11

 

Von dem Augenblick an, als Kate, die Flasche in der Hand, auf der Party eintraf, fühlte sie sich wie jemand, der in einem Vergnügungspark von einer schwindelerregenden Karussellfahrt in die andere geschleudert wird. Sie begegnete ihrem Gastgeber nur für einen kurzen Moment, als er die Flasche entgegennahm, sich bedankte und sie, ohne daß man ihn verstehen konnte, mit vier oder fünf Leuten in der Nähe bekannt machte. Die beäugten Kate, beschlossen, daß sie von ihrer Sorte eine bereits ausreichende Anzahl Exemplare in ihrer Sammlung hatten, und fuhren mit ihrer Diskussion über irgendeine hauseigene Auseinandersetzung in ihrem College fort, deren springenden Punkt, wenn es denn einen gab, Kate beim besten Willen nicht mitbekam. Lillian hatte sie gewarnt, daß Angehörige dieses Instituts jedesmal, wenn sie sich trafen, über nichts anderes redeten als über die Vorgänge an ihrem Institut, die kritische Zusammensetzung der Lehrpläne, die Unzulänglichkeiten der Verwaltung und die besonderen Eigenschaften – moralischer, körperlicher, seelischer und sexueller Natur – gewisser nicht anwesender Institutsmitglieder. Worauf Kate nicht vorbereitet war, waren die Heftigkeit, mit der all diese Dinge diskutiert wurden, und die Begeisterung, mit der bestimmte Punkte immer wieder hervorgehoben wurden, die ganz gewiß keine neuen Erkenntnisse waren.

Manches von dem, was sie aufschnappte, überraschte Kate keineswegs. Da war einmal das Ausmaß alkoholischer Stimulation, das die Vertreter des akademischen Lehrkörpers zu verkraften fähig waren. Sie waren keineswegs Dauertrinker, doch als Mitglieder einer unterbezahlten Berufsgruppe tranken sie, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Das hatten die Verfasser einschlägiger Handbücher längst aufgedeckt, die gewöhnlich für offizielle akademische Zusammenkünfte die Räume mieteten und freigiebig Drinks verteilten. Kate war auch nicht überrascht, daß Literatur kein Gesprächsthema war. Leute, die sich berufsmäßig mit Literatur befaßten, diskutierten nicht darüber, wenn sie sich trafen, es sei denn, es ging um die Zusammensetzung der Kurse und Seminare oder um deren Zuweisung. Die Gründe dafür lagen im dunkeln und waren vielschichtig, und Kate hatte sie nie gründlich analysiert. Sie hatte genügend Ärzten, Anwälten, Ökonomen, Soziologen und anderen zugehört, um zu wissen, daß es der Begabung eines Hypnotiseurs bedurfte, um sie dazu zu bringen, einmal nicht über ihre eigenen Angelegenheiten zu reden.

Diese Leute hier litten jedoch offensichtlich unter der Tatsache, daß sie nicht Angestellte einer Bildungsinstitution waren, sondern eines bürokratischen Systems. Sie benahmen sich auch weitgehend wie Angestellte, alle ordentlich in den Apparat eingebunden, und, wie bei Angestellten üblich, gaben sie sich der Illusion der Freiheit hin und redeten und mokierten sich über die Strukturen, in die sie gefesselt waren. Kate dachte liebevoll an ihre eigene Universität, wo man, weiß Gott, auch gegen die alten Laster der Günstlingswirtschaft, Schmeichelei und Ämterpatronage zu kämpfen hatte, aber wo die modernen Schrecken der Bürokratie sie und ihre Kollegen noch nicht stranguliert hatten.

