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Es gibt keinen wirklichen Grund, warum Psychiater sich auf die allerfeinste Wohngegend der Stadt beschränken sollten. Den Broadway, zum Beispiel, kann man per U-Bahn erreichen, während die Fifth, die Madison, die Park Avenue und die anliegenden Straßen nur mit dem Taxi, dem Bus oder zu Fuß zu erreichen sind. Doch kein Psychiater würde im Traum daran denken, in die westlicheren Stadtbezirke umzuziehen, abgesehen von ein paar ganz tapferen Burschen an der Central Park West, denen die Nachbarschaft zur Fifth Avenue noch genügend Eleganz verspricht, auch wenn der ganze Park dazwischen liegt. Ob sich das als eine Gleichung herausgebildet hat? East Side = Lebensart, Psychiatrie = Lebensart, also Psychiatrie = East Side? Ob sich, da West Side und Erfolgreich-Sein nicht gleichzeitig denkbar sind (aus was für Gründen auch immer), die Psychiater in den sechziger, siebziger, vielleicht noch den frühen achtziger Straßen zwischen den Avenues niederlassen und ihre Patienten sie dort auch suchen? In gewissen Kreisen heißt die Gegend jedenfalls schon Psychiater-Viertel.

Die Bauers wohnten in einer Erdgeschoßwohnung in einer der sechziger Straßen, gleich um die Ecke der Fifth Avenue. Das Haus selber gehörte zur Fifth Avenue, aber Dr. Emanuel Bauers Praxis-Adresse hieß 3 East. Das brachte noch einmal eine zusätzliche Note von Eleganz in die Sache, aus reichlich mysteriösen Gründen, so, als sei es schick, gar nicht zu erwähnen, daß man an der Fifth Avenue residierte. Was die Bauers an Miete zahlten, hatte Kate sich nie vorzustellen gewagt. Natürlich, Nicola hatte Geld, und da Emanuels Praxis in der Wohnung lag, war ein Teil der Miete von der Steuer absetzbar. Kate selber wohnte in einer großen Vier-Zimmer-Wohnung mit Blick auf den Hudson River, und zwar nicht, weil sie, wie einige ihrer Freunde sagten, den umgekehrten Snob spielte, sondern weil Altbauwohnungen an der East Side nicht zu bekommen waren, und die neuen – nein, eher hätte Kate ein Zelt aufgeschlagen, als mit einer fensterlosen Küche zu leben, mit so dünnen Wänden, daß man notgedrungen den Fernseher des Nachbarn mithören mußte, mit Musikgedudel im Aufzug und Goldfischen in der Halle. Ihre Decken waren hoch, ihre Wände dick, und die Eleganz blätterte dahin.

Während Kates Taxi sich durch den Verkehr zu den Bauers fädelte, dachte sie an deren Wohnung, nicht an ihre Miete, sondern daran, was an ihrer Anlage sie einem Mörder geeignet erscheinen lassen mochte. Tatsächlich lud sie, wenn man es sich überlegte, zum Eindringen jeder Art ein. Der Eingang von der Straße führte in einen kurzen Flur mit der Wohnung der Bauers auf der einen und der Praxis eines Arztes (keines, der in der Psychiatrie tätig war, soweit Kate sich erinnerte) auf der anderen Seite. Hinter diesen beiden Türen ging der Flur in eine kleine Halle über, mit einer Sitzbank, einem Aufzug und dahinter einer Tür, die in die Garage führte. Während die Haupthalle des Gebäudes von Wach- und Bedienungspersonal geradezu überquoll, verfügte diese kleine nur über einen Fahrstuhlführer, der, wie es sich für diesen Beruf gehörte, ein Gutteil seiner Zeit damit verbrachte, mit dem Aufzug auf- und abzufahren. Wenn er in seinem Aufzug war, war die Halle leer. Weder die Tür zur Wohnung der Bauers noch der Eingang zur Praxis gegenüber waren tagsüber verschlossen. Emanuels Patienten gingen einfach hinein und setzten sich in ein kleines Wartezimmer, bis Emanuel sie hereinbat. Theoretisch konnte so, wenn der Aufzug unterwegs war, jedermann zu jeder Zeit unbeobachtet hereinkommen.

