kino. Es hätte ihn auch geärgert, wenn er gewußt hätte, was Kate vermutete; um so mehr hätte sich Kate jedoch geärgert, wenn sie gewußt hätte, was er wirklich tat. Er lauerte nämlich Emanuel auf.

Es war nicht direkt so, daß Jerry Kates Überzeugung von der Unschuld Emanuels anzweifelte. Die beiden waren Freunde, das wußte Jerry, und er vermutete noch ein bißchen mehr – obwohl Kate sich in diesem Punkt nur sehr vage ausgedrückt hatte –, und das sprach sehr für Emanuels Unschuld, weil Frauen, davon war Jerry überzeugt, nicht automatisch eine hohe Meinung von Männern hatten, die sie zwar geliebt, aber nicht geheiratet hatten. Dennoch war für Jerrys männliches und daher objektives Einsichtsvermögen Emanuel immer noch der Verdächtige Nummer Eins, und die Tatsache, daß Kate von seiner Unschuld überzeugt war, wog nicht so schwer für Jerry, wie er behauptete. Auch wenn er bereit war, Kates Instruktionen zu folgen – schließlich bezahlte sie ihn dafür –, so konnte er sie sicher mit größerem Sinn für’s Zweckmäßige ausführen, wenn er mit Emanuel gesprochen hatte. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren hatte Jerry großes Vertrauen in seine Fähigkeit, Menschen richtig einzuschätzen.

Natürlich konnte er nicht einfach hineinmarschieren und sich Emanuel als Kates Assistenten und Neffen in spe präsentieren. Erstens hatte Kate Emanuel gar nichts über seine, Jerrys, Rolle bei den Nachforschungen erzählt, und zweitens war es wichtig, Emanuel unvorbereitet zu erwischen. Er wollte herausfinden, ob Emanuel, der ja nun um elf Uhr einen Termin frei hatte, einfach loswandern würde. Kate und Nicola waren überzeugt davon.

Also besorgte Jerry sich in einem Laden an der Madison Avenue ein Fensterleder – das er tugendhaft nicht auf seine Spesenrechnung setzte – und fing an, gegenüber dem Eingang zu Emanuels Praxis ein Auto zu polieren. Von dort aus hatte er einen sehr guten Überblick über alles, was ein und aus ging, und zugleich einen guten Grund, in einer eleganten Straße herumzulungern, in der man nicht gerade zum Herumlungern ermutigt wurde. Prekär würde die Sache nur werden, wenn der Besitzer des Wagens erschiene, aber Jerry war darauf vorbereitet.

Um fünf vor elf trat ein junger Mann aus dem Gebäude. Aller Wahrscheinlichkeit nach Richard Horan. Jerry duckte sich, polierte den Kotflügel und sah sich den Mann genau an. Mr. Horan war später an der Reihe. Zu Jerrys nicht geringem Erstaunen sah Mr. Horan so aus, wie man sich in Hollywood einen »jungen Madison-Avenue-Angestellten auf dem Weg nach oben« vorstellte. Weil Horan eine Analyse machte, hatte Jerry ihn sich ein wenig unsicherer und gehetzter vorgestellt. Aber hier ging die personifizierte Selbstsicherheit. Jerry fühlte Erleichterung, über deren Ursprung er sich allerdings keine Rechenschaft gab. Tatsächlich war er, ohne es selber zu wissen, froh, daß er mit Mr. Horan kein Mitleid zu haben brauchte.