»Meine Schlußexamina, mit immerhin fünfunddreißig Kandidaten«, erläuterte ein junger Mann, »wurden auf den letzten Tag der ganzen Prüfungsperiode gelegt, und sie wollten, daß ich die Zensuren innerhalb von vierundzwanzig Stunden liefere. Ich wies darauf hin, daß ich unmöglich fünfunddreißig Examensarbeiten auch nur annähernd fair durchgehen könnte, von wirklichem Verständnis gar nicht zu reden, warum also die Zeugnisse nicht erst drei Tage später ausgeben? Wissen Sie, was der Dekan von der Fakultät für Höchste Konfusion darauf gesagt hat – allen Ernstes –, da droben in einem riesigen Büro, während unsere Fakultät natürlich, weit entfernt davon, ein eigenes Büro zu haben, nicht einmal pro Nase eine Schublade besitzt, in die man seine persönlichen Dinge legen könnte? Er sagte: ›Aber vierundzwanzig Stunden nach dem letzten Examen müssen die IBM-Maschinen anfangen, die Zeugnisse auszudrucken‹. Die IBM-Maschinen. Wieso? Ich frage Sie, wieso? Aber wenigstens ist mir dabei klar geworden, für wen das College betrieben wird. Natürlich nicht für die Studenten oder für die Fakultät, das weiß man längst – schließlich ist das hier nicht Oxford oder Cambridge. Ich war der Meinung, es würde für die Verwaltung betrieben oder für die Campus-Organisation. Aber nein! Es wird für die IBM-Maschinen betrieben. Wissen Sie, als ich all diese scheußlichen kleinen Karteikarten mit den Zeugnisnoten für die IBM-Maschine ausfüllte, mit diesem widerspenstigen kleinen Stift, den man dafür zu benutzen hat, was glauben Sie, was dieser kleine kybernetische Bastard daraus gemacht hat…«

»Das ist noch gar nichts. Ich erhielt kürzlich einen dieser Eignungstests – so etwas machen diese Maschinen auch –, und dieser idiotische Studienberater hat doch…« Kate schob sich langsam in Richtung auf Frederick Sparks, sie wollte nicht den Eindruck erwecken, daß sie ihm nachstieg. Lillian hatte ihr gezeigt, wo er saß. Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel und ließ seinen Blick mit der freundlichen Überlegenheit eines Mannes durch den Raum schweifen, der erfolgreich aus dem Gerangel um Festanstellung hervorgegangen war und noch nicht wußte, was er sich dafür eingehandelt hatte.

Kate setzte sich in den Sessel neben ihm, da die meisten Leute, um ihre Pointen besser anbringen zu können, standen. Sie bat ihn mit einem bedauerlichen Mangel an Originalität um ein Streichholz. Er zog ein elegantes Feuerzeug hervor und zündete ihr mit Schwung die Zigarette an.

»Sind Sie eine Freundin von Herold?« fragte er. Aber offenbar nahm er das schon als Faktum, denn er fragte sie gleich weiter, ob und wo sie unterrichte. Kate erzählte es ihm. Er bekannte seinen Neid. Kate, ein wenig unredlich, fragte ihn, warum sie zu beneiden sei. »Ich nenne Ihnen ein Beispiel«, sagte er und drehte sich in seinem Sessel zu ihr herum. »Wie viele Mitteilungen aus dem Vervielfältigungsapparat sind in diesem Semester bisher auf Ihrem Schreibtisch gelandet?«

»Vervielfältigte Mitteilungen? Also, ich weiß nicht. Vier oder fünf, nehme ich an, vielleicht mehr. Ankündigungen von Abteilungsversammlungen und ähnliches. Warum fragen Sie?«