Doch natürlich würden andere Leute dort sein. Ganz abgesehen von dem anderen Doktor, seinen Patientinnen und seinen Helferinnen, die für ein eifriges Kommen und Gehen zu sorgen schienen, waren da Emanuel selber und seine Patienten, wahrscheinlich einer im Beratungszimmer, der andere wartend, und dazu Nicola, das Mädchen, die Bauer-Sprößlinge Simon und Joshua, Freunde von Nicola, Freunde der beiden Jungen und schließlich, auch das wurde Kate klar, alle die, die in den oberen Stockwerken wohnten, den Seiteneingang benutzt hatten und in der kleinen Halle auf den Fahrstuhl warteten. Es erschien Kate immer eindeutiger – und wahrscheinlich war es der Polizei ohnehin schon klar –, daß, wer immer die Tat begangen hatte, sich dort auskannte und auch über die Bauers Bescheid wußte. Das war ein beunruhigender Gedanke, aber Kate wehrte sich zu diesem Zeitpunkt, über die deprimierenden Folgerungen weiter nachzudenken. Vielleicht, dachte Kate, war der Mörder gesehen worden. Aber in Wirklichkeit bezweifelte sie das. Und falls der Mörder (oder die Mörderin) gesehen worden sein sollte, dann hatte er (sie) wahrscheinlich wie ein ganz gewöhnlicher Mieter, Besucher oder Patient gewirkt, und an so jemanden konnte man sich einfach nicht erinnern, er (sie) war so gut wie unsichtbar.

Kate fand Nicola im hinteren Teil der Wohnung auf dem Bett ausgestreckt. Kate war, abgesehen von dem Polizisten in der Halle, unbemerkt hineingekommen, und das war eine Tatsache, die sie noch mehr bedrückte. Ob sie sich aufregte, weil sie so leicht hineingekommen war, oder weil der Polizist gegenwärtig war, hätte sie nicht sagen können. Nicola hielt sich gewöhnlich im hinteren Teil der Wohnung auf. Das Wohnzimmer der Bauers, das von dem Flur aus, durch den die Patienten gingen, zu sehen war, wurde tagsüber oder in den frühen Abendstunden, wenn Emanuel noch Patienten hatte, nicht benutzt. In der Tat wurde großer Wert darauf gelegt – was alle Freunde von Nicola auch wußten –, daß die Patienten niemandem aus Emanuels Haushalt begegneten. Sogar die Jungen waren Experten darin geworden, zwischen ihren Zimmern und der Küche hin und her zu springen, ohne einen Patienten zu treffen.

»Arbeitet Emanuel?« fragte Kate.

»Ja. Sie haben ihn wieder in die Praxis gelassen, aber natürlich wird es in der Zeitung stehen, und ob die Patienten wiederkommen und was sie sich denken werden, wenn sie es tun, mag ich mir gar nicht vorstellen. Ich nehme an, es werden eine ganze Reihe faszinierender Dinge zum Vorschein kommen, falls sie darüber reden, aber für die Übertragung während der Analyse ist es nicht gerade das beste, zumindest nicht für die positive Übertragung, wenn in der Praxis des Analytikers schon einmal ein Mord stattgefunden hat, mit dem Analytiker selbst als Hauptverdächtigem. Ich meine, Patienten haben durchaus Phantasien darüber, wie sie auf der Analytiker-Couch attackiert werden – ich bin sicher, den meisten geht es so –, aber am besten nicht auf einer Couch, auf der tatsächlich schon jemand erdolcht wurde.«

Nichts, bemerkte Kate dankbar, nichts konnte Nicolas Redefluß stoppen. Außer, wenn sie über ihre Kinder redete (und der einzige Weg, sich davon nicht nerven zu lassen, glaubte Kate, war das Vermeiden solcher Gespräche), war Nicola nie langweilig, teils, weil das, was sie sagte, aus einer Freude am Leben rührte, die mehr war als bloße Egozentrik, teils, weil sie nicht nur redete, sondern auch zuhörte, zuhörte und Anteil nahm. Kate dachte oft, daß Emanuel Nicki vor allem wegen ihrer Art zu reden geheiratet hatte. Ihre Worte überfluteten ihn in Wellen, nahmen alles auf, auch weniger tiefgründige Themen, und gaben ihm Auftrieb trotz der Schwere seiner eigenen Gedanken. Denn das einzige, was Emanuel munter werden ließ, war ein abstrakter Gedanke, und diese Anomalie gefiel seltsamerweise beiden. Wie die meisten Anhänger Freuds – und genaugenommen auch Freud selber – brauchte und suchte Emanuel die Gesellschaft intellektueller Frauen, mied aber jede feste Bindung an sie.

