13

 

»Was für ein Glück, daß du mir einen Schlüssel gegeben hast«, sagte Jerry. »Sonst hätte ich womöglich immer wieder geläutet, wäre dann zu dem Schluß gekommen, daß man dich ermordet hat, hätte den Kopf verloren und die Polizei gerufen. Du hast bloß einen Kater, nicht?«

»Ich habe keinen Kater, zumindest nicht vom Trinken. Geh bitte hinaus, damit ich mich anziehen kann. Mach einen Kaffee. Weißt du, wie das geht?« Jerry lachte glucksend und verließ das Zimmer. Zu spät fiel Kate ein, daß er bei der Army als Koch gedient hatte und daß sein Kaffee… »Laß nur«, rief sie, »ich mache das schon«, aber Jerry, der bereits den Wasserhahn aufgedreht hatte, hörte sie nicht.

Es stellte sich heraus, daß Jerry, was Filterpapier und Kaffeezubereitung anging, so unwissend war wie ein Baby. Er hatte den gemahlenen Kaffee einfach in einen Topf mit kochendem Wasser geschüttet. Das Ergebnis war überraschend gut, wenn man vorsichtig eingoß. Eine Dusche und drei Tassen von dem Gebräu möbelten Kate wieder einigermaßen auf, sie räumte das Durcheinander vom vergangenen Abend auf und versuchte, sich über die nächsten notwendigen Schritte klar zu werden. Jerrys Bericht über den vergangenen Tag (beträchtlich überarbeitet und ohne seine Verfolgung Emanuels zu erwähnen) sorgte auch für keine größere Klarheit, was den künftig einzuschlagenden Weg anging. Gewiß hätte er sich nicht mit einer derart idiotischen Geschichte an Barristers Sprechstundenhilfe heranmachen sollen; aber Kate konnte sich darüber nicht so aufregen, wie sie es vielleicht hätte tun sollen. Ihr wurde plötzlich klar, daß dieser Morgen einen neuen Anfang bedeutete. Reed hätte zweifellos darauf bestanden, daß der erste Schritt die mit einem freundlichen Dank verbundene Entlassung von Jerry sein müsse. Aber Kate wußte instinktiv: Wenn der nebulöse Plan, der sich in ihrem Kopf zu formen begann, Gestalt annehmen sollte, dann gehörte Jerry dazu. Es gab sonst niemanden.

Es waren jetzt acht Tage seit dem Mord vergangen, und die ganze Reihe von schrecklichen Ereignissen schien ein natürlicher Bestandteil des Tagesablaufs von Kate geworden zu sein. Sie setzte sich Jerry gegenüber an den Tisch, trank ihren morgendlichen Kaffee und entwarf mit einem jungen Mann Pläne, mit dem sie normalerweise nie etwas zu tun gehabt hätte. Dafür waren Menschen, die noch vor zwei Wochen in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten, in den Hintergrund getreten. Was an literarischen und anderen Themen sonst im Zentrum ihres Bewußtseins gestanden hatte, bewegte sich jetzt nur noch undeutlich an der Peripherie. Natürlich sehnte sie sich nach der Rückkehr der ordentlicheren Welt, wie sie noch vor vierzehn Tagen geherrscht hatte. Carlyle (dem sie seit über einer Woche keine Minute Aufmerksamkeit mehr geschenkt hatte), soll, als er von dem Entschluß einer jungen Dame hörte, das Universum zu akzeptieren, gesagt haben: »Wahrhaftig! Das sollte sie wirklich!« Alles, was Kate sich wünschte, war, dieses Universum für sich wiederherzustellen und zu akzeptieren. Es war erschüttert worden, aber sie hatte im Grunde keinen Zweifel, daß es mit Hilfe zäher Anstrengung und eines Gebets wieder zurechtgerückt werden könnte.

»Irgendwelche neuen Ideen?« fragte Jerry.