Nachdem das Objekt seines prüfenden Blickes verschwunden war – in Richtung Madison Avenue, wie passend – polierte Jerry weiter an dem Wagen herum, allerdings nicht mehr so fleißig, und er legte eine Zigarettenpause ein. Er sah, wie eine Frau das Haus betrat und eine andere herauskam, vermutlich auf dem Wege zu und von Dr. Barrister. Zu seiner Überraschung paßten beide Frauen nicht in die Rubrik »älter« oder »ältlich«. Die eine war sogar eindeutig jünger als Kate, die Jerry, auch wenn er sich eher umgebracht hätte, als es ihr gegenüber zuzugeben, als Frau »mittleren Alters« einschätzte. (Kate hatte natürlich viel zu viel Erfahrung mit Studenten in Jerrys Alter, als daß sie das nicht genau gewußt hätte.) Er zwang sich, sorgfältig die ganze Seite des Wagens zu polieren und mit übertriebener Gemächlichkeit die nächste Zigarette zu rauchen, ehe er sich der Frage widmete, was nun als nächstes geschehen sollte. Er war beinah entschlossen, hineinzugehen und sich irgendeine Geschichte für Emanuel auszudenken, als Emanuel, eine Zigarette rauchend, aus der Tür trat und sich auf den Weg in den Park machte.

Jerry war natürlich nicht ganz sicher, ob das Emanuel war, aber der Mann war im richtigen Alter und trug zudem äußerst schäbige Kleidung, wie sie ein Bewohner eines so luxuriösen Hauses niemals tragen würde, mit Ausnahme dieses exzentrischen Menschen, der in alte Sachen stieg, um einen Dauerlauf um den See zu machen. Jerry faltete das Fensterleder ordentlich zusammen und ließ es als Anzahlung für die Nutzung des Wagens auf dem Kotflügel liegen. Er folgte dem Mann in den Park.

Was er als nächstes zu tun hatte, war ihm keineswegs klar. Um den See herum hinter ihm hertrotten, ihm vielleicht ein Bein stellen und ihn dann unter vielerlei Entschuldigungen in ein Gespräch verwickeln? Emanuel war sicherlich kein Dummkopf; konnte er also damit durchkommen? Vielleicht würde sich am See etwas ergeben. Eines war offensichtlich: Dieser Mann lief los mit dem Nachdruck und der physischen Energie eines Menschen, der zu lange gesessen hatte und jetzt einfach Bewegung brauchte. Das erklärte auch, wieso er sich die Mühe machte, für knapp eine halbe Stunde Laufen die Kleidung zu wechseln.

Aber zum Laufen sollte es erst gar nicht kommen. Emanuel verlangsamte seine Schritte auf einem der Wege so sehr, daß Jerry ihm gefährlich nahe kam. Was ihn anhalten ließ, war eine Frau – wie alt mochte sie sein, so dick, auffallend geschminkt und offenbar dem Wahnsinn nahe, wie sie daherkam? Sie weinte, und die Wimperntusche rann in schwarzen Bächen über ihr nicht mehr junges Gesicht und vermischte sich mit dem Rouge. Andere, die sie sahen, grinsten, die meisten drehten sich einfach weg und gingen am Wegrand entlang, um ihr auszuweichen. Auch Jerry reagierte instinktiv so.

Aber Emanuel blieb stehen. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte er die Frau. Jerry ließ sich unbemerkt hinter Emanuel auf eine Bank fallen. Die Frau musterte ihren Gesprächspartner argwöhnisch.

»Ich habe ihn verloren«, jammerte sie, »ich bin nur ein bißchen weggedöst, und da ist er verschwunden. Ich schlafe nachts nämlich nicht gut.«

»Ihr Kleiner?« fragte Emanuel.

Sie nickte. »Ich hatte seine Leine an der Bank festgebunden, aber er muß sie gelockert haben. Cyril, Liebling, komm zu Mama«, fing sie an zu rufen. »Tun Sie ihm ja nichts«, sagte sie zu Emanuel.

»Wie groß ist er denn?« fragte Emanuel. »Welche Farbe?« Für Jerry war es eine groteske Szene. Aber Emanuel legte seine Hand auf den Arm der Frau. »Was für eine Farbe hat er?« fragte er noch einmal. Die Geste schien sie zu beruhigen.

»Braun«, sagte sie. »So groß«, und dazu machte sie eine Bewegung, als hielte sie einen kleinen Hund auf dem Arm. Mit Liebe im Blick sah sie auf ihren leeren Arm.