»Und ganz gewiß«, fuhr Nicki fort, »sollten Patienten nicht das geringste über das persönliche Leben ihres Analytikers wissen, und selbst wenn die Polizei ihr Bestes tut – was sie mir versprochen hat – , werden die Zeitungen berichten, daß er eine Frau hat und zwei Kinder, ganz zu schweigen davon, daß er verdächtigt wird, eine Patientin auf der Couch erstochen zu haben, und ich kann mir nicht vorstellen, wie wir das jemals überstehen werden, selbst wenn Emanuel nicht ins Gefängnis kommt, auch wenn die zweifellos einen brillanten Psychoanalytiker im Gefängnis gut gebrauchen könnten, aber wenn Emanuel vorgehabt hätte, die Seele des Kriminellen zu studieren, dann wäre er von Anfang an vor Ort gewesen. Wenn er das getan hätte, wüßte er jetzt vielleicht auch, wer es war. Ich sage ihm ständig, es muß einer seiner Patienten gewesen sein, und er sagt dazu die ganze Zeit: ›Laß uns darüber nicht diskutieren, Nicolas und ich soll eigentlich mit niemandem darüber reden, außer vielleicht mit Mutter, die alles um sich scharen will, aber sie sieht dabei so furchtbar tapfer aus, aber Emanuel hat gesagt, mit dir darf ich reden, weil du den Mund halten kannst und ein gutes Ventil bist. Für mich, meine ich.‹

»Ich hole dir einen Sherry«, sagte Kate.

»Also, jetzt fang nicht an, ›vernünftig‹ zu werden, oder ich schreie. Pandora ist vernünftig mit den Jungen, und das bin ich auch, aber ich brauche jetzt jemanden, der sich zu mir setzt und mit mir jammert.«

»Ich bin nicht ›vernünftig‹, sondern selbstsüchtig. Ich könnte nämlich selber einen Drink gebrauchen. In der Küche? Gut, bleib hier, ich hole ihn. Du legst dir inzwischen zurecht, wie du mir alles am besten erzählst, und zwar von Anfang an…«

»Ich weiß, von Anfang bis Ende und dann halt! Wir brauchen bestimmt einen Red King, nicht wahr? Das entspricht ziemlich der Lage.«

Während Kate in die Küche ging und mit den Getränken zurückkam, wobei sie erst durch den Türspalt lugte, um sicher zu sein, daß der Weg frei war (es wäre nicht gerade empfehlenswert, einem Patienten zu begegnen, mit einem Glas in jeder Hand), überlegte sie sich, was für Dinge sie Nicki entlocken müßte, wenn sie die ganze Affäre annähernd begreifen wollte. Sie hatte sich bereits entschlossen, Reed im Büro der Staatsanwaltschaft anzurufen und ihn zu erpressen (wenn es nötig sein sollte), damit er ihr erzählte, was die Polizei bereits wußte, aber inzwischen war es das vernünftigste, erst einmal die Fakten zu sammeln. Mit ihrer seltsamen Fähigkeit, sich selbst quasi von außen zu betrachten, bemerkte Kate voller Interesse, daß sie den Mord bereits als Tatsache hingenommen hatte, daß der Schock vorbei war und sie nun das Stadium erreicht hatte, in dem ein geplantes Vorgehen möglich war.

»Also«, sagte Nicki und nippte mechanisch an ihrem Sherry, »es begann wie an jedem anderen Tag.« (Das tun alle Tage, dachte Kate, aber wir bemerken es nicht, wenn sie nicht auch so enden wie jeder andere Tag.) »Emanuel stand mit den Jungen auf. Es ist die einzige Zeit, zu der er sie wirklich sieht, bis auf gelegentliche Augenblicke im Laufe des Tages, und sie haben alle zusammen in der Küche gefrühstückt. Um acht Uhr hatte er nämlich einen Patienten, und um zehn Minuten vor acht schob er die Jungen in ihr Zimmer, wo sie spielten, obwohl ruhiges Spielen für sie nicht mehr das Richtige ist, während ich meinen unterbrochenen Schlaf bis neun Uhr fortsetzte…«