»Es fehlt mir nicht an Ideen«, sagte Kate, »nur an der Fähigkeit, ihnen einen Sinn zu geben. Ich fange an zu glauben, daß Alice gar nicht im Wunderland war. Sie hat vielmehr versucht, einen Mordfall zu lösen. Dauernd verschwinden schöne Verdächtige und lassen nur ihr Grinsen zurück. Andere verwandeln sich in Schweine. Wir bekommen einen großen unschönen Vogel vorgesetzt und sollen Croquet spielen. Und obwohl wir so schnell rennen, bewegen wir uns nicht vorwärts, sondern rückwärts. Noch vor einigen Tagen hatten wir eine ganze Reihe netter Verdächtiger, und übriggeblieben ist bloß der Erbe des ermordeten Mädchens, und der hat überhaupt keine Verbindung zu der ganzen Geschichte. Ach so, ich sollte dir vielleicht erst einmal von ihm erzählen.« Sie berichtete von Janet Harrisons letztem Willen und davon, daß Messenger das Foto wiedererkannt hatte. (Von dem Brief, in dem sie selber beschuldigt wurde, sagte sie nichts.) Jerry war natürlich begeistert, als er hörte, daß das Foto Barrister zeigte, und Kate mußte ihm matt zu der Erkenntnis verhelfen – wie sie selber es am Abend zuvor hatte lernen müssen –, daß die Neuigkeit, so aufregend sie auch war, im Grunde nirgendwohin führte.

»Messenger muß die Antwort sein. Wahrscheinlich ist er ein reichlich zwielichtiger Typ mit glatter Fassade«, fuhr Jerry fort. »Schließlich wissen wir nicht, ob er nicht doch mit Janet Harrison zu tun hatte. Außer seinem Wort haben wir keinen Beweis.«

»Aber er leugnet, vor ihrer Ermordung jemals von ihr gehört zu haben.«

»Nachdem er sie ermordet hat, wolltest du sagen.«

»Warum sollte er dann das Bild identifizieren und sich damit weiter in die Sache verstricken?«

»Er hat nicht sich verstrickt, sondern Barrister. Offenbar hat er nicht damit gerechnet, in eine Verbindung zu der ganzen Geschichte zu geraten. Er wußte nicht, daß sie ein Testament hinterlassen hat.«

»Wenn er nicht wußte, daß sie ein Testament gemacht hatte, warum sollte er sie dann ermorden? Ihr Geld soll doch das Motiv sein.«

»Vielleicht ging es nicht um ihr Geld; oder vielleicht hat er gehofft, das Testament würde nie gefunden.«

»Jerry, du machst zu wenig von deinem Verstand Gebrauch. Wenn das Testament nicht gefunden würde, bekäme er das Geld nicht. Aber egal was für ein Motiv er gehabt haben mag, er hat Chicago nicht verlassen. Und erzähl mir jetzt nicht, er könnte jemanden dafür angeheuert haben – ich kann es einfach nicht mehr hören.«

»Ich glaube, dieser Fall ist nicht gut für deine seelische Verfassung – du hörst dich immer gereizter an. Was du brauchst, sind ein paar Tage Ferien.«

»Was ich brauche, ist eine Lösung. Sei mal einen Augenblick still und laß mich überlegen. Wenn ich mir davon auch keine spektakulären Ergebnisse erwarte, es ist die einzige Aktivität, die mir im Moment möglich ist. Übrigens, wenn man einen so guten Kaffee kochen kann, indem man einfach den gemahlenen Kaffee in einen Topf schüttet, wieso gibt es dann so viele verschiedene und teuere Kaffeemaschinen auf dem Markt?«

»Soll ich dir mal meinen Lieblingsvortrag über die Werbung und den Niedergang der Werte in Amerika halten? Darin bin ich wirklich gut. Ich bin sogar berühmt dafür, daß es mir gelungen ist, meiner künftigen Verwandtschaft die Anschaffung einer Eismaschine auszureden, nachdem ihnen eine schlaue Anzeige eingeredet hatte, daß sie so etwas brauchten. Vielleicht stimuliert meine Rede deinen Denkprozeß. Fertig? Also: Vor Jahren war das, was sich der Mensch wünschte, noch klar in zwei Gruppen getrennt: die Dinge, die er brauchte, und die, die er haben wollte, weil sie ihm gefielen. Niemals wäre es einem Menschen eingefallen, beides durcheinanderzubringen oder sich einzureden, er brauche etwas, das er sich nur wünschte. Die Puritaner…«