»Weil es bei mir bis jetzt Hunderte, wenn nicht Tausende waren, und so geht es jedem. Nicht nur Ankündigungen von Ausschußsitzungen, wo alle denkbaren und undenkbaren Probleme dieser Erde diskutiert werden sollen, sondern auch Erlasse der Verwaltung: Alle Studenten, die Shorts oder Blue Jeans tragen, müssen gemeldet werden; die Fakultät wird daran erinnert, daß das Rauchen auf den Treppen nicht gestattet ist (das ist natürlich eine ganz köstliche Vorschrift, denn nehmen wir einmal an, ein weibliches und ein männliches Fakultätsmitglied wollen sich fünf Minuten unterhalten, und beide sind zufällig Raucher, dann müssen sie sich entweder in den Aufenthaltsraum der Fakultät zurückziehen – ein Nest für politische Intrigen aller Art und steht zudem dauernd Studenten für alle möglichen Aktivitäten zur Verfügung –, oder einer von den beiden kann sich dem Transvestitentum hingeben und sich auf die Herren- beziehungsweise Damentoilette begeben, je nachdem, denn dort ist das Rauchen erlaubt, oder sie können auf der Treppe rauchen, und genau das tun sie dann auch). Oder es wird eine Mitteilung herausgegeben, daß der Bleistiftspitzer ins Zimmer 804 verbracht worden ist (wenn nicht gar in ein anderes Gebäude). Oder es kommt eine Ankündigung, daß ab sofort die Abfälle nachmittags zwischen eins und fünf aus dem Hof, direkt unter den Fenstern der Klassenräume, abgeholt werden. Die Verwaltung ist sich bewußt, daß das jeden Lehrbetrieb praktisch unmöglich macht (haben Sie jemals den Krach eines Müllautos aus der Nähe gehört?), aber die Fakultät muß lernen, wo die wahrhaft wichtigen Probleme beim Führen eines Colleges liegen. Einmal kam mir eine vervielfältigte Monstrosität auf den Tisch, die mich zu einer Diskussion über die Frage einlud, wie man der Fakultät mehr Zeit für eigenständiges Arbeiten verschaffen könne. Ich habe zurückgeschrieben, mir erschiene es als die beste Methode, keine Sitzungen anzuberaumen, auf denen darüber diskutiert wird. Wie gesagt, ich beneide Sie.«

»Ich höre, man kann Ihnen gratulieren zu Ihrer festen Anstellung?«

»Wer hat Ihnen denn das gesagt? Mir darf man nicht gratulieren, mir muß man Beileid wünschen. Gustave freut sich natürlich, denn jetzt bekommen wir immer regelmäßig zu essen, und am Ende eine Pension. Aber wenn ich nur ein bißchen Mumm hätte, dann würde ich sagen: ›Ihr Schwachköpfe, gebt mir bloß keine feste Anstellung; ich neige bereits schrecklich zu Trägheit, Mattigkeit, zu Nachsichtigkeit mir selbst gegenüber und zum Verschleppen der Dinge. Ihr habt doch schon genug hohle Köpfe in dieser von allen guten Geistern verlassenen Institution, genug Gehirne, die von keinem neuen Gedanken mehr heimgesucht wurden, seit sich die Möglichkeit der Kernspaltung herumgesprochen hat; aber nein, ihr seid eine politische Institution, ihr müßt auch mir bieten, wonach die Massen verlangen: Sicherheit.‹ Natürlich ist es möglich, daß ich Erfolg habe. Daß ich aus den Fesseln des Fakultätslebens ausbreche.«

»Indem Sie ein großes Buch schreiben?«

»Nein. Indem ich Mitglied der Verwaltung werde. Dann habe ich einen Teppich in meinem Büro, einen ganzen Schreibtisch für mich selbst, vielleicht noch einen für meine Sekretärin, ein höheres Gehalt und das Recht, sehnsüchtig an meine Zeit als Lehrer zurückzudenken. Möchten Sie noch einen Drink?«

»Wenigstens das ist an meinem Institut genauso«, sagte Kate und lehnte den Drink mit einem Kopf schütteln ab. »Jemand hat es mal so ausgedrückt: Der Lohn für gute Lehrtätigkeit ist, daß man damit aufhört.« Kate ließ sich von seiner Art nicht auf den Leim führen. Hinter diesem übertriebenen Gehabe und dem neckischen Hinweis auf seinen Hund (sie hätte ihn wirklich fragen sollen: »Wer ist denn Gustave?«) vermutete Kate einen erstklassigen Verstand und eine ängstliche Persönlichkeit. Sie hatte keinen Zweifel, daß er genügend Mumm, Hirn und Egoismus besaß, um jemanden zu erdolchen, aber hatte er es getan? Glühende Liebhaber von Hunden gehören oft zu jenen Menschen, die nur bedingungslose Liebe ertragen können. Er hätte sicher die Nerven gehabt, diese Telefonate zu führen. Könnte es sein, daß Janet Harrison anziehend für ihn war, gerade wegen ihrer wenig kommunikativen und so zurückhaltenden Art, daß er ihr seine Liebe angetragen hatte und von ihr abgewiesen wurde?