»Du meinst, Emanuel hat um acht Uhr morgens schon einen Patienten?«

»Natürlich, das ist die beliebteste Stunde von allen. Wer zur Arbeit geht, muß entweder vorher kommen, in der Mittagspause oder nach der Arbeit am frühen Abend, und das ist auch der Grund, warum Emanuels Arbeitstag, und wahrscheinlich der aller Psychiater, sich an beiden Enden so hinzieht. Natürlich hat Emanuel im Moment fünf Patienten am Morgen, aber das ist eine sehr schlechte Vereinbarung, und er hat vor – also, er hatte vor –, einen Patienten von zehn Uhr morgens auf den Nachmittag zu verlegen, sobald er, der Patient, seinen Zeitplan entsprechend ändern kann. Jetzt ist die Elf-Uhr-Patientin weg, wahrscheinlich werden alle anderen folgen.«

»Die Elf-Uhr-Patientin war Janet Harrison?«

»Kate, glaubst du, daß sie eine Vergangenheit gehabt hat? Sie muß doch eine Vergangenheit gehabt haben, nicht wahr, wenn jemand ihr gefolgt ist und sie in Emanuels Praxis umgebracht hat? Ich sage immer wieder, daß jeder in der Analyse höchstwahrscheinlich seine Vergangenheit erwähnt, und warum, zum Teufel, erzählt Emanuel der Polizei nichts über sie, ja, natürlich, es muß wie das Beichtgeheimnis gewahrt werden, aber jetzt ist das Mädchen schließlich tot und Emanuel in Gefahr…«

»Nicki, Liebes, sie muß keine Vergangenheit gehabt haben. Eine Gegenwart tut es auch, oder sogar eine Zukunft, die jemand verhindern wollte. Ich hoffe nur, daß, wer immer es getan hat, auch tatsächlich sie ermorden wollte. Ich meine, wenn die Polizei nun nach einem Lustmörder suchen müßte, den es beim Anblick eines Mädchens auf einer Couch überkommen hat; der zufällig hereinkam und nicht einmal wußte, wer sie war – also, das wäre wirklich eine absurde Vorstellung. Zurück zu gestern morgen. Emanuel hatte Patienten um acht, neun, zehn, elf und zwölf?«

»Er erwartete diese Patienten. Wie sich herausstellte, hatten die Patienten für elf und zwölf Uhr abgesagt, oder Emanuel glaubte, sie hätten abgesagt, dabei sind sie natürlich gekommen, und darum habe ich ja auch zufällig die Leiche gefunden, weil der Zwölf-Uhr-Patient…«

»Nicki, bitte der Reihe nach. Wichtig ist, daß du nichts ausläßt, egal wie normal und unwichtig es erscheint. Wie viele Patienten hat Emanuel übrigens insgesamt? Ich meine, wie viele hatte er bis gestern morgen?«

»Ich weiß es nicht genau. Emanuel spricht nie über seine Arbeit. Ich weiß, daß er nie mehr als acht pro Tag hat, aber natürlich können sich nicht alle leisten, täglich zu kommen, also hat er im ganzen wahrscheinlich zehn oder zwölf. Ich weiß es nicht, du mußt Emanuel danach fragen.«

»In Ordnung, wir sind jetzt bei neun Uhr vormittags am gestrigen Tag, als du aus deinem unterbrochenen Schlaf aufwachtest.«

»Neun Uhr fünfzehn, genaugenommen. Dann stürzen die Kinder und ich in die Küche, wo ich mein erstes Frühstück einnehme und die beiden ihr zweites. Da trödeln wir dann ziemlich vor uns hin, und ich mache gewöhnlich meine Einkaufs- und Besorgungslisten, rufe den Metzger an und manchmal meine Mutter und so weiter. Du weißt ja, wie so ein Vormittag verläuft.«

»Wann kommt Pandora?«

»Ach ja, Pandora ist dann schon da. Tut mir leid, ich vergesse immer etwas. Pandora kommt um neun. Normalerweise ist sie in der Küche, wenn ich mit den Jungen hereinkomme. Wenn die mir dann das meiste von meinem Frühstück wegprobiert haben, sie das Geschirr abgeräumt hat und so weiter, zieht Pandora die beiden an, und sie gehen nach draußen, es sei denn, es regnet. Es gibt da so eine Gruppe, mit der sich Pandora im Park trifft. Ich habe keine Ahnung, was das für Kinder sind, wie alt, welches Geschlecht und welche Nationalität, aber den Jungen scheint es zu gefallen, und Pandora ist natürlich ein guter Geist, den man unter Denkmalschutz stellen müßte, vor allem jetzt hat sie sich ja…«