»Kann denn die Polizei tatsächlich wissen, daß er Chicago nicht verlassen hat?«

»Genau das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Jerry. »Seine Kollegen sagen: Ja, natürlich, Dannyboy hat den ganzen Tag im Labor gearbeitet, wir haben ihn reden, mit Reagenzgläsern hantieren und auf der Schreibmaschine tippen hören, aber es gibt schließlich auch Tonbänder und Platten. Hast du den Film ›Laura‹ gesehen? Übrigens, wird nicht der Name jedes Passagiers notiert, der von New York nach Chicago fliegt?«

»Das denke ich doch. Für jedes Flugzeug gibt es eine Passagierliste.«

»Dann könnte er auch einen falschen Namen angegeben haben. Oder er ist mit dem Zug gefahren. Ich glaube, als nächstes müssen wir dem Dr. Daniel Messenger ein paar Fragen stellen. Selbst wenn sich herausstellt, daß er so sauber ist wie frisch gefallener Schnee, kann er uns vielleicht etwas über Barrister erzählen oder über das Leben und die Gene. Was haben wir schon zu verlieren, außer ein paar Tagen und den Preis für die Flugkarte?«

»Ich habe keine paar Tage übrig.«

»Ich weiß. Und ich habe nicht das Geld für ein Ticket nach Chicago. Also schlage ich vor, wir kombinieren meine Zeit mit deinem Geld, und ich fliege hin. Ich verspreche dir, diesmal keine Extratouren zu machen. Sehen wir mal, welchen Eindruck er auf mich macht.«

Die Idee war Kate auch schon gekommen. Sie hätte nur zu gern selber mit Daniel Messenger gesprochen. Aber über einen Punkt gab es nichts zu streiten, und das war die Tatsache, daß sich an ihrem gewohnten Tagesablauf nichts ändern durfte. Des Mordes beschuldigt zu werden, ist eine Sache; eine andere dagegen, seine Pflichten zu vernachlässigen. Jerry hatte in seine Fähigkeit, Menschen zu beurteilen, mehr Vertrauen als Kate. Das war nicht eigentlich persönlich gemeint: Jerry war so einfühlsam, wie junge Männer nun mal sind. Und Tatsache war, daß junge Leute sich kein Urteil bilden konnten: Sie hatte zu viele mittelmäßige Professoren erlebt, die bei ihren Studenten sehr beliebt waren, und zu viele Wissenschaftler, die brillant, aber ein bißchen langweilig waren und so Ziel des Spottes wurden. Für sein College mochte das Urteil eines Studenten noch eine gewisse Berechtigung haben, aber in einem Fall wie diesem mochte Kate nicht das Risiko eingehen, sich auf die Meinung eines Einundzwanzigjährigen zu verlassen, der seinen Mangel an Wissen mit kecken Tönen kompensierte. Angenommen, Jerry kehrte mit einer festen Meinung zurück, so oder so? Hätte das wirklich eine Bedeutung?

Wohl kaum. Aber wo war die Alternative? Kate erinnerte sich lebhaft an ein Streitgespräch, das sie mit Emanuel über die Psychoanalyse als Therapieform geführt hatte. Sie hatte betont, wieviel Zeit und Geld die Analyse erforderte und wie wenig Kontrolle beide – Patient und Analytiker – über den Prozeß der freien Assoziation hatten und so weiter. Emanuel hatte das gar nicht geleugnet. »Es ist ein sehr schwerfälliges Werkzeug, aber es ist das beste, das wir haben.« Dasselbe galt für Jerry. Er war sicher nicht der Geschickteste, aber sie hatte sonst niemanden. Und abgesehen von Jerrys Zeit und ihrem Geld, was hatten sie schon zu verlieren? Vielleicht würde sich Jerry in seiner offenen, jungenhaften Art Messenger sogar weniger zum Feind machen als sie.