»Er wird nicht weit gelaufen sein«, sagte Emanuel. Inzwischen hatte sich eine kleine Gruppe Neugieriger um sie versammelt. Emanuel fing an, in den Büschen in der Nähe zu suchen, und ein paar Männer schlossen sich ihm an, wenn auch mit einem Schulterzucken, das zeigen sollte, für wie unsinnig sie das alles hielten. Jerry zwang sich, auf seinem Platz zu bleiben. Es war einer von den anderen Männern, der den Hund fand, vielleicht fünf Minuten später, der sich ganz in der Nähe in etwas Undefinierbarem wälzte, was ihm offensichtlich sehr gefiel. Mal was anderes als auf dem Arm der Frau da, dachte Jerry.

Die Frau nahm den Hund wieder an die Leine, schalt ihn einen schlimmen, schlimmen Kerl und ließ Emanuel stehen, als wäre er ein Stadtstreicher, der sie anzusprechen gewagt hatte. Der Mann, der den Hund gefunden hatte, tippte sich bedeutungsvoll gegen die Stirn. Emanuel nickte und sah auf seine Uhr. Keine Zeit mehr für eine noch so schnelle Runde. Um zwölf Uhr hat er den nächsten Patienten, dachte Jerry, und er muß noch seine Kleidung wechseln. Emanuel ging mit langsamen Schritten zurück in Richtung Fifth Avenue. Jerry folgte ihm nicht. Er blieb auf der Bank sitzen und dachte über Richard Horan nach. Die Notwendigkeit, mit Emanuel zu sprechen, hatte sich irgendwie in der Morgenluft aufgelöst.

Nach einer weiteren halben Stunde Sitzen im Park betrachtete Jerry den Beruf des Detektivs mit weniger Unbekümmertheit als noch am Morgen. Tatsächlich kam er sich eher wie ein Dummkopf vor. Er hatte Kate zwar leichthin verkündet, daß er sich um einen Job in Richard Horans Werbeagentur bewerben wollte, aber im Grunde war es alles andere als eine brillante Idee. Gut, er brauchte sich ja nicht direkt nach einer Anstellung zu erkundigen, aber ohne Frage mußte er in die Agentur gehen und sich dort umschauen. Vielleicht würde sich herausstellen, daß er am besten Mr. Horan nach Hause folgte – Jerry widmete sich nicht allzu lange der Frage, wohin, wenn überhaupt, dieser Weg ihn führen würde –, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich jetzt auf Horan zu konzentrieren.

Er fuhr mit dem Bus die Madison Avenue entlang Richtung Innenstadt und zog während der Fahrt das Foto von dem jungen Mann heraus, um es zu studieren. Konnte es sich womöglich um ein Bild von Horan handeln? Als er sein Opfer von seinem Standort hinter dem Kotflügel betrachtet hatte, hatte Jerry nur einen allgemeinen Eindruck gewonnen. Eine genaue Erinnerung an das Gesicht hatte er nicht. Gewiß sollte ein Detektiv, der einmal einen Blick auf einen Mann geworfen hat, dessen Gesicht nie wieder vergessen; Jerry hatte es keineswegs vergessen, aber er hatte sich auch nichts gemerkt. Dennoch war er sich ziemlich sicher – und er schluckte seine Bedenken hinunter –, daß Horan dem Mann auf dem Bild hier nicht ähnlich sah. Aber dem konnte man ja noch genauer nachgehen.

Es gehört zu den seltsamen Winkelzügen des Schicksals, daß es, wenn wir erst einmal zugegeben haben, ein Dummkopf und ganz allein schuld an den eigenen Fehlern zu sein, uns plötzlich das Glück wie auf einem Silberteller serviert. Die alten Griechen wußten das natürlich, doch Jerry mußte es noch lernen. Jahre später würde Jerry auf diese Phase seines Lebens zurückschauen als auf eine Zeit, in der er gelernt hatte, daß man zwar tun muß, was man kann, der Erfolg aber niemals allein das Resultat der eigenen Anstrengungen ist. Während er aus dem Bus stieg, war er sich jedoch nur seiner eigenen Unzulänglichkeit bewußt.