»Es ist jetzt ungefähr zehn Uhr morgens, und die Kinder haben gerade mit Pandora das Haus verlassen.«

»Kurz nach zehn, genaugenommen. Das ist jedenfalls die Regel. Dann fange ich an, mich anzuziehen und so weiter, weil ich spätestens um zwanzig vor elf aus dem Haus muß, um pünktlich zu meiner Analyse zu kommen, aber meistens gehe ich ein bißchen früher, um noch ein oder zwei Besorgungen auf dem Weg zu machen.« Auch Nicki machte eine Analyse, aber warum genau, hatte Kate nie feststellen können. Es hatte irgend etwas mit dem Verständnis für ihren Ehemann und mit der Anteilnahme an seinem Beruf zu tun, aber offenbar hatte Nicki auch großes Bedürfnis, eine Reihe bestimmter Probleme aufzuarbeiten; das wichtigste war wohl das, das Nicki als ihre »Angstattacken« bezeichnete. Kate hatte nie genau herausbekommen, was eine Angstattacke war, obwohl sie begriffen hatte, daß es etwas Schreckliches und sein Hauptcharakteristikum die Tatsache war, daß es gerade gar nichts gab, wovor man hätte Angst haben müssen. Soll heißen: nichts Rationales. Zum Beispiel, hatte Nicki erklärt, könnte ein Mensch eine Angstattacke in einem Fahrstuhl bekommen, er würde dann eine furchtbare Angst davor bekommen, daß der Fahrstuhl abstürzen könnte; aber auch wenn man ihm mit absoluter Sicherheit beweisen könnte, daß ein Absturz des Fahrstuhls gar nicht möglich wäre, und er selber auch genau wissen mochte, daß er nicht abstürzen könnte, würde ihm das alles nicht gegen seine Angstattacke helfen. Kate hatte auch begriffen, daß das Opfer dieser Angstattacke sich nicht schon einmal in einem abstürzenden Fahrstuhl befunden haben oder jemanden kennen mußte, dem das schon einmal passiert war, genausowenig mußte seine Angst überhaupt etwas mit Fahrstühlen zu tun haben. Nickis Angstattacken hatten nichts mit Fahrstühlen zu tun – eigentlich schade, schließlich wohnte sie doch im Parterre –, hingen aber offensichtlich mit öffentlichem Verkehr zusammen. Nicht zum erstenmal ging Kate durch den Kopf, daß sie zwar zutiefst beeindruckt vom Genius Freuds war, das ineffektive Herumtasten, diese Mischung aus Verwirrung und Doktrin, die die klinische Psychoanalyse heute charakterisierte, sie jedoch absolut kalt ließen. Der Haken dabei war unter anderem, daß Freud, käme er heutzutage wieder auf die Erde zurück, noch immer der beste Psychiater von allen wäre. Einstein begriff, bevor er starb, nicht mehr, mit welchen Problemen sich die Physik beschäftigte, und so, dachte Kate, sollte es auch sein. Die Psychiatrie hatte mit Freud begonnen und schien weitgehend damit auch schon an ihrem Ende angekommen zu sein; aber vielleicht war es noch zu früh für solche Urteile.

»Ich bin gestern genau um halb elf aus dem Haus gegangen«, sagte Nicki.

»Währenddessen hatte Emanuel Patienten in seiner Praxis.«

»Ja. Zwischen dem Neun- und dem Zehn-Uhr-Patienten kam er nach hinten in die Wohnung, um mir guten Morgen zu wünschen und auf die Toilette zu gehen. Da war noch alles in Ordnung. Dann habe ich ihn nicht mehr gesehen bis…«

»Einen Augenblick, Nicki. Laß uns das ganz gründlich klären. Um halb elf war Emanuel mit einem Patienten in seiner Praxis (das war, nebenbei bemerkt, derjenige, den er auf den Nachmittag verlegen wollte – ob das hier eine Bedeutung hat? Ich frage mich, ob er das Mädchen kannte), Pandora war mit den Kindern ausgegangen, und du warst unterwegs zu deinem Termin um elf und einigen Besorgungen. Als du die Wohnung verließest, war also außer Emanuel und seinem Patienten niemand in der Wohnung, und die beiden waren in der Praxis?«