»Ich glaube, du kommst besser an ihn heran«, sagte Kate, »wenn du mit ihm über Barrister redest, statt über ihn selbst. Wenn du zu offensichtlich versuchst, ihn mit irgendwelchen Tricks zu einem gefährlichen Eingeständnis zu bewegen, macht er bestimmt zu. So würde ich jedenfalls reagieren. Aber wenn du ihm frei heraus erklärst, daß wir in Schwierigkeiten stecken und seine Hilfe brauchen, dann erfährst du vielleicht etwas, das uns weiterbringt. Wenn er der Mörder ist, dann wird das, was du erfährst, nicht unbedingt nützlich sein, aber darauf sollten wir es ankommen lassen. Offen gesagt, Jerry, falls er raffiniert genug war, diesen Mord zu begehen und die Polizei von seiner Unschuld zu überzeugen, dann wirst du ihn nicht zu fassen bekommen. Andererseits, wenn er so nett ist, wie er allen erscheint, dann kann er uns vielleicht auf eine Art und Weise weiterhelfen, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Also, ich will nicht, daß du dort auftrittst wie Hawkshaw, der große Detektiv, aber ich nehme auch nicht an, daß du hier angeblich meine Anweisungen brav zur Kenntnis nimmst und dann doch nur tust, was dir paßt.« Sie sah ihn mit einem durchdringenden Blick an, und Jerry fielen Emanuel und der Park ein. Konnte sie davon etwas wissen? Kate hatte lediglich einen Versuchsballon losgelassen. Sie hatte eine vage Vermutung. »Jerry, falls du diesmal irgend einen faulen Zauber probierst, dann ist Schluß. Dann fährst du wieder deinen Laster, und mit der Prämie ist nichts.«

»Was erzähle ich Messenger denn? Was sage ich ihm, wer ich bin?«

»Vielleicht sollten wir es mit der Wahrheit versuchen. Nicht, daß ich ihr einen eigenen Wert zumessen würde, Gott verzeih mir; aber es hätte unter unseren verschiedenen Methoden den Charme des Neuen. Mußt du noch heim und Koffer packen?«

»Also, die Sache ist die…« Kate folgte seinem Blick in Richtung Flur. Dort stand ein Koffer bescheiden neben dem Tischchen.

»Sehr schön. Dann rufe ich am besten an und frage nach einer Maschine nach Chicago.« Kate griff nach dem Hörer.

»Zwanzig nach elf. Ich schaffe es gerade noch zum Flughafen.«

Kate legte resigniert den Hörer wieder hin und stand auf, um Jerry das notwendige Geld zu holen. Er war schon fast aus der Tür, als ihr auffiel, daß sie ihm gerade erst von Daniel Messenger erzählt hatte. Wie, um alles in der Welt, konnte er wissen…? Sie ging ihm nach und fragte ihn.

»Das ist das Problem bei dir«, sagte Jerry, »du liest keine Zeitung. Die Polizei muß den Reportern immer etwas bieten, und der Inhalt des Testaments von dem ermordeten Mädchen paßte genau. Natürlich wußte ich nichts von dem Foto«, fügte er mit charmanter Bescheidenheit hinzu. »Bis bald.« Er verschwand, zog die Tür leise hinter sich zu und ließ Kate, nicht zum erstenmal, mit einer Empfindung des Mitgefühls für ihre Nichte zurück.

Kate machte sich ihrerseits fertig für die Fahrt zur Universität. Reed würde zweifellos einen Anfall bekommen, wenn er erfuhr, wohin Jerry unterwegs war, aber Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer Leute war eine der Fähigkeiten, die Kate durch den neuen Stand der Dinge abhanden gekommen waren. Katastrophen brachten Skrupellosigkeiten mit sich – wie ein Krieg und seine Folgen. Das war offenbar unvermeidlich. Schmerzlich erinnerte sie sich, wie schwer es ihr zu Anfang gefallen war, Reed um Hilfe zu bitten. Doch jede Skrupellosigkeit macht die nächste nicht nur möglich, sondern einfach unvermeidlich. Vielleicht war dies der Weg, der schließlich zu einem Mord führte.