Für Jerry hatten alle Werbeagenturen absolut blödsinnige Dingsbums-Namen, die er sich nie merken konnte. Die Firma Dingsbums, nach der er jetzt suchte, residierte im achtzehnten Stock. Jerry trat aus dem Fahrstuhl und kam sich vor wie irgendwo im Weltraum. Bestimmt gab es eine Empfangsdame. Doch ob das so war, sollte Jerry nicht mehr erfahren. Eine Hand senkte sich auf seine Schulter, und Jerry war sicher, daß seine Haare augenblicklich anfingen, grau zu werden.

»Was tun Sie hier? Erzählen Sie mir nicht, Sally habe Ihnen geraten, in die Werbebranche zu gehen. Lassen Sie sich einen Rat von mir geben, bleiben Sie beim Gesetz.«

Es war Horan. Jerry starrte ihn mit offenem Mund an, als wäre er ein Alligator, der sich in seine Badewanne verirrt hatte.

»Sie sind doch der Jerry, der mit Sally Fansler verlobt ist, nicht? Wir sind uns mal auf einer Party begegnet… Stimmt irgend etwas nicht?« Jerry sah in der Tat so aus, als fiele er gleich in Ohnmacht.

»So klein ist die Welt«, brachte er über die Lippen. »Um eine Phrase zu gebrauchen«, fügte er hinzu und deckte so die Albernheit des ersten Klischees mit dem zweiten zu.

»So ist es, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich vertrete die Meinung, es gibt nur fünfzig Leute auf der Welt, und die machen dauernd die Runde. Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«

Liebe, wundervolle, glückliche Sally, die wirklich alles und jeden kannte. Irgendwie hatte Jerry die Vorstellung gehabt, daß ihm das einmal nützlich sein könnte – er dachte Jahre voraus, an seine Tätigkeit als Anwalt –, doch jetzt fing er an, Sallys vielfältige Verbindungen in noch hellerem Licht zu sehen. Im Scherz hatte er oft zu Sally gesagt, sie beide läsen offenbar jeden Morgen zwei verschiedene Ausgaben der ›Times‹. Sie warf nie einen Blick auf die Sport-Seite; Afrika, der Nahe Osten, Rußland und die Vorgänge im Congress berührten gerade die Randzonen ihres Bewußtseins; und wenn sie, um ihr Leben zu retten, die Namen der neun Richter des Obersten Bundesgerichts aufzuzählen hätte, würde sie gerade Warren nennen können und sterben. Dafür war die ›Times‹ für sie voll kleiner Meldungen über Leute, die die Stelle wechselten, heirateten, sich scheiden ließen, Prozesse führten, und keine dieser Meldungen wurde jemals wieder vergessen. Sie »kannte« nicht nur »jeden« kreuz und quer durch die Kontakte von Familie, Schule, College und Verabredungen – aus denen bestand ihre gesellschaftliche Welt –, sie wußte auch über jeden alles.

»Mein Bruder Tom hat sich ein paarmal mit Sally getroffen«, sagte Horan, während sie, immer noch wie im Traum, wieder in den Fahrstuhl zurücktraten. »Was treiben Sie denn so?«

Zum Lunch gestattete Jerry Horan, ihm einen Gibson zu spendieren. Er war es nicht gewöhnt, mitten am Tag Alkohol zu trinken, aber hier ging es darum, einen schwer angeschlagenen Mann wieder auf die Beine zu bringen. Selbst durch einen Schleier von Alkohol war eindeutig klar, daß Horan nicht der Mann war, dessen Bild jetzt in der Innentasche von Jerrys Jacke steckte. Außerdem – könnte jemand aus Sallys Welt ein Mädchen auf einer Couch erdolchen? Nicht aus Leidenschaft, sondern als kühl kalkuliertes Verbrechen?