»An wie vielen Tagen pro Woche halten Sie Vorlesungen?« fragte sie.

»An vier, Gott sei’s geklagt. Und im nächsten Semester sind es vielleicht fünf. Dieses Semester habe ich durch eine höchst sonderbare Fügung des Schicksals montags frei.«

»Halten Sie Ihre Vorlesungen an den anderen Tagen immer vormittags?« Kate hoffte, daß die Frage in seinen Ohren nicht so gezielt klang, wie sie ihr selber vorkam.

»Ich zeige Ihnen mal meinen Stundenplan«, sagte er und griff in eine Innentasche. »Wahrscheinlich meinen Sie, so weit gegen Ende des Semesters müßte ich ihn eigentlich kennen. Aber unsere Stundenpläne sind in Wahrheit derart kompliziert, daß, wenn ich sowas im Kopf behalten müßte, es so viel Platz in meinem kleinen Gehirn einnehmen würde, daß ich dafür etwas anderes vergessen müßte, Angelsächsisch zum Beispiel.« Er reichte ihr den Stundenplan.

Er sah in der Tat ungewöhnlich aus. Einen Kurs mit der Kennziffer 9.1 hielt er dienstags um neun, mittwochs um drei Uhr nachmittags, um zehn am Donnerstag und freitags um zehn (!). Kate fragte nach dem Grund für diese seltsame Aufteilung und dachte zugleich: Das ist ein Alibi, klar und deutlich.

»Ach, das ist ganz einfach, wirklich, vorausgesetzt, Sie verfügen über den besonders rudimentären Verstand des Mannes, der diese Dinge arrangiert. Die einen Studenten stehen auf dem P-Plan, andere auf dem Q- oder S- oder W-Plan. Das bedeutet, sie müssen zu einer ganz bestimmten Zeit am Tag schwimmen gehen, zu einer anderen essen, und unter keinen Umständen dürfen sie sich zu einer dritten Zeit auf den Treppen befinden. Das geht dann immer im Kreis, und hier haben wir das Resultat. Manchmal stellt sich heraus, daß sich eine Klasse um eins trifft, und dann wieder um drei am selben Nachmittag. Wer sagt da, es gäbe keine pädagogischen Herausforderungen mehr! Man muß sich ihnen nur stellen.«

»Streichen Sie manchmal auch Stunden?«

»Niemals, es sei denn, man stirbt. Wenn man einfach mal nicht lehren kann, dann spricht man mit den kleinen Lieblingen und sagt ihnen, sie sollen allein weitermachen, Papa fühlt sich heute nicht so gut. Aber natürlich, seit der Staat für ihre Studiengebühren aufkommt und nicht mehr sie selbst oder die lieben Eltern, springen sie über Tische und Bänke und kommen ungestraft davon. Was man niemals tun darf, ist, einen Freund in der eigenen Klasse die Vertretung machen lassen. Falls der Freund gesehen wird (und bei uns steckt alles voller Spione), wird das sogleich dem Großen Bruder zugetragen, und beide haben dann Rede und Antwort zu stehen vor dem großen Disziplinarausschuß. Sie wirken, das sehe ich mit Vergnügen, reichlich entsetzt. Aber es ist die schlichte Tatsache: Ohne eigene Fakultät können die kein College der ersten Garnitur führen, was aber nicht bedeutet, daß sie nicht intern als das Letzte angesehen wird. Als vor einigen Jahren die Polio-Schutzimpfungen Pflicht wurden, haben als erste die Mitglieder der Verwaltung sie bekommen, dann der Küchenstab, dann das Hauspersonal, dann die Studenten und zum Schluß (immer in der Hoffnung, daß noch genug Serum übrigblieb) die Mitglieder der Fakultät. Die IBM-Maschinen hätten es als allererste gekriegt, wenn nur jemand entdeckt hätte, wie man ihnen solch eine Spritze applizieren kann.«

Impulsiv zog Kate das hervor, was sie nur noch das Foto nannte, und reichte es Sparks. »Haben sie den jemals gesehen?« fragte sie. »Ich dachte, vielleicht ist er bei Ihnen als Student gewesen«, log sie geschwind dazu.