Aber was für eine Kette von Ereignissen mochte zu diesem Mord geführt haben? Janet Harrison hatte – gut versteckt – ein Foto des jungen Michael Barrister in ihrer Handtasche gehabt. Das schien doch ganz sicher darauf hinzuweisen – wenn man für den Augenblick einmal außer acht ließ, daß der Mörder selbst das Foto dort plaziert haben konnte –, daß es eine Verbindung zwischen Barrister und Janet Harrison gab. Natürlich hatte Barrister das geleugnet. Falls er sie ermordet und die Verbindung zwischen ihnen sorgfältig verborgen hatte (vielleicht hatte er ihr Zimmer durchsucht, um sicherzugehen, daß es dort keine Hinweise auf ihre Beziehung gab), was war dann sein Motiv?

Kate verließ ihre Wohnung und ging zur Bushaltestelle. Angenommen, er hatte Janet Harrison kennengelernt, als er selbst noch ein junger Mann war, oder er hatte sie einfach irgendwann kennengelernt, und das einzige Foto, das sie, vernarrt, wie sie in ihn war, ergattern konnte, war eines, das ihn als jungen Mann zeigte. Jedenfalls mußte sie ihm auf die Nerven gegangen sein, und er hatte sie ermordet. Vielleicht wollte sie ihn heiraten, und er machte sich nichts aus ihr. Aber so etwas kam ja schließlich häufiger vor, und es gab andere Methoden, lästige junge Frauen loszuwerden, ohne sie gleich zu ermorden, so reizvoll solch eine Lösung auch erscheinen mochte. Kate hatte junge Frauen gekannt, Altersgenossinnen, die sich blind in einen Mann verliebt hatten, ihn überall hin verfolgt, stundenlang vor seinem Haus verbracht, zu seinem Schlafzimmerfenster hinaufgestarrt und ihn nachts zu den verrücktesten Zeiten angerufen hatten. Vollkommen verzweifelt hatten sie gewirkt, und doch waren sie inzwischen alle mit jemand anderem verheiratet und wahrscheinlich glücklich und zufrieden. Und wenn Barrister der Mann war, den Janet Harrison angebetet hatte, warum hatte sie dann ihr Geld Messenger hinterlassen, dem sie offenbar nie begegnet war und den sie ganz sicher nicht angebetet hatte? Oder, falls sich herausstellte, daß sie ihm doch verfallen war, wieso trug sie dann ein Foto von Barrister mit sich herum? Jerry hatte vermutet, daß Messenger es in ihre Handtasche praktiziert haben könnte, aber wozu das? Kein Foto wäre verwirrender gewesen als ein falsches.

Kate erreichte die Universität in einem Zustand der Benommenheit, an den sie sich schon richtig gewöhnt hatte. Sie setzte sich einen Augenblick lang in ihr Büro, öffnete gedankenverloren ihre Post und starrte ins Leere. Ihr Blick fiel, unvermeidlicherweise, auf den Stuhl, auf dem Janet Harrison gesessen hatte. »Professor Fansler, kennen Sie einen guten Psychiater?« Warum nur, um alles in der Welt, hatte das Mädchen gerade ihr die Frage gestellt? War sie, Kate, die einzige Respektsperson, zu der Janet Harrison einen Zugang gehabt hatte? Das war kaum denkbar. Aber Kate mußte zugeben, daß der anonyme Brief, der sie des Mordes beschuldigt, nicht ganz so absurd war, wie sie in ihrer ersten Bestürzung gedacht hatte. Kate stand auf merkwürdige Weise im Zentrum vieler Rätsel. Sie war diejenige, die Janet Harrison zu Emanuel geschickt hatte, und dort war Janet Harrison ermordet worden. Hätte Janet Harrison einen anderen Professor gefragt, dann wäre sie wahrscheinlich auf der Couch eines anderen Psychiaters gelandet. Wäre sie dann dort auch ermordet worden? Bestimmt nicht – Kate zwang sich, das einzugestehen –, falls Emanuel oder Nicola den Mord begangen hätten. Und sonst? Nun, Barrister hatte seine Praxis gegenüber der von Emanuel, und Messenger hatte ihn auf dem Foto erkannt. Messenger hatte das Geld geerbt. Der Bauer hat eine Frau, die Frau hat ein Kind, das Kind hat ein Kindermädchen… und in der Küche liegt der Käse. Was war mit dem Käse?

