8

 

Jerry erschien am nächsten Morgen um Viertel vor neun in Kates Wohnung. Sie hatten beschlossen, daß er jeden Morgen um diese Zeit zu einer Besprechung kommen sollte. Kate nahm an, ohne ihn direkt danach zu fragen, daß seine Mutter, seine Freunde und seine Verlobte immer noch glaubten, er sei mit dem Laster unterwegs.

»Eines macht mir Gedanken«, sagte Kate. »Warum hat der Mann, wer immer es war, die Uniform nicht zurückgebracht? Hätte er sie vor zwölf zurückgelegt, dann wäre dem Hausmeister gar nicht aufgefallen, daß sie weg war. Warum hat der Hausmeister übrigens nicht der Polizei erzählt, daß sie gestohlen wurde?«

»Die zweite Frage zuerst: Der Hausmeister hat der Polizei nichts davon erzählt, weil er die Polizei nicht mag und weil sie ihn sonst vielleicht ›hineingezogen‹ hätte oder auf die Idee kommen könnte, daß er mit in der Sache steckt. Der Diebstahl der Uniform könnte das Ganze so aussehen lassen wie eine interne Geschichte.«

»Wie schnell du dir den entsprechenden Jargon angewöhnst.«

»Und um auf die erste Frage zu antworten«, sagte Jerry und ignorierte ihren Einwurf, »er hat die Uniform nicht zurückgelegt, weil es schon riskant genug war, sie zu stehlen. Warum das doppelte Risiko eingehen und doppelt Gefahr laufen, erwischt zu werden? Außerdem stelle ich mir vor, es war für ihn so viel leichter, unbemerkt wieder herauszukommen. Einen Mann in Hausmeisteruniform beachtet man nicht weiter. Ein Mann, der mit Anzug und Aktenkoffer aus einem Studentinnenheim kommt, würde sehr wohl bemerkt. Besser, die Uniform für ein schnelles Verschwinden zu benutzen und sie dann in irgendeinem Müllschlucker verschwinden zu lassen.«

»Was hat er mit seinen eigenen Kleidern gemacht, als er die Uniform anzog?«

»Wirklich, Kate, du hast in diese Dinge nicht den richtigen Einblick, wenn du mir nicht übelnimmst, daß ich das sage. Er hat sie natürlich über seine eigenen Sachen gezogen. Der Hausmeister hat unglücklicherweise eine etwas ausladende Figur, wir brauchen also nicht gerade nach einem winzigen Mörder Ausschau zu halten. Solche Uniformen werden natürlich immer weitergegeben, niemand erwartet mehr als eine annähernde Paßform.«

»Also«, sagte Kate, »ich habe beschlossen, vorerst einmal Thomas Carlyle im Stich zu lassen. Schon ein entzückender Mann, auf seine Weise, aber nicht gerade erholsam. Er fordert schrecklich viel Zeit. Ich sollte mich besser an Frederick Sparks heranmachen. Schließlich arbeitet er auf meinem Gebiet – ich kenne sogar ein paar Leute an seinem Englisch-Institut –, und wenn er ein Motiv haben sollte, dann kriege ich das wohl eher heraus als du. Also bleibt dir die Werbebranche. Vielleicht hat einer von uns schon heute abend einen Verdächtigen mit einem schönen runden Motiv. Es kann natürlich auch sein, daß unsere Nachforschungen noch Tage dauern. Vielleicht sollten wir über alles genaue Notizen machen, und wenn wir das hier hinter uns haben, schreiben wir ein Handbuch für den Do-it-yourself-Detektiv. Hast du wirklich vor, dich um einen solchen Job zu bewerben?«

»Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden. Im Moment denke ich eher daran, mal Dr. Barristers Sprechstundenhilfe zu bearbeiten. Ich habe gestern einen kurzen Blick auf sie geworfen – sehr jung, sehr attraktiv, und, ich würde sagen, sehr gesprächsfreudig, wenn man sie sofort nach Arbeitsschluß dazu ermuntert – nachdem sie sich stundenlang das Gerede über die Unpäßlichkeiten ihrer ältlichen Patientinnen hat anhören müssen. Vielleicht erfahren wir so alles über den bösen Doktor von gegenüber.«

»Du bist ihm noch nicht begegnet. Wenn du ihn triffst, wirst du sehen, daß an ihm dummerweise nichts Unheimliches ist. Trotzdem müssen wir natürlich jede Möglichkeit einkalkulieren, falls das der richtige Ausdruck ist. Nur mach dich, nebenbei bemerkt, nicht so sehr an die junge, attraktive Sprechstundenhilfe heran, daß du darüber meine Nachforschungen und deine Verlobte vergißt.«