»Ja. Es klingt ein bißchen dramatisch, sicher, aber das ist haargenau die Wahrheit. Die Polizei schien sich für all das auch sehr zu interessieren.«

»Jeder, der den Haushalt beobachtet hätte, konnte also wissen, daß es so ablaufen würde, und zwar unvermeidlich, es sei denn, jemand wäre krank oder es regnete?«

»Ja. Aber wer hätte ein Interesse daran, unsere Wohnung zu beobachten? Siehst du, Kate, das ist der springende Punkt.«

»Nicki, bitte. Laß uns noch einen Augenblick bei dem zeitlichen Ablauf bleiben. Um elf mußte dann das Mädchen, Janet Harrison, kommen, und der Patient vor ihr wäre schon weg. Du wärest bei deinem Analytiker, die Kinder und Pandora im Park, und für eine Stunde würde sich da auch nichts mehr ändern?«

»Für fünfzig Minuten jedenfalls. Du weißt, die Behandlungsstunde dauert fünfzig Minuten. Die Patienten gehen zehn Minuten vor der vollen Stunde, und die nächste Sitzung beginnt dann pünktlich. Aber du siehst das Problem, das die Polizei hat. Ich meine, man kann sich in ihre Sichtweise hineindenken, auch wenn man weiß, daß jemand wie Emanuel nicht hingeht und seine Patientin in seiner eigenen Praxis auf seiner eigenen Couch niedersticht. Die ganze Idee ist einfach verrückt. Er war da, oder zumindest glauben sie, daß er da war, obwohl er natürlich nicht da war, sie glauben also, er war da, in seiner schalldichten Praxis, zusammen mit einem Mädchen, sonst niemand in der Nähe, und er behauptet, jemand anders sei hereingekommen, habe sie auf der Couch erstochen, und er sei gar nicht dagewesen. Aus ihrer Sicht, nehme ich an, klingt das reichlich faul, gelinde ausgedrückt. Natürlich, Emanuel hat ihnen eindeutig erklärt, daß…«

»Warum ist der Raum übrigens schalldicht?«!

»Wegen der inneren Ruhe, die ein Patient braucht. Wenn ein Patient draußen im Wartezimmer sitzt und irgendeinen Ton aus dem Behandlungszimmer hört, dann würde er doch den Schluß ziehen, daß man auch ihn hören könnte, und das hätte schlimme Auswirkungen, würde ihn blockieren. Also entschied Emanuel sich für Schallschutz – ich glaube, das tun die meisten Psychiater –, und dann hat er sich im Wartezimmer auf jeden nur möglichen Stuhl gesetzt, während ich drinnen auf der Couch: lag und schrie ICH LIEBE MEINE MUTTER UND HASSE MEINEN VATER, immer wieder, obwohl die Patienten natürlich nicht schreien und so etwas auch nie sagen würden, aber wir mußten sichergehen, und Emanuel hat wirklich nichts gehört.«

»Laß uns mal einen Zeitsprung machen, Nicki. Wir steigen wieder ein um zwölf Uhr, als du die Leiche fandest. Wieso du? Gehst du gewöhnlich in Emanuels Praxis?«

»Während des Tages eigentlich nie. Am Abend gehe ich hinein, staube ab und leere die Aschenbecher, weil Pandora dazu eigentlich keine Zeit hat, und im Sommer sitzen wir manchmal am Abend dort, bevor wir ausgehen, weil es der einzige Raum mit Klimaanlage im Haus ist. Aber tagsüber geht niemand auch nur in die Nähe. Wir bemühen uns sogar, nicht allzu oft hin und her zu laufen, wenn ein Patient im Wartezimmer sitzt, obwohl Emanuel sie daran gewöhnt hat, die Tür zum Flur hinter sich zu schließen, so daß sie uns im Grunde nie sehen könnten, außer, wenn sie gerade kommen oder gehen. Ich weiß, viele Psychiater mißbilligen es, wenn ein Analytiker seine Praxis im eigenen Haus hat, aber sie machen sich nicht klar, wie wenig die Patienten von dem bemerken, was um sie vor sich geht. Obwohl Emanuels Patienten wahrscheinlich annehmen, daß er verheiratet ist, hat mich erst einer in all den Jahren gesehen, und der hat mich wohl für eine andere Patientin gehalten. Von den Kindern hat, glaube ich, überhaupt noch niemand etwas bemerkt. Die Praxis ist für sie absolut verboten, und auch ich gehe nicht öfter hinein, als ich es tun würde, wenn Emanuel seine Praxis woanders hätte, wahrscheinlich sogar seltener.«