Das Telefon riß sie aus ihrem Nachdenken über diese faszinierende Frage. »Professor Fansler?« Kate sagte ja. »Hier ist Miss Lindsay. Es tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber Sie schienen mir so interessiert, daß ich dachte, es würde Ihnen nichts ausmachen. Ich habe gestern abend schon versucht, Sie daheim telefonisch zu erreichen, aber dort hat niemand abgenommen. Ich dachte, Sie hören es besser von mir als von Jackie Miller.«

»Ja, ganz bestimmt«, sagte Kate, »es ist sehr nett, daß Sie anrufen. Diese Jackie Miller in ihrem extravaganten Nachtgewand hat nicht den allerbesten Eindruck auf mich gemacht. Sie wollen mir hoffentlich nicht erzählen, daß ich jetzt in ihrer Schuld stehe?«

»Das weiß ich nicht. Aber Sie wirkten sehr interessiert an dem Namen der Person, die Janet Harrison zusammen mit einem Mann gesehen hatte, und gestern abend ist er Jackie Miller eingefallen. Darauf hat sie sich an mich gewandt und vorgeschlagen, daß – ehm –, also, daß ich Ihnen vielleicht erzähle, wer es war.« Kate konnte sich sehr gut vorstellen, was Jackie gesagt hatte: »Du bist doch ihr Liebling, warum rufst du sie dann nicht an und erzählst es ihr?«

»Normalerweise«, redete Miss Lindsay weiter, »käme ich nicht auf die Idee, Sie zu Hause zu belästigen, doch unter diesen Umständen… Aber wie sich herausgestellt hat, habe ich Sie ja gar nicht belästigt.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wie ist denn der Name? Wahrscheinlich stellt sich das Ganze am Ende als Windei heraus, aber besser, wir wissen es.«

»Ihr Name ist Sabbel. Ann Sabbel.«

»Kann jemand tatsächlich so heißen? Sabbel?«

»Eigentlich unvorstellbar, aber es scheint wirklich ihr Name zu sein. Jackie fiel er ein, als irgendwer von irgendwem erzählte, daß er sabbere. Ann hat kurze Zeit im letzten Semester hier im Wohnheim gewohnt, aber es hat ihr nicht gefallen, und sie ist bald wieder ausgezogen. Sie steht nicht im Telefonbuch. Ich fürchte, das hilft Ihnen alles nicht sehr viel weiter.«

»Im Gegenteil, ich danke Ihnen sehr. Haben Sie Miss Sabbel gekannt, ich meine, gut genug, um zu sagen, daß man sich auf ihre Aussage verlassen kann?«

»Leider habe ich sie nicht gut gekannt. Eigentlich kaum. Aber sie war nicht, also, nicht so wie Jackie.«

»Haben Sie vielen Dank, Miss Lindsay. Ich nehme an, daß ich ihre Spur mit Hilfe der Universitätsverwaltung finden werde. Ich bin sehr froh, daß Sie angerufen haben.« Reed hatte gesagt, daß der Schlüssel für den ganzen Fall vielleicht hier zu finden sei. Aber wahrscheinlich stießen sie doch wieder nur auf eine Spur, die dann im Sande verlief. Kates Vorlesung begann in fünfzehn Minuten. Sie rief im Immatrikulationsbüro an und fragte nach Adresse und Telefonnummer von Ann Sabbel, die im letzten Semester eingeschrieben war, vielleicht auch in diesem. Man bat sie, am Apparat zu bleiben. Es dauerte nicht lange, bis sich die Stimme am anderen Ende der Leitung wieder meldete: Ann Sabbel hatte sich auch für dieses Semester wieder eingeschrieben, dann aber wegen Krankheit wieder abgemeldet (was, wie Kate wußte, alles bedeuten konnte, von Blinddarmentzündung bis zum Liebeskummer). Ihre Adresse lautete Waverly Place, und die Telefonnummer… Kate schrieb beides auf und legte mit Dank wieder auf.