»Ich habe diesen Auftrag ohnehin nur übernommen, weil alle Detektive so ein faszinierendes Liebesleben haben. Hast du Raymond Chandler gelesen?«

»Ich habe Raymond Chandler gelesen, und sein Philip Marlowe war nie verlobt und schon gar nicht verheiratet.«

»Und er hatte auch nie den netten, sicheren Job, Gefriergut durch die Lande zu fahren. Genausowenig hat er, wie mir gerade einfällt, sechs Monate als Koch bei der Army verbracht.«

»Als Koch? Wieso denn das?«

»Weil ich nie in meinem Leben an einem Kochtopf gestanden habe, aber eine Menge Erfahrung als Lastwagenfahrer hatte. Leider hatten sie bei der Army im Fuhrpark nichts frei, weil alle Stellen mit Köchen besetzt waren. Über meine Moral mach dir auf alle Fälle mal keine Gedanken, ganz bin ich noch nicht korrumpiert, auch nicht korrumpierbar. Ich kannte mal einen Burschen, der sich mit einer Rothaarigen einließ, nachdem er sich mit einer Brünetten verlobt hatte. Er lernte die Rothaarige in einem Nachtclub auf dem Land kennen, wo er eine Zeitlang den Kontrabaß zupfte. Die beiden Frauen machten ihn so fertig, daß er bei einem Schiffsorchester anheuerte, obwohl er schon bei der Überfahrt zur Freiheitsstatue seekrank geworden war, und das letzte Mal, daß man von ihm gehört hat, war in Rom, wo er in abgerissenen Kleidern unter einem Balkon Geige spielte und darauf wartete, daß Tennessee Williams ihn zu einer Rolle in seinem neuesten Stück macht.«

Nachdem Kate ihm einen Abzug des Fotos aus Janet Harrisons Handtasche, etwas Geld und einen Schlüssel zu ihrer Wohnung für den Fall gegeben hatte, daß er in ihrer Abwesenheit diesen Stützpunkt brauchen sollte, machte er sich auf den Weg.

Was Frederick Sparks anging, dessen Sprechstundentermin nach dem von Janet Harrison gelegen hatte und der dabeigewesen war, als die Leiche gefunden wurde, so war Kate geneigt, jeden noch so schlimmen Verdacht zu wälzen. Nachdem Jerry gegangen war, erwog sie kurz, Emanuel anzurufen und ihn um ein paar Worte über Mr. Sparks zu bitten. Mochte Emanuels ganze berufliche Karriere – mehr noch, sein Leben – in Gefahr sein, an seinem beruflichen Format hatte sich in Kates Augen kein Quentchen geändert; und das fand sie außerordentlich ermutigend, auch wenn es bedeutete, daß sie ihn um die Zeit für ein Gespräch bitten mußte, statt sie zu fordern. Und Kate war sich sicher, daß Emanuels Patienten genauso über ihn dachten. Also wartete sie besser, bis sie mit Frederick Sparks gesprochen oder zumindest ein paar Eindrücke gesammelt hatte, bevor sie den Versuch machte, Emanuel ein paar Worte zu entlocken.

Aus diesen Überlegungen riß sie ein Anruf von Reed, der sich genauso anhörte wie Jerry am Abend zuvor.

»Wir haben jetzt endlich etwas entdeckt«, sagte Reed, »von dem ich so eine Vorahnung habe, daß es auf die eine oder andere Weise die Wende bringen könnte für unseren Fall.«

»Über die Uniform weiß ich bereits genau Bescheid«, sagte Kate geziert.

»Was für eine Uniform?«

»Entschuldige, ich muß an einen meiner anderen Fälle gedacht haben. Was habt ihr herausbekommen?«

»Janet Harrison hat ein Testament hinterlassen.«

»Hat sie das? Ich hoffe, man hat sie wegen ihres Geldes ermordet. Was wir nämlich dringend in diesem Fall brauchen, das ist ein Motiv.«

»Sie hatte 25000 Dollar in irgendein Familienunternehmen investiert, das ihr 6 Prozent Dividende bezahlte (Vorzugsaktien), oder, um dich mit höherer Mathematik nicht in Verlegenheit zu bringen, 1500 Dollar pro Jahr.«

»Vielleicht hat die Familie, der das Unternehmen gehört, sie wegen des Aktienpakets ermordet.«