»Sie machen eine Analyse?« fragte Jerry. Er hörte seine eigenen Worte mit Schrecken. Er hatte vorgehabt, sich im Gespräch auf verschlungenen Wegen diesem Thema zu nähern. Er hätte den Gibson doch nicht trinken sollen. Was gab er doch für einen Detektiv ab! Jerry stopfte sich den Mund mit einem Stück Brot und hoffte, wenn auch nicht allzu wissenschaftlich begründet, daß es den Alkohol aufsaugen möge.

Jetzt war Horan an der Reihe, ihn geschockt anzusehen. »Mein Gott!« sagte er, »woher haben Sie das?«

»Ach, von nirgends«, sagte Jerry und wedelte mit der Hand. »Ist nur so eine Redensart, wie man sie heutzutage im Repertoire hat. Man stellt sie halt in den Raum und wartet, wie sie ankommt.« Er setzte ein ermunterndes Lächeln auf.

Horan sah aus wie ein Mann, der sich hinabbeugt, um einen Hund zu streicheln, und entdeckt, daß es eine Hyäne ist. Das Essen wurde aufgetragen und sorgte für eine willkommene Unterbrechung. Jerry fing an, ziemlich schnell zu essen. »Tut mir leid«, murmelte er schließlich.

Horan machte eine verzeihende Handbewegung. »Ich mache tatsächlich eine Analyse. Das ist eigentlich kein Geheimnis. Und mein Analytiker ist genau der Mann, auf dessen Couch gerade ein Mädchen ermordet worden ist.«

»Haben Sie trotzdem bei ihm weitergemacht?« fragte Jerry treuherzig.

»Warum nicht? Er war es natürlich nicht, zumindest glaube ich das. In meiner Familie meinen sie, ich sollte aufhören, aber, zum Teufel, man kann doch nicht von jedem sinkenden Schiff springen. Um eine Phrase zu gebrauchen«, fügte er hinzu.

»Haben Sie das Mädchen gekannt?« Nachdem er einmal damit angefangen hatte, direkte Fragen zu stellen, dachte Jerry, es sei das beste, so weiterzumachen.

»Nein, habe ich nicht, leider. Ich habe sie öfters im Wartezimmer gesehen, wenn ich hinausging, aber ich wußte nicht einmal ihren Namen. Verdammt gutaussehend. Ich sagte einmal zu ihr, ich hätte zufällig zwei Eintrittskarten für eine Show an dem Abend, und wenn sie Lust hätte, mitzugehen – tatsächlich hatte ich sie an dem Morgen bei einem Schwarzmarkthändler gekauft –, aber sie wollte nicht. Kalt wie ein Fisch. Trotzdem seltsam, daß jemand sie ermordet haben soll.«

Das klang schrecklich nach der Wahrheit. Aber Mörder waren sicher auch gute Lügner.

»Ist Ihr Analytiker gut in seinem Beruf?« fragte Jerry.

»Äußerst angesehen. Er sitzt wirklich zwanzig Minuten da und wartet, wenn ich den Mund nicht öffne. Offenbar ärgere ich mich trotzdem über ihn. Jedenfalls habe ich das geträumt.« Jerry sah ihn interessiert an. »Man soll ihnen natürlich auch seine Träume erzählen. Habe nie gedacht, daß ich viel träume, aber man tut es, wenn man sich nur dazu bringt, sie sich zu merken. Also, in diesem Traum war ich bei Brooks Brothers, um mir einen Anzug zu kaufen. Der Anzug kam mir verdammt teuer vor, aber ich habe ihn genommen, und als ich ihn zu Hause anprobierte, paßte er überhaupt nicht. Ich brachte ihn in den Laden zurück und geriet mit dem Verkäufer in einen heftigen Streit darüber, daß man mir viel zu viel dafür abgenommen habe, der gottverdammte Anzug sei keinen Heller wert. Ich wachte regelrecht wütend auf und sauste los, Dr. Bauer davon zu erzählen. Anscheinend war es ein ganz einfacher Traum. Ich ärgerte mich über ihn, über Dr. Bauer, und fühlte mich von ihm betrogen, weil er für so viel Geld nichts anderes tut, als mir zuzuhören, aber das war ein Gedanke, dem ich mich nicht stellen wollte, und so habe ich ihn auf diese Weise im Traum verarbeitet. Schlau, was?«