Alsdann, carpe diem. Sie wählte, zuerst die Vorwahl, dann den Anschluß. Das Telefon klingelte mindestens sechsmal, bevor sich eine Frau meldete, die offenbar aus dem Tiefschlaf gerissen worden war. »Könnte ich bitte Miss Ann Sabbel sprechen?« fragte Kate.

»Am Apparat.« Kate war sich sicher, daß es nicht einfach werden würde. Zu ihrer Vorlesung würde sie bestimmt zu spät kommen.

»Miss Sabbel, verzeihen Sie, wenn ich Sie störe, aber ich glaube, Sie könnten mir helfen. Sie haben sicher von Janet Harrisons Tod gehört. Wir haben nun ganz zufällig herausbekommen, daß Sie sie vor ein paar Monaten mit einem Mann in einem Restaurant gesehen haben. Ob Sie wohl wissen, wer der Mann war?«

»Guter Gott, das habe ich längst vergessen. Wieso in aller Welt…?«

»Worauf es mir ankommt, Miss Sabbel: Würden Sie den Mann wiedererkennen, wenn Sie ihn sähen?«

»Oh, ja, das glaube ich schon.« Kates Herz machte einen Sprung. »Sie waren in einem kleinen tschechischen Restaurant. Ich war zufällig dort, weil ich eine Freundin besucht hatte, die in der Nähe wohnt. Janet Harrison und der Mann saßen am anderen Ende des Raumes, und ich hatte das Gefühl, sie wollten nicht gestört werden. Aber angesehen habe ich ihn mir. Sie wissen ja, man ist neugierig auf die Männer, mit denen die Mädchen aus dem Bekanntenkreis unterwegs sind, und Janet hatte immer so geheimnisvoll getan. Ich glaube, ich würde ihn wiedererkennen.« Kate hatte Horan noch nicht gesehen; aber sie dachte an Sparks, an Emanuel, an Messenger – ob das Mädchen am Telefon den Mann ausreichend beschreiben konnte?

»Einmal angenommen, Miss Sabbel, der Mann würde in einer Reihe mit, sagen wir, sechs anderen Männern stehen, die sich auf den ersten Blick ähnlich sähen, würden Sie ihn dann herausfinden?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sie wird mich jetzt fragen, wer, zum Teufel, ich eigentlich bin, dachte Kate. Aber Miss Sabbel sagte nur: »Ich bin nicht sicher. Ich glaube, daß ich ihn wiedererkennen würde, aber ich habe ihn nur aus einiger Entfernung in einem Restaurant gesehen. Wer…?«

»Miss Sabbel, könnten Sie mir eine kurze Beschreibung von ihm geben? Groß, klein, dick, dünn, dunkel, blond?« (Emanuels blondes Haar war inzwischen grau durchzogen und sah jetzt noch heller aus.) »Was für ein Typ war er?«

»Er hat natürlich gesessen. Es ist zwar wahrscheinlich ziemlich ungenau, aber wenn Sie eine allgemeine Beschreibung haben wollen, dann erinnerte er mich an Cary Grant. Gut aussehend, wissen Sie, und zuvorkommend. Ich erinnere mich, daß ich reichlich überrascht war, Janet Harrison mit ihm… also, sie war natürlich attraktiv, aber dieser Mann…«

»Danke, danke«, murmelte Kate und hängte ein.

Cary Grant!

Sie schaffte es gerade noch, nicht zu spät zu ihrer Vorlesung zu erscheinen.