»Kaum. Ich versuche ja gerade, dir zu erzählen, daß sie ein Testament hinterlassen hat. Sie hat das Aktienpaket nicht der Familie vererbt. Was glaubst du, wem sie es vermacht hat?«

»Wenn sie es Emanuel vermacht hat, erschieße ich mich auf der Stelle.«

»Das macht nur Flecken. Außerdem schießen Leute, die nicht geübt sind, gewöhnlich daneben, machen Löcher in die Wände und erschrecken die Nachbarn. Sie hat es einem Daniel Messenger, Doktor der Medizin, hinterlassen.«

»Wer ist das? Reed! Könnte das der Jüngling auf dem Foto sein?«

»Zwei Seelen, ein Gedanke. Oder besser, zwanzig Seelen. Wir haben bereits eine Beschreibung des Dr. Daniel Messenger, der medizinische Forschung praktiziert – praktiziert man Forschung? Wohl nicht. In Chicago. Er ist deutlich älter als unser Mann und könnte dem Foto gar nicht unähnlicher sehen – falls er das Ding so gedreht hat, der unsägliche Schurke.«

»Vielleicht hat er sein Äußeres verändert – die Haare gefärbt, plastische Chirurgie.«

»Kate, Mädchen, ich mache mir von Mal zu Mal größere Sorgen um dich, wenn wir miteinander reden. Wir erwarten noch ein Foto von dem Kerl, und ich denke, das wird sogar dich überzeugen. Nach dem, was ich gehört habe, könnte ihn niemand mit einem jungen Cary Grant verwechseln; ein junger Lon Chaney in voller Kriegsbemalung käme ihm sicher näher. Er hat einen tiefen Haaransatz, eine lange, eher fleischige Nase und abstehende Ohren. Zweifellos hat er eine wunderbare Persönlichkeit; er muß Charakter haben, wenn er in die Forschung geht, während das Geld für die Herren Doktoren auf der Straße liegt.«

»Was hatte er mit Janet Harrison zu tun, und wo habt ihr das Testament gefunden?«

»Genau das ist die Frage des Tages: Was hatte er mit Janet Harrison zu tun? Ein Kollege in Chicago hat ihn verhört und schwört, daß der gute Doktor den Namen noch nie gehört und sie auch nicht auf dem Foto erkannt hat. Etwas an diesem Mädchen fängt an, mich zu faszinieren. Wie wir an das Testament gekommen sind, zeigt, wie nützlich Öffentlichkeit sein kann. Der Anwalt, bei dem sie es hinterlegt hatte, hat uns angerufen und uns das Testament ausgehändigt. Nein, du brauchst nicht zu fragen: Der Anwalt kannte sie nicht. Sie hat seinen Namen offenbar aus dem Telefonbuch gefischt. Er hat das Testament für sie aufgesetzt, ein ganz einfaches, und ihr fünfzig Dollar dafür abgenommen. Er hatte sich auf einer dieser verfluchten Geschäftsreisen befunden und der Name fiel ihm nur auf, weil seine Frau ihm nach seiner Rückkehr von dem Fall erzählte. Er scheint mir durch und durch aufrichtig zu sein. Aber es muß eine Verbindung zu diesem Daniel Messenger geben, obwohl er und Janet Harrison, soweit wir das überprüfen konnten, sich niemals auch nur zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufgehalten haben.«

»Werfen Sie bitte zehn Cents für die nächsten fünf Minuten nach.«

»Reed, du rufst aus einer Telefonzelle an.«

»Mit ein bißchen Übung, meine Liebe, wird aus dir noch eine große Detektivin. Ich könnte kaum all diese Geheimnisse vom Telefon im Büro des Bezirksstaatsanwalts aus ausplaudern. Kate, ich fange an, mich für deinen Fall zu interessieren. Was wahrscheinlich beweist, daß Wahnsinn ansteckend ist. Ich habe nicht eine Münze mehr.« Er hängte ein.