Sparks nahm das Foto und studierte es sorgfältig. »Ich vergesse nie ein Gesicht«, sagte er. »Das ist keine Prahlerei, sondern schlichte Tatsache. Dafür erinnere ich mich nie an Stimmen oder Namen, was, wie mir gesagt wurde, bezeichnend ist. Ich glaube nicht, daß ich diesen Burschen mal kennengelernt habe, ich könnte ihm auf der Treppe begegnet sein, oder ich bin mit ihm im Aufzug gefahren, irgendwann einmal in einem Bürogebäude. Aber es ist nicht das ganze Gesicht; die Augen stimmen nicht. Die Gesichtsform indessen, nein, es hat keinen Zweck, aber wenn mir einfällt, an wen es mich erinnert, lasse ich es Sie wissen. Haben Sie ihn aus den Augen verloren?«

»Genau das. Ich dachte, er könnte mit Janet Harrison in Verbindung gestanden haben, einer Studentin von mir. «

»Na so was! Die junge Dame, die auf der Couch erdolcht wurde? Ich war dort, als sie ihre Leiche entdeckten, wissen Sie. Sie war Ihre Studentin?«

»Sie waren da?«

»Ja. Bauer ist zufällig auch mein Analytiker. Weil wir gerade von Gesichtern reden, ihres war außergewöhnlich. Ich bin manchmal etwas früher zu meiner Sitzung gekommen, wenn die verdammte U-Bahn mich nicht aufhielt, nur, um mir das Gesicht anzusehen.«

»Haben Sie jemals mit ihr gesprochen?«

»Bestimmt nicht. Wie gesagt, mit Stimmen habe ich es nicht so, meine eigene ausgenommen, der höre ich gerne von morgens bis abends zu. Zudem, einmal angenommen, aus dem Gesicht schallt Ihnen plötzlich eine quietschende, nasale Stimme entgegen: Ich hätte niemals meine Freude an ihr haben können. Ganz nebenbei, hatte sie eine?«

»Was? Eine nasale Stimme? Nein, es war eine glatte Stimme, nur etwas nervös. Ist Bauer ein guter Analytiker?«

»Oh, ja. Erstklassig. Hervorragend, wenn es darum geht, herauszuhören, was man gar nicht sagt. Bei mir ist das das Wichtigste.« Und plötzlich, als wolle er Kate Gelegenheit geben, zu hören, was er nicht sagte, lehnte er sich zurück und verschwand buchstäblich hinter einem Vorhang des Schweigens. Kate, die Parties nicht mochte und zudem müde war, fühlte sich deprimiert. Reed hatte recht gehabt. Detektiv spielte man nicht, nur weil man Lord Peter Wimsey bewunderte und einen Freund hatte, der furchtbar in der Klemme saß. Sie hatte sich in eine Party gedrängt, sich an diesen Mann herangemacht, Lillian ausgenutzt, und wozu das alles? Wußte sie nun, ob er an dem Freitag seine Zehn-Uhr-Vorlesung gehalten hatte, als die Uniform gestohlen wurde? Seinen Termin bei Emanuel hatte er eingehalten. Konnte er in das Studentinnenwohnheim gegangen sein und Janet Harrisons Zimmer durchwühlt haben? Das kam ihr unwahrscheinlich vor. Konnte er sich auf dieses ruhige Mädchen gestürzt haben, weil er sich selbst dafür verabscheute, daß er einer Institution diente, die er nicht respektierte? Du hast ein ganz schönes Talent für Fragen entwickelt, dachte Kate bei sich, aber noch keine einzige Antwort gefunden.

Kate sagte Gute Nacht und Dankeschön zu ihrem Gastgeber, der sich sichtlich nicht mehr erinnerte, wer sie war, winkte Lillian zu und suchte sich ein Taxi. Was nun als nächstes? Anzunehmen, daß Jerry etwas über Horan herausbekommen hatte; aber mehr, als ihr bei Sparks gelungen war? So wahr mir Gott helfe, dachte Kate, wenn dieser Fall jemals erledigt sein sollte, werde ich nie wieder eine Frage stellen, die nichts mit Literatur zu tun hat. Mein ganzes Leben lang!