Das hörte sich zweifellos wie eine glänzende Lektion über die Technik der Analyse an, aber für das, was Jerry wissen wollte, war es zwecklos. Oder konnte jemand so wütend auf seinen Analytiker sein, daß er ihm einen Mord anhängte? Ein interessanter Gedanke. Jerry fragte sich, ob Analytiker das jemals als eines ihrer Berufsrisiken betrachteten. Kein schlechtes Motiv, wenn Jerry genau darüber nachdachte. Flüchtig ging ihm die Frage durch den Kopf, wie es Kate wohl mit Frederick Sparks erging.

»Mißverstehen Sie mich nicht«, sagte Jerry, »aber haben Sie jemals den Wunsch gehabt, Dr. Bauer umzubringen?«

»Nicht ihn umzubringen«, antwortete Horan, offensichtlich keineswegs gekränkt, »obwohl Gott allein weiß, was einem so durch das düstere Unterbewußtsein schleicht. Man hat natürlich seine Phantasien über seinen Analytiker, doch meistens nur als Bild: Man trifft jemanden, der ihn auch kennt und von dem man nun all die schmutzigen Geheimnisse aus seinem Leben erfährt, oder er läßt seine professionelle Aura fallen und bittet um Hilfe. Was einen ganz besonders verrückt machen kann bei einem Analytiker: Man erzählt ihm einen Witz, sogar einen verdammt komischen Witz, und hinter einem herrscht totales Schweigen. Aber am Abend geht er bestimmt zu seiner Frau – ich nehme an, er ist verheiratet – und sagt: ›Habe heute einen verdammt komischen Witz gehört, von einem meiner Patienten.‹«

»Hilft er Ihnen eigentlich bei dem Problem, das Sie zu ihm gebracht hat?«

»Also, bis jetzt natürlich nicht, die Behandlung hat gerade erst angefangen. Wir haben schon eine Menge interessantes Material aufgedeckt. Zum Beispiel hat sich herausgestellt – obwohl ich mich gar nicht daran erinnere –, daß ich die ganze Zeit, als meine Mutter mit meinem Bruder schwanger war, Bescheid gewußt habe. Die Analyse hat mir auch schon bei meiner Arbeit geholfen.«

»Hatten Sie da mal eine Blockade?«

»Nicht direkt. Wir haben einen Kunden, der elegante Möbel herstellt, und ich habe mir dazu eine Anzeige ausgedacht: ein Raum mit nur zwei Möbelstücken, eine Couch und einen Stuhl hinter dem Kopfende, beides natürlich edle Stücke. Habe dafür ganz schön Lob eingeheimst.«

Horan fing an, über andere Dinge zu reden, die nichts mit der Analyse zu tun hatten, und Jerry hatte nicht mehr die Energie, ihn wieder auf das Thema zurückzubringen. Er wirkte jedenfalls nicht wie ein Mörder. Vielleicht hatte er jemanden beauftragt, die Sache für ihn zu übernehmen. Aber war so etwas, von der Welt der organisierten Kriminalität einmal abgesehen, wirklich möglich? Und wußte Horan Bescheid über die komplizierte häusliche Organisation bei Emanuel? Daß er nicht sicher wußte, ob Emanuel verheiratet war oder nicht, könnte eine raffinierte Finte gewesen sein. Konnte einer wie Horan wirklich genauso erscheinen, wie er war, ohne es zu sein?

Jerry verabschiedete sich von Horan, der das Mittagessen für ihn mit übernommen hatte, einigermaßen deprimiert und mit heftigen Kopfschmerzen. Was sollte er unternehmen, bis Dr. Barristers hübsche Sprechstundenhilfe Feierabend hatte? Nach einigen Augenblicken fruchtlosen Nachdenkens ging Jerry in ein Kino mit Doppelprogramm.