Daniel Messenger. Ein paar hektische Augenblicke lang spielte Kate mit dem Gedanken, sich ein Flugzeug nach Chicago zu schnappen. Aber wie brutal sie auch zu Thomas Carlyle gewesen war, morgen mußte George Eliot erledigt werden. Und natürlich konnte man sich nicht schnell mal ein Flugzeug »schnappen«. Man mußte sich vielmehr auf den langen langsamen Weg zum Flughafen machen und stundenlang an den Ticket-Schaltern mit Angestellten herumstreiten, die offenbar vor fünf Minuten eingestellt worden waren, aber für einen ganz anderen Job; und wenn man das überlebt hatte, dann erreichte man Chicago nur, um dort seine Warteschleifen über dem Flugplatz zu ziehen und dabei entweder vor Langeweile zu sterben oder mit einem anderen Flugzeug zusammenzustoßen, das glaubte, in einer Warteschleife über Newark zu sein. Mit einiger Anstrengung gelang es Kate, ihre umherschweifenden Gedanken wieder auf Frederick Sparks zu konzentrieren. Reeds Anruf hatte sie nicht nur abgelenkt und den Fall kompliziert, er hatte sie auch an die Nützlichkeit des Telefons erinnert. Sie wählte die Nummer einer Professorin für Literatur des sechzehnten Jahrhunderts, mit der sie vor vielen Jahren einmal zusammen für’s »Mündliche« gelernt hatte.

»Lillian. Hier ist Kate Fansler.«

»Kate! Wie läuft’s auf der Uni auf dem Hügel?«

»Es ist schrecklich, wie jedesmal im Frühling.« April ist der grausamste Monat. Damit hatte es begonnen. Ein paar Augenblicke schwatzten sie über persönliche Dinge. »Ich rufe an«, sagte Kate schließlich, »um dich nach einem deiner Kollegen zu fragen. Frederick Sparks.«

»Falls ihr vorhabt, ihn bei euch einzustellen, tut es nicht. Erstens sitzt er fest auf seinem Posten und würde nicht im Traum daran denken, ihn aufzugeben, und zweitens ist er ein großer Bewunderer des Lesedramas und hält ›The Cenci‹ für besser als ›Macbeth‹.«

»Nichts lag mir ferner, als ihn anheuern zu wollen. Ich erzähle dir ein andermal, worum es geht. Was ist er für ein Mensch?«

»Ziemlich ermüdend. Gut als Wissenschaftler. Lebt allein, hat sich vor kurzem von seiner Mutter gelöst, zumindest einigermaßen. Hat einen französischen Pudel namens Gustave.«

»Gustave?«

»Nach Flaubert. Obwohl Proust sein französischer Lieblingsautor ist. Ich meine Gustaves Lieblingsautor.«

»Ich nehme an, er macht sich nicht viel aus Frauen. Sparks, meine ich.«

»Das vermuten die meisten. Ich, für meine Person, vergebe solche Etiketten nicht mehr. Über mich sind so viele falsche in die Welt gesetzt worden, daß ich einfach nicht mehr so denke. Übrigens ist er in der Analyse.«

Das war eine Richtung des Gesprächs, der Kate im Moment noch nicht folgen wollte. »Lillian, gibt es eine Möglichkeit, Sparks einmal zu treffen, bei einem gesellschaftlichen Anlaß vielleicht, oder ganz zufällig? Möglichst bald, wenn es geht.«

»Du faszinierst mich. Kein Mensch war begierig darauf, Sparks zu treffen, seit das P. & B.-Komitee ihn zur festen Anstellung vorgeschlagen hatte.«

»Was ist denn um Himmels willen das P. & B.-Komitee?«

»Ach, ihr Unschuldsgemüter, die ihr nicht an City-Colleges arbeitet. Keiner von uns hat die blasseste Idee, wofür die Initialen stehen, aber es ist ein allmächtiger Ausschuß. Jedenfalls gehe ich heut abend zu einer Party, die für einen Kollegen ausgerichtet wird, der ein Fulbright-Stipendium nach Indien bekommen hat, und Sparks wird zweifellos auch da sein. Ich bin selber schon in Begleitung, aber ich schleppe dich halt als eine Cousine mit, die wir nicht haben abschütteln können. Einverstanden?«

»Wunderbar. Aber je kleiner die Lügen, desto besser, heißt meine Devise. Sagen wir also, ich bin plötzlich bei euch hereingeplatzt.«

»Sehr gut, machen wir es noch geheimnisvoller. Platz also bei mir gegen acht herein. Bring eine Flasche als Mitbringsel mit, und du bist dreifach willkommen. Bis dann.«

Womit Kate nichts anderes übrigblieb, als wieder an ihre Arbeit zurückzugehen und sich zu fragen, was Jerry wohl gerade machte. Richard Horan, der Mann aus der Werbebranche, mußte sich jetzt gerade auf Emanuels Couch ausgestreckt haben. Dr. Barristers hübsche Sprechstundenhilfe hatte mit ihren weiblichen Patienten zu tun. Wahrscheinlich genehmigte Jerry sich währenddessen ein Doppelprogramm im Kino. Kate verbannte Daniel Messenger aus ihren Gedanken und nahm sich ›Daniel Deronda‹ vor.