»Angenommen, du mußt tagsüber etwas mit ihm besprechen?«

»Wenn es nichts Wichtiges ist, warte ich, bis er nach hinten in die Wohnung kommt, was er häufig zwischen zwei Patienten tut. Ist es eilig, telefoniere ich mit ihm. Er hat in der Praxis natürlich ein eigenes Telefon.«

»Aber gestern bist du um zwölf Uhr in seine Praxis gegangen.«

»Nein, nicht um zwölf. Ich bin gewöhnlich vor halb eins gar nicht zu Hause, obwohl es gestern ein bißchen früher war. Manchmal treffe ich mich auch mit jemandem zum Lunch oder fahre in die Stadt, und dann komme ich erst am frühen Nachmittag zurück. Aber gestern – Gott sei Dank, nehme ich an, Gott sei Dank – bin ich früher nach Hause gekommen. Als ich ins Haus kam, hat der Zwölf-Uhr-Patient…«

»Kanntest du ihn?«

»Nein, natürlich nicht. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Ich meine, ich habe erst nachher erfahren, daß er der Zwölf-Uhr-Patient war, und der steckte also seinen Kopf zum Flur herein und fragte mich, ob der Doktor heute keine Patienten empfange. Es war fünfundzwanzig Minuten vor eins, und der Therapeut hatte ihn nicht hereingeholt. Weißt du, Kate, das war schon sehr eigentümlich. Emanuel hat noch nie in seinem Leben einen Patienten versetzt. Ich wußte, daß er um elf Uhr eine Patientin hatte (Janet Harrison), und er geht niemals in den zehn Minuten bis zum nächsten Patienten aus dem Haus. Ich habe mich natürlich gefragt, was mit ihm passiert sein könnte. Saß er womöglich in seinem Sprechzimmer und fühlte sich, aus welchem Grund auch immer, nicht fähig, einen Patienten zu empfangen? Ich rief von der Küche aus in der Praxis an, und nach dreimaligem Läuten meldete sich der Auftragsdienst, also wußte ich nun, er war nicht da oder antwortete nicht, und da fing ich an, mir Sorgen zu machen. Inzwischen hatte ich den Patienten wieder ins Wartezimmer zurückkomplimentiert. Natürlich ging mir alles mögliche durch den Kopf, von Emanuel mit Herzattacke im Behandlungsraum bis zu der Befürchtung, er hätte seine Elf-Uhr-Patientin noch nicht loswerden können – man hat die seltsamsten Phantasievorstellungen bei solchen Gelegenheiten –, Pandora war mit den Jungen in der Küche zum Lunch, und ich ging und klopfte an die Tür des Behandlungsraumes. Ich wußte, der Patient im Wartezimmer verfolgte, was ich jetzt unternahm, obwohl er mich nicht sehen konnte, aber ich mußte irgendwas tun, und natürlich reagierte niemand auf mein Klopfen, also öffnete ich die Tür und steckte meinen Kopf hinein. Da lag sie, auf der Couch, die nicht weit von der Tür entfernt ist, ich konnte sie gar nicht übersehen. Mein erster Gedanke war: Sie ist eingeschlafen, aber dann sah ich das Messer aus ihrer Brust ragen. Und Emanuel nirgends zu sehen. Ich hatte die Geistesgegenwart, die Tür wieder zuzumachen und dem Patienten zu sagen, daß er lieber gehen solle. Er war neugierig und zögerte offensichtlich, einen Ort zu verlassen, an dem er ein Drama vermutete, aber ich habe ihn hinausbegleitet. Ich war absolut ruhig, wie man das oft nach einem Schock ist.«

»Und dann hast du die Polizei angerufen?«

»Nein. Ich habe überhaupt nicht an die Polizei gedacht, jedenfalls nicht in dem Augenblick.«

»Aber was hast du dann getan?«

»Ich bin hinübergerannt zu dem Arzt gegenüber. Er war sehr nett und kam sofort mit mir, obwohl er die Praxis voller Patienten hatte. Er heißt Barrister, Michael Barrister. Er sagte mir, daß sie tot sei.«