Kate bezahlte das Taxi und betrat die Halle ihres Hauses, wo Reed in einem Sessel eingeschlafen war. Sie weckte ihn, nicht allzu sanft.

»Ich wollte dich sprechen«, sagte er. »Mir scheint, du solltest, wenn du schon Detektiv spielst, zu Hause und in der Nähe des Telefons sein, statt auf Parties zu trinken, dich Leuten aufzudrängen und idiotische Fragen zu stellen.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Kate und ging mit ihm in ihre Wohnung.

»Soll ich einen Kaffee machen?« sagte Reed.

»Woher diese Besorgtheit? Ich mache dir einen Kaffee.«

»Setz dich. Ich stelle den Kaffee auf, und dann will ich mit dir reden. Zwei neue Dinge haben sich ergeben – eines ist faszinierend, obwohl ich verdammt keinen Sinn darin entdecken kann, und das andere ist ein wenig erschreckend. Nehmen wir zuerst das Erschreckende.« Reizenderweise verschwand er in der Küche, und Kate folgte ihm auf dem Fuße.

»Worum geht es? Ich habe den ganzen Abend gesessen. Ist Emanuel in noch größeren Schwierigkeiten?«

»Nein. Du.«

»Ich?«

»Die Polizei hat einen Brief erhalten, Kate. Anonym natürlich und nicht zurückzuverfolgen, aber sie schenken dem keineswegs so wenig Beachtung, wie sie gern glauben machen. Er ist klar und verständlich geschrieben und beschuldigt dich des Mordes an Janet Harrison.«

»Mich?«

»Er behauptet erstens, daß der Artikel, den du vor einem Monat in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift über Henry James’ Romanheldinnen publiziert hast, von Janet Harrison verfaßt und von dir gestohlen wurde. Du hättest nicht genug veröffentlicht und machtest dir Sorgen um deine Karriere. Zweitens behauptet er, ihr, du und Emanuel hättet ein Verhältnis gehabt und du liebtest ihn immer noch, hättest ihm nicht verziehen, daß er Nicola geheiratet hat, und wolltest das Mädchen beseitigen, weil es eine Bedrohung war. Außerdem wolltest du Emanuel und mit ihm Nicola ruinieren, die du haßt. Außerdem wird in dem Brief betont, daß du kein Alibi hast, das Haus der Bauers sehr genau kennst und das Mädchen gut genug kanntest, um ihr Vertrauen zu besitzen und dich hinter sie zu setzen, während sie auf der Couch lag. Es folgen noch ein paar Beschuldigungen gegen dich, aber das sind die wichtigsten. Ach ja, er erwähnt auch noch, daß du das Zimmer durchsucht hast, um alle Notizen und Unterlagen verschwinden zu lassen, die sie für den Artikel angelegt haben mochte. So, jetzt beruhige dich und hör mir eine Minute lang zu. Er erklärt nicht, wieso du den Artikel veröffentlicht haben und erst nach seinem Erscheinen Angst bekommen haben solltest. Aber es klingt alles sehr stimmig, und die Polizei nimmt den Brief relativ ernst. Sie haben außerdem registriert, daß du viel Zeit bei den Bauers verbringst, möglicherweise, um deine Spuren zu verwischen, und daß du heute abend Frederick Sparks getroffen hast, weil er vielleicht etwas gesehen haben könnte und du das herausbekommen wolltest.«

»Woher wissen die, wo ich heute abend war? Hast du es ihnen erzählt?«

»Nein, meine Liebe, ich nicht. Sie haben diese Information sehr geschickt den Bauers aus der Nase gezogen.«

»Wolltest du deshalb mitgehen heute abend?«

»Nein. Ich habe erst später davon gehört. Schließlich stecke ich meine Nase in Dinge, die mich eigentlich nichts angehen, deshalb bekomme ich meine Informationen nicht immer aus erster Hand. Laß uns einen Schluck Kaffee trinken.«

Kate berührte seinen Arm. »Reed, glaubst du irgend etwas davon?«

Aber er hatte die Tassen, Untertassen, Löffel, Zucker, Milch und die Kaffeekanne auf ein Tablett gestellt und war damit schon auf dem Weg ins Wohnzimmer.